Die Nacht ist unser Haus - Jules Grant - E-Book

Die Nacht ist unser Haus E-Book

Jules Grant

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Beschreibung

Manchesters Unterwelt ist hart, unnachgiebig und wird seit jeher von Männern dominiert. In dieser feindseligen Umgebung muss Donna einen kühlen Kopf bewahren - für sich und für ihre Gang. Doch als ihre beste Freundin erschossen wird und eine kleine Tochter hinterlässt, steht Donna plötzlich vor der Entscheidung: Was wird sie geben, um Carlas Tod zu sühnen?

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Seitenzahl: 369

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DAS BUCH

Donna und Carla sind seit ihrer Kindheit beste Freundinnen. Gemeinsam führen sie die Bronte Close Gang an, in der ausschließlich Frauen zugelassen sind. Mitten in Manchesters testosterongesteuerter Unterwelt machen die Brontes ihr eigens Ding und verkaufen flüssige Drogen in Parfüm-Zerstäubern. Aus den Revierstreitigkeiten der anderen Gangs halten sie sich so gut es geht heraus. Doch als Donna mitansehen muss, wie Carla niedergeschossen wird, ändern sich die Vorzeichen. Donna setzt alles daran, Carlas Tod zu rächen, und ihren Mörder zu stellen. Voller Liebe für ihre verlorene Freundin und Verantwortungsbewusstsein für deren zurückgelassene Tochter meistert sie den harten Alltag auf den Straßen der englischen Arbeiterstadt.

DIE AUTORIN

Jules Grant lebt in Manchester. Sie hat in London Kreatives Schreiben studiert und als Rechtsanwältin gearbeitet, bevor sie mit Die Nacht ist unser Haus ihren ersten Roman veröffentlichte.

jules grant

die nacht

ist unser haus

Roman

Aus dem Englischen von Viola Siegemund

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel We Go Around In The Night And Are Consumed By Fire bei Myriad Editions, Oxford

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2016 by Jules Grant

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Lars Zwickies

Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann &Kompanie Werbeagentur, Zürich

Satz: Leingärtner, Nabburg

eISBN: 978-3-641-21534-7V001

www.heyne.de

Für meinen Vater,

der immer an mich geglaubt hat,

auch wenn die Sachlage

ganz klar dagegen sprach.

So come here

Give me your hand

Because I know how to hold it

Look, I will write you a poem

And I’ll set it on fire

Komm her

Gib mir deine Hand

Weil ich weiß, wie man sie hält

Ich schreib dir ein Gedicht

Und dann steck ich es in Brand

KATE TEMPEST, »RENEGADE«

Prolog

Ich versuche jetzt, mich zu erinnern, weil sich in dem Augenblick alles verändert hat. Plötzlich ging sie da vorne zu Boden, und es war, als hätte mir jemand das Herz rausgerissen, und auf einmal habe ich keine Luft mehr gekriegt. Slow Motion, ein Traum, ich sehe, wie ich mich mit den Fäusten durchs Gedränge kämpfe und meine Beine nachgeben, als ich bei ihr ankomme. Dann hocke ich da, überall Blut, ihr Kopf in meinem Schoß.

Carla. Mein Licht, meine Seele.

1

November 2008

Ich komme gleich zur Sache, weil, wie heißt es so schön? Gibt nichts Erbärmlicheres als Abschiedssex. Und ganz ehrlich, irgendwie tut’s mir immer noch leid; Louise kommt gerade erst schluchzend wieder runter, dabei bin ich schon halb zur Tür raus.

Als ich unten auf der Straße erleichtert ausatme, kommt aus der Gasse neben dem Haus plötzlich Mina angedackelt und steuert breit lächelnd auf mich zu.

He Donna, wie geht’s?

Ich bin kurz angebunden, he Mina, alles klar?, und dann mache ich mich auf den Weg, vorbei an dem ausgebrannten Fiesta, doch Mina geht mir hinterher, und als ich gerade den Glasscherben ausweiche, hakt sie sich einfach bei mir unter. An sich habe ich nichts dagegen, insgeheim finde ich’s sogar irgendwie süß, wie sie so zu mir hochschaut mit ihren großen, wilden Augen, aber sie geht mit Carla, zeitweise zumindest, und noch mehr Frauenstress kann ich momentan echt nicht gebrauchen.

Ich werfe extra keinen Blick über die Schulter, falls Louise uns beobachtet, aber ehrlich gesagt fühle ich mich schon wieder ganz gut – so, als würde gleich was passieren. Die kalte Luft brennt in meiner Lunge wie ’n Hustenbonbon. Mina lächelt, schöne Zähne hat sie, gerade und weiß. Ich greife nach ihrer Hand. Komm, sage ich, wir verschwinden.

Okay, geschickt ist das nicht, aber wir sind jetzt hinterm Fozzie’s im Hof zwischen den Mülltonnen, unter dem eisblau leuchtenden EXIT-Schild, und ich drücke sie gegen die Wand und beiße ihr in die Lippe, als könnte ich gar nicht genug kriegen von ihrer glatten, zarten Haut. Gerade denke ich mir noch, hör lieber auf, bevor das Ding aus dem Ruder läuft, da schiebt sie meine Hand zwischen ihre weichen, warmen Schenkel, der Magen sackt mir in die Kniekehlen, und mein Verstand setzt aus.

Hinterher steckt sie sich ’ne Kippe an und lehnt sich zurück, ihre Bluse steht offen. Mein Arm ist ganz taub, weil ich sie festhalten musste, und alles schmeckt noch immer nach ihrem Salz. Kein Wort zu Carla, sagt sie.

Wo denkt die Kleine hin?

Und eigentlich schulde ich ihr keine Erklärung, aber irgendwie muss sich dieser Tag doch wieder auf Spur bringen lassen, also weiche ich ihrem Blick aus und starre auf den Boden. Keine Angst, Babygirl, war nur ’n Ausrutscher.

Dann hebe ich den Kopf, sie schaut mir in die Augen, und da hinten am Horizont braut sich ein Sturm zusammen, der geradewegs Kurs auf mich nimmt.

Ja genau, sagt sie. Und lächelt noch mal breit.

Erst später, als wir im Fozzie’s Scotch trinken, Hähnchen futtern und kichernd dabei zusehen, wie Marta sich an eine Gooch-Schnitte ranmacht, schaut Carla mich an und fragt: Und?

Ich weiß, das heißt, komm erzähl, was war los – ich hoffe nur, sie meint mit Louise. Vorbei, sage ich, den Mund voller Dumplings.

O Mann, sagt Carla, war bestimmt ’n Drama.

Ich zucke mit den Schultern, aber dann muss ich wieder an Mina denken, wie glitschig sie war und wie lange sie gezittert hat und dass ich ihr den Mund zuhalten musste, damit sie nicht losschreit. Ich trete gegen die Fußleiste. Ich will nicht drüber reden, brumme ich.

Carla lächelt und zwinkert jemandem hinter mir zu. Ich drehe mich um. Marta lehnt sich gerade vor, mit dem Rücken zu uns, ein neues Opfer zwischen sich und der Bar. Das Mädel bemerkt Carlas Zwinkern und lächelt zurück.

Im selben Moment runzelt Carla die Stirn. Was ’s denn los mit dir?

Doch bevor ich etwas erwidern kann, haut sie mir auf die Schulter, und ich folge ihrem Blick zum Eingang, wo auf einmal Fatboy und dieses fette Schwein Mouse im Türrahmen stehen. Instinktiv taste ich nach meinem Messer und weiß, dass Carla gerade dasselbe tut. Was soll der Scheiß?

Aber Carla hört gar nicht hin. Was will der Wichser hier, zischt sie kaum hörbar, ohne den Blick von der Tür abzuwenden.

Da kommt Fatboy mit großen Schritten auf uns zu, Hände in den Jackentaschen, und zieht eine Fresse, als hätte gerade jemand seine Alte in den Arsch gefickt. Ich werfe Carla aus dem Augenwinkel einen Blick zu. Du hast doch nicht …?

Aber es bleibt keine Zeit für Diskussionen, denn während ich noch überlege, was das mit der Jacke soll, fährt Fats eine knochige Hand aus und packt Carla unsanft am Shirtkragen. Ich schnelle hoch und ziehe mein Messer.

Carla weicht zurück, und ihr Stuhl kippt um, wie aus dem Nichts erscheinen Sonn und Lise, und dann bauen wir uns zu viert vor Fats auf.

In dem Moment mischt Deej sich ein: He Ladys, seid doch so gut und klärt das vor der Tür.

Als Fats ihr daraufhin einen giftigen Blick zuwirft, schnappe ich mir seine Hand und verdrehe ihm ruckzuck den Arm hinterm Rücken, mit der anderen Hand halte ich ihm die Klinge direkt unters Auge. Sein Messer trete ich zur Seite, und dann bin ich ganz nah an seinem Ohr. Da hat sich wohl jemand verirrt, sage ich mit einem Grinsen.

Wenn’s Girl-on-Girl-Stress gibt, hört alles auf Carla und mich, also sagen meistens auch wir an, was läuft. Ansonsten sollen die Männer ihr eigenes Ding machen, und abgesehen von den Darts, die uns seit Operation Balboa die Stange halten, gehen wir einander aus dem Weg. So lauten die Regeln, und im Großen und Ganzen halten sich auch alle dran. Wenn also zwei Cheetahs einfach so in ’ner Darts-Bar aufkreuzen, geht das absolut nicht in Ordnung. Wer’s drauf ankommen lässt, ist zum Abschuss freigegeben, da kennen wir nichts. Sogar, wenn eine von uns tatsächlich deine Alte geknallt hat, und langsam frage ich mich ernsthaft, was Carla sich bei der Nummer gedacht hat.

Jedenfalls liegt das Fozzie’s in Ashton, und Ashton gehört ganz klar zu unserem Einzugsgebiet. Fatboy muss also gewusst haben, worauf er sich einlässt, als er sich hier auf die Suche nach Carla gemacht hat. Am liebsten würde ich ihm eins mit der Klinge verpassen, direkt unterm Auge, zum Andenken. Verstohlen riskiere ich einen Blick nach hinten, aber die Tür ist nur noch ein großes Loch, das hinaus in die Nacht führt, und von dem Volltrottel Mouse fehlt jede Spur.

Was fällt dir ein, dich hier blicken zu lassen?, frage ich.

Keine Antwort. Null. Nada. In dem Moment weiß ich Bescheid: Diese Aktion hat niemand abgesegnet, und man sieht Fatboy an, dass ihm auf einmal die Düse geht. Unwillkürlich muss ich lachen. He Girls, auf geht’s.

Die Old Road runter, und da kommt auch schon der Parkplatz bei der Mühle, regennass und überwuchert von Unkraut. Der Lieferwagen holpert über die Schlaglöcher, Carla hält vor dem Eingang, und ich steige aus. In der Ferne blinken die Straßenlampen und hört man die Autos im Regen dahinrauschen. Ich strecke der Nacht das Gesicht entgegen, die Tropfen schmecken nach Rauch.

Als wir Fats die Treppe raufwuchten, fängt er leise an zu fluchen. Oben angekommen muss er sich auf den Rücken legen, dann zurren wir seine Hände an der Heizung fest und binden ihm die Füße zusammen. Sonn wirft den Scheinwerfer an, ein Riesending mit ’ner Batterie so fett wie ganz Yorkshire. Ich gehe rüber zu den Brettern, da, wo eigentlich das Fenster sein sollte, und spähe durch die Spalten nach draußen. Der Himmel sieht aus wie nasser Samt, die Wolken jagen vorüber, kein Stern weit und breit. Dann greife ich zum Handy und versuche es noch mal bei Mikey, aber er geht nicht ran.

Auf einmal höre ich Fatboy hinter mir husten und spucken.

Als ich mich umdrehe, sitzt Carla schon auf ihm. Sie wischt sich mit dem Arm übers Gesicht und hält ihm das Messer ans Kinn. Dann reißt sie sein Hemd auf. Knebelt ihn lieber, sage ich.

Lise zieht ihr Höschen aus, rot mit Spitze am Saum, und stopft es ihm in den Mund. Dann nimmt Carla ihren Gürtel ab, den von Diesel, wickelt Fats den Riemen um den Kopf und schnallt ihn fest, damit der Knebel nicht verrutscht.

So, jetzt stechen wir dich ab, sagt Sonn fröhlich.

Carla ritzt Fats in die Brust; der Schnitt ist nicht tief, aber er quiekt sofort los. Dann lehnt sie sich zurück, klopft sich neckisch auf den Hintern wie in der Asda-Werbung und lässt ihren ganzen Charme spielen.

Was soll sie mit dir, du Hackfresse, wenn sie so was wie mich haben kann?

Aber hallo, sagt Sonn.

Ich setze mich mit einer Kippe ans Fenster und lasse Carla machen.

Paar Minuten später richtet sie sich wieder auf, deutet mit der Klinge auf Fats’ Bauch und wirft stolz einen Blick in die Runde. Na, was sagt ihr?

Alles tritt näher. Fats windet sich wie eine Kaulquappe. Auf seinem Bauch prangt dick und fett der Buchstabe C.

Wow, das reinste Kunstwerk, sagt Sonn.

Lise kneift die Augen zusammen. Steht das C für Carla?

Carla grinst. Nee, für Cunt.

Ich gebe ihr den Kugelschreiber. Sie beißt das Röhrchen auf, spuckt auf die Schnittwunde und massiert die Tinte ein, als wär’s Möbelpolitur. Dann zieht sie Fats den Knebel aus dem Mund und beugt sich vor.

Wenn du sie noch mal schlägst, du Arschloch, dann bring ich dich um, flüstert sie ihm ins Ohr.

Leck mich, du Lesbenfotze, sagt Fats. Und das ist sein nächster Fehler.

Carla stopft ihm das Höschen zurück in den Mund. Träum weiter. Sie greift ihm in den Schritt. Sag, hast du überhaupt ’n Schwanz?

Mit weit aufgerissenen Augen bäumt Fats sich auf und versucht, sie abzuwerfen.

Es reicht, sage ich.

Carla lässt los, und Fats sackt in sich zusammen, in seinem rechten Augenwinkel glänzt ein winziger feuchter Fleck. Typisch – wenn irgendwer ihre Oma aufhängt, vergießen diese Penner nicht eine Träne, aber wehe, man betatscht ihre Nudel, dann mutieren sie alle zu kleinen Mädchen. Zeit für sein Abschiedsgeschenk, sage ich mit einem Blick zu Lise.

Carla hält ihm das Messer ans Kinn. Los, mach die Augen zu.

Fats reißt sie nur noch weiter auf.

Also greift sie ihm noch mal zwischen die Beine. Ich sagte, Augen zu, du Wichser.

Prompt kneift Fats fest die Augen zusammen, sieht fast so aus, als würde er beten, aber das wäre echt ganz was Neues. Carla langt ein zweites Mal kräftig zu. Wenn du die Augen aufmachst, Süßer, bist du tot.

Lise stellt sich hin, rechts und links von Fats’ Kopf ein Sechs-Zoll-Stiletto. Als ihn ihr warmer Pissestrahl ins Gesicht trifft, beginnt er wie wild zu zappeln und zu keuchen.

Lise schüttelt ab, macht anmutig einen Schritt zur Seite und grinst auf ihn runter. Waterboarding Lesben-Style, du Null.

Halbe Stunde später setzen wir draußen an der East Lancs Road einen winselnden Fatboy am Straßenrand ab.

Sonn macht die Hecktüren auf, und mit einem dumpfen Knall landet er auf dem Standstreifen, bevor Carla wendet und direkt auf ihn zufährt, nur um in letzter Sekunde auszuweichen, und dann sind wir auf dem Weg zurück in die Stadt.

He Fats! Lise steckt den Kopf aus dem Fenster. Das Höschen kannst du behalten!

Und alle lachen sich den Arsch ab, weil ’n paar Stiche in die Brust im Vergleich zu ’ner Demütigung wie heute Abend natürlich der reinste Witz sind, jedenfalls was die Cheetahs angeht.

War eh nicht meine Lieblingshose, sagt Lise.

Carla hat einen Blick drauf, als würde sie fliegen. Hoffentlich erstickt er dran, sagt sie.

Darüber müssen alle so laut lachen, dass der Transporter die Gehsteigkante streift und den Poller mitnimmt. Auf der nassen Fahrbahn fliegen die Funken, bis Carla dem Ganzen ein Ende macht, indem sie kurzerhand durch irgend’nen Vorgarten fährt, wo das Ding endgültig liegen bleibt.

Auf der Schnellstraße stadteinwärts kommt man am Park vorbei. Der Alex gilt seit jeher als Grenze zwischen Doddington- und Gooch-Gebiet, und damit war in South Manchester früher alles geklärt. Damals war der Alex nur irgendein Stadtpark, dürres Gras voller Hundehaufen, morsche Bänke, kaputte Schaukeln, eine Freilufthalde für das Leergut vom Wochenende, aber dann wurden erst die Crescents plattgemacht und dann, viel später, auch Gooch Close, Doddington Way und der Pepperhill-Pub. Alle sind nach Hattersley und Wythenshawe geflüchtet, es war ein einziges Durcheinander, und die Stadtväter haben sich gewundert, dass danach erst richtig die Post abging, obwohl sie den ganzen Abschaum verscheucht hatten.

Operation China hat damals in den Neunzigern einen Großteil des Gooch aus dem Verkehr gezogen. Im Rathaus kam man sich danach wohl ziemlich geil vor, denn das war erst der Anfang. Offenbar dachte die Stadt, wenn man unsere Häuser abreißt und im Viertel ein paar Yuppies ansiedelt, sind wir weg. Aber man muss nicht Jassir Arafat heißen, um zu wissen, dass es so nicht läuft. Wenn man den Leuten ihr Zuhause wegnimmt, weckt das nur ihren Kampfgeist. Und gegen jemanden, der sich an einen Traum klammert, hat man sowieso keine Chance.

So etwa alle fünf Jahre starten die Bullen einen neuen Versuch, dann müssen die Führungscrews jedes Mal dran glauben. Carla sagt immer, wenn man was abschneidet, wächst es nur dicker und schneller nach, aber der Polizei hat das scheinbar noch keiner gesteckt. Anstelle von einem großen Haufen gibt’s im Süden der Stadt inzwischen nicht nur Young Gooch, sondern auch Mad Dogs, Bloods und ein paar Dutzend andere, die alle gemeinsame Sache machen. Aber der Name spielt eigentlich keine Rolle. Wenn man westlich vom Alex an der Oberfläche kratzt, stößt man darunter immer auf Gooch.

Wenn man der A57 stadtauswärts nach Osten folgt, kommt man irgendwann ins Hoheitsgebiet der Darts, God’s Own Country, und he, wir sind zum Glück erwachsen. Im Ernst, hier gibt’s nicht nur sozialen Wohnungsbau und Kapuzenpullis auf Mountainbikes, die beim kleinsten Mucks schon drauflosballern, Reviergrenzen und so weiter. Ich meine, so was haben wir hier auch, aber an und für sich sind die Kids alle harmlos, die wissen nur nicht, wo sie hinsollen. Dumme Jungs halt, die wie aufgescheuchte Hühner durch die Gegend rennen und allen im Weg sind; letztlich wollen sie nur auffallen, aber keiner hat sie unter Kontrolle. Und am Ende leidet der Ruf des ganzen Viertels darunter.

Na ja, inzwischen dreht sich sowieso alles nur noch ums Business. Im Osten der Stadt gibt’s bestimmt ein halbes Dutzend Shotters, und einer davon ist White Mike, Chef der Darts. Shotters sind Geschäftsleute, mit den Straßendealern geben die sich nur ab, wenn’s unbedingt sein muss.

Wir Brontes sind Darts, aber auch wieder nicht – wie soll ich sagen, wir haben ’nen Sonderstatus, weil wir Lesben sind und außerdem ziemlich auf Draht. Angefangen hat im Grunde alles mit Carla und mir, als ich noch im Hostel gewohnt habe und Carla bei ihrer Mum am Bronte Close. Und irgendwann lief die Geschichte einfach.

Klar, bei den Darts gab’s auch früher schon Frauen, aber die waren entweder mit einem der Typen zusammen oder hatten ’nen Todeswunsch, und viel mehr bleibt dir hier auch nicht übrig als Frau. Mir ist das alles zu blöd, du-bist-wen-du-bumst, andauernd Zickenterror und so. Ich brauche keinen Schmalspurgangster als Beschützer.

Am Anfang gab’s immer wieder Stress, aber mit der Zeit haben wir uns zusammengerauft. Mike ist der Meinung, das ist besser fürs Geschäft, und ich finde, er hat recht. Und solange genug da ist für alle und keiner versucht, die anderen übern Tisch zu ziehen, kann ruhig alles so bleiben, wie’s ist. Mike darf nur nichts passieren, sonst haben wir Tony Maggs an der Backe, und der Typ ist echt psycho, ein gestörtes homophobes Arschloch, dabei ist er selber stockschwul und total scharf auf Stricher. Jemand anderes käme mit so was gar nicht erst durch, da hätte sich längst einer erbarmt und ihm das Hirn weggeblasen.

Weiter im Norden haben wir die Cheetahs und Salford. Salford ist eigentlich unantastbar, die haben ihren Laden fest im Griff und sind im Geschäft, seit Adam ein Kind war. Tiny Stewart stand schon dreimal wegen Mordes vor Gericht und ist jedes Mal davongekommen. Inzwischen wohnt er draußen in Preston, mit Pool und allem, und letztes Jahr war er sogar im Fernsehen und hat so getan, als wäre er geläutert. Von wegen! Preisgekrönte Dokumentation? Preisgekrönte Verarsche trifft’s eher. Mir hat der Spacko von der BBC fast leidgetan.

Bei den Cheetahs geht’s immer schon nach Familien. Da sind ein paar völlig Bekloppte dabei, und alle sind sie miteinander verwandt wie im britischen Königshaus, da kommt keiner dazwischen. Das Sagen hat Big Tommo McVey. Der Typ ist brutal und krass gefährlich, aber er weiß, was er tut, und Mike und er kommen halbwegs klar, also gibt’s an der Front keine großen Probleme. Mike sagt, das kann sich alles ändern, falls Tommo was zustößt und Mad Daz, sein kleiner Bruder, den Laden übernimmt. Das kommt davon, wenn die ganze Familie mit drinsteckt. Man weiß zwar, was einen erwartet, aber man kann auch nichts dagegen tun.

Was ich damit eigentlich sagen will – im Norden läuft alles so reibungslos, weil die Bullen da noch nie aufgeräumt haben. Aber ich habe auch das Gefühl, ihre besten Tage haben die da oben längst hinter sich, immerhin sind sie alle schon über dreißig. Carla sagt immer, Zurückschneiden ist wichtig, weil nur so neue Triebe entstehen und die Pflanze gesund bleibt.

Genau an der Grenze steht die Brücke. Der Graffiti-Tag sieht gut aus, auch im Dunkeln.

He, schaut mal, sagt Lise aufgeregt, das sind wir.

Lies vor, sagt Sonn.

Ich lese vor.

Und was soll das heißen, fragt Sonn.

Wie bist du da überhaupt raufgekommen, will Lise wissen.

Ich deute auf den Eisenvorsprung über der Fahrbahn. Da hab ich mich mit einer Hand festgehalten. Vier Dosen sind insgesamt draufgegangen.

Clever, sagt Lise. Aber muss es nicht heißen »We Are Consumed«?

Sonn schnaubt und schüttelt den Kopf. Wenn du Bock hast, da oben rumzuklettern, Lise, dann besser’s doch aus, no problemo.

Wir sind immer noch am Gackern, als Carla plötzlich eine Vollbremsung hinlegt. Alles starrt nach vorne, wo die Grenze zu den Cheetahs verläuft, und im Wagen herrscht auf einmal Grabesstille. Gedankenverloren kaut Carla auf ihrer Unterlippe rum, und ich kapiere nicht gleich, was los ist. Kommt nicht infrage, sage ich dann.

Ich hol sie da raus, murmelt Carla. Wenn sie will, dass ich ihr was ausrede, wird sie normalerweise laut, aber diesmal ist ihre Stimme kaum hörbar, und das heißt so viel wie, sag was du willst, ich mach’s sowieso.

Bitch, bist du noch ganz sauber?, fragt Sonn. Und ich meine, damit spricht sie dem Rest von uns nur aus der Seele.

Du kannst doch nicht wegen irgend’ner Schnalle alles aufs Spiel setzen, Babygirl! Das ist Harakiri, no Shit, Girlfriend.

Jetzt müssen wir alle grinsen. Seit Sonn sich Sky Plus zugelegt hat, redet sie ständig so daher.

Carla zuckt nur mit den Schultern. Diesen Blick habe ich leider schon viel zu oft gesehen.

Wer nicht mitwill, kann ja aussteigen, sagt sie.

Hab ich das gesagt? Sonn ist beleidigt. Ich mein doch nur.

Dann greife ich rüber und mache den Motor aus, und auf einmal ist es, als hätte jemand den Verstärker abgedreht. Man hört nur noch den Regen, alles steht still, und die Laternen vor den Mietshäusern ziehen sich wie helle Kleckse die Straße entlang.

In dem Moment sehe ich plötzlich alles vor mir und überlege, wen ich anrufen könnte und was wohl passiert, wenn Carla da reinmarschiert und die Alte von irgend’nem Cheetah einpackt, und was, wenn es deshalb zum Krieg kommt, wer steht dann auf welcher Seite? Egal wer gewinnt, irgendwer muss immer dran glauben, denn obwohl ’s eigentlich aufs Gleiche hinauslaufen sollte, kommt es doch meistens am Ende ganz anders.

Und was, wen die Jungs sagen, Sorry Girls, aber wir halten uns raus, bei so was könnt ihr nicht auf uns zählen? Weil sie Schiss haben, da was loszutreten, und dass bald irgend’ne Cheetah- oder Longsight-Lesbe ankommt und ihnen nach allen Regeln der Kunst ihre Ische ausspannt. Unter uns, die Angst ist berechtigt.

Was grinst du denn so?, fragt Lise.

Ach nichts, sage ich. Was haben wir alles dabei?

Sie klettert über den Sitz nach hinten und hebt den Bodenbelag an.

Eine MAC, die Glock, drei Schlagstöcke und den Wagenheber, sagt sie.

Nach einem Blick auf die MAC schüttle ich den Kopf. Wir brauchen die Uzi, sage ich, schau mal untern Sitz. Und ich stelle mich aus gutem Grund so an, weil, mal ehrlich, mit einer MAC-10 trifft eine wie Lise nicht mal das offene Scheunentor, und irgendwann wird uns das noch sauteuer zu stehen kommen.

Derweil macht Sonn sich unterm Armaturenbrett zu schaffen und fördert kurz darauf strahlend die Black & Decker zutage. Eins muss man ihr lassen, sie liebt diese scheiß Nagelpistole, an der sich sonst niemand freiwillig vergreifen würde, und so was wie »Beweiskette« ist für jemanden wie Sonn sowieso ein Fremdwort.

Yo Uzi, meldet Lise von hinten.

Ich schwinge meine Füße aufs Armaturenbrett. Okay, hört zu, sage ich, so sieht’s aus. Zwischen Darts und Cheetahs gibt’s so weit keinen Stress, aber Carla hat leider nicht die Alte von irgend’ner Tussi gebürstet, was Girl on Girl angeht, haben wir also kein Argument. Wenn wir trotzdem was starten, sind die Cheetahs garantiert angepisst und rücken gleich in Armeestärke an, weil sie glauben, wir hätten das Ganze mit Mike abgeklärt. Haben wir aber nicht. Also gibt’s Krieg.

Aber wir sollen doch fragen, bevor wir Krieg machen, oder?, fragt Lise.

Damit eins klar ist – ich liebe Lise wie meine eigene Schwester, und wenn’s hart auf hart kommt, kann man sich hundertpro auf sie verlassen, aber für jemanden mit mittlerer Reife ist sie manchmal ganz schön schwer von Begriff. Neben mir poliert Sonn gerade die Nagelpistole mit ihrem T-Shirt, und obwohl sie den Blick gesenkt hat, sehe ich, dass sie grinst.

Das stimmt schon, Lise, sage ich.

Dann werfe ich Carla einen Hilfe suchenden Blick zu. Eigentlich hatte ich gehofft, dass sie einen Rückzieher macht, aber sie starrt weiter stur geradeaus die Straße runter, als würden gleich die Heiligen Drei Könige aufkreuzen und irgendwas mit ’nem Kamel anstellen.

Bist du dir ganz sicher, Car? Weil die Aktion könnte echt nach hinten losgehen.

Carla schaut weiter nach vorne, als hätte sie nichts gehört.

Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache, also ändere ich meine Taktik. Der Schlag zielt unter die Gürtellinie, aber immer noch besser als die Abreibung, die uns mit ziemlicher Sicherheit bevorsteht, wenn Carla nicht langsam wieder von ihrem Trip runterkommt. Und was ist mit Mina?, frage ich.

Doch das bereue ich gleich wieder, denn Carla wirft mir prompt einen vielsagenden Blick zu.Was soll mit Mina sein?

Damit ist alles gesagt, game on, weil, egal was passiert, ich kenne Carla schon mein halbes Leben, und am Ende ist sie wie meine Schwester, sie ist meine Familie. Und wenn wir halbwegs unbeschadet aus der Sache rauskommen, muss ich an Mina vielleicht gar keinen Gedanken mehr verschwenden, denn Carla wirkt derart verschossen in diese Neue, dass es ihr am Ende wahrscheinlich vollkommen schnurz ist, ob wir was hatten.

Als sie sich vorlehnt, sieht sie im Schein der Straßenlampe mit ihren energisch zusammengepressten Lippen so schön aus, dass mir fast das Herz stehen bleibt. Dann schaut sie mich an. Und, bist du dabei?

Klar, Süße, sage ich, kein Thema.

Also lässt sie den Motor an, macht die Scheinwerfer aus, und wir rollen langsam an den Häusern vorbei über die Grenze. Es ist totenstill, bis auf das Klick-klick der Nagelpistole, die Sonn gerade befüllt, und das Dunk-dunk-dunk unserer Herzen.

Okay, ich weiß auch nicht warum, aber auf einmal fällt mir Aurora ein, und ich kann den Gedanken an sie nicht mehr abschütteln.

Insgesamt habe ich drei Patenkinder, Ror eingeschlossen – vier mit dem, das gerade unterwegs ist. Aber Ror ist mein Liebling, weil sie als Erste da war und, ganz ehrlich, weil sie Carlas Tochter ist und damit irgendwie auch meine. Dabei geht mir der ganze Mater-dolorosa-Scheiß total am Arsch vorbei. Ich habe schon genug Shit um die Ohren, ich muss mich dafür nicht noch extra hinknien.

Was Patenkinder angeht, kommen mir nur Mädchen ins Haus. Lise hält das für Diskriminierung, aber ich sage immer, nein, ich schaffe nur ’nen Ausgleich. Weil als Mädchen – und besonders da, wo wir herkommen – braucht man heutzutage jemanden, der einen unterstützt, nicht jemanden, der einen zusammenschlägt oder fickt, dem man was zu verdanken hat. Ein Mädchen braucht jemanden, der ihm sagt, hör zu, nur weil du ’n Mädchen bist, musst du nicht immer alles einfach so schlucken. Und schon gar nicht im wörtlichen Sinne. Jedes Mädchen braucht jemanden, der weiß, dass, wenn sie was nicht will, es vermutlich daran liegt, dass sie nun mal nicht will und nicht daran, dass sie im Sitzen pinkelt.

Lise meint, bald wollen alle nur noch Mädchen und daran bin ich schuld. Aber mal ehrlich, das kann noch dauern. Schließlich kommen die Frauen erst langsam drauf, wie anstrengend Jungs sind. Jede Mutter weiß, dass man Jungs nicht einfach lieb haben und irgendwann loslassen kann, damit sie lernen, alleine klarzukommen. Man muss sich in einer Tour mit ihnen beschäftigen, muss sich um sie kümmern und darf nie nachlassen. Sonst werden sie wie diese komischen Rattendinger bei Discovery Wild, die sich nacheinander ins Meer stürzen, bilden Rudel und lassen sich abknallen.

Damit eins klar ist, mein Patenkind zu sein ist ’ne Ehre, aber am Ende geht’s vor allem um Sicherheit. Als meine Soldatin darf sie auf der Straße meinen Tag verwenden, und dann kommt ihr garantiert keiner blöd. Kein Wunder, dass alle bei mir Schlange stehen. Ich verstehe das: Jede Mutter will doch das Beste für ihr Kind.

Na ja, wie gesagt, Ror ist was ganz Besonderes. Gerade ist sie zehn geworden, geboren im Oktober 1998, kurz nachdem Car und ich aus dem Heim kamen. Das war ’n echt gutes Jahr. Manchmal tagge ich uns gemeinsam, wenn ich an ihrer Schule vorbeikomme. D-o-n-n-A-u-r-o-r-a. Ein A für uns beide, damit alle wissen, dass sie meine Soldatin ist, falls auf dem Spielplatz irgendein Scheiß läuft. Ich habe mich auch schon in den Hof geschlichen und unters Fenster gehockt. Dann schmeiße ich Kieselsteinchen an die Scheibe, bis sie anfängt zu lachen.

Letzten Sommer, als es überall nach heißem Asphalt und rostigen Dosen roch, saß Aurora einmal direkt neben dem Fenster, und wir haben uns Zettel geschrieben. Alles war friedlich, da reißt plötzlich jemand das Fenster auf.

So ’ne blöde alte Hexe steckt den Kopf raus, sieht mich und knallt das Fenster wieder zu.

Die anderen Kinder lachen, nur übertönt vom Gekreische der Hexe.

O-Rora. Gib. Das. Her. Wag. Es. Ja. Nicht.

Es ging um den Zettel. Die Kleine hat ihn einfach so runtergeschluckt, ohne dass ich irgendwas sagen musste. Ganz ehrlich, da war ich richtig stolz.

Ich ziehe die Handbremse und würge den Motor ab. Carla haut mit den Fäusten gegen das Lenkrad. Was soll der Scheiß?

Nicht dass wir uns falsch verstehen – Carla ist eine tolle Mutter. Wahrscheinlich sogar die beste von allen, weil sie nie laut wird und nur ganz selten zuschlägt und Ror und sie immer über irgend ’nen Blödsinn lachen. Außerdem hat sie diesen ganzen Gefühlsstuss drauf, in dem ich total schlecht bin. Aber manchmal verrennt sie sich auch in was und denkt nicht daran, was mit Ror passiert, wenn wir beide nicht mehr da sind. Lise meint, das kommt, weil Carlas eigene Mutter besser schon vor Jahren gestorben wäre. Na ja, jedenfalls muss ich hin und wieder für sie mitdenken.

Ab auf den Rücksitz, sage ich zu Carla, du bleibst hier. Drei von uns sind genug.

Die anderen schauen mich an, als hätte ich sie nicht mehr alle. Und das mag schon sein, aber darüber kann ich auch später noch nachdenken. Jetzt muss ich erst mal die Chefin rauskehren und ’ne Ansage machen, bevor wir alle Schiss kriegen. Das ist ein Befehl, knurre ich.

Carla sieht aus dem Fenster die Straße hinunter. Ich folge ihrem Blick und sehe die Stahltür zu Fatboys Haus im Laternenlicht glänzen.

Zu spät, sagt sie. Und sie hat recht.

Ich schaue mich um. Draußen rührt sich nichts.

Viel zu ruhig, sage ich. Und ich habe auch recht.

Im nächsten Moment reißt Carla den Transporter herum, drückt aufs Gas und stößt in einem Tempo zurück, dass der Motor aufheult wie eine 747, wahrscheinlich hört man uns noch in Hattersley. Sekunden später halten wir auf dem Gehsteig vor Fatboys Haus. Ich verpasse Carla einen Knuff. Bleib im Wagen und lass den Motor laufen. Wir checken erst mal die Lage.

Im Nu ist Sonn überm Gartentor und hinterm Haus. Die Frau weiß halt, wie’s geht. Lise und ich nehmen den Vordereingang und postieren uns links und rechts von der Haustür, die Glock kühl und schön in meiner Hand.

Als ich noch mal zum Wagen rüberspähe, sehe ich plötzlich Carlas Handy aufleuchten. Geht’s noch? Mit wem schreibt die?

Während ich auf ein Zeichen von ihr warte, lehnt sie sich im Sitz zurück und wird vom Schatten verschluckt. Ich höre meinen Atem, spüre einen Druck auf der Brust. In den Kniekehlen pocht mir der Puls, und langsam spüre ich am ganzen Körper diese winzigen Stiche. Ich warte. Das Blut rauscht mir in die Oberschenkel, und mein Atem geht flach, ich halte mich ganz still. Besser als gut.

Dann schlage ich einmal kräftig mit der Faust gegen die Tür.

Nach einer gefühlten Ewigkeit geht quietschend das Gitter auf. Lise und ich drücken uns an die Mauer, kalt und feucht klebt der Stein an meiner Wange, und es riecht nach Lagerfeuer und Hundepisse. Man hört, wie drinnen jemand die Riegel zurückschiebt, einen nach dem anderen, und ich werfe noch mal einen Blick auf Carla hinterm Steuer.

In dem Moment, meine Fresse, sehe ich sie auf einmal glückselig grinsend aus dem Wagen klettern und weiß sofort, dass sie mich ganz bestimmt nicht so anlächelt. Natürlich nicht. Denn neben mir geht gerade die Tür auf, und eine zierliche Schnecke mit langen schwarzen Haaren und einer silberglänzenden Reisetasche tritt über die Schwelle, als wäre ihr Vorgarten der rote Teppich, und schwebt regelrecht auf das Auto zu. Kein Hey Girls. Kein Danke. Sie macht nicht mal die Tür hinter sich zu.

Und Carla steht einfach so da, mitten auf der Straße, mitten im Cheetah-Hoheitsgebiet, die Arme weit ausgebreitet wie Mutter Teresa. Mann!

Wahrscheinlich sollte ich mich aufregen, aber wozu? Ich erlebe so was nicht zum ersten Mal. Eine neue Sorte Lipgloss, ein niedliches Lächeln, und um Carla ist es geschehen.

He Donna, sagt Lise plötzlich leise.

Ich folge ihrem Blick, und dann starren wir beide wieder in Richtung Eingang.

Keine drei Fuß überm Boden, Paddington-Dufflecoat zugeknöpft bis zum Hals, starren zwei runde Augenpaare zurück. Die Große hat einen Trolley mit Dora the Explorer drauf in der Hand, die Kleine streckt mir ihren Teddy, der irgendwie aussieht wie ein Hund, entgegen.

Carla steht mit Fatboys Schnitte immer noch neben dem Lieferwagen, und auf den ersten Blick weiß man nicht, wo die eine aufhört und die andere anfängt, mit den beiden ist im Moment also nicht zu rechnen.

Wir können sie nicht einfach hierlassen, sagt Lise.

Aber wenn wir sie mitnehmen, sage ich, sind wir geliefert.

Auf dem Nachhauseweg ist es ziemlich still im Auto. Sonn fährt, übers Steuer gebeugt wie Mr Magoo, die Brille rutscht ihr fast von der Nasenspitze. Carla hat schützend den Arm um ihre Neue gelegt und ist in einer Tour nur am Gurren. Und dann diese zwei komischen Kinder, mit Augen wie Suppenteller, die ganz vorne in der Mitte sitzen und wortlos vor sich hin starren.

Eins ist klar, jetzt gibt’s kein Zurück mehr. Aber was habe ich eigentlich erwartet? Dass Fatboy insgeheim froh ist, seine Schnalle los zu sein, wenn wir mit ihr abhauen? Dass er vielleicht schon eine neue am Start hat und gar nicht merkt, dass die alte weg ist? Oder dass ihm das, was wir mit ihm veranstaltet haben, so peinlich ist, dass er ’s dabei bewenden lässt?

Sicher, Donna. Ist klar.

2

Ich wache früh auf und gehe gleich nach dem Aufstehen rüber zu Carla. Wenn ich sie nicht schleunigst zur Vernunft bringe, sind wir erledigt. Ich bin selber weiß Gott kein Engel, aber irgendwann wird die Libido dieser Frau uns noch alle ins Grab bringen.

Sie steht in der Küche und schmiert Aurora gerade ein Pausenbrot für die Schule. He Süße, sagt sie, willst du ’nen Tee?

Mein Blick wandert durch die Küche. Wo ist sie?

Kimmie? Oben.

Kimmie? Willst du mich verarschen?

Vorwurfsvoll verzieht sie den Mund. Sei doch nicht immer so.

Car, die Alte ist mit ’nem Cheetah zusammen. Bist du lebensmüde, oder was?

Da fängt sie an zu strahlen und lacht. Ach, hör doch auf.

Sie ist schon süß, und das hat Aurora von ihr, aber ich lasse mich nicht einwickeln und sage, dass Kim bis heute Abend Zeit hat, sich zu verpissen, bevor die Cheetahs hier aufkreuzen.

Jetzt ist sie beleidigt. Wo sollen sie denn hin?

Der Cousin von Tools hat überall Häuser, sage ich, und er schuldet mir noch was. In Ardwick steht ’ne Dreizimmerbude leer, hier sind die Schlüssel. Lächelnd halte ich sie ihr unter die Nase.

Heute Abend sind sie in der Wohnung, Süße. Und wenn ich sie eigenhändig hinfahren muss.

Carla schmollt, aber irgendwer muss hier für Ordnung sorgen, und ich weiß, dass sie’s mir irgendwann danken wird, egal wie sauer sie jetzt ist. Aber erst mal wird natürlich rumgejault, Sie will aber hierbleiben.

Gut, sage ich. Dann soll sie hierbleiben. Und was passiert, wenn die Nächste daherkommt?

Welche Nächste?, fragt Carla.

Ich schaue sie nur an, ihre Wangen glühen, und auf einmal weiß ich, dass wir knietief in der Scheiße stecken. Ich schwöre, manchmal glaubt die Alte echt, was da aus ihrem Mund kommt.

Sie ist nicht verliebt. Jedenfalls nicht mehr als sonst. Carla ist immer in irgendwen verschossen, aber halten tut es nie. Und ich versteh’s irgendwie, ist bestimmt nicht leicht, auf Draht zu bleiben, wenn einen andauernd alle nur flachlegen wollen und man längst nicht mehr weiß, wem man trauen und auf wen man sich verlassen kann.

Solche Probleme sind mir zum Glück fremd. Ich meine, ich kann mich nicht beklagen, aber Carla weiß manchmal gar nicht wohin vor lauter Anbeterinnen. Sie kommt abends irgendwo rein, und kein Scheiß, der ganze Club verrenkt sich nach ihr den Hals, als würde sie irgendwas ausstrahlen, das die Leute magisch anzieht. Liebe liegt ihr einfach im Blut, wie Musikmachen und Muttersein. Und wenn sie sich umdreht und ihr verschmitztes Lächeln aufsetzt, dann ist es, als wäre gerade die Sonne rausgekommen, alles kribbelt und wird warm. Mich bringt man mit so was nicht aus der Fassung, aber damit eins klar ist, ich habe schon erwachsene Frauen deswegen weinen sehen.

Was ich damit sagen will – ich weiß, warum Carla so ist, wie sie ist. Und sie soll um Gottes willen auch so bleiben, nur manchmal übertreibt sie’s einfach und vergisst, worum’s eigentlich geht, und dann werde ich eben nervös.

In dem Moment kommt eine strumpfsockige Aurora schlecht gelaunt in die Küche gestapft und lehnt sich mit verschränkten Armen gegen den Kühlschrank. Auf ihrem weinroten Pulli prangt ein schief vernähtes Abzeichen: Clearwater Juniors.

Ich geh nicht zur Schule, sagt sie.

Ich muss grinsen. In dem Pulli würde ich mich da auch nicht hintrauen.

Carla wirft mir einen wütenden Blick zu. O doch, du gehst, junge Dame. Los, Schuhe an, sagt sie zu Ror.

Die starrt zurück, Kinn vorgeschoben wie Ricky Hatton, und deutet mit dem Kopf in Richtung Tür. Die gehen doch auch nicht. Warum muss ich dann?

Gemeint sind natürlich Kims kleine Pisser, und irgendwo hat Ror damit schon recht.

Hol deine Stiefel, bellt Carla, ich mein’s ernst.

Ror steht immer noch mit verschränkten Armen da, als die zwei Blagen zur Tür reingeflitzt kommen und mit Carla zusammenkrachen, der prompt die Butter runterfällt. Oi, aufpassen!

Siehst du? Ich kann hier nicht weg, ohne mich kommst du doch gar nicht klar, grinst Ror. Oder, Donna?

Doch bevor ich antworten kann, schwebt Kim durch die Tür, mit abstehenden Haaren und in Carlas blauem Hemd. Nackte Füße und Zehenring, winziges Skorpiontattoo am Knöchel, und okay, so zerzaust sieht sie schon ziemlich heiß aus, aber mein Typ ist sie irgendwie nicht. Ich habe gern was zum Anfassen, und Kim wirkt so seltsam zerbrechlich, als könnte man sie nicht richtig liebhaben, aus Angst, was kaputt zu machen.

Vor ihr gibt Carla sich nett und gut gelaunt und lächelt Ror an, aber ihr Blick ist eine einzige Warnung. Los Schatz, zieh jetzt die Schuhe an, sonst kommst du zu spät.

Ror durchschaut ihre Masche sofort und zeigt auf Kim. Und wer ist das?

Da macht Carla kurzen Prozess und zerrt Ror am Oberarm in Richtung Flur. Ab mit dir, junge Dame. Und wo du gerade dabei bist, werd mal erwachsen!

Wenn ich noch schneller erwachsen werde, hab ich dich bald überholt, gibt Ror zurück.

Damit hat sie das letzte Wort, und sogar Carla muss jetzt lachen. Kein Scheiß, manchmal kriegen wir uns gar nicht mehr ein über die Kleine.

3

Aurora: Kein Bock

Geeta: Wo bis du?

Aurora: Im Bus bah der Schnee

Geeta: Aber echt he was los?

Aurora: Ich hasse meine Mum

Geeta: Ja ich meine auch

Aurora: Ich hau ab komm mit

Geeta: Kann nicht hab Kickboxen um 6

Aurora: Dann Sa?

Geeta: K

Sogar im Klassenzimmer ist es arschkalt. Die Hexe hat ’nen Mantel an, so was würde nicht mal meine Nan anziehen.

Ihr könnt die Jacken heute anbehalten, sagt sie. Zum Glück, meine Pfoten sind nämlich schon knallblau.

Aurora Borealis, sagt die Hexe. Na, wer kann mir sagen, was das ist?

War ja klar. Gleich gibt’s wieder Stress. Wie damals, als wir Dornröschen aufführen mussten, nur damit ich jedes Mal ausflippe, wenn mich jemand Prinzessin nennt. Die Alte hat einfach was gegen mich.

Natürlich schauen jetzt alle her. Ey, was’ denn so spannend an mir? Glotzt nicht so blöd. Ihr kennt mich doch gar nicht. Sogar die alte Schleimerin Sunita Clegg starrt mich an, und dann lacht die dumme Nuss auch noch. Wenn ich aussehen würde wie die, ich würde mich umbringen. Ich winke ihr zu. Wir sehen uns in der Pause, sage ich.

Ich, Miss! Ich weiß es, Miss! Die fette Petze Chelse hat wie immer die Hand in der Luft. Kann die mal jemand auf Diät setzen? Keine Ahnung, wofür Erdkunde gut sein soll. Brauche ich auf der Bühne sowieso alles nicht.

Jaaaa, Chelsea, sagt die Hexe.

Und Chelse so: Aurora Borealis, das Polarlicht, Miss.

Alle schauen mich an und lachen.

Mir egal. Ich muss an die eine von X-Factor denken, die ist echt cool. Ich gucke immer ihren Song auf YouTube, Whass-uh-hup, Oh Ba-by Whass-up? Im Video hat sie voll die dünnen Beine und zuckt so beim Tanzen. Eines Tages, liebe Fans, stehe ich da vorne.

Draußen im Hof liegen am Rand die Schneehaufen, ein Scheiß, echt, und Dale Smith, der nur noch seine Nan hat, tut so, als wäre er nicht zu spät dran. Irgendwie cool, wenn man keine Mutter hat, die einen jeden Morgen aus dem Bett schmeißt. Mein Leben ist kacke, ich darf nie zu spät kommen.

Halb zehn und langsam ist so was wie Taktik gefragt, also hebe ich die Hand und stoße heimlich Geet an. Miss? Bitte, Miss? Ich muss aufs Klo, Miss!

Die Hexe schüttelt den Kopf, wie fies, ey. In fünf Minuten ist Pause, O-Rora, bis dahin kannst du ruhig noch warten.

Ich weiß nicht, aber so was geht doch bestimmt gegen irgend’ne Regel, irgend’ne Menschenregel, für die’s irgendwo ein Gericht gibt. Bei dem Gedanken muss ich grinsen, weil auf einmal sehe ich aus wie Judge Judy, mit Glitzerohrringen und schwarzem Umhang, und höre mich sagen: Sie da, hören Sie mal – Sie haben kein Recht, jemanden, der muss, nicht aufs Klo zu lassen, und deshalb kommen Sie jetzt ins Gefängnis, und zwar lebenslänglich. Am Ende sitzt die Hexe im Knast wie mein Dad, und ihr Haar wird über Nacht weiß wie in dem einen Film, aber das geschieht ihr alles nur recht.

Ja okay, Miss, egal.

Zehn Minuten später sind wir draußen im Hof und frieren uns den Arsch ab. Geets Dad sagt, die schicken uns raus in den Schnee wegen der frischen Luft, aber ich komme mir jedes Mal vor wie ’n Verbrecher. Dabei haben wir doch gar nichts gemacht. Es ist Eine Reine Machtdemonstration, sagt Donna, und so was gibt’s bei uns an der Schule andauernd, habe ich den Eindruck. Mum sagt immer, meine Intelligenz hätte ich von ihr, aber ich glaube, ich habe sie von Donna, weil Donna ist so ziemlich der intelligenteste Mensch, den ich kenne.

Ich stelle mich schon mal drauf ein, Sunita Clegg ’ne Abreibung zu verpassen, aber lieber lasse ich mir noch ’n bisschen Zeit. Immerhin haben vorhin alle mitgekriegt, was ich gesagt habe, und warten nur darauf, dass ich austicke. Wenn einer aufs Maul braucht, lasse ich ihn meistens erst mal zappeln, und manchmal bin ich auch ganz schlau und mache gar nichts. Das ist nämlich der Witz. Warten ist oft schlimmer, als wenn ich direkt hingehe und ohne Vorwarnung zuschlage. Und ich verrate nicht, von wem ich das habe, weil he, ich bin doch kein Überläufer.

Komm, wir haun ab, sagt Geeta.

Sowieso, sage ich. Geschieht Mum nur recht.

Um halb elf machen wir’s uns erst mal im Arndale gemütlich, hinterm Springbrunnen, wegen der Sicherheitsleute. Diese gelben Plastikwesten sieht man echt schon von Weitem, total bescheuert. Wäre ich im Arndale Centre der Chef, ich würde sie sofort abschaffen. Wie man in den Dingern irgend’nen Ladendieb schnappen soll, ist mir schleierhaft.

Gehn wir doch zu dir, sagt Geet.

Ich kann’s vor Geet ja nicht zugeben, aber Mum würde ’nen Anfall kriegen, wenn sie wüsste, dass ich gerade schwänze. Dabei war sie früher selber so gut wie nie in der Schule, zumindest sagt Nan das immer. Andererseits schadet’s bestimmt nicht, wenn wenigstens eine von uns beiden lesen kann.