Die Nachtflüsterer - Das Beben - Ali Sparkes - E-Book

Die Nachtflüsterer - Das Beben E-Book

Ali Sparkes

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Beschreibung

Kinder und Tiere retten gemeinsam die Welt. Tier-Fantasy, Action und Höchstspannung – Band 4 der mitreißenden Reihe von Ali Sparkes

Unheimliches geht vor sich. Erst wird mitten im Wald eine tote Kuh mit einem kreisrunden Loch im Bauch aufgefunden, dann erzittert der Waldboden. Genau dort, in den Wäldern Schottlands, verbringt Nachtflüsterin Tima ihre Ferien. Schnell ist auch sie beunruhigt. Kein Zweifel, die Erde bebt! Deshalb verhalten sich auch die Tiere so merkwürdig. Doch was kann Tima tun, ohne ihre Freunde Elena und Matt, die als Nachtflüsterer ebenso wie sie die Sprache der Tiere verstehen? Was Tima nicht weiß: Elena und Matt sind bereits auf dem Weg nach Schottland. Sie wurden von zwei Steinadlern alarmiert, denn Tima schwebt in höchster Gefahr! Nur vereint haben die Nachtflüsterer eine Chance, das grollende Unheil abzuwenden.

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Über das Buch

Kinder und Tiere retten gemeinsam die Welt. Tier-Fantasy, Action und Höchstspannung — Band 4 der mitreißenden Reihe von Ali SparkesUnheimliches geht vor sich. Erst wird mitten im Wald eine tote Kuh mit einem kreisrunden Loch im Bauch aufgefunden, dann erzittert der Waldboden. Genau dort, in den Wäldern Schottlands, verbringt Nachtflüsterin Tima ihre Ferien. Schnell ist auch sie beunruhigt. Kein Zweifel, die Erde bebt! Deshalb verhalten sich auch die Tiere so merkwürdig. Doch was kann Tima tun, ohne ihre Freunde Elena und Matt, die als Nachtflüsterer ebenso wie sie die Sprache der Tiere verstehen? Was Tima nicht weiß: Elena und Matt sind bereits auf dem Weg nach Schottland. Sie wurden von zwei Steinadlern alarmiert, denn Tima schwebt in höchster Gefahr! Nur vereint haben die Nachtflüsterer eine Chance, das grollende Unheil abzuwenden.

Ali Sparkes

Die Nachtflüsterer

Das Beben

Aus dem Englischen von Manuela Knetsch

Carl Hanser Verlag

1

Das Tier lag auf der Seite. Sein zotteliger, roter Körper war vom frisch gefallenen Schnee bedeckt, und eins seiner eindrucksvollen Hörner hatte sich ins Heidekraut gebohrt. Es sah aus, als hätte es im Schlaf den Hügel behutsam auf die Hörner nehmen wollen. Wer oder was auch immer ein Loch in das Hochlandrind gemacht hatte, musste schnell vorgegangen sein. Und chirurgisch exakt.

Jamie hatte so etwas noch nie gesehen. Das Loch war kreisrund und hatte den Durchmesser eines großen Tellers. Um das Loch herum hätte eigentlich jede Menge Blut sein müssen — gespickt mit gebrochenen Rippen und herausquellenden Organen. Ein rotes, gefrorenes Gemetzel auf dem rauen Untergrund. Doch da war nichts. Dieser Tunnel, der durch Fleisch und Knochen gestanzt worden war, hätte genauso gut von einem Profi für Spezialeffekte am Computer stammen können — er war so sauber wie auf einem digital bearbeiteten Foto.

Hamish, der Border Collie, lief hinüber, um an dem Loch in der Kuh zu schnüffeln, winselte und kam sofort zurück. Er drückte das Hinterteil an die Beine seines jungen Besitzers und sah ängstlich auf, um sich seiner Anwesenheit zu versichern. Jamie tätschelte den Kopf des Hundes und machte einen kehligen Laut, um ihn zu beruhigen. Dabei hatte er selbst das Gefühl, dass seine Eingeweide durchbohrt wurden. Wer oder was hatte das hier getan?

Wie angewurzelt standen seine Stiefel auf dem gefrorenen Torfboden. Instinktiv schloss er den oberen Knopf seines dicken Wintermantels und zog sich den Schal enger um den Hals. Mit dem Wind, der über den Brawder’s Pass pfiff, kam auch ein Greifvogel herangeflogen. Das Raubtier glitt tiefer hinab, um unter der dünnen, weißen Schneeschicht, die sich über das Tal gelegt hatte, nach Wühlmäusen Ausschau zu halten. Als der Vogel die Luft oberhalb der toten Kuh passierte, stieg er plötzlich wieder auf und schoss davon.

Jamie atmete tief durch und trat näher. Das Rind war sechsmal so groß wie er und zehnmal so schwer, und es jetzt so daliegen zu sehen, hatte etwas Beunruhigendes. Tote Rinder hatte er natürlich schon zuvor gesehen. Viele Tiere starben während der langen, grauen Wintermonate hier draußen. Doch normalerweise war recht eindeutig zu erkennen, von welchen Raubtieren auf Nahrungssuche sie angegriffen worden waren: von einem Fuchs, einer Wildkatze, in manchen Fällen sogar von einem Adler. Jamie hatte gelernt, deren Spuren zu unterscheiden, die Muster, die ihre Zähne, Klauen, Schnäbel oder Krallen in den Kadavern hinterließen. Onkel Fraser hatte ihm das alles genau erklärt.

Er suchte den Erdboden um die Kuh herum nach Hinweisen ab, fand aber nichts. Rein gar nichts. Keine Spuren auf dem torfigen Untergrund, kein niedergedrücktes Heidekraut, keine Federn oder Fellhaare, die an den Pflanzen oder an dem schroffen Felsen direkt oberhalb des Tatorts hängen geblieben waren. Weshalb suchte er überhaupt nach irgendetwas? Man sah auf den ersten Blick, dass dem toten Tier nichts Natürliches widerfahren war.

Irgendwer musste mit einer Art Maschine hier heraufgekommen sein. Sie mussten die Kuh an Ort und Stelle betäubt oder getötet haben, um sie dann so bizarr zu verstümmeln.

Jamie ging neben dem Tier auf die Knie und lugte durch das runde Fenster in seiner Flanke. Das Innere seines Körpers war dunkelviolett und hatte rote, braune und elfenbeinfarbene Streifen. Der Tunnel war so glatt wie bei einem Pfeifenholm. Jamie setzte sich zurück auf die Fersen und machte einen verblüfften Laut. Ein Stück weit entfernt duckte sich Hamish in die schneebedeckte Heide, die Ohren flach angelegt, die Augen weggedreht. Hamish wollte nicht hinsehen.

Jamie konnte es dem Border Collie nicht verdenken. Dies hier war kein Ort, an dem man länger verweilen wollte. Der Anblick war einfach zu skurril und erinnerte ihn an die Bilder von M. C. Escher, die im Kunstraum seiner Schule die Wände schmückten — seltsame imaginäre Zeichnungen von Menschen, die Treppen hinaufstiegen, welche eigentlich nach unten führten, um Ecken liefen und im falschen Winkel zueinander standen. Oder Zeichnungen von schwarzen und weißen Schwänen, die im Formationsflug umeinanderflogen und so ein eigenartiges Puzzle bildeten. Beim Anblick dieser Bilder wurde ihm immer ein bisschen übel. Und so erging es ihm auch jetzt, mit dem Loch in der Kuh. Da es sich jedweder Logik entzog, fragte man sich unweigerlich, ob im eigenen Oberstübchen oder mit den eigenen Augen etwas nicht stimmte — es war wie eine optische Täuschung.

Nur um sicherzugehen, hob Jamie seinen Stock, den er eben erschrocken fallen gelassen hatte, wieder vom Boden auf und steckte ihn durch die Kuh hindurch bis auf die andere Seite. Der Stock berührte den felsigen Untergrund dahinter. Jamie zog ihn schaudernd wieder heraus, vorsichtig, um den Kadaver dabei nicht zu berühren.

Es war Zeit, zu verschwinden. Zeit, Onkel Fraser zu suchen und herauszufinden, ob der sich die Sache erklären konnte. Jamie hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er seinem Onkel das Ganze beschreiben sollte — er würde es ihm aufmalen müssen. Dann würde er ihn hierherbringen, damit er es mit eigenen Augen sah. Jamie pfiff leise, woraufhin Hamish dankbar aufsprang und nach Hause zu laufen begann. Als Jamie dem toten Rind den Rücken zukehrte, bekam er plötzlich eine Gänsehaut. Der vor ihm herspringende Hamish spitzte die Ohren, das Nackenfell stand ihm zu Berge — doch der Hund schaute nicht mehr zurück. Stattdessen winselte er wieder und lief weiter — schneller jetzt.

Jamie musste es sich einbilden. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Er stand hier schließlich auf einem schottischen Munro und nicht auf einem Berg in Italien oder in Japan. Hier brachte nichts und niemand die Erde zum Beben. Nichts. Und niemand.

Und so entschied er, dass es bloß seine eigenen Beine waren, die zitterten. Er gruselte sich. Heftigst. Und jetzt stieg auch noch Panik in ihm auf, weil er das erdrückende Gefühl hatte, beobachtet zu werden.

Jamie sah sich nicht mehr um. Er folgte dem Instinkt seines Hundes und rannte.

2

»O nein! Halt still, Tima. Nicht bewegen! Du hast da was auf der Schulter.«

Tima erstarrte. 19 Köpfe drehten sich zu ihr um, 19 Schauspielkolleginnen und -kollegen waren durch Rowenas schrille Warnung aufgeschreckt worden. Rowena war eine echte Drama-Queen (was sie jedoch, um genau zu sein, alle waren), und ihre laute, hohe Botschaft tönte durch den Saal. Sie war hörbar um Ruhe bemüht, aber in ihrer Stimme lag Panik.

»Es ist so ’ne Art Käfer.« Rowena schüttelte sich. »Oh, jetzt ist es in deinem Haar! Bleib ganz ruhig! Kann mal jemand einen Becher holen oder ein Stück Papier oder … woaaah …«

Fieberhaft überlegte Tima, wie sie am besten reagieren sollte. Griff sie jetzt nach dem kleinen Käfer, würde er vielleicht aus ihrem Haar fliegen und den ganzen Kurs in Panik versetzen. Gut, dass sie gerade Pause hatten und Jonathon, der Leiter des Schauspielkurses, rausgegangen war, um sich einen Kaffee zu holen. Tima kannte Jonathon erst seit fünf Tagen, war sich allerdings ziemlich sicher, dass er kein Insektenfreund war. An guten Tagen hätte man ihn als launisch bezeichnen können, und sie vermutete, dass er total ausrasten würde, wenn sie mit ihrem sechsbeinigen Besucher auch nur in seine Nähe käme. Das Beste wäre jetzt wohl, zu verhandeln — allerdings waren sie und der Käfer sich gerade erst begegnet und ihr neuer Freund daher etwas unberechenbar.

Tima drehte sich um und lief zum Bühnenrand. Dort legte sie sanft die Handflächen an die Schulter und bot dem Insekt an, daraufzukrabbeln. Der Käfer — ein Schwarzer Moderkäfer, wie sie vermutete — tat es, reagierte aber gereizt: Er hob den Hinterleib und bog seinen Körper wie ein Skorpion.

Alles in Ordnung, du musst das nicht machen, sandte sie dem Käfer zu, woraufhin er den Hinterleib sofort absenkte. Was tust du überhaupt hier oben auf der Bühne?, fuhr sie fort. Kellerräume und Badezimmer — die sind doch eher dein Ding, stimmt’s? Oder ein netter, feuchter Holzstapel.

»Hast du ihn? Ist er tot?« Rowena war ihr gefolgt.

»Alles gut. Es ist tatsächlich nur ein Käfer«, erwiderte Tima und hielt Rowena die ausgestreckte Handfläche hin. »Ein Schwarzer Moderkäfer, um genau zu sein. Die können ihren Hinterleib wie Skorpione nach oben strecken«, fügte sie hinzu, als Rowena weder aufschrie noch wegrannte — etwas, wofür Tima ihr durchaus Respekt zollte. Los, sandte sie dem Käfer zu, zeig’s ihr mal. Das Tierchen hob eifrig den Hinterleib.

»Wow«, sagte Rowena »Kann der stechen?«

»Nein«, antwortete Tima, als der Käfer den Hinterleib wieder gesenkt hatte. »Aber mit seinem Gepupse könnte er Tote aufwecken.«

Rowena schrie lachend auf und schlug die Hände vor den Mund.

Auch Tima lachte und drehte sich mit dem Käfer zu einigen anderen Kursteilnehmern um, die neugierig herangekommen waren. »Er sondert sein Sekret nur ab, wenn er Angst bekommt«, sagte sie. »Jagt ihm also besser keinen Schrecken ein, sonst spritzt er mir das stinkende Zeug auf die Hand.«

»Okay, Leute, die Pause ist vorbei. Dritte Szene!« Jonathon war zurück. Er schlenderte zu Tima und ihrer kleinen Gruppe hinüber. »Kommt schon, ihr auch. Tima — was hast du denn da?«

Alle traten einen Schritt zurück, und Tima hielt fröhlich lächelnd ihre Hand mit dem Schwarzen Moderkäfer hoch. »Ach, nur einen interessanten Kä—«

»AAAAAAH!«, schrie der ausgewachsene Mann und wich entsetzt zurück. »IIIHHH!«

»Ist schon gut, Jonathon, das ist doch bloß …« Doch Timas sechsbeiniger Freund fühlte sich bedroht und warf den Hinterleib in die Höhe. »Keine Sorge«, sagte sie zu dem Käfer. »Ich werde dich nach draußen bringen.« Aber als sie, das winzige Insekt zwischen den Handflächen, an Jonathon vorbeilief, entkam es durch einen Spalt zwischen ihren Fingern, eierte mithilfe seiner harten, kleinen Flügel über die Bühne und … flog direkt in den kastanienbraunen Pulloverärmel des Kursleiters hinein.

Die Schreie, die nun folgten, hätten gut zu einer Sterbeszene in der Oper gepasst. Tima biss sich auf die Lippe, um nicht laut loszuprusten. Sie ging hinüber, um den Käfer einzusammeln, was sich jedoch als schwierig erwies, weil Jonathon panisch mit den Armen ruderte.

»Warte kurz … Warte — halt mal still!«, rief sie. Dann wurde alles nur noch schlimmer. Plötzlich drang ein beißender Gestank aus Jonathons Wollpullover. Beharrlich klammerte sich der Käfer fest, ja, er arbeitete sich sogar noch den grob gestrickten Ärmel hinauf.

Zu allem Überfluss stieß Jonathon jetzt einen Schmerzensschrei aus. »Das Ding hat mich gestochen!«

Rowena sah Tima anklagend an. »Du hast doch gesagt, der sticht nicht!«

»Ich weiß!«, erwiderte Tima. »Aber dass er nicht beißt, habe ich nie behauptet …«

Dann stürzte Jonathon von der Bühne. Mit einem Rumms kam er auf dem roten, mit Wirbeln gemusterten Teppich vor der ersten Zuschauerreihe auf und blieb dort benommen liegen. Alle schrien erschrocken auf und rannten zu ihm. Tima war zuerst da und klaubte den Moderkäfer aus einem Loch seines Ärmels. Sie umschloss das Tierchen sicher mit der Faust und lief zum hinteren Teil des Saals. Als sie die Tür zum Foyer aufdrückte, sah sie dort eine Reihe von Eltern sitzen, die Kaffee tranken und auf das Ende der Probe warteten, um ihre Kinder nach Hause zu fahren.

Auch Mum war da. Sie stand auf, als Tima durch den Türrahmen trat und den Blick auf die chaotische Szene bei der Bühne freigab. Kurz darauf schlug die schwere Tür wieder hinter ihr zu. »Was ist passiert?«, fragte Mum.

»Bin sofort wieder da!«, quiekte Tima und rannte hinaus in den kalten Dezembernachmittag, um den Käfer in den Pflanzkübel eines Lorbeerbaumes zu setzen, der neben den Stufen zum Theater stand. Sie hatte es nicht eilig, wieder hineinzugehen. Sie setzte sich auf die Treppe, verschränkte die Arme vor der Brust, um sich zu wärmen, und beobachtete den Käfer dabei, wie er zuerst einige Kreise zog und sich dann in die Erde wühlte. Besten Dank auch, sandte sie ihm zu. Gerade jetzt, wo ich mich eingelebt hatte. Sie vermutete, dass es Jonathon gut ging und er lediglich ein großes Drama aus dem Vorfall machte. Nun ja … schließlich war es sein Job, theaterreife Szenen zu inszenieren.

Erst als ein Rettungswagen vorfuhr und die Sanitäter ins Theater rannten, begann sie, sich wirklich schuldig zu fühlen. Sie blieb, wo sie war, auf den kalten Stufen vor dem Eingang, und vergrub das Gesicht in den Händen. Dieser Weihnachtstheaterkurs sollte doch eigentlich Spaß machen und reine Erholung für sie sein. Bisher hatte sie tatsächlich viel Freude daran gehabt. Und sie hatte auch nicht mit Insekten oder Spinnentieren abgehangen. Bis auf einen netten Plausch mit einer chilenischen Vogelspinne im Zoo von Edinburgh war sie standhaft geblieben und hatte sich auf die Menschenwelt konzentriert.

Jemand setzte sich neben sie. »Ich glaube, wir beide müssen uns mal wieder ein bisschen unterhalten«, sagte Mum.

Tima seufzte. »Er ist einfach auf mir gelandet«, erklärte sie. »Dann ist er hochgeflogen und hat sich auf Jonathon gesetzt. Und der ist total ausgeflippt und von der Bühne gefallen. Ist alles in Ordnung mit ihm?«

Mum schnaubte. »Dem geht’s gut, da bin ich sicher. Die Sanitäter wollen noch ausschließen, dass er eine Gehirnerschütterung davongetragen hat, aber jemand, der so ein Spektakel veranstaltet, kann nicht ernsthaft verletzt sein. Komm rein. Hier draußen ist es zu kalt.«

Jonathon ging es tatsächlich gut. Die Rettungssanitäter untersuchten ihn gründlich und entschieden, dass er nicht ins Krankenhaus musste. Der Kurs war für heute beendet. Die Teilnehmer verließen mit ihren Eltern das Schauspielhaus, wobei sie sich lebhaft über die Käferattacke unterhielten, die den Kursleiter fast das Leben gekostet hätte.

»Keine Sorge«, sagte Rowena und umarmte Tima theatralisch. »Es ist nicht dein Fehler gewesen. Niemand gibt dir die Schuld.«

»Danke«, murmelte Tima. Als sie zu ihrer Mutter hinaufsah, war sie sich dessen jedoch nicht so sicher.

Im Auto sagte Mum eine ganze Weile gar nichts. Dann, als sie sich einen Weg über die Straßenbahnschienen bahnten, vorbei an Unmengen von Menschen, die ihre Weihnachtseinkäufe erledigten, platzte es plötzlich aus ihr heraus: »Wie hast du jetzt — mitten im Winter! — überhaupt ein Insekt finden können?«

»Na ja, Schwarze Moderkäfer halten nicht unbedingt Winterschlaf«, erwiderte Tima. »Außerdem habe ich ihn nicht gefunden … er hat mich gefunden.«

Mum warf ihr beim Schalten einen Blick zu. »Mir kommt es so vor, als würde dich jede Spinne, jeder Käfer, jede Ameise, ja sogar jeder Skorpion im Umkreis von 50 Metern finden. Warum ist das so, Tima?«

Tima zuckte mit den Schultern. »Reiner Zufall, wahrscheinlich.« Mum kniff die Augen zusammen, aber was hätte Tima sonst dazu sagen sollen? Sie dachte jeden Tag aufs Neue daran, Mum die Wahrheit zu erzählen, und jeden Tag — oder vielmehr jede Nacht — verwarf sie diese Idee wieder.

Sie könnte es ihr natürlich sagen. Warum nicht gleich hier und jetzt? »Mum«, würde sie sagen. »Es ist so … Ich kann mit Insekten und Spinnentieren reden. Mit allen Tieren, um genau zu sein, aber bei den Krabbeltierchen klappt es am besten. Ich kann sie bitten, etwas für mich zu tun, und dann tun sie es. Sie berichten mir von Dingen, die ich wissen muss. Sie überbringen sogar Nachrichten von mir, sie geben sie an Elena und Matt zu Hause weiter. Weißt du, die beiden haben dieselbe Gabe wie ich. Wir drei sind Nachtflüsterer.«

Mum würde sagen: »Nachtflüsterer? Was sind Nachtflüsterer?«

Und sie würde sagen: »Elena hat im Internet zu unseren Superkräften recherchiert und ist da auf eine alte Legende gestoßen. Dieser Legende nach gab es Kinder, die mit Tieren sprechen konnten, wenn ihre Eltern sie als Babys einige Nächte in der Wildnis zurückgelassen hatten. Wenn die Babys nicht von Wölfen gefressen wurden, besaßen sie danach die Gabe, mit der Tierwelt zu kommunizieren.«

Und Mum würde sagen: »Aber wir haben dich nie im Dunklen draußen allein gelassen!«

Und sie würde sagen: »Nein, es ist ja auch nur eine Legende … Aber sie passt irgendwie, weil das alles nachts begann. Es begann mit Schlaflosigkeit … und dem Strahl …«

Und Mum würde sagen: »Tima … ich gehe besser noch mal mit dir zum Arzt.«

3

Das Brummen und Heulen der Hobelmaschine verriet Jamie, wo er seinen Onkel finden würde. Er schickte Hamish fort zu Hetty, dem Border Collie seines Großvaters, dann lief er hinüber zu dem niedrigen Gebäude, das direkt am Hang stand, einen kurzen Fußweg vom Haupthaus entfernt.

Genau wie das Wohnhaus war auch dieses Gebäude alt und aus Stein erbaut, und es hatte das gleiche dicke Dach, das traditionell strohgedeckt und mit Moos bewachsen war. Drinnen wäre es durch die kleinen, tief in die Mauern eingelassenen Fenster recht dunkel gewesen, wenn Onkel Fraser nicht die unebenen Innenwände weiß gestrichen und Strahler an den Dachsparren befestigt hätte, damit er einen hellen Arbeitsplatz hatte. Der Holzboden war noch gut erhalten, genau wie alles andere. An einem Ende des langen Raums befand sich die eigentliche Werkstatt mit der großen Hobelmaschine und der Drechselbank sowie weiteren Geräten, mit denen man Holz bearbeiten konnte. Das Tischlerwerkzeug war tadellos in Schuss und hing an einem Gitter an der gegenüberliegenden Wand. Nahe dem Eingang war Jamies Lieblingsplatz — hier standen die kunstvoll gearbeiteten Stühle, Tische, Schränke und Truhen und warteten darauf, an Kunden in ganz Schottland — und bisweilen auch über die Landesgrenzen hinaus — geliefert zu werden.

Oft setzte er sich in einen gerade fertiggestellten Stuhl, fuhr mit den Fingern die eleganten Schnitzereien nach und sog den Duft des Holzsaftes, des warmen Sägemehls und des Bienenwachses in sich auf, während er seinem Onkel bei der Arbeit zusah. Eines Tages, so hoffte Jamie, würde auch er solch wundervolle Gegenstände aus Holz herstellen können, auch wenn er sehr lange dafür brauchen würde. Er hatte Probleme mit koordinierten Bewegungsabläufen. Seine Gliedmaßen waren krumm, unzuverlässig und rebellisch, und nicht immer taten seine Hände das, was sein Gehirn wollte.

»War’s dir draußen zu kalt?«, schrie Onkel Fraser ihm über den Lärm der Hobelmaschine hinweg zu, ohne von der glatten, goldfarbenen Tischplatte aus Eichenholz aufzusehen, an der er gerade arbeitete. Jamie zuckte mit den Schultern und hockte sich auf eine hölzerne Truhe mit Messingbeschlägen, in deren Deckel eine Herde springender Hirsche geschnitzt worden war. Im Wandspiegel mit dem aufwendig gestalteten Eichenrahmen sah er einen Jungen, der nach links gekrümmt dasaß, mit schmalem Mund und einer zuckenden Wange. Onkel Fraser schaltete die Maschine aus und begann, das Sägemehl von seinem neuesten Werk zu pusten. Nach einer Weile sah er auf und runzelte bei Jamies Anblick die Stirn. »Was ist denn mit dir los?«

»Ich habe eine Kuh mit einem riesigen Loch entdeckt«, sagte Jamie. Das war es zumindest, was er hatte sagen wollen. Was letztlich aus seinem Mund kam, klang weit weniger klar.

»Warte … ganz langsam«, unterbrach ihn Onkel Fraser. »Du … hast etwas entdeckt?«

Jamie nickte lebhaft und imitierte eine Kuh, indem er sich die Zeigefinger als Hörner rechts und links an den Kopf hielt.

»Du hast eine Kuh entdeckt«, schloss sein Onkel daraus und hob eine Augenbraue. »Tja, nu … Da es ungefähr 1,8 Millionen Kühe in Schottland gibt, war das wohl nur eine Frage der Zeit. Willst du auf den Schreck vielleicht erst mal eine Tasse Tee?«

Jamie verdrehte die Augen und brummte frustriert. Er hob seine wackeligen Hände und zeigte auf seinen Bauch. Dann machte er eine kreisförmige Bewegung und stupste ein paarmal alle zehn Finger hinein.

»Du bist … hungrig«, riet Onkel Fraser weiter drauflos. »So hungrig, dass du eine ganze Kuh essen könntest.«

Jamie stampfte mit dem Fuß auf und warf seinem Onkel einen finsteren Blick zu. Der hörte endlich auf, herumzualbern, und konzentrierte sich auf Jamies Mimik. Jamie riss die Augen auf und holte tief Luft. Wenn er sich ordentlich anstrengte, würde er es schaffen.

»L…och«, sagte er. Das Wort fiel wie ein steinerner Klumpen aus seinem Hals. »In … ei…ner … Kuh.«

Sein Onkel trat zu ihm und legte ihm die schweren Hände auf die Schulter. »Ein Loch … in einer Kuh? Meinst du das?« Seine Augen, die dieselbe Farbe wie das Moos auf dem Dach hatten, verengten sich zu Schlitzen. »Du hast eine Kuh entdeckt … mit einem Loch?«

Wieder nickte Jamie lebhaft. Im Spiegel hinter dem Rücken seines Onkels blickte er in seine eigenen moosgrünen Augen. Wenn der Autounfall nicht gewesen wäre, in den er im Alter von drei Jahren verwickelt worden war, hätte er als Erwachsener einmal genauso gut aussehen können wie Fraser McCleod. Doch der Unfall hatte ihm nicht nur die Eltern geraubt, sondern auch einen Großteil seines Sprachvermögens sowie jegliche Anmut und Schnelligkeit.

»Hat ein Fuchs die Kuh angegriffen? Oder Bussarde?«, wollte Onkel Fraser wissen. Er legte den Kopf schief und tat sein Bestes, um herauszufinden, was sein Neffe ihm mitzuteilen versuchte. Jamie schüttelte den Kopf. Er hockte sich auf den Boden, mitten ins Sägemehl. Dort hinein malte er nun in groben Zügen den Umriss eines Hochlandrinds und ergänzte die Zeichnung mit einem kreisrunden Loch im Bauch des Tieres.

»Wirklich? Ein richtiges Loch, mitten in der Kuh?« Diesmal schossen beide Augenbrauen in die Höhe. »Na, das muss ich sehen!«

Die Sonne ging bereits unter, als die beiden sich über den Höhenweg zum Brawder’s Pass aufmachten. Je näher sie der Stelle kamen, an der die Kuh lag, umso enger zog sich der Knoten in Jamies Magen zusammen. Alles in Ordnung. Dein Onkel ist bei dir, sagte er zu sich selbst, konnte das beklemmende Gefühl und die Anspannung aber nicht abschütteln.

Sie brauchten eine gute halbe Stunde für den Weg, auf dem sie einige Male regelrecht klettern und außerdem eine Straße überqueren mussten. Die Landstraße kreuzte ihren Höhenweg auf halber Strecke und schlängelte sich dann weiter das lange, enge Tal hinunter bis zu einer kleinen Ortschaft namens Ardlinney, die sich an die Hänge direkt oberhalb des Seeufers von Loch Braw schmiegte. Zu dieser Jahreszeit waren hier kaum Autos unterwegs, denn die Straße wurde hauptsächlich von Kleinbauern und Pächtern genutzt, die in dieser Gegend Land bewirtschafteten. Dennoch mussten Jamie und Onkel Fraser heute am dicht mit Heidekraut bewachsenen Seitenstreifen warten, weil sich ein glänzender roter Toyota näherte. Während der Wagen an ihnen vorbeiraste, ließ sein gelbes Scheinwerferlicht den herabfallenden Schneeregen aufleuchten.

Onkel Fraser schüttelte den Kopf. »Urlauber … im Dezember! Die sind verrückt. Eine ordentliche Ladung Schnee, und diese Leute sitzen hier bis zum Frühling fest!«

Sie gingen weiter und erreichten endlich den felsigen Hang, den Jamie mit Hamish vor gerade einmal einer Stunde herabgelaufen war. Der Knoten in Jamies Magen zog sich fester zusammen. Er griff nach dem Arm seines Onkels und tat so, als bräuchte er dessen Unterstützung, um am Hang nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Unterhalb des kleinen Felsens, wo er die bizarr verstümmelte Kuh gefunden hatte, sah Jamie … nichts. Ihm blieb der Mund offen stehen.

Dann fuhr er herum, verwirrt … und wütend.

»Bis du sicher, dass es hier gewesen ist?«, fragte Onkel Fraser. »Vielleicht war es noch ein Stück weiter vorn?«

Jamie stieß einen frustrierten Laut aus und schüttelte energisch den Kopf. Als er sich bückte, entdeckte er auf der dünnen Schneedecke einen rosaroten Fleck. Demnach musste doch etwas Blut aus der akkuraten, sauberen Wunde gesickert sein. Doch wo war die Kuh? Wo war sie?

Onkel Fraser ging neben ihm in die Hocke. »Aye, irgendwas war hier. An dieser Stelle ist das Gras platt gedrückt, und das Heidekraut … und das hier ist eindeutig Blut. Aber was auch immer du hier gesehen hast — es wurde weggeschafft.«

Jamie verzog das Gesicht. Wie bitte? Wie um alles in der Welt hätte man ein totes Hochlandrind einfach so wegtragen können? Diese massigen Tiere wogen mindestens 500 Kilo! Vielleicht hatte sich ein ganzes Rudel Füchse damit abgeschleppt … oder sich mit ein paar Ottern, Wildkatzen und einem Haufen Baummardern zusammengetan, wie in einem absurden Disney-Film. Vielleicht hätten all diese Tiere gemeinsam die Kuh bewegen können. Aber Jamie glaubte nicht so recht daran.

»Ich vermute mal, Peter Walker ist hier vorbeigekommen und hat die Kuh mitgenommen«, sagte Onkel Fraser. »Er hat sie bestimmt auf den Anhänger seines Traktors gehievt, zusammen mit seinen beiden Jungs, und sie dann zurück zum Gatter gebracht, damit der Tierarzt sie obduzieren kann. Das machen sie manchmal, weißt du, wenn die Todesursache nicht eindeutig ist …«

Der riesige Tunnel im Bauch der Kuh war für Jamie als Todesursache ziemlich eindeutig gewesen. Aber im Moment gab es nichts, was er seinem Onkel noch hätte zeigen können, und ohnehin war es jetzt zu dunkel, um weiterzusuchen. Wutentbrannt machte Jamie kehrt, vergrub die Hände tief in seinen Manteltaschen und stapfte den Hügel hinunter. Wenn sie die Kuh gefunden hätten, hätte er seinem Onkel vielleicht auch von dem bebenden Untergrund erzählt — jetzt aber würde ihn diese Geschichte nur noch dümmer dastehen lassen. Und er kam sich wahrhaftig schon blöd genug vor.

4

Als Tima im Badeanzug nach draußen trat, schneite es leicht. Kreischend lief sie über die Terrasse und warf sich fröstelnd ins Wasser.

»Ooooooh ja«, sagte sie seufzend, als sie in den Blubberbläschen versank. »Ernsthaft — so muss es im Himmel sein.« Sie legte sich im Whirlpool zurück und ließ zu, dass ihre Beine durch die schäumenden Bläschen wieder an der Oberfläche auftauchten. Sie genoss die wohlige Wärme im Nacken und die eisigen Küsschen auf ihrem Gesicht — Schneeflocken, die darauf landeten und schmolzen. Neben der Terrasse stand eine Fichte, die einfach umwerfend nach Weihnachten duftete. Die Besitzer der Luxusferienanlage Seeblick, deren Häuser eine Aussicht auf den Loch Braw boten, hatten den Baum mit bunten Lichterketten geschmückt.

Mum und Dad waren nicht religiös. Vor vielen Jahren waren sie aus dem Jemen nach Großbritannien gezogen und hatten dabei auch einen Großteil der arabischen Kultur zurückgelassen. Sie hatten nicht vor, stattdessen die christlichen Bräuche zu übernehmen, doch das Weihnachtsfest mochten sie sehr. Mum sagte immer, viele der Weihnachtsbräuche hätten ihren Ursprung ohnehin in heidnischen Feierlichkeiten. Und so stellten die Eltern jedes Jahr aufs Neue mit Freude einen Weihnachtsbaum auf und besorgten Geschenke füreinander und für ihre Tochter. In diesem Jahr würden sie die Feiertage als Familie in den Highlands, dem Schottischen Hochland, verbringen.

Der Musicalkurs hatte in der ersten Dezemberwoche begonnen und ging bis ins neue Jahr. Unterbrechungen gab es nur an Heiligabend und am ersten und zweiten Weihnachtsfeiertag. Vom 28. Dezember bis zum 3. Januar fanden dann, bis auf Silvester, an jedem Abend Aufführungen statt. Sechs Tage lang wurde das Musical also auf die Bühne gebracht — vor einem voll besetzten Theatersaal, in dem auch die Familienangehörigen und Freunde saßen. So zumindest war es Tima berichtet worden.

»Ich war letztes Jahr schon dabei«, hatte Rowena ihr erzählt, als sie sich zum ersten Mal alle im Theater getroffen hatten. »Die Aufführungen waren restlos ausverkauft — wie immer. Jonathon, der Kursleiter, führt normalerweise bei den Shows im Londoner West End Regie — und alle seine berühmten Theaterkollegen kommen nach Schottland, um sich unser Musical anzusehen!«

Der Musicalkurs war ein Ableger des National Youth Music Theaters in London und dadurch international bekannt. Das Vorsprechen für die Teilnahme war hart gewesen … und die Kosten immens hoch. Mum und Dad hatten ihrer Tochter nicht verraten, wie viel der Kurs tatsächlich kostete, aber Tima wusste, dass es eine stolze Summe sein musste. Die Kostüme für ihr Stück Wintersturm, ein mittelalterliches Weihnachtssingspiel, waren eine Leihgabe des berühmtesten Theaterensembles Englands — der Royal Shakespeare Company. Auch das Bühnenbild war ein echtes Kunstwerk. Ein Handwerker war eigens ans Theater bestellt worden, um die Kulisse aus Holz und Papier zu bauen. Und dieser Mann hatte nicht einfach alles zusammengezimmert … Vielmehr hatte er, während die Musicaldarsteller probten, die Seitenbühne mit Schnitzereien versehen und mit dem Meißel Blätter an die hölzernen Bäume sowie Grashalme an den unteren Bühnenrand »gezaubert«.

Tima legte den Hinterkopf auf den glatten Wannenrand und sah hinauf zu dem hölzernen Dachvorsprung, der sich über die Terrasse zog, um die Whirlpool-Fans vor den schlimmsten Wetterkapriolen zu schützen. Eine kleine Kreuzspinne kauerte dort oben neben einer der goldenen Außenlampen. Wie kommst du hier draußen bloß zurecht, bei diesem Wetter!?, fragte Tima träge.

Wetter? Was ist das?, schien das Tier zu antworten. Für eine schottische Kreuzspinne war diese Kälte natürlich etwas völlig Normales.

Hier draußen gibt’s bestimmt nicht viel zu fressen, fuhr Tima in Gedanken fort. Die Spinne war zwar nicht gerade gesprächig, aber neugierig. Sie seilte sich ab und wäre beinahe in Timas Haaren gelandet, wäre in diesem Moment nicht die Terrassentür aufgegangen und Mum nach draußen gekommen. Sie hatte sich einen flauschigen Frotteebademantel übergezogen und kam geradewegs auf den Whirlpool zu.

Nein — nicht! Schnell wieder nach oben!, sandte Tima der Spinne zu. Ihre neue Freundin hielt inne, baumelte eine Sekunde lang in der Luft und schoss dann an ihrem Faden wieder hinauf. Oben krabbelte sie blitzschnell hinter die Halterung der Außenleuchte. Tima schwor sich, sich nicht mehr mit Insekten und Spinnentieren anzufreunden, zumindest nicht, solange sie hier im Urlaub waren. Sie vermisste ihre freundliche Hausspinne Spencer, die zu Hause in Thornleigh in ihrem Zimmer lebte, wollte ihrer Mutter aber wirklich keinen Grund für ein weiteres unangenehmes Gespräch liefern.

»Wow … einfach herrlich!«, sagte Mum, als sie sich in den Whirlpool sinken ließ. »Jetzt bist du wohl auch froh, dass wir die Ferien-Lodge gebucht haben, oder?«

»Allerdings«, erwiderte Tima. »Hier ist es viel besser als in irgendeinem öden Hotel.« Dad und Tima hatten es für keine gute Idee gehalten, sich in einer Luxushütte einzuquartieren, die mehr als eine Stunde von Edinburgh entfernt lag. Mum jedoch hatte darauf bestanden und gesagt, sie wolle das echte Schottland, hoch oben in den Bergen, kennenlernen.

»Aber wir könnten da oben auch einen echt schottischen Schneesturm erleben«, hatte Dad eingewandt.

»Dann achten wir eben immer auf die Wettervorhersage und nehmen uns, falls alles auf einen Schneesturm hindeutet, einfach ein Hotelzimmer in der Stadt«, hatte Mum geantwortet. Und als sie ihnen ihre Lodge am Loch Braw gezeigt hatte, waren die beiden schließlich einverstanden gewesen. Die Unterkunft war fantastisch: ein umgebautes altes Bauern-Cottage mit Dachluken und abgeschliffenem Holzfußboden, Hirschfellteppichen und schmiedeeisernem Kaminofen. Die Küche war üppig ausgestattet, und das Haus hatte sogar einen Kinoraum mit Breitbandanschluss, Hunderten von Fernsehkanälen und einem gewaltigen Bildschirm, der auf Knopfdruck nach unten fuhr. Und doch gab es etwas, was Tima an diesem perfekten Ort vermisste — ihre zwei engsten Freunde.

Elena und Matt waren zu Hause in Thornleigh, wo sie den Dezember auf weitaus gewöhnlichere Weise verbrachten. Die ersten drei Wochen mussten sie noch zur Schule gehen, den Rest des Monats stand zu Hause der übliche Weihnachtskram an. Sonst war nicht viel los. Tima fragte sich, ob die beiden sich auch ohne sie weiter jede Nacht in ihrem Baumhaus im Wald trafen. Der Winter war da, und der kleine Campingofen hatte sicher Mühe, die Kälte in Schach zu halten. So oder so würden Elena und Matt immer noch jede Nacht vier bis fünf Stunden wach sein, selbst wenn sie nicht mehr nach draußen gingen. Sie alle litten unter dieser Schlaflosigkeit, und diese Schlaflosigkeit war es auch, was sie miteinander verband. Hier in Schottland, weit weg von Thornleigh, weit weg von dem Strahl, der jede Nacht um Punkt 0:34 Uhr (oder — während der Sommerzeit — um 1:34 Uhr) durch ihr Schlafzimmer fiel, schlief Tima viel besser. Trotzdem öffnete sie auch jetzt noch die Augen instinktiv um exakt dieselbe Uhrzeit und wunderte sich, dass kein Strahl in ihre Welt drang. Es fühlte sich merkwürdig an, ganz so, als ob sie etwas Wichtiges verpassen würde, aber meist schlief sie innerhalb einer Stunde wieder ein. Und das war nach all der Schauspielerei und dem Singen tagsüber auch gut so. Sie brauchte ihren Schlaf.

»Dad kocht uns was.« Mum seufzte. Wie sie da gegenüber von Tima im Whirlpool lag — sie hatte die Augen geschlossen, und ihre schwarzen Haare trieben auf dem Wasser —, sah sie aus wie der Inbegriff der Glückseligkeit. »Es gibt Lammcurry …«

Tima konnte schon die Gewürze riechen und das köchelnde Fleisch. »Nicht zu viel Knoblauch«, sagte sie, »sonst verströme ich morgen meinen Knofi-Atem quer über die Bühne.«

»Ach«, erwiderte Mum. »Das wird den anderen schon nicht schaden. Oooh — guck mal. Die Sterne sind da!«

Der leichte Schneefall hatte aufgehört, und der Himmel hatte aufgeklart. Das Sternenlicht erschien wie Nadelstiche über ihnen, und der Halbmond spiegelte sich im dunklen Wasser des still daliegenden Loch Braw. Bis zu dem See, der wie ein Diamant geformt war, lief man von ihrer Lodge aus zehn oder 15 Minuten den Hügel hinunter. »Was für ein schönes Plätzchen«, sagte Tima. »Wir haben die allerbeste Lodge überhaupt!«

Es gab noch fünf weitere Lodges auf dem Gelände der Ferienanlage Seeblick. Zwei von ihnen waren modernisierte Stein-Cottages wie ihres, drei Lodges bestanden aus Holz. Jedes Gebäude hatte einen eigenen glitzernden Weihnachtsbaum, der direkt vor der Eingangstür wuchs. Auch um die Zäune neben der Parkplatzeinfahrt waren Lichterketten gehängt worden, was vor dem hellen Schnee sehr hübsch aussah. Auf der Website war zu lesen gewesen, dass ein Traktor bereitstand, um die Autos der Urlauber bei starkem Schneefall auf die Hauptstraße zu ziehen, doch im Wetterbericht war bislang keine Rede von einem Wetterumschwung gewesen.

Wieder wurde die Terrassentür aufgeschoben, und Dad — mit gestreifter Küchenschürze — steckte den Kopf nach draußen. »In zehn Minuten steht das Essen auf dem Tisch«, rief er.

»Soll ich reinkommen und dir helfen?«, fragte Mum.

»Das wäre klasse«, sagte Dad. »Auch wenn du anscheinend gerade selbst schon ganz gut vor dich hinköchelst.«

Mum lachte und kletterte aus dem Whirlpool. Die Kälte, die ihr entgegenschlug, ließ sie kurz aufschreien. Dann schnappte sie sich ihren Bademantel und zog ihn an. »Noch fünf Minuten, Tima!«, sagte sie. »Dann kommst du bitte rein, trocknest dich ab und deckst den Tisch. In Ordnung?«

»In Ordnung«, erwiderte Tima und ließ sich genüsslich auf den Blubberbläschen treiben.

Als sich die Terrassentür wieder geschlossen hatte, drehte sie sich auf den Bauch, legte die Arme auf den hölzernen Whirlpoolrand, stützte das Kinn darauf ab und blickte ins Tal hinunter. Dann seufzte sie tief und zufrieden …

… und saugte die gerade ausgestoßene Luft erschrocken wieder ein.

Was war das gerade gewesen? In einem Moment hatte die Seeoberfläche noch vollkommen ruhig dagelegen, wie aus Zinn gegossen und erstarrt. Im nächsten Moment aber war eine Art Schacht aufgetaucht. Als ob jemand am Grunde des Sees plötzlich den Stöpsel gezogen hätte, war das Wasser steil nach unten gestürzt. Während Tima dem Spektakel noch mit offenem Mund zusah, kehrte sich das Ganze um — ein kreisrunder Schlot schoss nun hoch in die Luft und platschte mit einer solchen Wucht nach unten, dass ihr die Druckwelle der verdrängten Luft drei Sekunden später ins Gesicht blies.

»Aber was …?«, rief Tima aus. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie zu, wie ein kleiner Tsunami in konzentrischen Kreisen über die Wasseroberfläche raste. Wie hoch die so entstandenen Wellen waren, konnte sie aus der Ferne nicht sagen, doch als sie ans Ufer schlugen, war weißer Schaum zu erkennen. Tima hörte auch, wie das Wasser gegen Kiesel und Felsen klatschte und in rauen Wogen über den See zurückgeschlagen wurde.

Tima sprang aus dem Whirlpool, wickelte sich in ein Handtuch und rannte hinein, um ihren Eltern davon zu erzählen.

Doch als sie unmittelbar darauf mit ihnen nach draußen kam, war nichts mehr zu sehen — bis auf ein paar kleine Kräuselwellen, die sich fächerartig auf dem See ausbreiteten.

»Wahrscheinlich war es nur ein großer Fisch«, sagte Dad.

»Vielleicht auch ein Otter«, warf Mum ein.

»Oder das Monster von Loch Ness … das zur Abwechslung mal Urlaub in einem anderen schottischen See macht!«, neckte Dad.

Tima knuffte ihn in die Schulter. »Mach dich nicht lustig über mich! Es war groß. Richtig groß!«

»Komm jetzt rein — trockne dich ab und zieh dir was an, bevor du dich noch erkältest«, sagte Mum.

Und das tat Tima. Sie atmete tief durch und versuchte, sich zu entspannen. Sie war im Urlaub. Weit, weit weg von all den Dramen in Thornleigh. Hier oben in Schottland ging nichts Merkwürdiges oder Lebensbedrohliches vor sich.

Alles war gut.

Richtig gut.

5

»Kannst du mir mal den Meißel geben?«, brummte Onkel Fraser, der auf dem mattschwarzen Bühnenboden in die Hocke gegangen war. Jamie beeilte sich. Da er seinem Onkel bei dessen Zimmermannsarbeiten half, seit er denken konnte, kannte er auch die Werkzeugtasche in- und auswendig. Manchmal erledigte Jamie das ein oder andere auch selbst, aber im Laufe der Zeit hatte es dabei schon häufig Unfälle gegeben, und allzu oft war Blut auf ein nagelneues Holzregal getropft oder auf eine kunstvoll gedrechselte Treppenspindel.

Onkel Fraser hatte nie geschimpft deswegen, sondern es im Gegenteil sogar gutgeheißen, dass Jamie es trotzdem immer wieder versuchte. Aber es war nun einmal so, dass Jamies Kopf und seine Arme und Beine nie lange zusammenarbeiteten, egal, wie sehr er sich auch konzentrierte. Irgendwann trat immer ein Zucken oder ein Krampf auf … oder ein Schlingern, das ihn nach links torkeln ließ. Und Torkler war auch sein Spitzname in der Schule — leider nicht der einzige. Wenn die üblichen Verdächtigen mal wieder beschlossen, sich über ihn lustig zu machen, war er nicht in der Lage, schnell zu reagieren oder schlagfertig zu antworten. Allerdings hatte er sich mit der Zeit ein großes Repertoire an unanständigen und beleidigenden Gesten angeeignet. In der Schule musste er sich verteidigen, so gut es eben ging, besonders jetzt, da er auf die weiterführende Schule gekommen und dort von immer übellaunigeren Teenagern umgeben war.

In der Grundschule war alles so weit ganz in Ordnung gewesen. Da er so undeutlich sprach, dass die meisten Menschen ihn nicht verstanden, und (wie sein Onkel es ausdrückte) wie ein »fröhlicher Zombie« lief, hatte er nicht viele Freunde. Seine Leistungen waren nicht schlecht. Wenn die Lehrer erst einmal gelernt hatten, seine fürchterliche Handschrift zu entziffern, stellten sie fest, dass er eigentlich recht clever war.

Die Ullochry Higschool jedoch war eine völlig neue Erfahrung gewesen. Mehr als 800 Kinder aus der weiteren Umgebung wurden täglich mit Bussen dorthin gekarrt. Hier wehte ein anderer Wind als in der freundlichen Atmosphäre der Grundschule. Bereits am Ende des ersten Schultages hatte er den Spitznamen »Torkler« weggehabt — und seine Mitschüler hatten es nicht nett gemeint.

Manchmal machte er es extra. Er war berüchtigt dafür, dass er »aus Versehen« direkt in diejenigen hineintorkelte, die ihn hänselten. Nie hatte er versucht, einen von ihnen zu boxen, denn er konnte nicht sicher sein, dass seine Faust nicht stattdessen seine eigene Nase treffen würde. Aber er war gut darin, sich auf Menschen drauffallen zu lassen, und besaß die verblüffende Gabe, seinen Ellenbogen dabei genau dort aufkommen zu lassen, wo es ihnen wehtat — nur um dann in »Fröhlicher Zombie«-Tonlage »Schulliung« zu lallen. Jamie weigerte sich schlichtweg, das Opfer zu sein.

»Das Bühnenbild ist wirklich großartig geworden.«

Jamie und Onkel Fraser drehten sich um und blickten das vielleicht zehn- oder elfjährige Mädchen an, das ein paar Schritte von ihnen entfernt stand und sich die langen, dunklen Haare zu einem Zopf zusammenband.

»Vielen Dank«, erwiderte Onkel Fraser lächelnd. Jamie beließ es bei einem Lächeln und sagte nichts. Er liebte es, so lange wie möglich einen ganz normalen Eindruck zu vermitteln.

»Haben Sie