Die Nachtbushelden - Onjali Q. Raúf - E-Book

Die Nachtbushelden E-Book

Onjali Q. Raúf

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ich heiße Hector – meine Eltern haben eine Schwäche für griechische Helden. Aber ich glaube, dass sie es bereuen, mir diesen Namen gegeben zu haben. Sie hätten mich lieber "Katastrophe" oder "Hoffnungsloser Fall" nennen sollen. Eigentlich habe ich mich damit abgefunden, dass ich immer nur Ärger bekomme. Aber seit ich dem Mann, der im Park wohnt, einen Streich gespielt habe, ignorieren mich alle nur noch. Dabei habe ich sogar versucht, es wiedergutzumachen! Noch nicht mal jetzt, wo ich einem Komplott gegen die Obdachlosen der Stadt auf die Schliche gekommen bin, hört mir jemand zu! Alle denken, dass ich nur ein Mobber bin. Aber ich werde ihnen beweisen, dass auch ich ein Held sein kann!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 273

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Onjali Q. Raúf

Die Nachtbushelden

Aus dem Englischen von Katharina Diestelmeier

 

 

 

Dem echten Thomas gewidmet – einem Mann, den kennenzulernen ich nie den Mut hatte – und allen, die gezwungen sind, unter schwierigen Bedingungen auf den Straßen dieser Welt zu schlafen.

 

 

 

Und für Mum und Zak. Immer.

 

 

 

»Vielleicht wollte man weniger geliebt als vielmehr verstanden werden.«

George Orwell

 

 

 

»Ein Zuhause für Obdachlose erschaffen ... was die Welt auch dazu sagt, es kann nicht falsch sein.«

Vincent van Gogh

1

Zwei Schlangen in der Suppe

»HECTOOOOOOOOORRRRRRRGGGGGR! HÖRSOFORTAUF!«

Ich erstarrte, die Hand über dem großen Kessel mit der leuchtend roten Tomatensuppe ausgestreckt. Es war ein ganz gewöhnlicher Topf Suppe, außer dass jetzt eine lange, leuchtend grüne Gummischlange darin schwamm.

»HECTOOOOORRR! ICHWARNEDICH!«

Langsam drehte ich mich um und blickte über die Schulter. Alle Mensa-Tanten in ihren leuchtend blauen Uniformen starrten mich an – mit offenen Mündern, wie Türen, die jemand zu schließen vergessen hatte. Keiner in der Mensa rührte sich. Außer Mr Lancaster. Sein Mund war ebenfalls weit aufgerissen und wurde immer größer. Ich wusste, dass er kurz davor war zu explodieren, weil sein Gesicht so pink angelaufen war wie ein Pavianpopo und seine Nase zu zucken begann.

»Wag es ja nicht!«, zischte er mit einem bösen Blick auf die zweite Gummischlange, die ich in der Hand hielt.

Ich sah auf die zweite Schlange hinab. Sie war rot. Fast genauso rot wie die blöde Suppe, die Mrs Baxter gekocht hatte.

Mir war klar, dass ich zwei Möglichkeiten hatte. Entweder ich warf die zweite Schlange nicht rein. Für die grüne Schlange würde ich trotzdem bestraft werden, aber vielleicht kam es dann nicht ganz so schlimm.

Oder ich warf die Schlange rein. Das würde Mr Lancaster noch wütender machen, als er jetzt schon war, und Mrs Baxter richtig wütend. Aber das geschähe ihr gerade recht, weil sie die schlimmste Mensa-Tante war, die wir je gehabt hatten – ständig runzelte sie die Stirn, gab uns nur Miniportionen von den Sachen, die wir mochten, und schaufelte uns Riesenportionen von den Sachen, die wir nicht ausstehen konnten, auf die Teller. Es war höchste Zeit, dass ihr das jemand heimzahlte. Außerdem würde es Will und Katie, meine besten Freunde, zum Lachen bringen.

»ALSO? WASIST?«, sagte Mr Lancaster.

Den Blick auf Mr Lancaster gerichtet, grinste ich und ließ das Gummitier los. Ein Keuchen ging durch die Mensa, als die zweite Schlange mit einem Klatschen neben der ersten landete. Tomatensuppe flog durch die Gegend. Ein Klecks spritzte mit einem PITSCH auf Mrs Baxters Kopf. Ein zweiter Batzen traf mit einem PLATSCH die Wange einer anderen Mensa-Tante. Ein dritter landete mit einem PATSCHOFF auf Mr Lancasters zuckender Nase und rann tropf, tropf, tropf zu Boden.

»NUNGUT, JUNGERMANN! DASWAR’S DANN! KOMMMIT!«

So werde ich immer genannt, wenn die Leute richtig sauer werden – »junger Mann«. Als ob sie so wütend wären, dass sie sich nicht mehr an meinen Namen erinnern könnten. Eigentlich sagt keiner mehr ganz normal meinen Namen. Entweder heißt es »junger Mann«, oder sie brüllen »HECTOOOOOOOORRRR!«, mit einer Stimme, die mir sofort klarmacht, dass die Person sauer auf mich ist. Sogar Will und Katie nennen mich bloß »H«. Aber das macht mir nichts aus. Früher schon, aber jetzt nicht mehr. Die meisten Leute sind sowieso so blöd, dass es mir egal ist, was sie von mir halten. Sie sind wie diese nervigen kleinen Fliegen, die um einen rumschwirren, wenn man versucht, ein Eis zu essen. Das Schlimmste ist, dass die dümmsten, nervigsten Viecher des ganzen Landes offenbar alle auf meine Schule gehen.

Ich stellte mir gerade vor, wie es wohl wäre, Leute mit einer riesigen Fliegenklatsche wegzuwedeln, als Mr Lancaster mich aus der Mensa führte. Auf dem Weg zwinkerte ich Will und Katie zu – schließlich hatte ich unsere Wette gewonnen! Aber sie mussten so lachen, dass sie mich wahrscheinlich gar nicht sahen.

»SETZDICHDAHINUNDHALTBLOSSDENMUND!«, fuhr Mr Lancaster mich an und zeigte auf das Sofa in seinem Büro.

Mr Lancaster ist der Schulleiter, und manchmal frage ich mich, ob die vielen Urkunden an seiner Wand in Wirklichkeit Auszeichnungen dafür sind, dass er der dümmste und nervigste Lehrer im ganzen Land ist. Das Komische daran ist, dass er sich selbst für unheimlich schlau hält. Dauernd beobachtet er mich und wartet nur darauf, mich bei etwas zu erwischen, damit er vor der ganzen Schule »HECTOOOOORRRRR!« brüllen kann. Dabei schwellen jedes Mal die Adern an seinem Hals voll an. Außerdem lässt er immer seltsame Warnungen ab. Letzte Woche war es: »Noch EINMAL, und ich ziehe dich so schnell an den Ohren raus, dass dein Kopf sich dreht wie das Sonnensystem!«

Heute war es: »Du bist SO kurz davor, die Beine abgehackt zu bekommen, junger Mann! Und dann? Was bist du dann? Beinlos! Das bist du dann!«

Aber wenn Mr Lancaster mich oder meine Beine wirklich loswerden will, muss er sich schon mehr Mühe geben. Heute hatte er Glück; wahrscheinlich hat er mir ganz besonders nachspioniert. Aber die Hälfte von allem, was ich so anstelle, kriegt er gar nicht mit, weil ich seine blöden Fallen schon von Weitem entdecke. Wie damals, als er winzige Kameras, die aussahen wie glänzende schwarze Käfer, vor dem Jungsklo installiert hat. Er hatte gehofft, mich dabei zu erwischen, wie ich den kleineren Kindern Geld abknöpfe. Aber natürlich habe ich die Kameras sofort entdeckt. Jetzt winke ich ihnen täglich im Vorbeigehen zu, bevor ich den Leuten das Geld in der hintersten Schulhofecke abknöpfe.

Letztes Jahr hat Mr Lancaster dann die Klassensprecher zu Mensa-Aufpassern ernannt und ihnen riesige glänzende Abzeichen verliehen. Sie sollten mich davon abhalten, dass ich Leuten ein Bein stelle, während sie ihre Tabletts zum Tisch tragen. Aber stattdessen stellte ich einfach den Mensa-Aufpassern ein Bein, und am nächsten Tag gaben sie den Job alle wieder auf.

»HECTOOOOOORRRR! HÖRSTDUMIRZU?!« Mr Lancasters wütende Stimme unterbrach meine glücklichen Erinnerungen daran, wie ich Katie Lang ein Bein gestellt hatte und dabei zusehen konnte, wie sie kopfüber durch die Mensa stolperte, während ihre Schüssel mit Chili die Hälfte der Zweitklässler vollspritzte. »KOMMBLOSSNICHTAUFDIEIDEE, HEUTEDASNACHSITZENZUSCHWÄNZEN!«

Bevor Mr Lancaster weitersprechen konnte, läutete die Schulglocke, als hätte auch sie genug von ihm. Ich versuchte mir das Grinsen zu verkneifen, während ich nickte und mich langsam – ganz, ganz langsam – auf den Weg zurück ins Klassenzimmer machte. Als ich dort ankam, saßen schon alle und packten ihre Hefte aus.

»Hectorrrr!« Mrs Vergara seufzte, holte das Klassenbuch wieder hervor und schüttelte den Kopf. »Warum musst du IMMER zu spät kommen?«

Ich zuckte die Achseln und ließ mich auf meinen Platz neben Rajesh fallen. Mrs Vergara schüttelt immer den Kopf über mich.

»Okay, okay. Ruhe jetzt«, sagte sie und ging mit einem leuchtend grünen Stift zum Whiteboard. »Nachdem nun endlich alle da sind, wollen wir die Ereignisse wiederholen, die zum Großen Brand von London geführt haben.«

Mir fiel ein, dass mein Heft in der Schublade vorne im Klassenzimmer lag, und ich stöhnte leise. Aber eigentlich war es mir egal. Ich sah zu, wie Mrs Vergaras Stift große schwungvolle Buchstaben auf die Tafel malte und dabei eine glänzend grüne Spur hinterließ wie eine Schnecke.

»Psssssst! Rajesh!«, flüsterte eine Stimme vom Tisch vor uns, an dem Mei-Li und Robert saßen. Ein kleines zusammengefaltetes Stück Papier landete neben meinem Ellbogen.

Bevor Rajesh danach greifen konnte, nahm ich die Nachricht und faltete sie auf. Es war eine witzige Zeichnung von Mrs Vergara, aus deren Hintern Flammen schlugen, als ob sich ihre Fürze entzündet hätten. Darüber stand: »Was den Großen Brand von London wirklich verursacht hat.« Beeindruckt sah ich zu Robert hinüber. Ich hätte nicht gedacht, dass ein Schleimer wie er sich trauen würde, etwas so Witziges über eine Lehrerin zu zeichnen. Normalerweise waren alle Nachrichten, die er an Rajesh weitergab, Rechenaufgaben oder so was wie: »Wir treffen uns in der Chemieabteilung der Bücherei.« Aber dann bemerkte ich Karina, die mich nervös über Roberts Schulter hinweg ansah. Es war offensichtlich ihre Zeichnung, die er weitergegeben hatte.

»Hectorrrrrrrrrrrrr. Du bist ja anscheinend schwer beschäftigt.«

Schnell zerknüllte ich den Zettel. Aber es war zu spät. Mrs Vergara stand bereits vor mir.

»Gib mir das. Sofort«, sagte sie sanft mit schräg gelegtem Kopf.

Ich warf Rajesh einen Blick zu. Seine Augen traten so weit vor, als würden sie gleich durchs Zimmer fliegen. Dann sah ich zu Mei-Li und dem blöden Robert rüber. Mei-Li funkelte Robert an, und Robert saß ganz gerade und blickte zur Decke hinauf, als hätte er die Nachricht noch nie zuvor gesehen. Genauso machte es Karina. Mit einem Stirnrunzeln gab ich Mrs Vergara die Zeichnung.

Ich wusste genau, was als Nächstes passieren würde, denn leider ist Mr Lancaster nicht der einzige rekordverdächtige Spaßverderber an meiner Schule. Mrs Vergara ist genauso nervig, nur dass sie nicht versucht, mich bei Sachen zu erwischen, sondern so tut, als wäre sie nett zu mir. Diesen Trick wenden besonders raffinierte Erwachsene an, wenn sie dich glauben machen wollen, sie wären dein Freund und nicht dein Feind.

Mrs Vergara sah sich die Zeichnung an und schüttelte den Kopf. Schon wieder. »Oh, Hectooooorrrr! Ich bin enttäuscht von dir. So bist du doch eigentlich gar nicht.«

»Aber … aber das war ich nicht! Es war Karina. Sie hat Mei-Li und Robert den Zettel zugeworfen, damit sie ihn Rajesh geben!«

Karina schnappte nach Luft, und Robert schüttelte den Kopf. Mei-Li klappte den Mund auf, aber bevor sie irgendetwas sagen konnte, beugte sich Mrs Vergara vor und deutete mit dem Zeigefinger auf mich.

»Schieb ihnen nicht DEIN Fehlverhalten in die Schuhe«, sagte sie. »Diese Zeichnung ist schon unverschämt und gemein genug, auch ohne deine Ausreden. Ich wünschte, du würdest mir so weit vertrauen, dass du mir die Wahrheit sagst. Aber ich fürchte, ich muss dich SCHONWIEDER nachsitzen lassen.«

Ich wollte noch mal sagen, dass ich es wirklich nicht gewesen war – denn meine Zeichnung wäre viel besser und witziger geworden –, aber ich wusste, es hatte keinen Zweck. Sobald mir ein Erwachsener sagt, ich könnte ihm vertrauen, weiß ich, dass ich das auf keinen Fall kann. Erwachsene helfen immer nur denen, die sie mögen, und ich habe noch nie einen Erwachsenen getroffen, der mich mag. Außerdem enttäusche ich alle und jeden, seit ich denken kann, also war das nichts Neues.

Mrs Vergara ging zurück zum Whiteboard und stellte eine Frage zu dem Brand. Ich sah, dass Mei-Li mich beobachtete, also funkelte ich sie an, bis sie sich abwandte. So schlimm Mr Lancaster und Mrs Vergara auch sind, es gibt nichts Schlimmeres als Schleimer und Streberinnen, und genau das sind Robert und Mei-Li. Die Jungs werden immer Schleimer genannt und die Mädchen Streberinnen, aber sie sind alle gleich nervig.

Man erkennt sofort, dass jemand ein Schleimer oder eine Streberin ist, weil sie so tun, als wäre es das Ende der Welt, wenn sie keine Eins in all ihren Tests kriegen. Sie vergessen NIE die Hausaufgaben; manche von ihnen sind sogar so peinlich, dass sie Extrahausaufgaben machen. Und alle schleimen sich dermaßen bei den Lehrern ein, dass ihre Lippen vom Speichellecken ganz feucht glänzen. Jede Klasse in jeder Schule auf der ganzen Welt hat mindestens einen oder eine davon. Aber wahrscheinlich ist meine Klasse die übelste der Welt, denn wir haben drei. Drei entsetzliche Speichellecker. Ein Albtraum!

Da ist Natasha, die direkt neben Vergaras Pult sitzt und immer, wenn sie die Antwort weiß, auf ihrem Stuhl auf und ab hüpft wie ein riesiger Frosch. Dann ist da Robert, der sich für witzig und schlau hält, obwohl er keins von beidem ist. Die beiden haben solche Angst vor mir, dass sie sich meistens nicht mal trauen, mich anzusehen, also tun sie so, als gäbe es mich gar nicht. Aber die allerschlimmste, allerlästigste und allerstreberhafteste Streberin der ganzen Welt ist auf jeden Fall Mei-Li.

Sie ist letztes Jahr neu in unsere Klasse gekommen, und obwohl sie noch nicht mal so redet wie wir anderen und komisch riechendes Essen mitbringt wie leuchtend orangefarbene Nudeln oder seltsame Bällchen in schwarzer Plastikfolie, wird sie von allen Lehrern geliebt. Ihre glänzend schwarzen Haare hat sie immer zu einem Pferdeschwanz gebunden, den sie herumwirft, wenn sie etwas richtig macht, und sie kaut dauernd auf ihrem Bleistift, wodurch sie aussieht wie eine Giraffe, die Stroh frisst. Sie hat in jedem Test mindestens 90 % richtig und hält den Rekord der meisten Auszeichnungen für alles, wofür meine blöde Schule Auszeichnungen verleiht. Und das, obwohl sie noch neu ist. Wahrscheinlich würde sie sogar eine Auszeichnung fürs Atmen kriegen, wenn es so was gäbe! Ich hasse sie mehr als alle anderen, die ich kenne.

Nach der Schule ging ich direkt zum Nachsitzen und setzte mich auf meinen üblichen Stuhl in der Ecke des Klassenzimmers. Ich war der Einzige dort. Mal wieder.

»Wie schön, dass du ausnahmsweise pünktlich bist«, sagte Mr Lancaster und legte einen Stapel weißer Blätter vor mich.

Nachsitzen bei Mr Lancaster ist genauso langweilig, wie wenn man Farbe beim Trocknen zusieht. Ich glaube, Mr Lancaster hofft, dass ich das Nachsitzen in Zukunft versuche zu vermeiden, wenn er es nur langweilig genug macht. Aber er checkt einfach nicht, dass es mir nichts ausmacht nachzusitzen. Es beruhigt mein Gehirn, meine Ohren verschließen sich, und meine Augen hören auf zu blinzeln. Und anstatt das Zimmer wahrzunehmen, in dem ich sitze, oder die Wörter, die ich schreibe, denke ich über brandneue Methoden nach, wie ich es allen heimzahlen kann. Einige meiner besten, brillantesten Ideen habe ich beim Nachsitzen entwickelt.

Aber heute wurde mir klar, dass ich irgendwas anderes machen musste. Irgendwas Großes. Ich musste das Hamsterrad verlassen, von dem Mrs Vergara dauernd redet – das im Kopf, das einen dazu bringt, immer wieder dasselbe zu tun. Ich musste etwas Neues ausprobieren. Etwas, das mich wirklich zum Gesprächsthema machen würde und hundertmal besser war, als Schlangen in die Schulsuppe zu werfen.

Ich dachte gerade darüber nach, was dieses große Ding sein könnte, und schrieb zum fünfzigsten Mal Ich werde keine Schlangen in die Schulsuppe werfen, als es an der Tür klopfte und Mrs Vergaras Kopf und Schultern auftauchten.

»Mr Lancaster, könnte ich Sie einen Moment sprechen?«

»Natürlich«, sagte er und fuhr von seinem Stuhl hoch. Nachdem er mir einen warnenden Blick zugeworfen hatte, folgte er Mrs Vergara nach draußen und schloss die Tür hinter sich.

Ich sprang auf und schlich auf Zehenspitzen zur Tür, um zu lauschen.

»Sehen Sie?«, sagte Mrs Vergara. Ein Geräusch folgte, das klang wie das Rascheln großer Seiten Papier. »Er hat als Einziger der ganzen Schule einen Comic im Mangastil abgegeben. Schauen Sie nur, wie komplex die Figuren und Handlung gestaltet sind. Das ist wirklich außergewöhnlich. Ich glaube, wenn wir ihn anmelden würden, hätte er realistische Gewinnchancen.«

»Hmmmm …« Weitere Papiergeräusche waren zu hören, bevor Mr Lancaster sagte: »Ja, die sind nicht übel. Er war schon immer ein ziemlich guter Zeichner.«

Ich drückte das Auge ans Schlüsselloch. Aber außer Mrs Vergaras leuchtend blauer Jeans konnte ich nichts sehen.

»Es ist bloß ein Jammer, dass er so ungezogen ist«, fuhr Mr Lancaster fort. »Der Junge ist eine wahre Plage. In einem Moment wirft er Schlangen in die Schulsuppe, im nächsten verprügelt er die Zweitklässler. Wahrscheinlich nimmt er gerade jetzt das Klassenzimmer auseinander! Stellen Sie sich vor, wir würden ihn zu einem landesweiten Malwettbewerb anmelden! Das würde niemals funktionieren. Er würde den Ruf der Schule ruinieren – na ja, zumindest das, was davon noch übrig ist.«

Ich drückte mein Ohr noch fester ans Schlüsselloch. Ich konnte es nicht fassen, dass sie über mich und meine Zeichnungen sprachen.

»Möglicherweise könnten wir ihm sagen, wir würden ihn gern anmelden, aber dass das nur möglich sei, wenn er anfinge, sich zu benehmen«, sagte Mrs Vergara. »Vielleicht bringt ihn das zur Vernunft. Seine Zeichnungen sind bereits jetzt ganz einzigartig. Wirklich außergewöhnlich. Dann könnte er seine Energie darauf konzentrieren. Es würde ihm einen Grund geben, sich auf etwas einzulassen …«

Das Papiergeraschel hörte auf.

»Nein«, erwiderte Mr Lancaster. »Nein, Mrs Vergara. Bei dem Jungen ist Hopfen und Malz verloren. Wahrscheinlich würde er die ganze Sache sabotieren und dafür sorgen, dass unsere Schule von dem Wettbewerb ausgeschlossen wird. Es ist schon schlimm genug, dass wir mit ihm klarkommen müssen. Da sollten wir ihn nicht noch auf eine Auswahljury und andere unschuldige Schüler loslassen.«

»Wahrscheinlich haben Sie recht«, sagte Mrs Vergara. »Es ist ein Jammer. Was für ein verschwendetes Talent. Aber … ja, wahrscheinlich haben Sie recht.«

Plötzlich wurde die Klinke runtergedrückt. Ich flitzte in meine Ecke, sprang auf den Stuhl und griff gerade nach meinem Bleistift, als Mr Lancaster zurück ins Zimmer kam. Er sah erst mich an und blickte sich dann langsam im Raum um, wie um sicherzugehen, dass er nicht in Flammen stand.

»Komm schon, Hectooooooor, beeil dich. Wir haben beide ein Zuhause, das auf uns wartet«, sagte er, als er sah, dass ich immer noch mindestens fünfzig Zeilen schreiben musste.

Ich zwang meine Hand, so schnell zu schreiben wie möglich, obwohl sie zitterte und meine Wörter ganz schief wurden. Mein Gesicht glühte. Und mit jeder Zeile, die ich schrieb, dachte ich immer intensiver darüber nach, was ich als Nächstes tun könnte, das größer und schlimmer war als alles, was ich bisher getan hatte. Etwas, das Mr Lancaster, Mrs Vergara und allen anderen definitiv zeigen würde, was für eine Plage ich sein konnte.

2

Der Mann mit dem Einkaufswagen

»Ich kann einfach nicht glauben, dass du dich von Mr Lancaster und Mrs Baxter hast erwischen lassen«, sagte Katie. Sie wartete mit Will auf dem Schulhof auf mich, wie immer, wenn ich nachsitzen musste. »Die sind doch uralt. Du musst echt viiiiel schneller werden, H – du wirst lahm!«

Ich senkte den Blick und konnte geradezu spüren, wie ich rot anlief. Immer wenn sie finden, ich hätte verkackt, hören Will und Katie gar nicht mehr auf, darüber zu reden. Manchmal boxe ich sie dann, aber diesmal wusste ich, dass Katie recht hatte. Ich hätte schneller sein müssen.

»Los! Wir knöpfen uns die Drittklässler vor.« Will versuchte mich aufzuheitern. »Guckt mal. Da ist Felix. Vielleicht macht er sich sogar in die Hose!«

Will zwinkerte mir zu. Er schlägt dauernd vor, Sachen zu machen, von denen die anderen noch mehr Angst vor uns kriegen. Will ist seit unserem ersten gemeinsamen Schultag mein bester Freund. Als ich sah, wie er alle anderen mit Radiergummischnipseln beschoss und es dann abstritt, wusste ich genau, dass er ein super Kumpel sein würde. Will ist wie ich – na ja, so in etwa. Er ist ein bisschen feige und lügt oft, während ich mir nicht die Mühe mache zu lügen – nie. Vor allem, weil es viel lustiger ist, die schockierten Gesichter der Erwachsenen zu sehen, wenn man die Wahrheit sagt.

Aber Will ist in Ordnung. Er ist witzig und hilft mir immer dabei, neue Streberinnen und Schleimer zu finden, genau wie Angeber und alle, die mehr Geld haben, als gut für sie ist. Er ist breiter und größer als ich, sodass uns alle sofort erkennen, wenn wir zusammen unterwegs sind. Seine Haare sind hellblond und gerade und stehen vom Kopf ab wie Strohhalme vom Kopf einer Vogelscheuche. Dadurch sieht er irgendwie aus wie ein verrückter Wissenschaftler. Meine glatten braunen Haare hängen mir einfach ins Gesicht und halb in die Augen, als wären sie zu faul für alles, deshalb sehe ich nicht wie irgendein Verrückter aus.

»Los geht’s!«, drängte Katie mich, stieß mich mit dem Ellbogen an und zeigte auf Felix und seine Zwergenfreunde. »Trau dich.«

Ich sah mich nach Mrs Simpson um, die nur etwa zehn Schritte von uns entfernt am Tor stand und sich mit ein paar Eltern unterhielt. Es ist immer schwierig, jemanden nach Schulschluss zu erwischen. Wenn man von Eltern dabei beobachtet wird, kriegt sogar Mr Lancaster Ärger, und dann muss man nachsitzen, bis er in Rente geht.

Ich warf Katie einen Blick zu. Sie forderte mich mit erhobener Augenbraue heraus. Das macht sie gern. Sie ist letztes Jahr auf unsere Schule gekommen, nachdem sie von einer anderen geflogen ist, und Will und ich wussten sofort, dass sie eine von uns war. Wir freundeten uns in dem Moment miteinander an, als ich sah, wie sie Mei-Li und Robert mit ihrem Blick zu verstehen gab, dass sie die beiden bis in die nächste Stadt jagen würde, falls sie ihr zu nahe kämen. Katie ist richtig groß und kann übelst schnell rennen, also könnte sie das wahrscheinlich wirklich, wenn sie wollte. Sie ist blasser als alle, die ich kenne, hat glatte braune Haare, die aussehen wie gebügelt, und eine große viereckige Brille. Normalerweise sind alle Brillenträger Streberinnen oder Schleimer. Aber Katie ist anders.

»Worauf wartest du?«, flüsterte sie. »Du wirst echt lahm!«

Das gab den Ausschlag. Ich funkelte sie an und ging direkt auf mein Ziel zu. Aber genau in dem Moment, als ich Felix erreichte, drehte sich Mrs Simpson um. Sie erblickte mich sofort, deshalb musste ich an ihm vorbei zum Tor rausrennen, damit sie dachte, ich wäre für irgendetwas spät dran.

»Echt, Mann! Du hast zu lange gewartet!«, knurrte Will kurz darauf, nachdem er und Katie mich eingeholt hatten.

Schweigend gingen wir am Süßigkeitenladen an der Ecke vorbei bis zur zweispurigen Straße, die auf den Park zuführte.

Ich trat gegen ein paar Kieselsteine. Am liebsten hätte ich noch viel fester gegen irgendetwas Größeres getreten.

»Was ist los mit ihm?«, flüsterte Will laut.

»Ich weiß nicht«, sagte Katie nur halb flüsternd. »Wahrscheinlich ist er einfach bloß sauer, weil er so lahm ist und dauernd erwischt wird.«

Ich flitzte zwischen hupenden Autos über die Straße und betrat den Park, ging den grauen Weg entlang auf den Hügel mit den größten Eichen zu. Will und Katie redeten immer noch über mich. Wenn sie mich echt nerven wollen, tun sie so, als würden sie miteinander flüstern, ohne wirklich zu flüstern.

»Was für ein Loser«, flüsterte Will, ohne zu flüstern.

»Genau«, flüsterte Katie, ohne zu flüstern. »Als wäre es unsere Schuld, dass er nicht mehr schnell genug ist!«

Meine Hände ballten sich zu Fäusten, und meine Stirn wurde so heiß wie ein Grill mit frisch entzündeter Holzkohle. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und Will und Katie so fest geschubst, wie ich konnte, damit sie nie wieder solche Sachen sagen würden.

Wir erreichten die Hügelkuppe, auf der eine Bank unter den Eichen stand, und da sah ich ihn: den alten Mann. Ich hatte ihn schon öfter dort gesehen, wie er neben einem mit Müll beladenen Einkaufswagen auf der Bank saß. Er trug seinen üblichen langen, alten und zerknitterten schwarzen Mantel, der aussah, als hätte er ihn aus einer Mülltonne gezogen, und die leuchtend gelbe Wollmütze, die er immer aufhatte, sogar im Sommer. Und ganz ohne nachzudenken, kam mir die genialste Idee, die ich je gehabt hatte. Sie war sogar so genial, so unerwartet und außerhalb des Hamsterrads, dass ich wusste, sie würde Will und Katie endgültig zum Schweigen bringen!

Ich blieb stehen, woraufhin Will und Katie automatisch auch stehen blieben. Will sah mich ausdruckslos an, aber Katies Augenbrauen zuckten sofort nach oben, als wollte sie sagen: »Ja? Und?«

»Wie wär’s mit ein bisschen Spaß?«, fragte ich.

Will nickte. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, wodurch er aussah wie ein hungriger Fuchs, der einen Hühnerstall erschnuppert hat.

»Seht ihr den alten Mann da?« Ich zeigte auf die Bank.

»Du meinst den Einkaufswagenmann?«, fragte Katie.

»Dem machen wir klar, dass er hier nicht mehr erwünscht ist.«

»Und wie?«, flüsterte Katie und beugte sich vor. Sie schob ihre Brille hoch.

Ich wartete ein paar Sekunden, damit sie Zeit zum Überlegen hatten, dann flüsterte ich zurück: »Ich klaue ihm seine Mütze.«

»Seine Mütze?«, fragte Will.

»Jep. Er hat immer diese eklige, stinkende Mütze auf.«

Katie lächelte schließlich, was hieß, dass sie meine Idee gut fand.

»Los, kommt«, sagte ich. »Auf geht’s.«

Als wir zur Bank kamen, sahen wir, dass der alte Mann eingeschlafen war. Sein schwarzgrauer flauschiger Bart diente seinem Kinn, das auf seiner Brust ruhte, als Kissen, und seine dreckige Wollmütze war seitlich weggekippt wie eine Weihnachtsmannmütze – nur dass sie gelb war statt rot. Er atmete schwer durch seine rosa Nasenspitze, während die Hände mit den fingerlosen Handschuhen sich dauernd bewegten – als spielten sie die Melodie zu einem Lied, das sonst niemand hören konnte.

»Er schläft!«, flüsterte Will, als wir vor ihm standen.

»Sag bloß, du Genie.« Katie verdrehte die Augen. »Und jetzt?« Sie sah mich an. Ich legte einen Finger auf die Lippen und schlich auf Zehenspitzen um die Bank herum, bis ich hinter dem Mann stand. Dann streckte ich den Arm aus und hielt die Hand über die Mütze, bereit, sie zu packen und damit abzuhauen.

Will und Katie starrten mich an. Wills Mund stand offen, und Katies Augen glänzten.

Bevor sie Zeit hatten, auch nur zu blinzeln, griff ich mir die gelbe Mütze vom Kopf des alten Mannes, drehte mich um und wollte wegrennen. Aber ich hatte noch keinen Schritt gemacht, da packte mich eine große Hand mit schmutzigen Fingernägeln an der Schulter.

»WASSOLLDAS?«, rief der alte Mann, sprang auf und hielt mich fest.

Schnell warf ich die Mütze in Wills Richtung. Es funktionierte. Der alte Mann ließ mich los und rannte ihr nach. Aber Will war schneller und fing sie auf.

»Willst du die hier, Einkaufswagenmann?«, neckte Will ihn und hielt die Mütze hoch. Der alte Mann griff danach, aber im letzten Moment warf Will mir die Mütze lachend wieder zu.

Sofort warf ich sie Katie zu und Katie Will. Der alte Mann drehte sich im Kreis und wusste nicht, auf wen er zuerst losgehen sollte. Dann blieb er plötzlich stehen und starrte mich an. Ich erwiderte seinen Blick und sah ihm direkt in die von Falten eingerahmten kleinen braunen Augen.

»Du!« Er zeigte mit dem Finger auf mich. »Du gibst sie zurück!«

Ich grinste. »Ja? Zwing mich doch!« Ich ließ die Mütze wie einen wollenen gelben Basketball auf meiner Fingerspitze kreisen.

Einen Moment lang sah er mich bloß an. Dann, schnell wie der Blitz, ging er in die Hocke und schwang im Hochspringen sein Handgelenk mit einer flinken Drehbewegung in meine Richtung. Etwas Spitzes stach mir ins Gesicht.

Pock-pock-pock-pock-pock!

»Au!«, rief Will.

»He! Hör auf!«, schrie Katie, während sie beide den Rückzug antraten.

Ich spürte ein Brennen am Bein, dann wieder im Gesicht, und schließlich traf etwas Hartes meine Handfläche. Als ich die Hand um einen kleinen spitzen Gegenstand schloss, kapierte ich endlich, was los war. Der alte Mann bewarf uns mit kleinen Steinchen!

»HAUTAB!«, rief er wütend, während seine Hände auf magische Weise immer mehr winzige Steinpatronen hervorbrachten. »ODERICHVERARBEITEEUREGEDÄRMEZUSTRUMPFBÄNDERN!«

Will und Katie rannten vor Schmerz schreiend in einem Kieselsteinregen den Hügel hinab.

Ich umklammerte die Mütze und versuchte, standhaft zu bleiben. »ALSOLOS, DANNKOMM!«, rief der alte Mann. Er lachte, als die kleinen Steinchen noch schneller auf mich einprasselten. Bevor ich wusste, wie mir geschah, ließ ich die Mütze fallen.

Der Mann kam auf mich zu, und schnell wurde mir klar, dass ich keine Chance hatte. Er war zu groß und außerdem mit Steinen bewaffnet – allein konnte ich nichts gegen ihn ausrichten.

»ICHKOMMEWIEDER!«, rief ich. Erhitzt, wütend und knallrot im Gesicht rannte ich den Hügel hinunter zu Katie und Will, die dort auf mich warteten.

»KOMMRUHIG, DUKLEINERMISTKERL!«, brüllte der alte Mann zurück, und mich traf noch ein großer Stein hinten am Bein.

Erst als ich Katie und Will erreichte, fiel mir auf, dass sich eine Menschenmenge versammelt hatte. Leute, die ihre Hunde spazieren führten, sahen uns mit offenem Mund oder gerunzelter Stirn an. Auch ihre Hunde starrten uns an.

»Los, kommt. Verschwinden wir von hier!«, rief ich und ging schnell auf den Eingang des Parks zu.

Will und Katie folgten mir, die Köpfe tief gesenkt, damit niemand ihre Gesichter sehen konnte.

Aber ich senkte nicht den Kopf, wie ich es hätte tun sollen. Denn ich hörte Will lachen und sah, wie auch Katie anfing zu kichern. Da wusste ich, dass sie mich auslachten – schon wieder.

»Was bitte gibt’s denn da zu lachen?«, fragte ich mit glühendem Gesicht.

»Der hat’s dir echt gegeben«, sagte Will. »Obwohl er uralt ist!«

»Ja«, sagte Katie. »Und obdachlos. Wenn das nicht peinlich ist.«

»Ich zahle es ihm heim«, erklärte ich, als wir eilig den Park verließen. »Ihr werdet schon sehen.«

»Ach ja? Und wie?« Katie forderte mich schon wieder mit ihren Augenbrauen heraus.

Aber ich wusste es nicht. Noch nicht.

Am Eingang des Parks bogen Katie und Will nach links ab auf die Straße, die zu ihnen nach Hause führte. Ich hörte sie immer noch kichern und spotten, als sie sich entfernten.

Sobald sie weg waren, blickte ich über die Schulter und durch den Zaun zur Hügelkuppe hinauf. Ich konnte den alten Mann sehen, der seine gelbe Mütze wieder aufgesetzt hatte und mit seinem Einkaufswagen davonspazierte, als wäre nichts geschehen. Als hätte er mich nicht gerade vor meinen Freunden blamiert. In diesem Moment schwor ich mir, dass ich ihm das, was er getan hatte, heimzahlen würde, und zwar so gründlich, dass mich noch nicht mal Steinpatronen aufhalten konnten.

3

Diebstahl auf Gleis 1

Wenn ich nach einem echt üblen Tag nach Hause komme, will ich am liebsten in Ruhe Computer spielen. Aber an diesem Nachmittag war für mich offenbar keine Verschnaufpause drin. Denn sobald ich zur Tür hereinkam und noch bevor ich irgendetwas gemacht hatte, wurde ich angebrüllt wie ein Verbrecher.

»HECTOOOOOOORR! BISTDUDAS? WARUMBITTEKOMMSTDUSOSPÄT, HM?«

»WEISSNICHT!«, brüllte ich zurück und knallte die Haustür hinter mir zu. Ich streifte die Schuhe ab und wollte gerade die Treppe rauf in mein Zimmer, als die Stimme hinzufügte: »Dein Bruder hat was für dich gemacht, komm mal und guck dir das an, hm?«

Ich hatte keine Lust – ich wollte gleich nach oben gehen und Rachepläne gegen den alten Mann im Park schmieden, aber ich wusste, wenn ich nicht in die Küche ging, um zu sehen, worüber Lisa da rumschrie, würde sie mir wahrscheinlich hinterherkommen.

Lisa ist die Kinderfrau meines kleinen Bruders, aber sie meckert auch dauernd an mir rum, es ist also, als hätte man eine nervige Lehrerin zu Hause. In Wirklichkeit heißt sie Lestari, aber wir nennen sie alle Lisa, weil Hercules sie so nennt. Ich versuche ihr so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen. Zu Hause versuche ich generell allen so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen. Das macht es einfacher.

»Was denn?«, fragte ich und zog die Küchentür auf. Lisa und meine Schwester Helen standen an der Kücheninsel vor einer riesigen Platte mit Käsetoasts, und mein kleiner Bruder saß in seinem Kinderstuhl und malte. Mit Glitzer. Mal wieder.

Mein Bruder heißt Hercules. Weshalb er mir echt leidtut, denn ich weiß, dass er deswegen in der Schule verprügelt werden wird. Wer würde schließlich nicht ein Kind verprügeln, das Hercules heißt? Es ist ein alberner Name, vor allem für einen Vierjährigen, dessen einziges Talent es ist, überall, wo er hingeht, eine Glitzerspur zu hinterlassen. Sogar auf Cornflakesschachteln und auf dem Klo. Das Problem ist, dass Mum und Dad auf alte Geschichten über griechische und römische Götter und den ganzen Blödsinn, den die ausgeheckt haben, stehen. Also haben sie beschlossen, uns, ihre eigenen Kinder, mit Namen aus ihren Lieblingssagen zu strafen.

Hercules und ich sind nach Helden benannt und meine Schwester Helen nach einer griechischen Frau, deren Gesicht so schön war, dass sie einen Krieg verursacht hat. Das Einzige, was meine Schwester mit ihrem Pickelgesicht verursachen könnte, ist ein Verkehrsunfall. Sie ist ganz bestimmt nicht die schönste Frau irgendwo. Noch nicht mal, wenn sie allein in einem Zimmer ist. Hercules war ein berühmter Krieger, der sich wahrscheinlich nie Legosteine in die Nase gesteckt oder anderen Leuten die Hände abgeleckt hat. Und ich werde nie ein Held sein, obwohl ich Hector heiße. Man könnte also sagen, dass wir alle seit unserer Geburt verflucht sind.

»Guck, Höp-tor! Guck!«, rief Hercules und hielt ein grausiges Bild hoch. Ich konnte noch nicht mal erkennen, was es eigentlich darstellen sollte.

»Was ist das?«, fragte ich. Wann Hercules wohl endlich lernen würde, meinen Namen richtig auszusprechen? So klang ich wie ein Rülpser.

»Das bist du!«, erklärte Lisa, als wäre das eine großartige Überraschung. »Ist das nicht toll?«

Ich sah auf Hercules mit seinen braunen Locken, den Pausbäckchen und den großen braunen Augen hinab und fragte mich, wie er die ganze Zeit so glücklich sein konnte. Es ist seltsam, dass er nie weint – noch nicht mal, wenn ich ihn schubse, weil er nervt, und er auf den Po fällt. Anstatt zu plärren oder mich zu verpetzen, sieht er mich immer nur ganz verdutzt an und springt dann einfach wieder auf.

»Warum ist deine Hose so dreckig?« Helen sah mich mit gerunzelter Stirn an und kratzte an einem besonders roten Pickel herum. »Hast du dich schon wieder geprügelt?«