Die Montessori-Grundschule - Barbara Stein - E-Book

Die Montessori-Grundschule E-Book

Barbara Stein

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Beschreibung

Immer öfter stellt Die Montessori-Grundschule eine wirkliche Alternative zur Regelgrundschule dar. Diese leichtverständliche Einführung in die Besonderheiten und den Ansatz der Montessori-Grundschulen umreißt die Pädagogik Montessoris in Bezug auf Grundschulen und bietet Eltern und anderen Interessierten einen Leitfaden bei der Schulwahl für ihr Kind.

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Barbara Stein

Die Montessori-Grundschule in Theorie und Praxis

Impressum

Titel der Originalausgabe: Die Montessori-Grundschule

in Theorie und Praxis

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung: Berres & Stenzel, Freiburg

Umschlagfoto: © Sönke Held, aufgenommen in der Montessorischule Hamburg-Bergedorf

Abbildungen (Fotos, Zeichnungen) im Innenteil © Barbara Stein, falls nicht anders angegeben

E-Book-Konvertierung: epublius GmbH, Berlin

ISBN (E-Book): 978-3-451-80496-0

ISBN (Buch): 978-3-451-32580-9

Inhalt

Einleitende Worte

1. »Das Kind ist der Baumeister des Menschen« – Das Kind

1.1 Die Entwicklung zwischen 0 und 6 Jahren

1.2 Die Entwicklung zwischen 6 und 12 Jahren

1.3 Konsequenzen für die Erziehung

2. »Hilf mir, meine Arbeit allein zu tun« – Die Erzieher (Eltern, Erzieherinnen, Lehrer und Lehrerinnen)

2.1 Die Vorbereitung der Erzieherinnen und Erzieher

2.2 »Hilf mir, es selbst zu tun!« – Die Aufgaben der Erzieher

2.3 Rückwirkungen auf die Erzieher

2.4 Die Zusammenarbeit von Eltern und Lehrern

2.5 Schulleitung und Kollegium

3. »Schule tut gut« – Die Klassen- und Schulgemeinschaft

3.1 Die Kindergruppe

3.2 Erziehungs- und Lernziele in der jahrgangsgemischten Klasse

3.3 Gesichtspunkte für die Umsetzung von jahrgangsgemischten Klassen

3.4 Die Schulgemeinschaft

4. »Mir geht ein Licht auf«! – Die Polarisation der Aufmerksamkeit

4.1 Der Begriff der Freiarbeit

4.2 Das Ziel der Freiarbeit

4.3 Beschreibung des Phänomens der Polarisation der Aufmerksamkeit

4.4 Die Rückwirkung der engagierten Tätigkeit auf die Psyche des Kindes

4.5 Die Verlaufsform der konzentrierten Arbeit

4.6 Das Erzieherverhalten während der Arbeitsphase des Kindes

4.7 Psychische Gesundheit – Die innere Ordnung

5. »Es muss sich um eine Arbeit handeln, die der Mensch in seinem Innersten anstrebt« – Das Bedingungsgefüge der Freiarbeit

5.1 Eigenschaften des Arbeitsmaterials

5.2 Fehlerkontrolle

5.3 Die Einführung des Materials

5.4 Die Vorbereitete Umgebung als Antwort auf die Entwicklungsbedürfnisse des Kindes

5.5 Freiheit und Begrenzung

5.6 Qualitätskriterien

5.7 Schaubild zum Bedingungsgefüge der Freiarbeit

6. »Die Beziehung unter den Dingen herstellen, bedeutet Erkenntnisse vermitteln« – Die Fachgebiete

6.1 Das Unterrichtsprinzip: Zusammenhänge sehen und verstehen, verantwortlich handeln lernen – »Kosmische Erziehung«

6.2 Der ergänzende Unterricht

6.3 Die Lerninhalte

7. »Wir bauen nicht auf dem Kollektivunterricht auf« – Dokumentation und Leistungsbewertung

7.1 Beobachtung und Dokumentation

7.2 Lernzielkontrollen

7.3 Leistungsbewertung

7.4 Zeugnisse

8. Die Bedeutung der Montessori-Pädagogik für die Gegenwart

8.1 Kurzer Überblick über das Leben Maria Montessoris

8.2 Die Gegenwartsbedeutung der Montessori-Pädagogik

Anhang

Literatur

Hinweise zu den abgebildeten oder beschriebenen Arbeitsmitteln

Einleitende Worte

»Wir möchten unsere Kinder in die Montessori-Schule schicken, aber wir haben eigentlich keine Ahnung, wie es dort wirklich zugeht. Könnten wir einmal beim Unterricht zusehen?«, fragen Eltern.

»Ich schreibe eine Examensarbeit über die Prinzipien der Montessori-Pädagogik. Ich habe viel gelesen, aber ehrlich gesagt – die Praxis kann ich mir doch nicht vorstellen. Kann ich einmal zum Hospitieren kommen?«, fragt eine Studentin.

»Ich brauche Anregungen für meinen Unterricht. Vor allem suche ich gutes Arbeitsmaterial für die Kinder. Können Sie mir ein paar Tipps geben?«, werden wir von Kolleginnen und Kollegen gefragt.

»Was ich so höre von der Montessori-Schule, gefällt mir ja ganz gut«, sagt eine Mutter.

»Aber mein Kind braucht mehr Druck. Ich glaube, für mein Kind ist die Schule nicht geeignet.«

»Montessori? Dürfen da die Kinder nicht die ganze Zeit tun, was sie wollen? Na, da bin ich aber skeptisch«, meint ein Vater.

»Mein Kind ist so kreativ. Es ist ein typisches Montessori-Kind«, behauptet eine Mutter.

»Ich bin richtig froh, dass ich mich für die Montessori-Schule entschieden habe«, sagt eine andere. »Vor allem die Freiarbeit überzeugt mich. Wenn ich da an meine Schulzeit denke!«

»Wie es den Kindern geht? Gut. Sie haben bei Ihnen eine tolle Grundlage bekommen. Sogar die Lehrer sagen das«, antwortet ein Vater auf die Frage, wie es ehemaligen Schülern geht.

Diese Reihe von Aussagen von Eltern, Lehrerinnen und Lehrern, Studierenden und anderen, die sich für die Montessori-Pädagogik interessieren, ließe sich beliebig verlängern. Interesse und Informationsbedürfnis sind groß. Viele möchten in der Schule hospitieren, andere suchen nach Literatur. Die Montessori-Literatur ist inzwischen tatsächlich sehr umfangreich – allerdings kommt die Praxisbeschreibung noch zu kurz.

Das vorliegende Buch beschreibt die Verwirklichung der Montessori-Pädagogik in der Grundschule und verbindet dabei Theorie und Praxis. Es richtet sich an Pädagoginnen und Pädagogen, Studierende, Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Montessori-Lehrgängen, Eltern und sonstige Interessierte.

In diesem Buch ist natürlich auch viel von Erzieherinnen und Erziehern, Lehrerinnen und Lehrern die Rede; um die Lesbarkeit zu erleichtern, wird die Ausdrucksform gewechselt. Begriffe rufen bestimmte Vorstellungen hervor, deswegen sollten die weiblichen Sprachformen gleichberechtigt neben den männlichen stehen.

Barbara Stein

1

Das Kind

»Das Kind ist der Baumeister des Menschen«

Dieses Kapitel gibt einen Überblick über die Entwicklungsphasen des Kindes bis zum 12.Lebensjahr. Wenn Kinder in die Schule kommen, sind bereits sechs entscheidende Jahre vergangen. Erzieherinnen und Erzieher müssen die Entwicklungsphasen der frühen Kindheit ebenso kennen wie die der Grundschulzeit.

1.1Die Entwicklung zwischen 0 und 6Jahren

Das Kind ist von Geburt an ein aktives Wesen, das in der Interaktion mit seinen Eltern, anderen Personen und der Umwelt seine Persönlichkeit aufbaut. Darum spricht Maria Montessori vom Kind als Baumeister oder Bildner seiner selbst.

»Das Kind ist nicht ein leeres Gefäß, das wir mit unserem Wissen angefüllt haben und das uns so alles verdankt. Nein, das Kind ist der Baumeister des Menschen und es gibt niemanden, der nicht von dem Kind, das er selbst einmal war, gebildet wurde« (Montessori 1972:13).

Ferner betont sie die Bedeutung einer geglückten Erziehung:

»Das Kind ist der Erzeuger des Menschen. Die gesamten Möglichkeiten des Erwachsenen hängen davon ab, inwieweit das Kind diese ihm anvertraute geheime Aufgabe erfüllen konnte« (Montessori 2010b: 269).

Der Säugling als »geistiger Embryo«

Das Kind ist von Geburt an ein aktives Wesen, das aufgrund seiner genetischen Anlagen mit bestimmten Begabungen und Charaktereigenschaften ausgestattet ist. Ob und wie sich diese Anlagen entwickeln, hängt vom individuellen Lebensweg eines Kindes und von seiner Erziehung ab. Dies weist sowohl den Eltern als auch der Umgebung, in die das Kind hineingeboren wird, eine besondere Bedeutung zu. Denn das Kind entwickelt seine Fähigkeiten nur im Austausch mit anderen Menschen und mit seiner Umwelt. Deshalb bezeichnet Maria Montessori das neugeborene Kind als »geistigen Embryo«. Das Kind braucht die besonderen Bedingungen einer familiären Umwelt, um die speziell menschlichen Eigenschaften wie Willens- und Handlungsfreiheit, Sprache, Intelligenz und Gefühl richtig entwickeln zu können.

Die Rolle der Eltern

Die Liebe und Geborgenheit, die ein Kind bei seinen Eltern und anderen Erwachsenen findet, ist wie ein Hafen, von dem aus es seine Welteroberung starten und in den es zurückkehren kann, wenn es Mitfreude, Ermutigung, Ruhe oder Trost braucht. Die Erfahrung der Geborgenheit in der Liebe der Eltern gibt dem Kind ein Leben lang Mut und Sicherheit. Aber dort, wo die elterliche Liebe unzuverlässig oder zwiespältig ist, leidet die Entwicklung des Kindes, und die volle Entfaltung seiner potenziellen Möglichkeiten wird sehr erschwert. Deswegen sind später in der Schule die Bemühungen der Pädagogen bei jenen Kindern am fruchtbarsten, die in einer liebevollen und tragfähigen Beziehung zu ihren Eltern leben.

Sensible Perioden

Maria Montessori betont die Wichtigkeit einer zeitgerechten Erziehung. Damit ist gemeint, dass auf die Entwicklungsbedürfnisse des Kindes jeweils in den entsprechenden Entwicklungsphasen und nicht irgendwann später eingegangen werden muss. Die Entwicklungsphasen sind gekennzeichnet durch »sensible Perioden« (Montessori 2010b: 65f), d.h. Phasen intensiver Lernbereitschaft, in denen das Kind besonders empfänglich für bestimmte Lerninhalte ist.

Sensible Perioden lassen sich nicht von außen hervorrufen; sie kommen von innen, drängen von innen hervor und sind von begrenzter Dauer. Unterschiedliche sensible Perioden bestehen gleichzeitig und wirken auf komplexe Weise ineinander. Ist die spezifische Lernbereitschaft verklungen, so wird das Lernen mühevoll, und der Erfolg ist weniger gesichert oder kann sogar ganz ausbleiben. Für das Phänomen dieser sensiblen Perioden in der Entwicklung eines Lebewesens werden verschiedene Begriffe verwendet wie z.B. »Zeitfenster«, »kritische Perioden« oder »Sensibilitäten«.

In der Entwicklung des Kleinkindes lassen sich folgende Sensibilitäten besonders gut beobachten:

die Sensibilität für Bewegung und Sinneseindrücke, verbunden mit dem Verlangen, seinen Willen in Taten umzusetzen,

die Sensibilität für Struktur und Ordnung und die Suche nach Orientierung,

die Sensibilität für den Erwerb der Sprache und die Anpassung an den geistigen Lebensraum, der durch die Sprache erzeugt wird.

Die Bedeutung der Bewegung und die Erziehung zur Aktivität

Bewegungsdrang

Auffallend bei Säuglingen und Kleinkindern ist vor allem ihr Drang nach Bewegung. Tätig in Bewegung zu sein ist für sie eine Quelle von Freude. Kinder wollen ihren Körper beherrschen und ihre Bewegungen koordinieren lernen, und sie tun dies, indem sie sich aktiv und mit allen Sinnen der Erforschung ihrer Umwelt zuwenden. Aufgabe der Erziehung ist es nun, das Kind in seinen Aktivitäten zu unterstützen, z.B. wenn es selbst laufen oder selbst essen will oder sich ein Spiel oder eine Tätigkeit aus seiner Umgebung auswählt. Dies geschieht vor allem indirekt, indem man Möglichkeiten schafft, wie das Kind seinen Tätigkeitsdrang erfüllen kann. Die Kinder machen dabei Erfahrungen mit angenehmen und unangenehmen Eigenschaften der Dinge, gewinnen räumliche Vorstellungen und erfahren Begrenzungen. Montessori betont den Zusammenhang zwischen der Bewegung und der Entwicklung von Bewusstsein und Intelligenz:

»Die Bewegung ist nicht nur Ausdruck des Ichs, sondern ein unerlässlicher Faktor für den Aufbau des Bewusstseins; bildet sie doch das einzige greifbare Mittel zur Herstellung klar bestimmter Beziehungen zwischen Ich und äußerer Realität. Die Bewegung ist somit ein wesentlicher Faktor beim Aufbau der Intelligenz, die zu ihrer Nahrung und Erhaltung der Eindrücke aus der Umwelt bedarf. Sogar die abstrakten Vorstellungen reifen ja aus den Kontakten mit der Wirklichkeit, und die Wirklichkeit kann nur durch Bewegung aufgenommen werden« (Montessori 2010b: 138).

Elementare Bewegungen – elementare Handlungen

Bei sehr kleinen Kindern steht die elementare Bewegung im Vordergrund. Für ein Kind z.B., das laufen gelernt hat, ist das Laufen an sich das Ziel. Es kann sich einen ganzen Nachmittag damit beschäftigen, vom Wohnzimmer durch den Garten zur Sandkiste hin- und herzulaufen – nicht weil es in der Sandkiste spielen will, sondern weil diese Strecke der äußere Anreiz für den inneren Impuls zu laufen ist. Später wird aus der elementaren Bewegung die elementare Handlung. Die Kinder freuen sich z.B. daran, die Deckel von Gefäßen auf- und wieder zuzuschrauben, oder sie säubern einen Tisch mit gleichmäßigen Bewegungen, unabhängig davon, ob der Tisch schmutzig ist oder nicht. Kinder sind erfindungsreich, wenn es darum geht, aktiv zu sein. Dabei ist es weniger das Spielzeug, das sie interessiert, als die Dinge des täglichen Lebens, die sehr anziehend sind. Ein kleiner Junge z.B. holte sich, während die Erwachsenen auf der Terrasse saßen und sich unterhielten, aus dem Badezimmer ein Stück Seife und schrubbte damit ausdauernd die Steinplatten der Terrasse.

»Übungen des täglichen Lebens«

Da Kinder heute in einer Welt leben, die in erster Linie auf die Bedürfnisse von Erwachsenen ausgerichtet ist, müssen für sie spezielle Orte geschaffen werden, damit sie genügend Spiel- und Handlungsraum für ihre spezifischen Aktivitäten haben. Deswegen spielt in der Montessori-Pädagogik die »Vorbereitete Umgebung«, in der sich die Kinder sinnvollen Zielen zuwenden und dabei ihren Bewegungsdrang ordnen können, eine zentrale Rolle. In den »Übungen des täglichen Lebens« finden die Kinder vielfältige Möglichkeiten, gemäß ihren Bedürfnissen und aufgrund eigener Entscheidungen aktiv zu sein. Sie können Schuhe putzen, Kartoffeln schälen und kochen, den Tisch decken, spülen und sich darin üben, Schleifen zu binden oder Wasser von einem Gefäß ins andere zu gießen. Die Gegenstände für diese Handlungen stehen immer bereit, sind vollständig und dürfen täglich benutzt werden. Indem es immer wieder in seinem eigenen Lerntempo übt, gewinnt das Kind körperliche Geschicklichkeit, Umsicht und Einsicht in Zusammenhänge. Aus den elementaren Handlungen erwachsen im Lauf der Entwicklung komplexe Handlungsabläufe, und die Kinder werden fähig, das äußere Ziel über der Freude an der Tätigkeit nicht aus den Augen zu verlieren.

Es sind also nicht die spektakulären Dinge, die die Kinder brauchen. Es ist die normale häusliche Umwelt oder die Umwelt des Kindergartens, die sie begreifen wollen. Für kleine Kinder ist die Erforschung ihrer Umgebung so spannend wie für uns eine Reise in fremde Länder.

Wenn Kinder in der beschriebenen Weise aktiv sind, arbeiten sie am Aufbau ihrer Persönlichkeit. Sie lernen, ihren Willen in sinnvolle Handlungen umzusetzen. Da kleine Kinder eine große Freude an genauen Bewegungen haben, geht das Streben nach Unabhängigkeit einher mit dem Bestreben, etwas genau und richtig zu tun. Deswegen ist es wichtig, dass die Eltern und anderen Erzieher kleinen Kindern die Durchführung einer Handlung langsam, genau und gut beobachtbar zeigen. Es ist nämlich nicht egal, wie man etwas macht. Das Kind übernimmt von seinen Eltern und Erziehern zusammen mit der Handlung auch die Weise, wie sie ausgeführt wird: sorgfältig oder nachlässig, sachgerecht oder willkürlich. Geschicklichkeit und Disziplin können sich nur in einer Atmosphäre entwickeln, in der sie auch vorgelebt werden.

Wenn der kindliche Aktivitätsdrang unterdrückt, behindert, falsch gelenkt oder in einer unangemessenen Weise sich selbst überlassen wird, dann wird das Kind in seiner positiven Entwicklung gestört. Es lernt nicht, seinen Willen in sinnvolle Tätigkeiten umzusetzen, es verlernt, seine Entwicklungsbedürfnisse überhaupt wahrzunehmen, oder es gewinnt Freude an zerstörerischen Handlungen. Die Erziehung zu Freiheit und Verantwortung durch sinnvolle, konzentrierte und selbstbestimmte Aktivitäten ist ein zentraler Punkt der Montessori-Pädagogik.

Die Suche nach Orientierung

Vom Beginn seines Lebens an sucht das Kind in der Vielfalt der Eindrücke nach Ordnung und Orientierung. Die »Ordnung«, die das Kind für eine gesunde Entwicklung braucht, bezieht sich sowohl auf die zuverlässige, liebevolle Zuwendung der immer gleichen Personen wie auch auf die Verlässlichkeit täglicher Zeitabläufe oder die gleichbleibende Präsenz von Gegenständen.

Feste Ordnungsstrukturen

Die erste Ordnung, die das Kind entdeckt, liegt wohl im Erkennen der gleichbleibenden Gestalt der Mutter oder anderer Bezugspersonen, deren Stimme, Gesicht, Geruch und Gestalt sich ihm als konstant und zuverlässig einprägen. Im weiteren Verlauf der Entwicklung erfährt das Kind weitere Konstanten: Menschen, Tiere, Gegenstände oder Räume haben bestimmte Erscheinungsformen und Strukturen, die man wiedererkennen kann. Voraussetzung für das Erfassen der Ordnung ist, dass der Säugling und das Kleinkind vielfältige Erfahrungen mit zuverlässig gleichbleibenden Menschen, Gegenständen, Räumen und Zeremonien machen kann. Es gewinnt dabei nicht nur Einsichten in die Ordnung seiner Umwelt, sondern es baut zugleich seine geistigen Kräfte auf, die es ihm ermöglichen, geordnet und strukturiert zu denken, zu handeln und zu fühlen.

Die Suche nach Orientierung und das Erkennen von Ordnungen lassen sich an vielen Beispielen beobachten. Bekannt ist das Versteckenspielen mit kleinen Kindern: Man versteckt sich vor den Augen des Kindes z.B. hinter einem Sessel und lässt sich dann zur großen Freude des Kindes genau dort wiederfinden. Zeigt eine Mutter ihrem Kleinkind, wie es eine Gabel gerade neben den Teller legt, so kann das Kind seine Freude daran haben, die Gabel immer wieder zurechtzurücken, wenn sie schief hingelegt wird. Beim Erzählen einer Geschichte bestehen die Kinder darauf, dass sie immer in den gleichen Worten erzählt wird. Auch Zeremonien müssen genau eingehalten werden. So gab Christoph bei einem seiner Geburtstage ein Playmobilpäckchen zurück, weil es (aus Umweltschutzgründen) nicht in Geschenkpapier eingepackt war. Erst als das Päckchen wie gewohnt verpackt war, konnte Christoph es als Geschenk akzeptieren. Das Beispiel zeigt nicht nur die Bedeutsamkeit von Ritualen, sondern auch die Bedeutung von Symbolen: Durch das Symbol »Geschenkpapier« wird der Gegenstand in seiner Bedeutung erhoben und zu einem Zeichen besonderer Zuneigung.

Manchmal kann das kindliche Beharren auf einer bestimmten Ordnung schwierig werden. Marco, knapp 2Jahre alt, nahm an Weihnachten die Zeremonie des Heiligen Abends wohl auf besonders intensive Weise wahr: Die Dunkelheit des Wohnzimmers war erhellt durch die brennenden Kerzen am Weihnachtsbaum, durch die Kerzen im vierarmigen Leuchter auf der Kredenz und durch eine weitere Kerze auf dem Tisch. Als der Vater am nächsten Tag zum Mittagessen die Kerzen am Weihnachtsbaum anzündete, bestand Marco darauf, dass die Rollläden heruntergelassen wurden (auch am Heiligen Abend waren die Rollläden geschlossen gewesen) und die Kerzen am vierarmigen Leuchter und die Kerze auf dem Tisch ebenfalls angezündet wurden. Nun war er zufrieden und konnte essen. Erst in den nächsten Tagen gelang es den Eltern, die Zeremonie so weit zu modifizieren, dass das Zimmer nicht jedes Mal durch das Herunterlassen der Rollläden verdunkelt werden musste, wenn die Kerzen angezündet werden sollten.

Strukturierende Tätigkeit des Kindes

Bemerkenswert an dieser Geschichte ist, dass das Kind in einer bestimmten Situation aus den vielen möglichen Ordnungskriterien jene auswählt, die ihm individuell bedeutsam erscheinen. Hier war es wohl der Kontrast der hellen Kerzen zu der Dunkelheit des Wohnzimmers.

Solche Begebenheiten kann man bei allen Kindern beobachten, allerdings in unterschiedlicher Stärke oder Heftigkeit. Häufig werden sie in ihrer Bedeutung für die Entwicklung des Kindes nicht erkannt. In Wahrheit erlebt das Kind jedoch dabei die Freude, im Chaos unterschiedlichster Erscheinungsformen bestimmte Dinge in ihrer Beziehung zueinander wiederzuerkennen. Deswegen ist es wichtig, dem Kind eine Umgebung zu schaffen, in der alle Gegenstände ihren angestammten Platz haben und jederzeit für den Gebrauch bereit und in ihrer Quantität so maßvoll sind, dass das Kind nicht die Übersicht verliert. Die Gegenstände müssen dem Kind helfen, Ordnungsstrukturen zu finden und zu erproben. Mit ihrem »Sinnesmaterial« schuf Montessori Arbeitsmittel, die dem Kind erlauben, geordnete Erfahrungen z.B. mit Dimensionen, Farben, Geräuschen u.a. zu machen und diese in ihren Gleichheiten, Paarbildungen und Abstufungen zu erleben.

»In einer solchen, in ihren Zusammenhängen bekannten Umwelt vermag das Kind sich zu orientieren, sich zu bewegen und seine Zwecke zu erreichen. Ohne diese Fähigkeit, Beziehungen herzustellen, würde ihm jede Grundlage fehlen, und es befände sich gleichsam in der Lage eines Menschen, der zwar Möbel besitzt, aber keine Wohnung, um sie darin aufzustellen (Montessori 2010b: 89).

In der kleinkindlichen Entwicklungsphase wird das Fundament gelegt für die Fähigkeit des Menschen, sich zu orientieren. Aber die Suche nach Struktur und Ordnung hört damit nicht auf, sondern bezieht sich mit wachsendem Alter auf immer weiter werdende Lebensbereiche. Deswegen ist auch für das Schulkind eine zuverlässige Ordnung unverzichtbar, damit es die gewonnenen Erfahrungen richtig einordnen kann, wie das folgende Beispiel zeigt.

Es ist die fünfte Schulwoche. Conny, ein Erstklässler, steht neben der Lehrerin am Lehrertisch und zeigt ihr seine Arbeit. Unvermittelt sagt er dann: »Weißt du, was an der Schule so schön ist?«

»Was denn?«, fragt die Lehrerin und freut sich schon auf ein Lob.

»Dass man viermal am Tag was zu essen kriegt«, antwortet er.

Die Lehrerin ist verdutzt und versteht nicht, was er meint. Aber Conny erzählt schon weiter: »Morgens gibt es erst Frühstück. Dann ist Frühstückspause in der Schule. Dann Mittagessen und dann noch Abendessen. Aber am Freitag kam die Laura so spät aus der Schule und wir mussten sofort zum Judo. Und dann sind wir zur Oma gefahren. Deswegen gab es kein Mittagessen.« Da verstand die Lehrerin, was er ihr mitteilen wollte: Er hatte entdeckt, dass die Mahlzeiten den Tag strukturieren, dass diese Ordnung aber manchmal auch durchbrochen wird und dass er die Gründe, die dazu führen, verstehen kann.

Der Erwerb der Sprache und die Bedeutung der Gemeinschaft

Eine weitere sensible Phase in der Kleinkindzeit ist die für das Sprechenlernen. Dass wir überhaupt sprechen können, verdanken wir den ersten Kinderjahren. Würde ein Kind in den ersten Jahren seines Lebens ohne menschliche Ansprache aufwachsen, so würde es nur sehr schwer und mit hohem Aufwand sprechen lernen.

Sprechenlernen als Erwerb einer geistigen Welt

Durch die Sprache, die das Kind ganzheitlich erfasst, steht es in einem intensiven Austausch mit seinen Eltern und überhaupt mit anderen Menschen. Zugleich passt sich das Kind dadurch an den Kulturkreis an, in den es hineingeboren worden ist. Es übernimmt dessen Begrifflichkeit und Deutung und gewinnt so eine innere geistige Welt. Durch die Sprache stellt das Kind Gemeinschaft mit anderen Menschen her, es kann Gedanken und Gefühle äußern und sich darüber mit anderen austauschen. Es gewinnt heimatliche Verwurzelung. Je differenzierter der sprachliche Ausdruck ist, in den das Kind hineinwächst, desto differenzierter wird auch seine Fähigkeit, die Wirklichkeit sprachlich zu erfassen. In der Vorschulzeit erwacht auch das Interesse für Buchstaben. Kinder, die in einer Stadt groß werden, sehen in ihrer Umgebung ganz selbstverständlich viel Geschriebenes und prägen sich die Formen ein. Wenn sie dann auch zu Hause erleben, dass Lesen und Schreiben wichtig sind, wenden sie ihr Interesse auch der Schriftsprache zu.

Der Vater eines 4-jährigen Jungen erzählt: »Wir stehen an der Kreuzung im Stau vor der roten Ampel. Michel guckt aus dem Fenster und betrachtet die Autos neben uns. Unvermittelt höre ich Michel buchstabieren: ›(T –) A – ß – I‹. Bevor ich realisiere, worum es überhaupt geht, schlussfolgert er: ›Taxi!‹. Und ich kann nur noch bestätigen: ›Ja, da steht ›Taxi‹!‹ Begeistert sage ich: ›Michel, du kannst ja lesen!‹ Ein Blick in sein Gesicht lässt mich aber unsicher werden, ob er verstanden hat, dass er gerade gelesen hat.«

Am Abend schreibt Michel auch sein erstes Wort. Der Vater beschreibt das so:

»Michel zeichnet ein Polizeiauto und möchte dann wissen, welche Buchstaben noch in ›Polizei‹ sind, das ›P‹ und das ›I‹ habe er schon. Ich spreche ihm langsam vor: ›POOOLLLLIIIIZZZZAAAAIIII‹, doch der Platz zum Schreiben zwischen dem P, dem U und dem I ist für eine Korrektur zu eng. Also kreuzt Michel die bereits geschriebenen Buchstaben ›P‹, ›U‹ und ›I‹ sorgfältig aus. Ich lautiere noch einmal ganz langsam: ›P – O – L – I – Z – A – I‹ und Michel schreibt: ›P U L I‹…Beim ›Z‹ stockt er, und ich schreibe ihm ein ›Z‹ auf. Und weiter geht’s – aus Platzgründen vor dem bereits Geschriebenen und fortan von rechts nach links: ›Z A I ‹ .«

Michel schreibt Polizei

Spontane Aktivität des Kindes

Beide Beobachtungen zeigen, dass der Impuls für das Lesen und Schreiben vom Kind ausgeht und es – scheinbar plötzlich – dazu fähig ist. Es ist das spontane Werk des Kindes, das durch Beobachtung viele Kenntnisse erworben hat und diese Kenntnisse plötzlich strukturiert und neu zusammenfügt.

Das Interesse kleiner Kinder an der Schrift veranlasste Maria Montessori, Arbeitsmittel für das erste Schreiben und Lesen herzustellen, um den 4- und 5-jährigen Kindern die nötigen Anregungen für das spontane Schreiben- und Lesen-Lernen zu geben (Montessori 2010b: 184f).

1.2Die Entwicklung zwischen 6 und 12Jahren

Irgendwann zwischen dem 5. und 7.Lebensjahr kann man Änderungen im Verhalten des Kindes beobachten, die darauf hindeuten, dass ein neuer Entwicklungsabschnitt begonnen hat. Zu den in der vorhergehenden Phase zu beobachtenden Entwicklungsbedürfnissen (Bewegung, Ordnung, Sprache) treten neue Sensibilitäten hinzu:

das Bedürfnis nach Erweiterung des Aktionskreises,

das Bedürfnis, die Vorstellungskraft zu üben, Kulturtechniken zu erwerben und Naturphänomene zu erforschen,

das Bedürfnis nach Orientierung in moralischen und sozialen Fragen.

Die Erweiterung des Erfahrungs- und Handlungsraumes

Während das Kind früher im engeren Bereich von Familie und Kindergarten gut aufgehoben war, will es nun seinen Handlungsspielraum erweitern. Der Schuleintritt ist ein Ereignis, das die Kinder als Meilenstein ihres Größerwerdens erleben. Groß werden heißt selbstständig werden. Die Kinder möchten allein zur Schule gehen und erwarten von den Eltern Hilfestellung und Ermutigung, dies auch zu tun.

Hilfe zur Selbstständigkeit

»Hilf mir, es selbst zu tun« (Montessori 2010b: 274): Dieser Satz aus dem Munde eines Kindes ist zu einem Schlagwort der Montessori-Pädagogik geworden. Der erste Teil des Satzes: »Hilf mir… « erinnert daran, dass das Kind Erwachsene braucht, die ihm Orientierung und Anleitung geben. Der zweite Teil: »… meine Arbeit selbst zu tun« meint, dass die Erwachsenen, nachdem sie Orientierung und Anleitung gegeben haben, wohl zunächst noch zurückhaltend beobachten, dem Kind aber dann den Freiraum und das Vertrauen geben sollen, damit es selbst tätig werden kann. Umsichtige Eltern werden z.B. mit dem Kind den Schulweg abgehen, die Gefahrenpunkte aufzeigen und trainieren, wie man damit umgeht. Sie werden auch entscheiden, ob ihr Kind einen bestimmten, vielleicht langen und gefährlichen Schulweg schon selbst bewältigen kann oder ob es noch eine Weile begleitet werden muss. Eltern, die ihr Kind mit den Worten: »Pass nur ja auf!« auf den Schulweg entlassen, ohne vorher die »Arbeitstechnik« Schulweg eingeübt zu haben, sind zwar auch besorgt, ob ihr Kind heil zur Schule kommt. Aber sie versäumen es, dem Kind an Ort und Stelle zu zeigen, was denn »aufpassen« bedeutet. Sie versetzen es nicht in die Lage, umsichtig zu handeln. Eltern hingegen, die ihr Kind, obwohl es längst allein gehen könnte, auch nach Wochen noch bis zur Schule bringen, nehmen zwar die Hilfe sehr ernst, versagen dem Kind aber in diesem Bereich das Selbstständigwerden.

Soziale Beziehungen

Die Schule bedeutet nicht nur eine Erweiterung des räumlichen Umfeldes, sondern auch der sozialen Kontakte. Das Kind lernt viele neue Kinder kennen, zu denen es in Beziehung treten will oder muss. Mit Begeisterung erlebt es neue Freundschaften, mit Enttäuschung erlebt es das Zerbrechen alter Beziehungen. »Hilf mir, neue Kontakte zu finden oder zerbrochene Beziehungen zu verkraften« bedeutet für die Eltern, die bei den entsprechenden Situationen in der Schule ja nicht anwesend sind, sondern sie nur durch die subjektive Schilderung der Kinder kennen, nicht, dass sie nun ihrerseits tätig werden, um für die Kinder Kontakte herzustellen. Es bedeutet in erster Linie: zuhören und sich einfühlen, wenn das Kind die Schulerlebnisse erzählt; es ermuntern, über Lösungsmöglichkeiten nachzudenken und diese auszuprobieren; erneut zuhören, ob die gefundenen Lösungen erfolgreich waren.