Die Morde in der Rue Morgue und andere Erzählungen - Edgar Allan Poe - E-Book

Die Morde in der Rue Morgue und andere Erzählungen E-Book

Edgar Allan Poe

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Beschreibung

Edgar Allan Poe, der Meister des Unheimlichen, Grauenhaften und Grotesken, verfasste mehr als 70 Kurzgeschichten, von denen sich die bekanntesten 21 hier versammelt finden: "Die Grube und das Pendel" handelt von den grauenhaften Foltermethoden zur Zeit der Spanischen Inquisition, "Die Maske des Roten Todes" erzählt von der Unaufhaltbarkeit einer Seuche und "Das Fass Amontillado" von einem perfiden Racheakt. Doch Poe konnte nicht nur das Unheimliche und Makabre in Worte fassen, er erschuf auch den ersten analytisch denkenden Privatdetektiv der Literatur: In "Der entwendete Brief" und "Die Morde in der Rue Morgue" stellt der exzentrische Le Chevalier C. Auguste Dupin seine scharfsinnigen Fähigkeiten unter Beweis. – Mit einer kompakten Biographie des Autors.

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Seitenzahl: 563

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Edgar Allan Poe

Die Morde in der Rue Morgue und andere Erzählungen

Reclam

2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung

Coverabbildung: © Gutentag-Hamburg

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2020

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961806-7

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-978-3-15-020608-9

www.reclam.de

Inhalt

Ein Manuskript per Flaschenpost

Das Stelldichein

Ligeia

In der Klemme

Der Untergang des Hauses Usher

William Wilson

Der Massenmensch

Die Morde in der Rue Morgue

Im Wirbel des Maelström

Eleonora

Das ovale Porträt

Die Maske des Roten Todes

Das verräterische Herz

Die Grube und das Pendel

Der Goldkäfer

Die schwarze Katze

Eine Geschichte vom Felsengebirge

Du bist der Täter

Der entwendete Brief

Die Tatsachen im Fall Valdemar

Das Fass Amontillado

Zu dieser Ausgabe

Zeittafel

Ein Manuskript per Flaschenpost

Qui n’a plus qu’un moment à vivre

N’a plus rien à dissimuler.

Wer nur noch einen Moment zu leben hat, hat nichts mehr zu verbergen.

 QUINAULT, Atys1

Zu meinem Vaterland und meiner Familie habe ich wenig zu sagen. Ungerechtigkeiten und der Lauf der Zeit haben mich aus dem einen vertrieben und der anderen entfremdet. Ererbter Wohlstand gewährte mir eine Ausbildung von nicht gerade üblichem Format, und eine beschauliche Geisteshaltung ermöglichte es mir, die in frühen Studien sehr emsig gespeicherte Fülle von Kenntnissen methodisch zu ordnen. – Vor allem das Studium der deutschen Moralisten bereitete mir großes Vergnügen; nicht aus irgendeiner unbesonnenen Bewunderung deren beredter Verrücktheit heraus, sondern der Leichtigkeit wegen, mit der meine strengen Denkgewohnheiten es mir ermöglichten, die Falschheiten aufzudecken. Oft wurde mir die Trockenheit meines Geistes vorgeworfen; ein Mangel an Vorstellungskraft ist mir als Verbrechen angerechnet worden; und für den Pyrrhonismus2 meiner Betrachtungsweisen war ich allzeit berüchtigt. In der Tat befürchte ich, dass mein Verstand durch einen starken Hang zu den Naturwissenschaften von einem in dieser Zeit sehr üblichen Irrtum angesteckt wurde – ich meine die Angewohnheit, selbst die für einen derartigen Bezug am wenigsten geeigneten Vorkommnisse auf die Gesetze jener Wissenschaften zu beziehen. Im Großen und Ganzen könnte niemand weniger anfällig dagegen sein als ich, von dem ignes fatui3 des Aberglaubens aus den genau abgesteckten Grenzen der Wahrheit herausgeführt zu werden. Ich habe es für angebracht gehalten, so viel vorauszuschicken für den Fall, dass die unglaubliche Geschichte, die ich zu erzählen habe, eher für das Ausschweifen einer rohen Phantasie gehalten wird als für die verlässliche Erfahrung eines Geistes, der Träumereien und Hirngespinsten unzugänglich ist und sie für null und nichtig erklärt.

Nach vielen Jahren des Reisens in der Fremde schiffte ich mich im Jahr 18 . . zu einer Fahrt vom Hafen von Batavia4 auf der reichen, stark bevölkerten Insel Java zu dem Archipel der Sundainseln ein. Ich fuhr als Passagier – ohne weiteren Anlass als eine Art nervöser Unrast, die mich heimsuchte wie eine Furie.

Unser Fahrzeug war ein schönes Schiff von ungefähr vierhundert Tonnen, mit Kupfer verbolzt und in Bombay aus malabrischem Teakholz5 gefertigt. Es war mit Baumwolle und Öl von den Lakkadiven6 beladen. Wir hatten auch Kokosfaser, Jagremelasse, Büffelbutter, Kokosnüsse und einige Kisten Opium an Bord. Die Ladung war ungeschickt verstaut worden, folglich konnte das Fahrzeug leicht kentern.

Mit einem bloßen Hauch von Wind stachen wir in See und standen viele Tage lang vor der Ostküste Javas, ohne dass irgendein anderer Zwischenfall die Eintönigkeit unseres Kurses unterbrochen hätte als die gelegentliche Begegnung mit einigen der kleinen Zweimaster der Küstenschifffahrt des Archipels, zu dem wir unterwegs waren.

Als ich mich eines Abends über die Heckreling lehnte, gewahrte ich im Nordwesten eine sehr eigentümliche einzelne Wolke. Sie war sowohl ihrer Farbe wegen bemerkenswert als auch deshalb, weil sie die erste war, die wir seit unserer Abfahrt von Batavia gesehen hatten. Ich beobachtete sie aufmerksam bis zum Sonnenuntergang, als sie sich ganz plötzlich ost- und westwärts ausbreitete, den Horizont mit einem schmalen Dunststreifen umgürtete und aussah wie ein langer Strich flachen Strandes. Kurz darauf wurde meine Aufmerksamkeit von der dunkelroten Erscheinung des Mondes und der eigenartigen Beschaffenheit des Meeres gefesselt. Letztere war einer raschen Veränderung ausgesetzt, und das Wasser schien ungewöhnlich durchsichtig. Obwohl ich den Grund deutlich sehen konnte, zeigte mir doch das Lot, das ich warf, fünfzehn Faden7 Tiefe an. Die Luft wurde nun unerträglich heiß und war mit spiralförmigem Brodem geladen, ähnlich dem, der von erhitztem Eisen aufsteigt. Als die Nacht hereinbrach, erstarb jeglicher Lufthauch; eine vollkommenere Windstille ist unvorstellbar. Auf der Achterhütte brannte die Flamme einer Kerze ohne die geringste erkennbare Bewegung, und ein langes Haar, das ich zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, hing herab, ohne dass auch nur das leiseste Schwingen zu entdecken war. Da der Kapitän jedoch sagte, er könne kein Anzeichen von Gefahr wahrnehmen, und da wir unweigerlich gegen die Küste trieben, befahl er, die Segel zu reffen und den Anker zu werfen. Es wurde keine Wache aufgestellt, und die Mannschaft, die hauptsächlich aus Malaien bestand, streckte sich gemächlich auf dem Deck aus. Nichts Gutes ahnend, ging ich unter Deck. Tatsächlich war meine Angst vor einem Samum8 allem Anschein nach gerechtfertigt. Ich teilte dem Kapitän meine Befürchtungen mit; er aber schenkte meinen Worten keine Aufmerksamkeit und entfernte sich, ohne mich einer Antwort zu würdigen. Mein Unbehagen hinderte mich jedoch daran zu schlafen, und gegen Mitternacht ging ich auf Deck. – Als ich meinen Fuß auf die oberste Stufe der Kajütentreppe setzte, stutzte ich vor einem lauten, summenden Ton ähnlich jenem, den die schnellen Umdrehungen eines Mühlrades erzeugen, und bevor ich dessen Bedeutung noch ermitteln konnte, spürte ich, wie das Schiff bis ins Innerste erbebte. Im nächsten Augenblick wurde es von einer schäumenden Wildnis, die von vorn nach achtern über uns brauste und vom Vorder- bis zum Hintersteven über die gesamten Decks fegte, auf die Seite geschleudert.

Die außerordentliche Heftigkeit des Sturms erwies sich in großem Maß als die Rettung des Schiffs: Obwohl es ganz voll Wasser gelaufen war, erhob es sich doch, da die Masten über Bord gegangen waren, nach einer Minute beschwerlich aus dem Meer, taumelte eine Weile unter dem ungeheuren Druck des Unwetters und richtete sich schließlich auf.

Durch welches Wunder ich der Vernichtung entkommen war, ist unmöglich zu sagen. Betäubt von dem Wellenschlag, fand ich mich, als ich wieder zu mir kam, eingeklemmt zwischen Achtersteven und Ruder wieder. Unter großen Schwierigkeiten kam ich auf meine Füße zu stehen, schaute benommen umher und war anfangs von der Vorstellung ergriffen, wir befänden uns inmitten der Brecher einer Brandung; so schreckenerregend, jenseits der ungezügeltsten Einbildungskraft war der Strudel gebirgigen und schäumenden Ozeans, der uns umschlang. Nach einer Weile hörte ich die Stimme eines alten Schweden, der sich just in dem Moment, als wir den Hafen verließen, bei uns eingeschifft hatte. Ich schrie ihn aus Leibeskräften an, und er kam sogleich wankend nach achtern. Wir fanden bald heraus, dass wir die einzigen Überlebenden des Unglücks waren. Außer uns waren alle auf Deck über Bord gefegt worden – der Kapitän und die Maate müssen im Schlaf umgekommen sein, denn die Kabinen waren mit Wasser überschwemmt. Ohne Hilfe konnten wir nicht erwarten, viel für die Sicherheit des Schiffes zu tun, und unsere Bemühungen wurden zunächst von der Erwartung, augenblicklich unterzugehen, gelähmt. Unser Ankertau war auf den ersten Hauch des Orkans hin natürlich wie Bindfaden gebrochen, sonst wären wir unverzüglich versenkt worden. Wir lenzten mit entsetzlicher Geschwindigkeit vor der schweren See, und das Wasser schlug wahre Sturzwellen über uns. Die Spanten des Hinterschiffs waren ungemein ramponiert, und in fast jeder Hinsicht hatten wir beträchtlichen Schaden erlitten; aber zu unserer äußersten Freude entdeckten wir, dass die Pumpen unversehrt waren und unser Ballast sich kaum verlagert hatte. Der größte Ansturm des Unwetters war schon über uns hinweggezogen, und wir sahen keine große Gefahr in der Gewalt des Windes; vielmehr erwarteten wir sein völliges Abflauen mit Bestürzung; denn wir glaubten sicher, dass wir in der dadurch entstehenden gewaltigen Dünung unserer beschädigten Verfassung wegen unvermeidlich zugrunde gehen müssten. Doch diese sehr berechtigte Befürchtung schien sich keineswegs bald bewahrheiten zu wollen. Fünf ganze Tage und Nächte lang – während derer unsere einzige Nahrung in einer kleinen Menge Jagremelasse bestand, die wir uns unter großen Schwierigkeiten aus dem Vorderdeck besorgt hatten – flog der Kahn mit einem Tempo, das jeder Berechnung trotzte, vor rasch aufeinander folgenden Windböen dahin, die, ohne der anfänglichen Heftigkeit des Samums gleichzukommen, immer noch fürchterlicher waren als ein jegliches Unwetter, das ich zuvor erlebt hatte. Die ersten vier Tage lang lag unser Kurs mit geringfügigen Abweichungen bei Südost zu Süd, so dass wir entlang der Küste Neuhollands9 gefahren sein müssen. – Am fünften Tag wurde die Kälte extrem, obwohl der Wind sich auf einen Strich weiter nordwärts gedreht hatte. – Die Sonne ging mit einem kränklich gelben Schimmer auf und kletterte nur sehr wenige Grade über den Horizont – wobei sie kein maßgebliches Licht entsandte. – Es waren keine Wolken sichtbar, doch der Wind nahm zu und blies mit launenhafter, ungleichmäßiger Heftigkeit. Gegen Mittag, so genau wir die Zeit erraten konnten, wurde unsere Aufmerksamkeit wieder von dem Erscheinungsbild der Sonne gefesselt. Sie spendete kein Licht im eigentlichen Sinn, sondern ein trübes, Unheil verkündendes Glühen ohne Widerschein, als ob alle ihre Strahlen polarisiert seien. Gerade bevor sie in der geschwollenen See versank, ging das Feuer in ihrer Mitte plötzlich aus, als werde es von irgendeiner unberechenbaren Macht rasch gelöscht. Sie war nur noch ein matter, silberartiger Kranz, als sie in den unergründlichen Ozean hinabeilte.

Vergeblich warteten wir auf das Anbrechen des sechsten Tages – für mich ist dieser Tag noch nicht angebrochen – für den Schweden wird er nie anbrechen. Von dieser Zeit an waren wir in pechschwarze Dunkelheit gehüllt, so dass wir einen Gegenstand auf zwanzig Schritt Entfernung vom Schiff nicht hätten sehen können. Ewige Nacht umgab uns fortan, nicht einmal gelindert durch den phosphoreszierenden Glanz des Meeres, an den wir in den Tropen gewöhnt gewesen waren. Obwohl das Unwetter weiterhin mit unverminderter Gewalt wütete, beobachteten wir auch, dass das übliche Aufkommen von Gischt oder Schaum, die uns bisher begleitet hatten, nicht länger auszumachen war. Ringsumher war Entsetzen, undurchdringliche Düsterkeit und eine schwarze, verschmelzende Wüste aus Ebenholz. – Abergläubisches Grauen kroch nach und nach in das Gemüt des alten Schweden, und meine eigene Seele war in stilles Staunen gehüllt. Wir vernachlässigten jegliche Wartung des Schiffes, die wir für schlimmer als nutzlos hielten, machten uns so gut wie möglich am Stumpf des Besanmastes fest und schauten bitterlich in die Welt des Meeres hinaus. Wir hatten keinerlei Mittel, die Zeit zu berechnen, noch konnten wir unsere Lage irgendwie erraten. Doch waren wir uns sehr wohl bewusst, dass wir weiter südwärts vorgedrungen waren als je ein Seemann zuvor, und verspürten große Verwunderung darüber, nicht auf die üblichen Hindernisse aus Eis zu treffen. Unterdessen drohte jeder Augenblick, unser letzter zu sein, jede berghohe Welle beeilte sich, uns zu überwältigen. Die Dünung überragte alles, was ich für möglich erachtet hatte, und dass wir nicht augenblicklich begraben wurden, ist ein Wunder. Mein Gefährte sprach von der Leichtigkeit unserer Ladung und erinnerte mich an die ausgezeichneten Eigenschaften unseres Schiffes; aber ich konnte mir nicht helfen, die äußerste Hoffnungslosigkeit der Hoffnung selber zu verspüren, und bereitete mich düsteren Mutes auf jenen Tod vor, von dem ich dachte, dass ihn nichts länger als eine Stunde hinausschieben könne, da das Anschwellen der ungeheuren schwarzen Wogen mit jedem Knoten Weges, den das Schiff zurücklegte, entsetzlicher und grässlicher wurde. Mal rangen wir in einer Höhe jenseits der des Albatrosses nach Luft – mal wurde uns schwindlig von der Rasanz unserer Talfahrt in eine wässrige Hölle, wo die Luft stillstand und kein Ton den Schlummer des Kraken10 störte.

Wir befanden uns am tiefsten Punkt eines dieser Abgründe, als ein jäher Schrei meines Gefährten angsterfüllt über die Nacht hereinbrach. »Sieh da! Sieh!«, schrie er, kreischte er mir in die Ohren, »allmächtiger Gott! Sieh da! Sieh!« Als er sprach, gewahrte ich das gedämpfte, unheilvolle Leuchten eines roten Lichtscheins, der die Seitenwände der gewaltigen Kluft, in der wir lagen, hinabströmte und ein zuckendes Schimmern auf unser Deck warf. Ich wandte meine Augen nach oben; da bot sich mir ein Anblick, der mir das Blut in den Adern erstarren ließ. In entsetzlicher Höhe genau über uns und just auf der Kippe des jähen Gefälles schwebte ein riesenhaftes Schiff von vielleicht viertausend Tonnen. War es auch auf den Kamm einer Welle von mehr als hundertmal seiner eigenen Höhe emporgehoben, so übertraf seine offenbare Größe dennoch die eines jeden Schiffes der Ostindienlinie11, das es gibt. Sein gewaltiger Rumpf war von einem dumpfen Tiefschwarz, das durch keine der an Schiffen üblichen Schnitzereien aufgeheitert wurde. Eine einzige Reihe messingner Kanonen ragte aus den offenen Geschützluken hervor, und die polierten Oberflächen spiegelten das Feuer unzähliger Gefechtslaternen wider, welche in der Takelage hin und her schwangen. Was uns aber in erster Linie Schrecken und Staunen einflößte, war, dass das Schiff jener übernatürlichen See und jenem unbändigen Orkan mit vollen Segeln trotzte. Als wir es zum ersten Mal erspäht hatten, war allein sein Bug zu sehen, da es langsam aus dem düsteren, grauenvollen Schlund hinter sich emporstieg. Für die Dauer eines Augenblicks äußersten Entsetzens hielt es auf dem schwindeligen Grat inne, als sei es in die Betrachtung der eigenen Erhabenheit versunken, erbebte dann, wankte und – stürzte hinab.

Ich weiß nicht, welch plötzliche Selbstbeherrschung meinen Geist in diesem Moment überkam. Ich taumelte so weit nach achtern, wie ich konnte, und erwartete furchtlos den drohenden Untergang. Unser eigenes Gefährt ließ nun schließlich vom Kampf ab und versank mit der Nase im Meer. Die kolossale, niederfahrende Masse prallte folglich auf den Teil seines Gerippes, der sich schon unter Wasser befand, und das unvermeidliche Ergebnis davon war, dass ich mit unwiderstehlicher Gewalt in die Takelage des Fremden geschleudert wurde.

Als ich fiel, drehte das Schiff ab und ging über Stag; der darauf folgenden Verwirrung schrieb ich es zu, dass ich der Beachtung der Mannschaft entging. Ohne große Schwierigkeiten gelangte ich unbemerkt zu der Großluke, die halb offen stand, und fand bald eine Gelegenheit, mich im Laderaum zu verbergen. Warum ich das tat, kann ich kaum sagen. Ein unbestimmtes Gefühl der Scheu, das mich auf den ersten Anblick der Seeleute des Schiffes hin überkommen hatte, war vielleicht die Ursache für mein Verstecken. Ich war nicht gewillt, mich einem Menschenschlag anzuvertrauen, der dem flüchtigen Blick, den ich um mich geworfen hatte, so viele Anzeichen von rätselhafter Ungewöhnlichkeit, so viel Grund für Zweifel und Argwohn geboten hatte. Deshalb hielt ich es für angebracht, mir ein Versteck in dem Laderaum zu schaffen. Dies bewerkstelligte ich, indem ich einen kleinen Teil der Schotten derart verrückte, dass sich mir ein bequemer Zufluchtsort zwischen den gewaltigen Schiffsbalken bot.

Kaum hatte ich meine Arbeit vollendet, als mich Schritte im Laderaum nötigten, Gebrauch davon zu machen. Ein Mann passierte mein Versteck mit kraftlosem, unsicherem Gang. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, bekam aber Gelegenheit, seine allgemeine Erscheinung zu betrachten. Sie zeugte von hohem Alter und von Gebrechlichkeit. Seine Knie wankten unter der Last seiner Jahre, sein ganzes Gerippe bebte unter dieser Bürde. Mit leiser, gebrochener Stimme murmelte er einige Worte in einer Sprache vor sich hin, die ich nicht verstehen konnte, und durchstöberte in einer Ecke einen Stapel einzigartig anmutender Gerätschaften und morscher Seekarten. Sein Gebaren war eine wilde Mischung aus der Launenhaftigkeit der zweiten Kindheit und der Ehrfurcht erweckenden Würde eines Gottes. Schließlich ging er auf Deck, und ich sah ihn nicht wieder.

***

Ein Gefühl, für das ich keinen Namen habe, hat von meiner Seele Besitz ergriffen – eine Empfindung, die keine Analyse gestattet, für die die Lehren vergangener Zeiten unzulänglich sind, und zu der, so fürchte ich, selbst die zukünftige Welt mir keinen Schlüssel bieten wird. Für eine Geisteshaltung wie die meine ist letztere Überlegung ein Übel. Niemals werde ich – niemals, das weiß ich – zufriedengestellt sein, was die Beschaffenheit meiner Eindrücke betrifft. Doch ist es nicht verwunderlich, dass diese Eindrücke unbestimmt sind, da ihr Ursprung in so gänzlich neuartigen Quellen liegt. Ein neuer Sinn – ein neues Sein wird meiner Seele hinzugefügt

***

Es ist lange her, seit ich das Deck dieses schrecklichen Schiffes erstmals betrat, und nun, glaube ich, werden die Strahlen meines Schicksals in einem Brennpunkt gesammelt. Unbegreifliche Männer! Eingehüllt in Grübeleien einer Art, die ich nicht erahnen kann, übergehen sie mich sang- und klanglos. Es ist meinerseits völlig töricht, mich zu verbergen, denn die Leute sehen nicht. Gerade eben erst ging ich genau vor den Augen des Maats an diesem vorüber – vor kurzem noch wagte ich mich in die Privatkajüte des Kapitäns hinein und entnahm daraus die Materialien, mit denen ich schreibe und geschrieben habe. Ich werde dieses Tagebuch von Zeit zu Zeit fortsetzen. Es ist wahr, dass ich keine Gelegenheit finden mag, es der Welt zu übermitteln, aber ich werde nicht versäumen, den Versuch zu machen. Im letzten Augenblick werde ich die Aufzeichnungen in einer Flasche verschließen und diese ins Meer werfen.

***

Ein Ereignis hat sich zugetragen, das mir neuen Anlass zu Überlegungen gab. Sind solche Dinge das Werk gesetzlosen Zufalls? Ich hatte mich auf Deck vorgewagt und mich, ohne irgendwelche Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, auf einen Haufen Tauwerk und alte Segel auf dem Boden der Jolle geworfen. Während ich über die Einzigartigkeit meines Schicksals nachsann, besudelte ich unbewusst den Rand eines sauber gefalteten Leesegels, das nahe mir auf einem Fass lag, mit einem Teerpinsel. Das Leesegel ist nun angeschlagen, und die gedankenlosen Pinselstriche vernetzen sich zu dem Wort ENTDECKUNG.

***

Ich habe in letzter Zeit viele Betrachtungen über die Konstruktion des Fahrzeuges angestellt. Obwohl es gut bestückt ist, ist es, glaube ich, kein Kriegsschiff. Seine Takelage, seine Bauart und seine allgemeine Ausrüstung widerlegen alle eine derartige Vermutung. Was es nicht ist, kann ich mit Leichtigkeit feststellen – was es ist, so fürchte ich, ist unmöglich zu sagen. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber wenn ich das seltsame Modell und das einzigartige Spierengerüst betrachte, die gewaltige Größe und übermäßigen Leinwandflächen, den durchaus einfachen Bug und das veraltete Heck, durchfährt mich ab und zu blitzartig ein Gefühl von Vertrautheit, und immer sind solch undeutliche Schatten von Erinnerungen vermischt mit einem sonderlichen Gedenken alter, fremdländischer Chroniken und lang vergangener Zeiten.

***

Ich habe mir die Balken des Schiffes angesehen. Es ist aus einem mir fremden Material gebaut. Das Holz hat eine seltsame Eigenschaft, die es mir untauglich für den Zweck erscheinen lässt, für den es verwandt wurde. Ich meine seine außerordentliche Porosität, unabhängig von dem wurmstichigen Zustand, der eine Folge der Fahrten in diese Gewässer ist, und abgesehen von der Fäulnis, die mit dem Alter einhergeht. Es mag vielleicht nach einer allzu gewagten Äußerung klingen, aber das Holz trüge jedes Merkmal spanischer Korkeiche, wäre diese durch irgendein unnatürliches Verfahren noch ausgedehnt worden.

Als ich obigen Satz gerade noch einmal las, erinnerte ich mich genau an einen sonderbaren Spruch eines alten, holländischen Seebären. »Es ist so sicher«, soll er gesagt haben, wenn irgendein Zweifel an seiner Glaubhaftigkeit gehegt wurde, »so sicher, wie es ein Meer gibt, auf dem die Schiffe selber an Umfang wachsen werden wie die lebenden Körper der Seeleute.«

***

Vor ungefähr einer Stunde erdreistete ich mich, in eine Gruppe der Besatzung vorzustoßen. Sie zollten mir keinerlei Aufmerksamkeit, und obwohl ich genau in der Mitte aller stand, schien ihnen meine Anwesenheit überhaupt nicht bewusst zu sein. Wie der eine, den ich als ersten im Laderaum gesehen hatte, trugen alle die Anzeichen uralter Greisenhaftigkeit. Ihre Knie zitterten vor Gebrechlichkeit; ihre Schultern waren vor Altersschwäche tief gebeugt; ihre verschrumpelte Haut raschelte im Wind; ihre Stimmen waren leise, zittrig und gebrochen; ihre Augen schillerten von der jahrelang abgesonderten Flüssigkeit; und ihre grauen Haare flatterten schrecklich in dem Unwetter. Um sie herum, überall auf dem Deck verstreut, lagen mathematische Instrumente von wunderlichster und altmodischster Machart.

***

Vor einer Weile erwähnte ich das Anschlagen eines Leesegels. Seit jener Zeit hat das Schiff, das dadurch genau vor den Wind geworfen wurde, seinen schrecklichen Kurs gen Süden beibehalten; jeden Fetzen Leinwand vom Flaggenknopf bis zu den unteren Fockspieren gehisst, schlingerte es alle Augenblicke mit den Raanocken des Bramsegels in die abscheulichste Wasserhölle, die sich ein Mensch nur vorstellen kann. Ich habe das Deck gerade verlassen, wo ich es unmöglich finde, festen Fuß zu fassen, wiewohl die Mannschaft wenig Unannehmlichkeiten zu verspüren scheint. Es kommt mir wie das Wunder aller Wunder vor, dass unser ungeheurer Brocken nicht sogleich und ein für alle Male verschlungen wird. Wir sind sicherlich dazu verdammt, immerfort vor den Pforten der Ewigkeit umherzukreuzen, ohne uns endgültig in die bodenlose Tiefe zu stürzen. Wogen, tausendmal ungeheuerlicher, als ich sie je gesehen habe, entgleiten wir mit der Leichtigkeit der pfeilschnellen Seemöwe; und die kolossalen Wassermassen bäumen sich über uns auf wie Dämonen der Tiefe, aber wie Dämonen, die auf einfache Drohungen beschränkt sind, denen Vernichtung verboten ist. Ich sehe mich veranlasst, dieses häufige Entkommen dem einzigen natürlichen Grund zuzuschreiben, mit dem sich solche Wirkung erklären lässt. – Ich muss annehmen, dass das Schiff unter dem Einfluss irgendeiner starken Strömung oder eines heftigen Soges steht.

***

Ich habe dem Kapitän von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden, noch dazu in seiner eigenen Kajüte – aber wie ich es erwartet hatte, schenkte er mir keine Aufmerksamkeit. Obwohl es an seiner Erscheinung in den Augen eines zufälligen Betrachters nichts gibt, das ihn mehr oder weniger als Mensch auszeichnet, so mischte sich dennoch ein Gefühl ununterdrückbarer Ehrfurcht und Scheu unter die Verwunderung, mit der ich ihn betrachtete. Seine Größe entspricht fast der meinen, das heißt ein Meter dreiundsiebzig. Er ist von kräftiger, stämmiger Statur, weder plump noch das Gegenteil. Aber es ist die Einzigartigkeit des Ausdrucks, der sein Gesicht beherrscht – es ist die fesselnde, die wunderbare, schauerliche Augenscheinlichkeit des so hohen, so außerordentlichen Alters, die in meiner Seele eine Vorahnung – ein unaussprechliches Gefühl erregt. Seine Stirn ist zwar nicht sehr runzlig, scheint aber von Myriaden von Jahren geprägt zu sein. – Seine grauen Haare sind Zeugnisse der Vergangenheit, und seine noch graueren Augen sind Weissagungen der Zukunft. Überall auf dem Kajütenboden verstreut lagen seltsame Folianten mit eisernen Verschlüssen, brüchige wissenschaftliche Instrumente und überholte, längst vergessene Karten. Sein Kopf war auf seine Hände heruntergebeugt, und er war mit feurigem, doch unstetem Blick in ein Papier vertieft, das ich für ein Dekret hielt und das auf alle Fälle einen königlichen Namenszug trug. Wie der erste Seemann, den ich im Laderaum gesehen hatte, murmelte er leise und mürrisch einige Silben in einer fremden Sprache vor sich hin, und obwohl der Sprecher nahe bei meinem Ellbogen saß, schien seine Stimme mein Ohr aus einer Meile Entfernung zu erreichen.

***

Das Schiff und alle darauf sind von dem Geist alter Zeiten durchdrungen. Die Mannschaft gleitet hin und her wie Gespenster begrabener Jahrhunderte; ihre Augen drücken Bitterkeit und Unbehagen aus, und wenn ihre Finger bei dem wilden Funkeln der Gefechtslaternen in meinen Weg geraten, fühle ich mich, wie ich mich nie zuvor gefühlt habe, obwohl ich mein Leben lang mit Altertümern Handel getrieben und die Schatten eingestürzter Säulen in Baalbek12, Tadmor13 und Persepolis14 eingesogen habe, bis gar das Innerste meiner Seele zu einer Ruine wurde.

***

Wenn ich mich umsehe, schäme ich mich meiner früheren Befürchtungen. Erzitterte ich vor dem Sturm, der uns bisher begleitet hat, muss mich dann nicht ein Krieg zwischen Wind und Ozean entsetzen – um eine Vorstellung davon zu übermitteln, wofür die Wörter Tornado und Samum zu gemein und schwach sind? In der unmittelbaren Nachbarschaft des Schiffes ist alles von der Schwärze ewiger Nacht und ein Chaos schaumlosen Wassers; aber in der Entfernung ungefähr einer Seemeile kann man hin und wieder zu beiden Seiten verblüffende Wälle aus Eis sehen die sich in den trostlosen Himmel emportürmen und wie die Wände des Universums aussehen.

***

Wie ich es mir gedacht hatte, ist das Schiff von einer Strömung ergriffen; falls diese Bezeichnung korrekterweise einer Flut gegeben werden kann, die unter weißem Eis heulend und kreischend mit der Geschwindigkeit eines jäh niederstürzenden Wasserfalls gen Süden braust.

***

Ich bilde mir ein, dass es gänzlich unmöglich ist, sich einen Begriff von der Grauenhaftigkeit meiner Gefühle zu machen; doch überwiegt die Neugierde darauf, die Mysterien dieser abscheulichen Gegenden zu ergründen, sogar meine Verzweiflung und wird mich auch über die grässlichste Erscheinung des Todes hinwegtrösten. Es ist offensichtlich, dass wir irgendeiner aufregenden Erkenntnis entgegeneilen – irgendeinem Geheimnis, das niemand je teilen wird, das zu erfassen Vernichtung bedeutet. Vielleicht führt uns die Strömung zum Südpol selbst. Hier muss eingeräumt werden, dass eine scheinbar so wilde Annahme von aller Wahrscheinlichkeit begünstigt wird.

***

Die Mannschaft geht mit unruhigem, zittrigem Schritt auf Deck auf und ab; auf ihren Gesichtern liegt jedoch eher ein Ausdruck gieriger Hoffnung als teilnahmsloser Verzweiflung.

Mittlerweile bläst der Wind immer noch von der Achterhütte her, und da eine Menge Segel prangen, wird das Schiff ab und zu wahrhaftig völlig aus dem Meer gehoben! Oh, Schrecken folgt auf Schrecken! – Das Eis öffnet sich plötzlich zur Rechten und zur Linken, und wir wirbeln schwindelerregend in ungeheuren, konzentrischen Kreisen rund um die Wand eines gigantischen Amphitheaters herum, deren oberer Rand sich in der Dunkelheit und der Entfernung verliert. Aber es wird mir wenig Zeit bleiben, über mein Schicksal nachzusinnen – die Kreise werden schnell kleiner – wir treiben wie toll in der Gewalt des Strudels – und inmitten des Tosens, Brausens und Donnerns von Meer und Sturm bebt das Schiff, o Gott! – und geht unter.

 

Anmerkung: »Ein Manuskript per Flaschenpost« wurde ursprünglich 1831 veröffentlicht, und erst viele Jahre später lernte ich die Karten von Mercator kennen, auf denen der Ozean dargestellt wird, als rausche er durch vier Mündungen in den Schlund des (Nord-)Pols, um von den Eingeweiden der Erde aufgesogen zu werden; den Pol selbst stellt ein schwarzer Felsen dar, der sich in ungeheure Höhen emportürmt.15

 

1833    Übersetzung von Erika Engelmann

Das Stelldichein16

Wart auf mich dort! Ich werde nicht fehlen,

Dich in jenem hohlen Tal zu treffen.

(Leichenrede beim Tode seiner Gattin von Henry King, Bischof von Chichester.)

Unglückseliger und rätselhafter Mann! – Verwirrt von dem Feuer deiner eigenen Phantasie und in die Flammen deiner eigenen Jugend gestürzt! Wieder sehe ich dich vor mir! Noch einmal ist deine Gestalt vor mir erstanden! – nicht – oh, nicht wie du bist– in dem kalten Tal und Schatten–, sondern wie du sein solltest – ein Leben herrlicher Gedankenverlorenheit vergeudend in jener Stadt trüber Visionen, deinem eigenen Venedig, das ein von den Sternen geliebtes Elysium des Meeres ist, und die weiten Fenster seiner Palladio-Paläste17 schauen mit tiefer und bitterer Bedeutung hinunter auf die Geheimnisse seiner stillen Wasser. Ja! Ich wiederhole es – wie du sein solltest. Sicherlich gibt es andere Welten als diese – andere Gedanken als die Gedanken der Menge – andere Erwägungen als die Erwägungen des Sophisten. Wer denn sollte Bedenken gegen dein Vorgehen erheben? Wer dich deiner träumerischen Stunden wegen tadeln oder diese Beschäftigungen als ein Verschwenden des Lebens rügen, die ja nur die Überflutungen deiner immerwährenden Kräfte waren?

Es war in Venedig, unter dem gedeckten Bogengang dort, der Ponte di Sospiri genannt wird, dass ich die Person, von welcher ich spreche, zum dritten oder vierten Male traf. Verwirrt ist die Erinnerung, mit der ich mir die Umstände jenes Treffens ins Gedächtnis rufe. Jedoch erinnere ich mich – oh! wie könnte ich es vergessen? – an die tiefe Mitternacht, an die Seufzerbrücke, an weibliche Schönheit und an das Genie der Romantik, das den schmalen Kanal auf und ab schritt.

Es war eine Nacht von ungewöhnlicher Düsterkeit. Die große Uhr der Piazza hatte die fünfte Stunde des italienischen Abends eingeläutet. Der Platz des Campanile lag still und verlassen da, und die Lichter in dem alten Dogenpalast starben schnell dahin. Ich kehrte von der Piazzetta über den Canal Grande nach Hause zurück. Aber als meine Gondel gegenüber der Mündung des Kanals von San Marco ankam, brach plötzlich eine weibliche Stimme aus ihrem tiefsten Grund in einem wilden, hysterischen und lang andauernden Schrei über die Nacht herein. Der Klang ließ mich erbeben, und ich sprang auf, während der Gondoliere sein einziges Ruder entgleiten ließ und es in der pechschwarzen Dunkelheit für immer verlor, und so waren wir der Führung der Strömung überlassen, die sich hier von dem größeren in den kleineren Kanal fortsetzt. Wie ein ungeheurer schwarzgefiederter Kondor trieben wir langsam hinunter zur Seufzerbrücke, als Tausende von Leuchtern von den Fenstern und Treppenhäusern des Dogenpalastes her aufflammten und die tiefe Düsternis plötzlich in einen bleifarbenen und übernatürlichen Tag verwandelten.

Ein Kind war den Armen seiner eigenen Mutter entglitten und von einem der oberen Fenster des hohen Bauwerks in den tiefen, trüben Kanal gefallen. Die stillen Wasser hatten sich sanft über ihrem Opfer geschlossen; und obgleich meine eigene Gondel die einzige in Sicht war, hatte sich manch ein kühner Schwimmer schon in den Strom geworfen und suchte an der Oberfläche vergebens nach dem Schatz, der, o weh! nur in dem Abgrund zu finden war. Auf den breiten schwarzen Marmorplatten am Eingang des Palastes und ein paar Stufen über dem Wasser stand eine Gestalt, die niemand, der sie damals gesehen, seither je vergessen haben kann. Es war die Marchesa Aphrodite – die Angebetete ganz Venedigs – die Strahlendste der Strahlenden – die Lieblichste, wo alle schön waren – aber dennoch die junge Gattin des alten und arglistigen Mentoni und die Mutter jenes hübschen Kindes, ihres ersten und einzigen, das jetzt tief unter dem finsteren Wasser mit bitterem Herzen ihrer süßen Liebkosungen gedachte und sein kleines Leben in dem Bestreben, ihren Namen zu rufen, aushauchte.

Sie stand allein. Ihre kleinen, bloßen und silbrigen Füße schimmerten unter ihr in dem schwarzen Spiegel von Marmor. Ihr Haar, aus seiner Ballsaalfrisur bislang nicht mehr als halb für die Nacht gelöst, wand sich inmitten einer Fülle von Diamanten gekräuselt wie eine junge Hyazinthe rund um ihren klassischen Kopf. Ein schneeweißes und gazeartiges Gewand schien fast die einzige Bedeckung ihrer zierlichen Gestalt zu sein; aber die Mittsommer- und Mitternachtsluft war heiß, träge und still, und keine Bewegung in der statuenhaften Gestalt selbst regte auch nur die Falten jenes Kleidungsstückes aus reinstem Dunst, das um sie hing wie der schwere Marmor um Niobe18 hängt. Jedoch – seltsam! – ihre großen, leuchtenden Augen waren nicht nach unten gewandt auf das Grab, in dem ihre strahlendste Hoffnung begraben lag – sondern starrten gebannt in eine ganz verschiedene Richtung! Das Gefängnis der Alten Republik ist, denke ich, das stattlichste Gebäude in ganz Venedig – aber wie konnte jene Dame ihren Blick so fest darauf heften, wenn tief unter ihr ihr einziges Kind im Ersticken lag? Auch gähnt jene dunkle, düstere Nische direkt gegenüber dem Fenster ihres Gemachs – was also konnte da in ihrem Schatten sein – in ihrer Bauweise – in ihren efeuumschlungenen und ehrfurchterweckenden Gesimsen – worüber die Marchesa di Mentoni sich nicht tausendmal zuvor gewundert hatte? Unsinn! – Wer erinnert sich nicht daran, dass in einem Moment wie diesem das Auge wie ein gesprungener Spiegel die Bilder seines Kummers vervielfältigt und an unzählbaren, weit entlegenen Orten den Gram sieht, der dicht bevorsteht?

Viele Stufen über der Marchesa und innerhalb des Wasserportals stand in voller Bekleidung die satyrgleiche Gestalt Mentonis selbst. Er war gelegentlich damit beschäftigt, auf einer Gitarre zu klimpern, und schien wahrhaft zu Tode ennuyé, als er zwischenzeitlich Anweisungen für das Auffinden seines Kindes gab. Benommen und entsetzt hatte ich selber nicht die Kraft, mich aus der aufrechten Stellung zu rühren, die ich eingenommen, als ich den Aufschrei anfangs gehört hatte, und muss den Augen der erregten Gruppe eine gespenstische und unheilvolle Erscheinung geboten haben, wie ich mit bleichem Antlitz und starren Gliedern mitten unter ihnen in jener Begräbnisgondel dahintrieb.

Alle Anstrengungen erwiesen sich als umsonst. Viele der am eifrigsten Suchenden ließen in ihren Bemühungen nach und gaben sich einer finsteren Trübsal hin. Es schien nur wenig Hoffnung für das Kind (wie viel weniger als für die Mutter!); aber nun trat aus dem Innern jener dunklen Nische, die schon als Teil des Gefängnisses der Alten Republik und als dem Gitterwerk der Marchesa gegenüberliegend erwähnt wurde, eine in einen Mantel gehüllte Gestalt in den Bereich des Lichts, hielt einen Moment lang am Rand des schwindligen Abstiegs inne und tauchte kopfüber in den Kanal. Als sie einen Augenblick später mit dem noch lebenden und atmenden Kind in ihrem Griff auf den Marmorplatten an der Seite der Marchesa stand, löste sich ihr von Wasser durchtränkter, schwerer Mantel und enthüllte, in Falten um ihre Füße fallend, den von Staunen ergriffenen Zuschauern die anmutige Person eines sehr jungen Mannes, von dessen Namens Klang der größere Teil Europas zu jener Zeit erschallte.

Nicht ein Wort sprach der Erretter. Aber die Marchesa! Sie wird nun ihr Kind entgegennehmen – sie wird es an ihr Herz drücken – sie wird sich an seine kleine Gestalt klammern und es über und über mit ihren Liebkosungen bedecken. Ach! die Arme eines Anderen haben es von dem Fremden entgegengenommen, die Arme eines Anderen haben es weggenommen und es unbemerkt weit fort in den Palast getragen! Und die Marchesa! Ihre Lippe – ihre schöne Lippe zittert: Tränen sammeln sich in ihren Augen – in jenen Augen, die wie Plinius’ Akanthus »sanft und fast fließend« sind.19 Ja! Tränen sammeln sich in diesen Augen – und siehe! die ganze Frau erschaudert aus voller Seele, und die Statue hat sich belebt! Die Blässe des marmornen Antlitzes, das Schwellen der marmornen Brust und gar die Reinheit der marmornen Füße gewahren wir plötzlich überzogen mit einer Flut unbändigen Karmesins; und ein leichter Schauder lässt ihren zierlichen Leib erbeben wie der sanfte Hauch in Neapel die üppigen Silberlilien im Gras.

Warum sollte die Dame erröten? Auf diese Frage gibt es keine Antwort – außer dass sie, die Zurückgezogenheit ihres eigenen Boudoirs verlassend, es in der treibenden Hast und dem Schrecken eines Mutterherzens versäumt hatte, die winzigen Füße ihren Pantoffeln zu unterjochen, und völlig vergessen, ihren venezianischen Schultern jenes Gewand überzuwerfen, das ihnen gebührt. Welchen anderen, möglichen Grund könnte es für ihr derartiges Erröten gegeben haben? – für das Aufblitzen der wilden, anziehenden Augen? für die ungewöhnliche Erregung des pochenden Busens? – für den krampfhaften Druck der zitternden Hand? – die Hand, die, als Mentoni sich in den Palast wandte, zufällig auf die Hand des Fremden fiel. Welchen Grund könnte es gegeben haben für den leisen – den einzigartig leisen Ton dieser unbedeutenden Worte, die die Dame eilig äußerte, als sie ihm Lebewohl sagte? »Du hast gesiegt«, sagte sie, oder das Murmeln des Wassers täuschte mich, »du hast gesiegt – wir werden uns treffen – eine Stunde nach Sonnenaufgang – so soll es denn sein!«

***

Der Aufruhr hatte sich gelegt, die Lichter im Palast waren erloschen, und der Fremde, den ich nun wiedererkannte, stand allein auf den Steinplatten. Er zitterte vor unfassbarer Erregung, und sein Auge blickte auf der Suche nach einer Gondel umher. Ich konnte nicht anders, als ihm die Dienste meiner eigenen anzubieten; und er willigte in das Anerbieten ein. Nachdem wir an dem Wasserportal ein Ruder bekommen hatten, setzten wir zusammen den Weg zu seinem Wohnsitz fort, während er seine Fassung schnell wiedergewann und von unserer früheren, oberflächlichen Bekanntschaft mit großer, offensichtlicher Herzlichkeit sprach.

Es gibt einige Themen, bei denen es mir Spaß bereitet, auf Einzelheiten einzugehen. Die Person des Fremden – lasst mich ihn, der für die ganze Welt noch ein Fremder war, bei diesem Namen nennen – die Person des Fremden ist eines dieser Themen. Seine Größe mag eher unter als über dem Durchschnitt gelegen haben: wiewohl es Augenblicke heftiger Leidenschaft gab, in denen seine Gestalt sich regelrecht ausdehnte und die Behauptung Lügen strafte. Die leichte, fast schlanke Symmetrie seines Körperbaus versprach mehr von jener bereitwilligen Behändigkeit, die er an der Seufzerbrücke bekundet hatte, als von der herkulischen Kraft, die er, wie man wusste, in gefährlicheren Lagen mühelos aufbrachte. Mit dem Mund und Kinn einer Gottheit – einzigartige, wilde, volle, fließende Augen, deren Schattierungen von reinem Haselnussbraun bis zu intensivem und glänzendem Pechschwarz variierten – und eine Überfülle lockigen schwarzen Haares, unter dem eine Stirn von ungewöhnlicher Breite hin und wieder ganz hell und elfenbeinfarben hervorschimmerte – nannte er Züge sein eigen, wie ich sie klassisch, regelmäßiger noch nie gesehen habe, es sei denn vielleicht die marmornen des Kaisers Commodus20. Jedoch war sein Antlitz nichtsdestoweniger eines von denen, die jedermann zu einer Zeit seines Lebens gesehen hat und danach nie wieder. Es hatte keinen besonderen – es hatte keinen entschieden vorherrschenden Ausdruck, der einem in Erinnerung bleibt; ein Antlitz, das gesehen und sofort vergessen wird – aber vergessen mit dem vagen und nie schwindenden Verlangen, es sich ins Gedächtnis zurückzurufen. Nicht dass das Wesen einer jeden reißenden Leidenschaft jemals versagte, sein eigenes, klares Abbild auf den Spiegel jenes Gesichtes zu werfen – aber dass der Spiegel, auf Spiegelart, keine Spur der Leidenschaft festhielt, wenn die Leidenschaft gewichen war.

Als ich ihn in der Nacht unseres Abenteuers verließ, ersuchte er mich, so empfand ich, auf sehr dringliche Weise, sehr früh am nächsten Morgen bei ihm vorzusprechen. Mithin fand ich mich kurz nach Sonnenaufgang bei seinem Palazzo ein, einem jener gewaltigen Bauwerke düsteren, jedoch phantastischen Prunks, die sich über den Wassern des Canal Grande in der Nachbarschaft des Rialto emportürmen. Ich wurde ein ausladendes, gewundenes Mosaiktreppenhaus hinauf in ein Gemach geleitet, dessen unvergleichliche Pracht mit einem wahren Funkeln durch die aufgehende Tür barst, das mich blind und schwindlig vor Üppigkeit machte.

Ich wusste, dass mein Bekannter wohlhabend war. Gerüchte hatten seine Besitztümer in Wendungen geschildert, die ich sogar gewagt hatte Wendungen lächerlicher Übertreibung zu nennen. Aber als ich mich umschaute, konnte ich mich nicht dazu bringen zu glauben, dass der Reichtum irgendeines Menschen in Europa die königliche Großartigkeit gewährt haben könne, die hier ringsum glühte und loderte.

Obwohl, wie ich schon sagte, die Sonne aufgegangen war, war der Raum noch festlich beleuchtet. Dieser Umstand sowie ein Hauch von Erschöpfung auf dem Antlitz meines Freundes lassen mich schließen, dass er sich während der ganzen vorangegangenen Nacht nicht zur Ruhe begeben hatte. Die offensichtliche Absicht der Bauweise und der Verzierungen des Gemachs war es gewesen zu blenden und zu verblüffen. Wenig Aufmerksamkeit war auf das Dekorum dessen, wofür der technische Ausdruck Einklang steht, gerichtet worden, wie auch auf die Angemessenheit der Herkunft. Das Auge wanderte von Gegenstand zu Gegenstand und verweilte auf keinem – weder auf den Grotesken der griechischen Maler noch auf den Skulpturen der besten Tage Italiens, noch auf den gewaltigen Schnitzereien des ungebildeten Ägyptens. In jedem Teil des Raumes zitterten üppige Drapierungen zur Schwingung leiser, schwermütiger Musik, deren Ursprung nicht auszumachen war. Die Sinne wurden von gemischten, unharmonischen Düften überwältigt, die von seltsamen, gerollten Weihrauchspendern aufstiegen zusammen mit flimmernden und flackernden Zungen smaragdfarbenen und violetten Feuers. Die Strahlen der jüngst aufgegangenen Sonne ergossen sich über das Ganze durch Fenster, deren jedes aus einer einzigen Scheibe karmesinrot getönten Glases bestand. Wie sie in tausend Widerscheinen auf Vorhängen, die von ihren Leisten wie Katarakte geschmolzenen Silbers flossen, hin und her blitzten, verwoben sich die Strahlen natürlichen Glanzes schließlich flatternd mit dem künstlichen Licht und wälzten sich in gebändigten Massen auf einem Teppich aus kostbarem, fließend anmutendem Stoff von Chili-goldener Farbe.

»Ha! ha! ha! – ha! ha! ha!« – lachte der Eigentümer, als ich den Raum betrat, winkte mich zu einem Sitz und warf sich selbst in voller Länge zurück auf eine Ottomane. »Ich sehe«, sagte er, als er gewahr wurde, dass ich mich nicht sogleich in die Manier einer so einzigartigen Begrüßung fügen konnte, »ich sehe, dass Sie sich über meine Wohnung wundern – über meine Statuen – meine Gemälde – die Originalität meiner Schöpfung von Architektur und Dekoration – völlig trunken, he? von meiner Großartigkeit? Aber vergeben Sie mir, mein lieber Herr (hier nahm seine Stimme einen Ton an, als sei sie die Herzlichkeit selbst), vergeben Sie mir mein unbarmherziges Lachen. Sie schienen so überaus erstaunt. Außerdem sind manche Dinge so vollkommen lustig, dass man lachen oder sterben muss. Lachend zu sterben muss der glorreichste aller glorreichen Tode sein! Sir Thomas More21 – ein sehr feiner Mann war Sir Thomas More – Sir Thomas More starb lachend, Sie erinnern sich. Auch in den Absurditäten von Ravisius Textor22 gibt es eine lange Liste von Charakteren, die dasselbe großartige Ende fanden. Wissen Sie aber«, fuhr er in Gedanken versunken fort, »dass es in Sparta (was nun Palaeochori ist), in Sparta, sage ich, westlich der Zitadelle inmitten eines Chaos von kaum erkennbaren Ruinen eine Art Sockel gibt, auf dem die Buchstaben ΛΑΣΜ noch leserlich sind. Sie sind unzweifelhaft ein Teil des Wortes ГΕΛΑΣΜΑ23. Nun gab es in Sparta Tausende von Tempeln und Heiligtümern für Tausende verschiedener Gottheiten. Wie außerordentlich seltsam, dass der Altar des Lachens alle anderen überlebt haben soll! Aber im gegenwärtigen Augenblick«, nahm er den Faden mit einer einzigartigen Veränderung von Stimme und Gebärde wieder auf, »habe ich kein Recht, auf Ihre Kosten vergnügt zu sein. Sie mochten sehr wohl erstaunt gewesen sein. Europa kann nichts hervorbringen so fein wie dies, mein kleines, königliches Kabinett. Meine anderen Wohnungen haben keineswegs dieselbe Anordnung; bloße Ultras modischer Fadheit. Dies ist besser als Mode – nicht wahr? Doch braucht es nur geschaut zu werden, um zu einer Sucht anzuwachsen – das heißt für diejenigen, die es sich auf Kosten ihres ganzen Erbvermögens leisten können. Ich war jedoch auf der Hut gegen jede Art solcher Entweihung. Mit einer Ausnahme sind Sie neben mir selbst und meinem Kammerdiener das einzige menschliche Wesen, das in die Geheimnisse dieser hoheitlichen Bereiche eingeweiht wurde, seitdem sie ausgeschmückt wurden, wie Sie sie sehen!«

Ich verneigte mich anerkennend; denn zusammen mit der unerwarteten Exzentrizität seiner Ansprache und seines Gebarens hinderte mich die überwältigende Empfindung von Glanz und Duft und Musik daran, meine Hochachtung davor in Worten auszudrücken, woraus ich ein Kompliment hätte gestalten können.

»Hier«, fuhr er im Aufstehen und, als er durch die Wohnung schlenderte, auf meinen Arm gelehnt fort, »hier sind Gemälde von den Griechen bis Cimabue und von Cimabue bis zur gegenwärtigen Stunde. Viele wurden, wie Sie sehen, mit wenig Rücksicht auf die Ansichten des Kunstgeschmacks gewählt. Sie sind jedoch alle geeigneter Wandschmuck für ein Gemach wie dieses. Hier sind auch einige chefs-d’œuvres der unbekannten Großen – und hier unvollendete Entwürfe von Künstlern, zu ihren Lebzeiten gefeiert, deren Namen der Scharfsinn der Kunstakademien nur der Stille und mir überlassen hat. Was halten Sie«, sagte er und wandte sich abrupt um, als er sprach, »was halten Sir von dieser Madonna della Pietà?«

»Es ist Guidos eigene!«,24 sagte ich mit all der Begeisterung meines Wesens denn ich hatte ihren ungemeinen Liebreiz ausgiebig betrachtet. »Es ist Guidos eigene! – wie können Sie sie nur erworben haben? – Sie bedeutet für die Malerei zweifellos, was die Venus für die Bildhauerkunst bedeutet.«

»Ach!«, sagte er nachdenklich, – »die Venus – die schöne Venus? – die Venus der Medici? – die mit dem zu klein geratenen Kopf und dem vergoldeten Haar? Ein Teil ihres linken Armes (hier senkte er seine Stimme derart, dass sie nur mit Mühe zu vernehmen war) und der ganze rechte sind Restaurationen, und in der Koketterie dieses rechten Armes liegt, so denke ich, die Quintessenz aller Affektiertheit. Geben Sie mir den Canova25! Der Apoll ist auch eine Kopie – daran gibt es keinen Zweifel – blinder Narr, der ich hin, der ich die berühmte Offenbarung des Apoll nicht wahrzunehmen vermag! Ich kann mir nicht helfen – haben Sie Mitleid mit mir! – ich kann mir nicht helfen, ich ziehe den Antinous26 vor. War es nicht Sokrates, der sagte, dass der Bildhauer seine Statue in dem Marmorblock fand? Dann war auch Michelangelos Couplet keineswegs originell –

Non ha l’ottimo artista alcun concetto

Che un marmo solo in se non circonscriva.27«

Es wurde schon oder sollte doch bemerkt werden, dass wir uns in der Manier wahrer Gentlemen stets der Andersartigkeit gemeinen Betragens bewusst sind, ohne sogleich in der Lage zu sein, genau zu bestimmen, worin diese Andersartigkeit besteht. Nachdem ich dieser Bemerkung erlaubt hatte, sich mit voller Kraft auf die äußerliche Haltung meines Bekannten zu beziehen, spürte ich, dass sie an diesem ereignisvollen Morgen noch vollkommener auf seine moralische Verfassung und seinen Charakter bezogen werden konnte. Auch kann ich diese Besonderheit des Geistes, die ihn so wesentlich von allen anderen menschlichen Geschöpfen abzusetzen schien, nicht besser bestimmen, als indem ich sie eine Eigenart angestrengten und fortwährenden Denkens nenne, das selbst seine unbedeutendsten Tätigkeiten durchdrang – sich in seine spielerischen Momente einmischte – und sich mit dem wahren Aufblitzen seiner Fröhlichkeit verwob – wie Ottern, die sich aus den Augen der grinsenden Masken an den Simsen der Tempel von Persepolis28 winden.

Ich konnte mir jedoch nicht helfen, durch den aus Leichtigkeit und feierlichem Ernst gemischten Ton hindurch, mit dem er sich rasch über Angelegenheiten geringerer Wichtigkeit ausließ, wiederholt einen gewissen Hauch von Beunruhigung wahrzunehmen – einen Grad nervöser Inbrunst in Handlung und Sprache – eine ruhelose Reizbarkeit in einer Weise, die mir die ganze Zeit über unberechenbar schien und bei manchen Gelegenheiten sogar Furcht einjagte. Häufig auch, wenn er mitten in einem Satz innehielt, dessen Anfang er offensichtlich vergessen hatte, schien er mit höchster Aufmerksamkeit zu lauschen, als ob entweder in augenblicklicher Erwartung eines Besuchers, oder Klängen, die allein in seiner Vorstellungskraft vorhanden gewesen sein können.

Es geschah während einer dieser Träumereien oder Pausen offenbarer Zerstreutheit, dass ich, eine Seite der vortrefflichen Tragödie Orfeo29 des Dichters und Denkers Politian (die erste einheimische italienische Tragödie) umblätternd, die in meiner Nähe auf einer Ottomane lag, einen mit Bleistift unterstrichenen Passus entdeckte. Es war ein Passus gegen Ende des dritten Aktes – ein Passus herzergreifendster Erregung – ein Passus, den, wiewohl von Unreinheit befleckt, kein Mann lesen wird, ohne vor neuartigem Gefühl zu erbeben – keine Frau, ohne zu seufzen. Die ganze Seite war mit frischen Tränen getränkt, und auf dem gegenüberliegenden Durchschussblatt standen die folgenden englischen Zeilen, geschrieben in einer Handschrift so ganz verschieden von den eigentümlichen Buchstaben meines Bekannten, dass ich einige Mühe hatte, sie als seine eigene wieder zu erkennen.

Du warst das Alles für mich, Liebes,

 Wonach meine Seele sich sehnte –

Ein grünes Eiland auf dem Meer, Liebes,

 Eine Quelle und ein Heiligtum,

Umrankt von zauberhaften Früchten und Blumen;

 Und all die Blumen waren mein.

 

Ach, Traum, zu strahlend, um zu währen;

 Ach, sternhelle Hoffnung, die du aufgingst,

Nur um bewölkt zu werden!

 Eine Stimme aus der Zukunft schreit

»Voran!« – doch über der Vergangenheit

 (Düstrer Schlund!) liegt schwebend mein Geist,

Stumm, regungslos, entsetzt!

 

Denn weh! o weh! für mich

 Ist das Licht des Lebens dahin.

»Nimmer – nimmer – nimmermehr«

 (So spricht das ernste Meer

Zu dem Sand an der Küste)

 Wird der vom Blitz versengte Baum erblühn

Oder getroffen der Adler emporsteigen!

 

Weh mir! denn an jenem verfluchten Tage

 Trugen sie dich davon über die Woge

Von Liebe zu adligem Alter und Frevel

 Und entweihten Kissen –

Von mir und unsrem dunst’gen Himmelsstrich,

 Dort, wo die Silberweide trauert!

Dass diese Zeilen auf Englisch geschrieben waren – eine Sprache, deren ich den Verfasser nicht mächtig geglaubt hatte –, bot mir wenig Anlass zu Überraschung. Ich war mir des Ausmaßes seiner Kenntnisse und der einzigartigen Freude, die es ihm bereitete, sie zu verbergen, zu wohl bewusst, um über eine ähnliche Entdeckung erstaunt zu sein; aber ich muss gestehen, dass die Datierung keine geringe Verwunderung in mir auslöste. Sie lautete ursprünglich auf London und wurde später sorgfältig ausgestrichen – jedoch nicht wirkungsvoll genug, um das Wort vor einem prüfenden Auge zu verbergen. Ich sage, dass dies keine geringe Verwunderung in mir auslöste; denn ich erinnere mich gut, dass ich in einer früheren Unterhaltung mit meinem Freund eigens gefragt hatte, ob er in London die Marchesa di Mentoni (die vor ihrer Vermählung einige Jahre in jener Stadt verweilt hatte) zu irgendeiner Zeit getroffen hatte, als seine Antwort, wenn ich mich nicht täusche, mir zu verstehen gab, dass er die Metropole Großbritanniens nie besucht habe. Ich mag hier ebenso erwähnen, dass ich mehr als einmal gehört habe (selbstverständlich ohne einem Bericht, der so viele Unwahrscheinlichkeiten birgt, Glauben zu schenken), dass die Person, von der ich spreche, nicht nur von Geburt, sondern auch ihrer Bildung nach Engländer ist.

***

»Es gibt ein Gemälde«, sagte er, ohne sich bewusst zu sein, dass ich die Tragödie bemerkte, »es gibt noch ein Gemälde, das Sie nicht gesehen haben.« Und einen Vorhang zur Seite werfend, enthüllte er ein vollständiges Porträt der Marchesa Aphrodite.

Menschliche Kunst hätte die Darstellung ihrer übermenschlichen Schönheit nicht besser treffen können. Dieselbe himmlische Figur, die in der vorangegangenen Nacht auf den Stufen des Dogenpalastes vor mir gestanden hatte, stand noch einmal vor mir. Aber in dem Ausdruck ihres Antlitzes, das über und über im Lächeln erstrahlte, lauerte noch (unverständliche Anomalie!) dieser Tupfen Schwermut, der stets als untrennbar von der Vollkommenheit des Schönen erscheinen wird. Ihr rechter Arm lag angewinkelt über ihrer Brust. Mit dem linken deutete sie hinab auf eine seltsam gestaltete Vase. Ein kleiner elfenhafter Fuß, allein sichtbar, berührte die Erde nur so eben – und, in der strahlenden Atmosphäre, die ihren Liebreiz zu umgeben und einzuschließen schien, kaum auszumachen, schwebte ein Paar zärtlichst ersonnener Flügel. Mein Blick fiel von dem Gemälde auf die Gestalt meines Freundes, und die machtvollen Worte von Chapmans Bussy D’Ambois30 bebten instinktiv auf meinen Lippen:

    Er ist dort oben

Wie eine römische Statue! Er wird dort stehen,

Bis der Tod ihn zu Marmor gemacht hat!

»Kommen Sie!«, sagte er endlich und wandte sich einem reichlich verzierten, massiv silbernen Tisch zu, auf dem zusammen mit zwei großen etruskischen Vasen, die in derselben außergewöhnlichen Form gestaltet waren wie die im Vordergrund des Porträts, einige Kelche mit phantastischen Mustern und gefüllt mit was ich für Johannisberger hielt standen. »Kommen Sie!«, sagte er jählings, »lassen Sie uns trinken! Es ist früh, aber lassen Sie uns trinken. Es ist in der Tat früh«, fuhr er fort, als ein Cherub mit einem schweren goldenen Hammer die Wohnung von der ersten Stunde nach Sonnenaufgang erklingen ließ, – es ist in der Tat früh, aber was macht das aus? Lassen Sie uns trinken! Lassen Sie uns auf das Wohl jener ernsten Sonne trinken, die diese vergnüglichen Lampen und Duftspender so eifrig zu überwältigen suchen!« Und nachdem er mich dazu gebracht hatte, ihr einen Becher voll zuzutrinken, schluckte er in rascher Folge mehrere Kelche des Weines.

»Träumen«, fuhr er, den Ton oberflächlicher Unterhaltung wieder aufnehmend, fort, als er eine der prächtigen Vasen an das bunte Licht eines Duftspenders hielt, »träumen war das Gewerbe meines Lebens. Deshalb habe ich mir, wie Sie sehen, ein Nest der Träume entworfen. Hatte ich im Herzen von Venedig ein besseres errichten können? Sie gewahren um sich herum, das stimmt, einen Mischmasch architektonischer Verzierungen. Die Keuschheit der Ionia31 wird von den vorsintflutlichen Gerätschaften beleidigt, und Ägyptens Sphinxen strecken sich auf goldenen Teppichen aus. Unziemlich ist die Wirkung jedoch allein für den Furchtsamen. Angemessenheit des Ortes und besonders der Zeit sind die Schreckgespenster, die die Menschheit vor der Betrachtung des Erhabenen ängstigen. Ich war selbst einmal ein Dekorateur: Aber diese Steigerung der Torheit hat sich auf meiner Seele niedergeschlagen. Das kommt meiner Absicht nun umso mehr zugute. Wie diese arabesken Duftspender windet sich meine Seele in Feuer, und das Delirium dieser Szene rüstet mich für die zügelloseren Visionen des Landes der wirklichen Träume, wohin ich nun rasch scheide.« Hier hielt er jäh inne, neigte seinen Kopf auf die Brust und schien einem Klang zu lauschen, den ich nicht vernehmen konnte. Endlich richtete er seinen Körper auf, schaute nach oben und stieß die Zeilen des Bischofs von Chichester aus:

Wart auf mich dort! Ich werde nicht fehlen,

Dich in jenem hohlen Tal zu treffen.

Die Kraft des Weines gestehend, warf er sich im nächsten Augenblick in voller Länge auf eine Ottomane.

Nun war ein schneller Schritt im Treppenhaus vernehmlich, und ein lautes Klopfen an der Tür folgte rasch. Ich eilte, um einer zweiten Störung zuvorzukommen, als ein Page aus dem Haushalt Mentonis in den Raum platzte und mit vor Gemütsbewegung erstickter Stimme die unzusammenhängenden Worte stammelte: »Meine Herrin! – meine Herrin! – vergiftet! – vergiftet! – Oh, schöne – oh, schöne Aphrodite!«

Entsetzt flog ich zu der Ottomane und bemühte mich, den Schläfer zu einer Empfänglichkeit für die überraschende Kunde aufzurütteln. Aber seine Glieder waren steif – seine Lippen waren blaugrau – seine zuletzt strahlenden Augen starrten im Tod. Ich taumelte zurück zum Tisch – meine Hand fiel auf einen gesprungenen und schwarz angelaufenen Kelch32 – und das Bewusstsein der ganzen schrecklichen Wahrheit durchzuckte plötzlich blitzartig meine Seele.

 

1834    Übersetzung von Erika Engelmann

Ligeia

Und darin liegt der Wille, der nicht stirbt. Wer kennt die Geheimnisse des Willens mit seiner mächtigen Kraft? Denn Gott ist nichts als ein machtvoller Wille, der alle Dinge aufgrund seiner Stärke durchdringt. Der Mensch unterwirft sich den Engeln oder dem Tode einzig nur durch die Schwäche seines kraftlosen Willens.

 JOSEPH GLANVILL33

Selbst um meines Seelenheils willen vermag ich mich nicht zu erinnern, wie, wann oder auch nur genau wo ich zuerst die Bekanntschaft der Lady Ligeia machte. Lange Jahre sind seither vergangen, und mein Erinnerungsvermögen ist geschwächt durch tiefes Leid. Oder vielleicht kann ich mich dieser Umstände jetzt nicht mehr erinnern, weil der Charakter meiner Geliebten, ihre seltene Gelehrsamkeit, ihre einzigartige und doch sanfte Form der Schönheit und die hinreißende und fesselnde Beredtheit ihrer leisen, melodiösen Sprache wahrlich ihren Weg mit so beharrlichen und verstohlenen Schritten in mein Herz fanden, dass mir alle äußeren Umstände unbemerkt und unbekannt blieben. Doch mir deucht, dass ich ihr erstmals und dann recht häufig in irgendeiner großen, alten, verfallenden Stadt am Rhein begegnet bin. Von ihrer Familie – ja, da hörte ich sie sprechen. Dass sie unvordenklich alten Ursprungs war, kann nicht bezweifelt werden. Ligeia! Ligeia! Vergraben in Studien einer Art, die mehr als alles andere dazu angetan sind, die Eindrücke der Außenwelt verlöschen zu lassen, genügt mir dies eine süße Wort allein – Ligeia –, um vor meinen Augen das Bild von ihr heraufzubeschwören, die nicht mehr ist. Und jetzt, da ich dies schreibe, flammt die Erinnerung auf, dass ich von ihr, meiner Freundin und Verlobten, der Gefährtin meiner Studien und schließlich der Vermählten meines Herzens, den Familiennamen nie gekannt habe. War es eine spielerische Herausforderung meiner Ligeia? Oder war es eine Prüfung für die Stärke meiner Zuneigung, dass ich keine Nachforschungen in dieser Sache anstellen würde? Oder war es eher eine Laune meinerseits – eine wild-romantische Gabe auf dem Altar äußerster leidenschaftlicher Hingabe? Ich erinnere mich nur verschwommen der Tatsache selbst – was Wunder, dass ich die Umstände, die sie herbeiführten oder begleiteten, gänzlich vergessen habe? Und wahrlich, wenn je der Geist der Romanze – wenn je die bleiche und nebelflüchtige Ashtophet34 des götzendienerischen Ägypten, wie die Sage es will, über eine dem Unheil geweihte Ehe geherrscht hat, so sicherlich über der meinen.

Doch da ist ein teures Angedenken, bei dem mich mein Gedächtnis nicht verlässt. Es gilt dies der Person Ligeias. Von Statur war sie hochgewachsen, eher schlank, und in ihren letzten Tagen sogar abgezehrt. Ich würde vergeblich die Majestät, die gelassene Ruhe ihres Auftretens oder die unbegreifliche Leichtigkeit und Geschmeidigkeit ihres Ganges zu beschreiben suchen. Sic kam und ging wie ein Schatten. Nie bemerkte ich ihr Eintreten in mein abgeschiedenes Studierzimmer, bis ich die geliebte Musik ihrer sanften, süßen Stimme vernahm und sie ihre Marmorhand auf meine Schulter legte. Was die Schönheit des Antlitzes betrifft, so war ihr keine andere ebenbürtig. Es war die strahlende Erscheinung eines Opiumtraums – eine hochfliegende, geistbeflügelnde Vision, wilder und göttlicher noch als die Traumgesichte, die um die schlummernden Seelen der Töchter von Delos35 schwebten. Doch waren ihre Züge nicht von jener Regelmäßigkeit, die man uns fälschlicherweise in den klassischen Arbeiten der heidnischen Bildhauer zu verehren gelehrt hat. »Es gibt keine exquisite Schönheit«, sagt Bacon, Lord Verulam, wo er zutreffend von allen Formen und Genera des Schönen spricht, »ohne etwas Befremdliches in den Proportionen.«36Doch wenn ich auch sah, dass die Züge Ligeias nicht von klassischer Regelmäßigkeit waren – wenn ich auch wahrnahm, dass ihre Schönheit in der Tat »exquisit« war, und empfand, dass viel »Befremdliches« sie durchdrang, so suchte ich doch vergebens, die Unregelmäßigkeit zu entdecken und meine Empfindung von der »Befremdlichkeit« auf ihren Ursprung zurückzuführen. Ich betrachtete eingehend die Kontur der hohen und bleichen Stirn: sie war ohne Fehl – wie kalt war in der Tat schon das Wort, wenn man es auf etwas so göttlich Erhabenes anwandte! –, die Haut wie von reinstem Elfenbein, die gebieterische Höhe und Ruhe, die sanfte Wölbung über den Schläfen; und dann das rabenschwarze, das schimmernde, das wallende und naturgelockte Haargeflecht, das so ganz den vollen Sinn des Homerischen Epithetons »hyazinthenartig« erfüllte. Ich betrachtete die delikaten Linien der Nase – und nirgendwo, außer in den anmutigen Medaillons der Hebräer, hatte ich je eine ähnliche Vollendung gesehen. Da war die gleiche wundervolle Sanftheit, die gleiche, kaum merkliche Tendenz zur Krümmung, der gleiche harmonische Schwung der Nasenflügel, der den freien Geist verriet. Ich sah den hinreißenden Mund an. Hier feierte in der Tat alles Himmlische Triumphe: der herrliche Schwung der kurzen Oberlippe, der sanfte, sinnliche Schlummer der Unterlippe, die verspielten Grübchen, die ausdrucksvolle Farbe, die Zähne, die mit einer fast bestürzenden Brillanz jeden Strahl des heiligen Lichts widerspiegelten, der ihnen zufiel in Ligeias heiterem und gelassenem, doch auch frohlockend-strahlendstem aller Lächeln. Ich erforschte die Form des Kinns – und auch hier fand ich die milde Fülle, die Sanftheit und Majestät, die Weite und Geistigkeit des Griechischen – jene Kontur, die der Gott Apoll dem Kleomenes37 dem Sohn Athens, nur im Traum entdeckte. Und dann versenkte ich mich tief in Ligeias große Augen.

Für die Augen haben wir keine Vorbilder selbst in entferntesten Zeiten. Es mag auch sein, dass in diesen Augen meiner Geliebten das Geheimnis lag, auf das Lord Verulam anspielt. Sie waren, so muss es mir scheinen, weit größer als die gewöhnlichen Augen unseres Menschengeschlechts. Sie waren sogar intensiver als die intensivsten Gazellenaugen beim Stamme des Tals von Nourjahad.38 Doch geschah es nur zuweilen, in Augenblicken höchster Erregung, dass diese Besonderheit auffallend bei Ligeia hervortrat. Und in solchen Augenblicken war ihre Schönheit – vielleicht erschien es auch nur meiner überhitzten Phantasie so – die Schönheit von Wesen, die überirdisch oder doch unirdisch sind, die Schönheit der sagenumwobenen Huri39 der Türken. Die Farbschattierung der Augen war ein tief strahlendes Schwarz, und weit über sie herab senkten sich lange, pechschwarze Wimpern. Die Brauen, leicht unregelmäßig in ihrem Schwung, zeigten den gleichen Farbton. Das »Befremdliche« jedoch, das ich in ihren Augen fand, lag nicht in der Form oder der Farbe oder dem Glanz und musste wohl auf ihren Ausdruck zurückgehen. Ach, Wort ohne tiefere Bedeutung, hinter dessen anspruchsvollem bloßen Klang wir unsere Unkenntnis von so viel Geistigkeit verbergen. Der Ausdruck von Ligeias Augen! Wie habe ich lange Stunden darüber nachgesonnen! Wie habe ich eine ganze Mittsommernacht hindurch gebebt, ihn zu ergründen! Was war es – dieses Etwas, das unergründlicher war als der Brunnen des Demokritos40 –, das tief in den Pupillen meiner Geliebten verborgen lag? Was war es nur? Ich war besessen von der Leidenschaft, es zu ergründen. Diese Augen! Diese großen, schimmernden, himmlischen Gestirne! Sie wurden für mich zum Zwiegestirn der Leda41, und ich für sie zum andächtigen Sternendeuter.

Unter den vielen Unbegreiflichkeiten der Wissenschaft von der Seele ist kein Punkt faszinierender und aufregender als die Tatsache – von der Schulweisheit, so glaube ich, nie entdeckt –, dass wir uns in unseren Versuchen, etwas längst Vergessenes ins Gedächtnis zurückzurufen, oft geradezu an der Schwelle zur Erinnerung befinden, ohne doch am Ende in der Lage zu sein, uns wirklich zu erinnern. Und wie oft habe ich gerade so in meiner