Fox Runner – Die Macht der Verwandlung - Ali Sparkes - E-Book

Fox Runner – Die Macht der Verwandlung E-Book

Ali Sparkes

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Beschreibung

Action, Spannung, Abenteuer: Die neue Tierwandler-Agentenserie mit Suchtpotential! Eigentlich ist Dex Jones ein ganz normaler Junge. Doch eines Tages geschieht etwas Unglaubliches: Er verwandelt er sich in einen Fuchs! Dex ist ein Tierwandler. Seine außergewöhnliche Fähigkeit bleibt nicht unbemerkt. Schon bald tauchen Agenten der Regierung auf. Sie bringen ihn zu einer geheimen Schule für Kinder mit übernatürlichen Kräften, dem Tregarren College. Dort fühlt Dex sich zum ersten Mal im Leben zuhause. Er trifft auf den frechen Gideon, der Gegenstände mit der Kraft seiner Gedanken bewegen kann, die sanftmütige Mia, eine Heilerin, und Lisa, die mit Geistern sprechen kann. Doch es geschehen seltsame Dinge am College. Dex' Fuchssinne sind geweckt … Bei Antolin gelistet Alle Bände der actionreichen Fox-Runner-Serie: »Die Macht der Verwandlung« (Band 1) »Der Ruf des Falken« (Band 2) »Flucht in die Wildnis« (Band 3)

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Seitenzahl: 347

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Ali Sparkes

Fox Runner – Die Macht der Verwandlung

Aus dem Englischen von Leo Strohm

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungVorherKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23DanachDanksagungen

Für Simon, Jacob und Alex

Vorher

In der sanften grauen Nebelzone zwischen Wachen und Schlafen näherte sich eine dunkle, schemenhafte Gestalt. Sie bewegte sich auf dem schmalen Stückchen Fußboden neben seinem Bett hin und her, ohne ihm wirklich Angst zu machen. Am Atem der Gestalt und am zögerlichen Klacken ihrer Krallenfüße auf dem dünnen Teppich erkannte er, dass sie traurig war. Dass sie großen Schmerz erlitten hatte.

Und jetzt verließ sie ihn.

Kapitel 1

Dex Jones verbrachte eine Menge Zeit im Garten hinter dem Haus und dachte über seine Einstellung nach.

Es war ein ziemlich unansehnlicher Garten – eine rechteckige, unebene Rasenfläche, die von nichtssagenden, graugrünen Büschen umgeben war und von einem Betonpfad in zwei Teile geschnitten wurde. Der Pfad führte zu einem Schuppen, hinter dem sich ein Komposthaufen befand. Neben dem Pfad war zwischen zwei Pfosten eine Wäscheleine gespannt. Sie war mit zahlreichen Wäscheklammern bestückt und hing in der Mitte durch.

Jetzt wurde die Hintertür so heftig zugeknallt, dass die Fensterscheiben klirrten. Durch das Glas konnte Dex sehen, wie Gina die beiden Riegel vorschob, und zwar mit solcher Wucht, dass die Unterseiten ihrer moppeligen Oberarme wie wild hin und her schlackerten. »Wenn du schon mal da draußen bist, kannst du ja wohl ein bisschen Unkraut jäten«, keifte sie. Ihre Stimme wurde zwar durch die Fensterscheiben gedämpft, klang aber immer noch scharf und voller Missgunst. Dex hatte es gewagt, beim Mittagessen nicht das richtige Gesicht zu machen. Obwohl er sämtliche verbrannten Bröckchen auf seinem Teller ohne Murren aufgegessen hatte, schien er anscheinend die falsche Einstellung an den Tag gelegt zu haben. Wieder einmal.

»Alice und ich gehen jetzt in die Stadt, und wenn wir wiederkommen, dann ist das Unkraut im Garten spurlos verschwunden! Wir sind erst zum Abendessen wieder da. Wenn du zwischendurch Durst bekommst, dann kannst du ja den Wasserhahn an der Hauswand benutzen.«

Sie betrachtete ihn einen Augenblick lang durch die Fensterscheibe. Dex versuchte, ihrem Blick möglichst regungslos und, ohne eine Miene zu verziehen, standzuhalten. »Und diesen hochnäsigen Gesichtsausdruck kannst du dir wirklich schenken!«, fauchte sie ihn unvermittelt an, machte auf dem Absatz kehrt und war verschwunden.

Dex seufzte erleichtert und ließ sich auf einen der weißen Plastikstühle plumpsen, die auf der kleinen Betonfläche vor der Terrassentür standen. Das abgestandene Wasser, das sich am untersten Punkt der Sitzfläche gesammelt hatte, saugte sich sofort in den Hosenboden seiner Jeans. Dex stand wieder auf und verharrte lautlos, regungslos. Er hörte, wie die Vordertür geöffnet und ins Schloss geknallt wurde, hörte Alice’ schrille Stimme über die Einfahrt schallen, dann Ginas Antwort, das Klappern des Schlüsselbundes und schließlich das abfahrende Auto.

In der nun folgenden Stille hätte jeder Beobachter den Jungen, der da im Garten stand, für ruhig und gelassen gehalten. Fast schon meditativ. Und Dex wirkte tatsächlich meistens ruhig und gelassen.

Er wurde nie laut, ja, zu Hause wurde er eigentlich nicht einmal lauter. Aber das bedeutete nicht, dass er nicht wütend wurde. Manchmal wurde er so wütend, dass er am liebsten explodiert wäre. Es hatte Zeiten gegeben, wo er so wütend gewesen war, dass er sogar vor sich selbst Angst gehabt hatte – an dem Sommerabend zum Beispiel, als Gina alle seine Naturbücher und seine Kunstsachen zusammengepackt und einem Trödelsammler gegeben hatte. »Warte gefälligst, bis du ein eigenes Haus hast, das du mit sinnlosem Krempel vollstopfen kannst«, hatte sie zu ihm gesagt, hatte sich mit in die Hüften gestemmten Händen auf dem oberen Treppenabsatz aufgebaut und ihn herausfordernd angestarrt. Er war so voller Wut und Bitterkeit gewesen, dass er beinahe – ganz ehrlich, es hätte nicht viel gefehlt – zu ihr gerannt wäre, um sie die Treppe hinunterzuschubsen. Er hatte es richtig vor sich gesehen, hatte den warmen Atemgespürt, der in der Millisekunde, bevor er ihr den Stoß verpasst hatte, aus ihrem vor Schreck weitaufgerissenen Mund gekommen war, hatte ihr wütendes Kreischen und jeden einzelnen, lauten, befriedigenden Aufprall gehört, während sie von Stufe zu Stufe gepurzelt war, um schließlich wie ein Sandsack im Hausflur liegen zu bleiben.

Aber natürlich hatte er das nicht getan. Er hatte nur die Fäuste in den Hosentaschen geballt und die Fingernägel so fest in seine Handflächen gebohrt, dass noch eine Stunde später vier deutlich sichtbare, halbmondförmige Abdrücke darin zu sehen gewesen waren. Und dann hatte er sich still und leise in sein Zimmer geschlichen und die Stelle unter seinem Bett angestarrt, wo bis gestern noch seine geliebten Bücher, sein Papier, seine Holzkohle, seine ganzen Schätze gelegen hatten. Und die Stelle hatte seinen Blick erwidert, unheilvoll, wie eine leere Augenhöhle.

Im Lauf der Jahre hatte er gelernt, mit seiner Wut umzugehen. Jedes Mal, wenn er dieses Zittern in seiner Magengrube spürte, das sich anfühlte wie ein gewaltiges Beben unterhalb der Erdkruste, so, als würde im nächsten Augenblick glühend heiße, geschmolzene Felsmasse ins Weltall geschossen werden, unterdrückte er es mit aller Willenskraft, die er aufbieten konnte. Er malte sich aus, wie er die wütende Lava mit einem dicken Metalldeckel wieder in seinen innersten Kern verbannte, wie sie dann langsam abkühlte, nur noch ein schwaches, rotes Glimmen von sich gab und zu grauen Klumpen erstarrte, so wie er es auf den Bildern von den Hängen des Vulkans Ätna gesehen hatte. Irgendwann waren sie dann schließlich zu festem, kaltem Stein geworden.

Das einzige Problem dabei war, dass in Dex Jones’ Innerem mittlerweile so viele erkaltete Wutsteine herumkullerten, dass sie sogar für mehrere Vulkane gereicht hätten. Er hatte praktisch ununterbrochen Bauchschmerzen. Nicht einmal ihm selbst war klar, wie schwer diese Steine ihn machten.

Er ging den Betonpfad entlang bis zu dem Schuppen, um sich eine Hacke zu holen. Die würde er brauchen, wenn er das Unkraut zwischen dem Komposthaufen und den struppigen, niedrigen Brombeerhecken am hinteren Ende des Gartens tatsächlich ausreißen wollte. Und wenn Gina sagte, dass das Unkraut spurlos verschwinden sollte, dann war das kein Scherz. Das hatte er mittlerweile begriffen.

Der kleine Schuppen war voll mit alten Bastballen, Plastikkübeln, Gartenwerkzeugen und Torfsäcken. Die Tür war nicht abgeschlossen, wurde aber von einem stabilen Riegel gesichert, der an einem ebenfalls sehr stabilen Nagel hing und sich um hundertachtzig Grad drehen ließ. Der Riegel war ziemlich lose, so dass man beim Betreten des Schuppens aufpassen musste, dass er nicht herumschwang und einen an der Schläfe traf. Dex schob ihn nach oben, hielt ihn fest, während er die Tür aufzog, und betrat den kleinen Schuppen. Es gab Tage, an denen er ziemlich viel Zeit hier drin verbrachte und »über seine Einstellung nachdachte«, wie Gina es von ihm verlangte.

Auf der Suche nach der Hacke musste er sich bis in die hinterste Ecke vorwühlen, und während er noch versuchte, das Ding aus den Zähnen des Rechens zu befreien, kam draußen eine Windbö auf und ließ die Schuppentür mit lautem Knall zufallen. Mit einem letzten Ruck bekam Dex die Hacke frei und wollte sie gerade mit nach draußen nehmen, da hörte er ein leises Quietschen und anschließend ein nur unwesentlich lauteres Klack. Doch erst, als er die Tür aufmachen wollte, wurde ihm klar, was diese beiden Geräusche zu bedeuten hatten. Der dicke Holzriegel war nach unten gesackt. Das war zwar schon öfter vorgekommen, aber noch nie zuvor war die Schuppentür zugefallen und hatte jemanden eingesperrt.

Dex spürte, wie eine Art Stromschlag durch seinen erstarrten Körper zuckte, als ihm klarwurde, dass das tatsächlich gerade passiert war, ganz egal, wie unwahrscheinlich es ihm vorkommen mochte. Er war eingesperrt! Er stemmte sich gegen die Tür. Sie gab keinen Millimeter nach. Er biss sich auf die Lippe und beäugte das kleine Fenster, aber wenn er es nicht einschlagen wollte, würde es ihm gar nichts nützen. Es ließ sich nämlich nicht öffnen. An der Rückwand, hinter den Torfsäcken, befand sich ein loses Brett. Er wuchtete die schweren Säcke beiseite und stieß das Brett zurück, aber die Lücke war viel zu schmal. Da würde er niemals hindurchpassen.

Seufzend ließ sich Dex auf den Boden des Schuppens sinken. Jetzt musste er eben die drei oder vier Stunden bis zur Rückkehr seiner Stiefmutter und seiner Halbschwester warten. Mittlerweile waren sie wahrscheinlich schon bei dem gigantischen Einkaufszentrum am Stadtrand angelangt, wo sie unglaublich viel Geld für irgendetwas Pinkfarbenes, Glitzerndes ausgeben würden, das entweder einen Platz an Alice’ Körper oder in Alice’ Zimmer finden würde. Ein Zimmer mit mehr Pink oder mehr Puppen als das von Alice gab es auf der ganzen Welt nicht, aber es fand sich offenbar immer etwas, was man dort noch hineinstopfen konnte.

Dex bewohnte das kleinste Zimmer am dunkelsten Ende des Hauses, dort, wo sich in einer Ecke unter der Dachtraufe eine feuchte Stelle gebildet hatte. Das Fenster befand sich hoch oben unter der Decke und war ziemlich klein, ungefähr so wie ein Briefkasten. Durch das Glas lief kreuz und quer ein Netz aus Drähten, so dass das Fenster, wenn man es einschlug, nicht zerbrechen, sondern als zersplittertes Ganzes im Rahmen hängen bleiben würde. Nur in den Abendstunden drang ein kleines bisschen Licht ins Zimmer, das gerade groß genug war für sein Bett und eine schmale, hohe Kleiderkommode. Die Wände waren dunkelgrün gestrichen, und die Vorhänge waren braun.

Sein Dad hatte vor, das Haus irgendwann auszubauen. Dann würde auch Dex ein schönes, großes Zimmer bekommen, und zwar über der Garage. Aber sein Dad war so gut wie nie zu Hause. Er arbeitete auf einer Ölbohrinsel irgendwo weit draußen im Meer. Er war immer viele Wochen am Stück weg, und wenn er dann nach Hause kam, hatten Gina und Alice so viele Wünsche, dass für Dex nur wenig Zeit und Aufmerksamkeit übrig blieb. Außerdem sah sein Dad dann jedes Mal so wahnsinnig erschöpft aus, dass Dex ihn lieber nicht zusätzlich belasten wollte. Was nichts anderes bedeutete, als dass er sein winziges Zimmer wohl behalten würde. Dex redete sich ein, dass es so etwas wie eine Höhle war. Ein Fuchsbau. Nachts, wenn sein Briefkastenfenster schräg gestellt war, konnte er manchmal die Füchse zwischen den Bäumen am Rand des Grundstücks hören.

Er hatte auch schon öfter mitbekommen, wie Füchse in den Garten geschlichen waren. Manchmal konnte man sogar riechen, wenn ein Fuchs über den Rasen gestreunt war. Jetzt nahm er den gleichen Geruch auch hier im Gartenschuppen wahr. Es war ein scharfer, saurer, fast grasiger Duft. Dex konnte gar nicht genau sagen, ob er ihn mochte oder nicht, aber zusammen mit dem Holzaroma, das die kleine Hütte verströmte, empfand er dabei seltsamerweise so etwas wie Trost.

Im Lauf des Nachmittags kam die Sonne zum Vorschein, und es wurde immer heißer in dem kleinen Schuppen. Dex bekam Durst. Er hatte auch Hunger, aber der Durst war noch schlimmer. Seine Zunge fühlte sich an wie Schmirgelpapier. Irgendwo hatte er einmal gelesen, dass Nomaden auf ihrem Weg durch die Wüste an Steinen lutschten, damit ihre Zungen nicht austrockneten. Er dachte ernsthaft darüber nach, sich eine der kleinen, dicken Schrauben aus der Werkzeugkiste seines Vaters in den Mund zu stecken. Wenn es nicht bald besser wurde, dann würde er es tun.

Er blickte nach oben und sah sich die Flaschen auf den kleinen Holzregalen an. Zwei waren dunkelgrün und sehr staubig. Eine dagegen war durchsichtig und mit einem Limonadenetikett beklebt. Aber Dex war sich so gut wie sicher, dass da keine Limonade drin war, bestimmt nicht. Das war garantiert Lackverdünner oder Terpentin oder sonst was, womit man sich die Zunge verbrannte, falls man es zu trinken versuchte. Trotzdem war allein der Anblick dieser Flasche, mit ihrer Flüssigkeit, die eigentlich genauso aussah wie Limonade, die reinste Folter, während der Schuppen sich immer mehr aufwärmte und das T-Shirt an seinem schweißnassen Rücken festklebte.

Eine Zeitlang gelang es Dex, sich von der Flasche und ihrem so gut wie sicher nicht limonadigen Inhalt abzulenken, indem er mit einem abgebrochenen Stück Backstein einen kleinen Fuchs auf den Spanplattenboden des Schuppens malte.

Der Fuchs stand aufmerksam da, hatte eine Pfote gehoben, die buschige Lunte gestreckt und den pelzigen Hals mitsamt der spitzen Schnauze rückwärts über die Schulter gewandt, als hätte ihn jemand gerufen. Gar nicht schlecht. Dex war ein ziemlich guter Zeichner. Sein Lehrer hatte gesagt, dass er sich später an der Kunsthochschule bewerben sollte.

Gina hatte nur verächtlich geschnaubt, als sie das gehört hatte. Wenn es nach ihr ging, dann würde Dex mit seinem sechzehnten Geburtstag das Schmarotzerleben beenden und endlich arbeiten gehen, damit er seinen Teil zum Lebensunterhalt beitragen konnte. Die Welt brauchte ganz bestimmt nicht noch mehr Kohlezeichnungen von irgendwelchen Booten oder Ölgemälde von irgendwelchen Adlern, vielen Dank auch!

Der Fuchs blickte unterdessen ununterbrochen weiter über seine Schulter zurück. Dex starrte ihn an, ohne auf die kleinen Schweißperlen zu achten, die von seinem Gesicht zu Boden tropften.

Er merkte, wie seine Augen immer heißer wurden, so intensiv starrte er den kleinen Fuchs an … bis dieser anfing, über den Spanplattenboden zu rutschen. Er schlitterte, zitterte, bebte in der brütenden Hitze, und einmal glaubte Dex sogar, dass er ihm zugezwinkert hatte. In der Ferne konnte er den hohen, schrillen Schrei eines Fuchses hören. Durch die Lücke in der Rückwand des Schuppens wehte der Wind den säuerlichen Gestank nach wildem Hund herein.

Ganz benommen von der Hitze und dem Geruch und der Backsteinzeichnung des Fuchses, die immer noch zitternd über den Boden rutschte, wurde Dex mit einem Mal von Panik gepackt. Er riss den Kopf empor. Die Luft saß wie ein heißer, zäher Klumpen in seiner Kehle fest. So fest er nur konnte, bohrte er die Finger in das Backsteinstück, um die Angst zu vertreiben, doch sie wurde immer größer. Er musste jetzt etwas trinken. Er musste einfach!

Wie von Sinnen sprang er auf und stürzte auf das hohe Holzregal zu. Eine der verstaubten, grünen Flaschen geriet ins Wanken und landete direkt auf seiner Nase. Sein Gaumen schmeckte plötzlich nach Kupfer. Eine große, tote Spinne, die Beine wie zu einem Spinnrad zusammengefaltet, landete mit einem leisen, federnden Geräusch auf dem Backsteinfuchs. Merkwürdigerweise musste Dex dabei an Paranüsse denken. Gleichzeitig hatten seine Finger sich bis zu der durchsichtigen Glasflasche mit dem verblassten Limonadenetikett vorgetastet und versuchten, den staubigen Deckel abzuschrauben. Er saß sehr fest … vielleicht war ja doch frische, ungeöffnete, nasse, süße Limonade in der Flasche! Sie würde zwar warm sein, aber auf jeden Fall nass! Etwas zu trinken!

Bei der dritten Umdrehung hinterließ der lose Metallring unter dem Deckel einen feinen Schnitt in Dex’ rechter Handfläche, aber dann, endlich, war die Flasche offen. Ein leises Plopp ertönte, als wäre sie tatsächlich bis zum Rand voller Limonade. Doch der scharfe Geruch, der jetzt aus der Öffnung drang … das war eindeutig keine Limonade. Es war Lackverdünner. Dex’ Augen fingen sofort an zu tränen, und ein unerträgliches Kitzeln setzte sich in seiner Nase fest. Er musste niesen und gleichzeitig seufzen, viel lauter als erwartet. Er ließ die Flasche fallen, und der Gestank nach Lackverdünner breitete sich wie ein tödliches Gas immer weiter aus, unterdrückte jeden anderen Geruch in dem kleinen Schuppen. Die Flüssigkeit, die auf seine Jeans getropft war, fühlte sich zunächst unglaublich kalt an, doch dann wurde sie immer wärmer und wärmer.

Dex wurde es schwindelig und schlecht. Als ein Geräusch, das sich anhörte wie das Rauschen vollaufgedrehter Wasserhähne, sein Gehirn überflutete, wusste er, dass er gleich ohnmächtig werden würde. Sein letzter Gedanke war, dass er seine Nase vor das lose Brett in der Rückwand legen musste, um frische Luft zu bekommen. Sonst würde er womöglich nie wieder aufwachen. Dann sackte er zu Boden.

Kapitel 2

Vor dem kleinen Schuppen lagen acht oder neun ziemlich schief verlegte Gehwegplatten. Sie waren groß und grau, und in den Lücken dazwischen türmten sich gelegentlich kleine, von Ameisen errichtete Pyramiden. Die Ameisen waren das einzig Interessante an diesen Betonplatten. Manchmal verbrannte Alice ein paar davon mit ihrer Lupe.

An diesem Oktobernachmittag, während sich die Sonne allmählich dem Horizont entgegensenkte und die Mücken ihren Tanz begannen, indem sie in kleinen Wolken über dem Komposthaufen auf und nieder hüpften, fing es an zu regnen. Die kühlen Tropfen trafen auf die warmen Gehwegplatten, und das Platschen, das sie dabei erzeugten, war ein recht angenehmes Geräusch, dachte Dex verträumt, während er seine Schnauze durch die Lücke zwischen den Holzlatten in der Rückwand des Schuppens steckte. Die Ameisen rannten in heller Aufregung durcheinander, während der Regen ein gepunktetes Muster auf die graue Betonfläche zwischen ihren krümeligen Erdpyramiden zeichnete.

Bald schon waren die Punkte miteinander verschmolzen, und die Gehwegplatten wirkten nicht nur dunkler, sondern glitzerten auch feucht. Sie dufteten wie heißer Gehwegplattentee, rochen nach ›Jetzt ist genug gespielt‹. Alle Kinder in der Straße würden, eines nach dem anderen, zurück in ihre Häuser gerufen werden, genau wie die Ameisen, die nun hektisch in die Löcher zwischen den winzigen Erdbrocken sausten, aus denen sie ihre wackeligen Pyramidenbauten errichtet hatten.

Das waren die Gedanken, die Dex durch den Kopf gingen, angenehm und wärmend, während er aus dem Schlaf erwachte. Der eklige Geruch nach Lackverdünner hatte sich aus dem Schuppen verzogen. Oder lag es daran, dass er es tatsächlich geschafft hatte, seine Nase an die Lücke in der Bretterwand zu bekommen, als er gestürzt war? Nein, er hatte sogar noch mehr geschafft: Sein gesamter Kopf lag ja im Freien. Donnerwetter. Wie hatte er das denn hingekriegt?

Behutsam zog er den Kopf wieder zurück ins Innere und warf einen Blick über seine nun rötlich-pelzige Schulter. Der Schuppen war eindeutig größer, als er gedacht hatte. Nur eines hatte sich nicht verändert. Er hatte immer noch schrecklichen Durst, und jetzt war auch noch ein beißender Hunger dazugekommen. Irgendwie duftete es nach Paranüssen. Ah, da war es ja … das kleine Ding, das aussah wie ein Rad. Dex fischte es mit seiner Zunge vom Boden, steckte es sich in den Mund, kaute und schluckte es hinunter. Ja, genau. Schmeckte wie eine krümelige Paranuss.

Er hielt inne. Blickte auf seine Füße hinab und dann, noch bevor er den eigentlichen, den wirklich großen Gedanken zulassen konnte – den Gedanken, der seit dem Aufwachen immer stärker und immer lauter an ein Fenster in seinem Geist hämmerte –, dachte Dex Folgendes:

Ich, dachte er, ich habe gerade freiwillig … und sogar beinahe genüsslich … eine tote Spinne gegessen.

Ein Gruselschauer lief seinen Rücken hinauf, erreichte seine Kehle, ließ ihn husten und röcheln, brachte seine Gliedmaßen zum Zittern und sorgte dafür, dass sich seine kräftigen Nackenhaare senkrecht stellten.

Ääh-bääh! Iiii-gitt! NEIN! Dex prustete und spuckte. Eine Spinne! Eine Spinne??? Wieso, um alles in der Welt, hatte er das denn gemacht?

Aber noch schlimmer war der Gedanke, dass er, falls auf dem Boden noch so ein krümeliges Spinnending lag – oder womöglich ein lebendiges irgendwo entlanglief –, dass er das auch essen würde. Es schmeckte ja gar nicht schlecht, und er war ein sehr hungriger Junge.

Aber jetzt ließ der wirklich große Gedanke sich nicht mehr länger überhören. Mit aller Macht und ziemlich verärgert verlangte er, dass endlich das Fenster geöffnet und er eingelassen wurde. »Aha! Aber du …«, ließ er sich mit sarkastischem Unterton vernehmen, »… du bist ja gar kein Junge. Oder?«

Hastig sog Dex die heiße Luft durch seine Schnauze und machte ein paar schockierte kleine Schritte zur Seite. Es stimmte. Sein Gesicht war länglich und spitz. Seine Nase glänzte schwarz, links und rechts gesäumt von schwarzen Schnurrhaaren. Das Fell in der unmittelbaren Umgebung der Barthaare war weiß. Kurz, bevor Dex endgültig anfing zu schielen, sah er, dass das Fell, je weiter es seine Schnauze entlangreichte, in ein kräftiges, rötliches Braun überging. Er konnte seine lange Zunge spüren, eingebettet zwischen scharfen, spitzen Zähnen. Seine Füße – oder besser: das, was einmal seine Füße gewesen waren – hatten sich, genau wie seine Hände, in Pfoten verwandelt, deren kleine, schwarze Krallen ein leises Klacken auf dem Boden des Schuppens hervorriefen. Das rostrote Fell wurde an den Beinen immer dunkler, bis es unten an den Füßen fast schwarz war. Er hob eine Pfote und betrachtete die Unterseite. Fleischige Polster – schwarz mit einzelnen, rosigen Stellen – wurden von schwarzen Fellhaaren umgeben. Die schwarzen, gebogenen Krallen endeten in feinen Spitzen. Er spreizte sie, und sie ließen sich mühelos bewegen. Es war ein wohliges Gefühl.

Da ertönte in seinem Rücken ein Rascheln, und er zuckte erneut zusammen, sprang mit allen vieren in die Luft … er war so viel leichter als Dex, der Junge. Er warf den Kopf herum und sah, was das Geräusch verursacht hatte. In der Ecke lagen ein paar leere Papiersäcke und wurden von einer herrlichen, dichten, buschigen Lunte gestreift, die am Ansatz noch tief rotbraun gefärbt war, um dann über ein blasses Orange in eine fast weiße Spitze überzugehen. Dex betrachtete die Lunte ehrfürchtig und schwenkte sie mit Hilfe seines kräftigen Rumpfmuskels eine ganze Minute lang hin und her.

Es ist schon ein ziemlicher Schock, sagte er sich, wenn man feststellen muss, dass man sich urplötzlich in einen Fuchs verwandelt hat. Und dass man tote (und lebendige) Spinnen essen kann. Doch seltsamerweise war ihm nicht mehr übel, und auch seine anfängliche Panik war verflogen. Es ging ihm sogar sehr viel besser als vor einer halben Stunde, als er noch ein Mensch gewesen war. Jeder Teil seines Körpers fühlte sich gesund und lebendig an. Er konnte spüren, wie die strammen, schlanken Muskeln in seinen Gliedmaßen geschmeidig ihre Arbeit verrichteten, während er sich in der kleinen Holzhütte umsah. Er fühlte sich beweglich, leichtfüßig und gesund.

Sein Gehör war unglaublich. Er nahm ein Dutzend unterschiedlicher Geräusche gleichzeitig wahr: das sanfte Prasseln des Regens auf dem Schuppendach zusammen mit dem Flattern der kleinen Vögel im Gebüsch. Das Dröhnen verschiedener Insekten, die den Regentropfen auswichen, und dazu das entfernte Summen und Klappern des menschlichen Lebens: Autos, Kinder, Waschmaschinen und Fernseher. Dex konnte alles hören.

Dazu kam, dass sein ohnehin sehr guter Geruchssinn noch einmal schärfer geworden war. Es war unfassbar. Er konnte wirklich alles riechen. Das Teeröl, mit dem das Holz des Schuppens bearbeitet worden war, vermischt mit den letzten Resten der Lackverdünnung, den Staub, die Feuchtigkeit, die modrigen Falten des Sonnenschirms, der zusammengefaltet wie eine riesige, grünweiße Fledermaus in der Ecke stand, weil er seit Wochen nicht benutzt worden war (es war ein ziemlich feuchter Sommer gewesen), den Regen auf den heißen Gehwegplatten, die Asche vom Lagerfeuer letzte Woche, die sich jetzt als klebrige, schwarze Pfütze hinter dem Schuppen sammelte, das Curry, das gerade in einer Küche in der Nähe zubereitet wurde, den Übelkeit erregenden und zugleich wundervollen Duft aus den großen Müllcontainern im angrenzenden Hinterhof der Häuser in ihrer Straße.

Dieser Duft machte ihm erneut klar, wie hungrig und durstig er war. Also gut, dachte Dex. Ich bin ein Fuchs. Wieso das so ist, darüber kann ich später noch nachdenken. Im Augenblick gibt es Wichtigeres. Hastig drehte er sich um und näherte sich der Lücke in der Bretterwand. Seine Ohren nahmen selbst die leisesten Bewegungen in seiner Umgebung wahr, und jetzt roch er auch wieder diesen nussigen Duft. Der Junge im Inneren des Fuchses traf eine Entscheidung: keine Spinnen mehr. Nichts wie weg hier, bevor der Fuchs ihn überstimmte und ein paar dieser spindeldürren Kreaturen aufschleckte, die zitternd in den Ecken kauerten.

Seine Tasthaare streiften an den Rändern des Lochs in der Rückwand entlang, und ihm war klar, dass er gerade so durch die Lücke passen würde. Teils aufgrund seines Instinkts und teils durch eine undeutliche Erinnerung an ein Buch über Säugetiere (das schon längst auf irgendeinem Wohltätigkeitsbasar verscherbelt worden war) wusste er, dass seine Tasthaare ein wichtiges Messinstrument waren. Wenn sie durch eine Lücke passten, dann galt das auch für den Rest seines Körpers.

Dex verharrte vor dem Loch. Seine scharfen Sinne sagten ihm, dass jede Menge Menschen in der Nähe waren, wenn auch nicht in diesem Garten. Er senkte den Kopf und schob sich durch die Lücke hindurch. Der Rest seines geschmeidigen Körpers folgte ihm ohne Mühe. Er war frei.

Ein kühler Windstoß und ein paar Wasserspritzer zerzausten das Fell rund um seine Augen. Hastig blickte er von rechts nach links und jagte dann mit großen Sätzen ans hintere Ende des Gartens, wo eine niedrige Brombeerhecke wuchs. Zum Glück grenzte ein Teil der Hecke auch an den Hinterhof mit den Müllcontainern an. Und gleich daneben begann ein unbebauter Abhang, der hinab zu einer Schrebergartensiedlung führte. Dahinter lag ein kleines Wäldchen. Dex kroch unter die Hecke und überlegte. Rechts befand sich der brachliegende Abhang – zwei-, dreihundert Meter freie Fläche, bevor er den Schutz der Schrebergartensiedlung oder des dahinterliegenden Wäldchens erreichen konnte. Links sah er die großen, überfüllten Müllcontainer.

Am Montag würden sie geleert werden, aber jetzt, am Wochenende, verströmten sie einen kräftigen, schweren Geruch. Gina hatte sich bei der Stadtverwaltung schon oft darüber beschwert. Dex hatte den Gestank auch schon mehr als einmal wahrgenommen, aber dieses Mal war es anders. Irgendwie abstoßend, ja, durchaus, aber gleichzeitig … wundervoll. Vielversprechend. Dex, der Fuchs, wusste, dass er dort jede Menge Futter finden würde. Alte Kekse, Brot, kalte, zusammengepresste Teebeutel in halbvollen, feuchten Chips-Tüten, Speckschwarten, Apfelkerne, mit Ketchup vollgesogene Fischstäbchen, die irgendwelche Kleinkinder wieder ausgespuckt hatten, schmalzgetränkte Ecken leerer Corned-Beef-Dosen, klebrige Spare Ribs und Hühnchen … oh, ja … Hühnchen. Irgendwo, nicht einmal besonders tief unten, konnte er frittiertes Hühnchen riechen, paniert in Semmelbröseln und einer geheimen Kräuter- und Gewürzmischung. Hühnchen … Der Inhalt dieser Container, das war alles andere als Abfall. Er war ein Schatz.

Doch zunächst musste er ein noch dringlicheres Bedürfnis stillen. Er musste etwas trinken! Seine Fuchszunge wölbte sich bereits trocken und wie ein Reibeisen in seinem Maul. Eine schlammige Pfütze zog sich am Rand der Brachfläche entlang, und er konnte das Wasser riechen, das sich dort sammelte. Der Geruch unterschied sich deutlich von dem des Regens. Entschlossen kroch er nach rechts unter der Hecke hervor und schlich vorsichtig vorwärts. Schon nach wenigen Sekunden hatte er einen alten Autoreifen entdeckt, der aufrecht im Graben stand. Darin hatte sich eine glitzernde, schwarze Wasserpfütze gesammelt. Es schmeckte besser, als es roch. Dex schlabberte fast alles auf, ohne auf die ein, zwei Insekten zu achten, die an der Oberfläche trieben. Der Nachgeschmack nach verbranntem Gummi war zwar nicht gerade ein Gaumenschmaus, aber die Flüssigkeit tat seinem ausgedörrten Körper so gut, dass er sich nicht weiter daran störte.

Inzwischen hatte auch die Dämmerung eingesetzt, und das trug zu seiner Entspannung bei. Zwar schien im Moment niemand in seiner Nähe zu sein, aber trotzdem war Dex, dem Fuchs, instinktiv klar, dass es für ihn umso sicherer war, je dunkler es wurde. Er sah sich auf dem vertrauten Stück Brachland um, das jetzt seltsam anders wirkte, und als er niemanden erkennen konnte, schlich er an der Hecke entlang zurück zu den Müllcontainern.

Vor jedem der drei großen Stahlbehälter lag ein wirrer Berg aus schwarzen Müllsäcken, Schachteln und Plastiktüten. Die schweren, schwarzen Plastikdeckel der Behälter standen fast immer offen. Es wurde ja ständig viel zu viel Müll hineingestopft, so dass die Leute ihre Müllsäcke, Kartons und Tragetüten einfach auf den klebrigen Beton stellten, bis der Berg so hoch war, dass er an die Öffnung heranreichte.

Perfekt. Mit vorsichtigen Schritten kletterte Dex hinauf bis zur Öffnung des nächstgelegenen Containers und fing dann an zu scharren. Mühelos zerschlitzten seine scharfen Krallen einen dicken Plastikbeutel, so dass Kartoffelschalen, dicke Bohnen und zwei mit rosa Spritzern übersäte Joghurtbecher daraus hervorplatzten. Aber darunter wartete der Schatz! Die rotweiß gestreifte Schachtel bestätigte ihm, was seine feine Nase bereits angekündigt hatte – frittiertes Hühnchen! Dex packte die Schachtel mit den Zähnen und trug sie nach unten. Dabei rutschte er auf einer Lache aus geschmolzener Eiscreme aus. Eine Sekunde später saß er bereits wieder unter den Büschen und riss den Karton in Stücke.

Von den seltenen Malen, in denen Dex frittiertes Hühnchen gegessen hatte, wusste er, dass man die einzelnen Stücke mit Fingern und Zähnen behutsam auseinandernehmen musste. Auf keinen Fall durfte man die dicken Knochen und das dunkle, fettige Gewebe unterhalb der Rippen essen, genauso wenig wie die Haut und die rosafarbenen, dehnbaren Blutadern. Und für gewöhnlich bekam man noch ein nach Zitrone duftendes Feuchttuch dazu, mit dem man sich anschließend die Finger saubermachen konnte.

Dex, der Fuchs, war da weit weniger wählerisch. Die Knochen, an denen immer noch jede Menge Fleisch haftete, landeten unverzüglich in seinem Maul. Seine Zähne und seine Zunge arbeiteten auf beeindruckende Weise mit seinen Pfoten zusammen und schälten jedes Fitzelchen Fleisch von den Keulen. Anschließend legte er sie fein säuberlich wieder auf den dünnen Karton. Insgesamt waren es vier Stück. Nach drei Minuten war er damit fertig.

Kaum hatte er seinen Fressrausch beendet, blickte Dex sich schweratmend um. Hatte ihn jemand bemerkt? Immer noch war niemand in der Nähe. Das Wasser und das Hühnchenfleisch verliehen ihm bereits neue Energie, und er fühlte sich phantastisch. Obwohl … ein kleines bisschen Hunger verspürte er noch.

Der Regen hatte mittlerweile aufgehört, aber im letzten Licht der Dämmerung entdeckte Dex in dem Graben vor seiner Nase jede Menge Untergrundbewohner, die durch das rhythmische Prasseln des Regens an die Erdoberfläche gelockt worden waren. Dex, der Junge, fing an zu protestieren, doch Dex, der Fuchs, schenkte ihm keine Beachtung. Er streckte die Vorderpfoten, so dass seine Hinterläufe und der Rumpf noch weitgehend unter der Hecke verborgen blieben, und benutzte die Reihe mit den kleinen Nagezähnen zwischen seinen Fängen, um den größten Wurm vorsichtig aus der Erde hervorzuziehen. Dieser dehnte sich, fast wie ein dickes, pinkfarbenes Gummiband, und dann, als Dex ihn behutsam von links nach rechts und wieder zurückbog, rutschte noch ein bisschen mehr rosafarbenes, weiches Fleisch aus der losen, feuchten Erde. Als endlich der Rest des Wurmes aus der Erde flutschte, prallte er mit leisem Schmatzen gegen Dex’ Schnauze und wand sich panisch hin und her, bevor Dex ihn in einem Stück verschluckte. Er schmeckte ein bisschen nach rohen Pilzen mit einem bitteren Beigeschmack. Dex machte weiter und zog systematisch einen Wurm nach dem anderen aus der Erde. Nach dem vierten oder fünften war Schluss, und er fühlte sich noch besser als zuvor. Besser? Er fühlte sich absolut phantastisch!

Erneut blickte er sich nach allen Seiten um, spannte dann seine muskulösen Hüften und schnellte los, jagte quer über die brachliegende Fläche hinweg auf die Schrebergärten und das dahinterliegende Wäldchen zu.

Kapitel 3

Das hohe Gras vor seinen Augen schnalzte ruckartig beiseite, als Dex wie eine Gewehrkugel über die Brachfläche jagte. Jedes Mal, wenn er sich mit einer seiner Pfoten abstieß, begann er einen wenige Sekundenbruchteile dauernden Flug. Die Abendluft pfiff ihm um die Ohren, ließ das weiche, weiße Fell an ihren Innenseiten flattern und drückte seine schwarzen Schnurrhaare flach an seine Wangen.

Verwegen sprang er über alle Hindernisse hinweg: die Grasbüschel rund um die rauen Betonstücke auf dem Boden, die Rollen aus rostigem Maschendraht, die leeren Paraffinbüchsen und die räderlosen Skelette herrenloser Fahrräder. Am Rand der Schrebergartensiedlung angelangt, verlangsamte er seine Schritte und spitzte die Ohren. Es war immerhin denkbar, dass irgendein Schrebergärtner noch mit seinen Gemüsebeeten beschäftigt war. Aber nicht in seiner unmittelbaren Umgebung. Weiter weg, da war auf jeden Fall einer zu hören. Der Menschengeruch erschien Dex, dem Fuchs, mindestens so scharf und eindeutig erkennbar wie der Fuchsgeruch früher Dex, dem Jungen, erschienen war.

Geduckt und geschmeidig schlich er an ein paar kleinen Schuppen entlang und an einem mit Drahtgeflecht geschützten Himbeerbusch vorbei, unter einem auf mehreren Backsteinen ruhenden Wasserfass hindurch und rettete sich dann zwischen die hohen, drahtigen Grashalme am Rand der Schrebergärten, im Schatten des Wäldchens. Erst als er den schwammigen Untergrund des Waldbodens unter seinen Pfoten spürte, wurde er wieder langsamer. Er war völlig außer Atem und hätte am liebsten laut gejuchzt vor Freude. Er kam sich vor wie in einem dieser Träume, aus denen man lächelnd und mit Tränen in den Augen erwacht. Nur, dass er bereits wach war! Er hatte sich noch nie wacher gefühlt als jetzt.

In der feuchten Wärme des kleinen Wäldchens fühlte Dex sich erheblich sicherer als zuvor. Er machte es sich auf dem torfigen Boden bequem und rollte seine herrliche, buschige Lunte ein, so dass die Spitze seine Vorderpfoten kitzelte. Er wusste, dass er sich eigentlich Gedanken darüber machen müsste, was das Ganze sollte. Er wusste, dass er fieberhaft überlegen müsste, was als Nächstes passieren würde. Aber jetzt, wo er gegessen und getrunken und diesen phantastischen, beinahe fliegenden Lauf quer über die Brachfläche hinter sich hatte, verspürte er keinen anderen Wunsch mehr, als sich schlafen zu legen … obwohl er noch vor zehn Sekunden hellwach gewesen war.

Ganz in der Nähe befand sich eine umgestürzte Eiche. Ziemlich genau zu der Zeit, als er geboren worden war, hatte ein schwerer Sturm das Land gebeutelt, so heftig, dass er damals diese Eiche entwurzelt hatte. Das hatte sein Dad ihm jedenfalls erzählt. Noch während Dex es sich in einer Kuhle unter dem einen Ende des Stammes gemütlich machte, dämmerte er ein. Im Halbschlaf erinnerte er sich an die Worte seines Vaters: »Es war dramatisch, Dex. Der Wind … Donnerwetter – du hättest den Wind hören müssen. Er hat geheult und am Haus gerüttelt, so dass die Fenster gebebt und geklirrt haben. Deine Mum hat davon aber nichts mitbekommen. Sie war ja damit beschäftigt, dich auf die Welt zu bringen. Aber ich, also, ich werde diesen Sturm niemals vergessen.«

Es war eine ihrer gemeinsamen Lieblingsgeschichten, und in den seltenen Momenten, in denen sie zu zweit waren, erzählte sein Vater sie ihm gelegentlich, immer so, als sei es das allererste Mal. Dann waren seine blassen, grauen Augen in die Ferne gerichtet, auf seine Erinnerung.

»Und dann, kurz nachdem du geboren warst, gegen drei oder vier Uhr früh, hat der Sturm sich mit einem Schlag gelegt, einfach so! Kein Hauch mehr. Es war so still, dass ich dich in deiner kleinen Plastikkrippe habe atmen hören. Ich habe zum Fenster hinausgeschaut und die Bäume unten im Tal gesehen. Und der nächste Tag war auch sehr merkwürdig. Die Sonne stand rot wie eine Blutorange am Himmel, und die Hitze war einfach unglaublich. Es war April, aber heiß wie im Juni. Ein ungewöhnliches Wetterphänomen hieß es damals.«

Mit gespitzten Ohren lauschte Dex dem sanften Rauschen des Waldes. Waren da etwa noch andere Laute zu hören? Immer tiefer und tiefer glitt er in den Schlaf hinab. Er fühlte sich warm und geborgen und unter diesem Baumstamm mehr zu Hause als je zuvor in der kleinen feuchten Kammer, die er sein Zimmer nannte. In weiter Ferne nahm er sanften, pulvrigen Fliederduft wahr. Er wusste, dass das nicht sein konnte, denn jetzt war Oktober und nicht April. Aber der Duft überkam ihn jedes Mal, wenn er an seine Mutter dachte. Es war ihr Duft, und eine der wenigen Erinnerungen, die ihm von ihr geblieben waren. Sie war gestorben, als er vier Jahre alt gewesen war.

Außer an ihren Duft erinnerte er sich noch daran, dass sie ihm manchmal etwas vorgesungen hatte. Dass er vor Lachen laut gegluckst und versucht hatte, mit seinen Kleinkindzähnen in ihre feste Hand zu beißen, und dass sie ihn dann gekitzelt hatte. In warme Erinnerungen gehüllt, umschlossen von seiner buschigen Lunte, fiel Dex in einen tiefen Schlaf.

* * *

Dex’ erster Gedanke war, dass die schmale Kommode aus irgendeinem Grund umgekippt und auf ihn gefallen sein musste. Etwas Hartes, Unnachgiebiges drückte auf seinen Hinterkopf. Dex versuchte, sich zu bewegen, doch das Hindernis gab keinen Millimeter nach. Erschrocken sog er die Luft ein, aber erst nachdem er mehrmals das Laub- und Erdaroma eingeatmet hatte, wusste er wieder, wo er war. Dex schlug die Augen auf. Um ihn herum war es dunkel und feucht. Er lag immer noch im Wald unter der umgestürzten Eiche und hatte die Nase fest in die Erde gedrückt. Wieso hatte er denn das Gefühl, so dermaßen eingequetscht zu sein? Beim Einschlafen hatte er sich doch so wohl und kuschelig gefühlt.

Er streckte die Hand aus und drehte sich auf die Seite, wandte den Kopf nach rechts und schaffte es zum Glück, sich unter dem Baumstamm hervorzuschieben, allerdings nicht, ohne sich den Hinterkopf und das Ohr aufzuschürfen. Benommen kam er auf die Knie und klopfte Blätter und lose Erde von T-Shirt und Jeans. Dann erstarrte er. Eigenartigerweise war der Schock jetzt, wo er feststellen musste, dass er wieder ein Junge war, viel größer als vorhin, als er gemerkt hatte, dass er sich in einen Fuchs verwandelt hatte. Dex ließ sich im Schneidersitz auf den Boden sinken und versuchte, sich darüber klarzuwerden, was eigentlich gerade geschehen war. Im Wald war es dunkel und still, aber die Straßenlaternen in seiner Straße schickten ihren trüben, orangefarbenen Schimmer als leises Glimmen bis hierher. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr: Es war erst halb sechs. Ihm kam es viel später vor.

Dex musste an den Unglaublichen Hulk denken. Sein Dad hatte einen Stapel mit alten, vergilbten Comic-Heften unter die Treppe gelegt, die vom Unglaublichen Hulk handelten. Darin verwandelte sich der Wissenschaftler David Banner immer, wenn er wütend wurde, in ein mächtiges, grünes Ungeheuer. Dabei wurde jedes Mal sein Hemd in Fetzen gerissen, und seine Schuhe verschwanden – wahrscheinlich platzten sie ihm einfach von den Füßen, dachte Dex –, aber seine Hose und seine Unterhose blieben, bis auf ein paar kleine Risse am unteren Rand, jedes Mal heil. Wahrscheinlich hätten die Eltern ihren Kindern die Hefte nicht gekauft, wenn auch Hulks Hose und Unterhose einfach weggeplatzt wären, überlegte Dex.

Jedes Mal, wenn der Unglaubliche Hulk sich verzogen hatte und David Banner wieder zu einem ganz gewöhnlichen Menschen geworden war, hatte er jedenfalls seine Hose noch angehabt. Dann hatte er nichts weiter tun müssen, als von irgendeiner Wäscheleine ein Hemd oder etwas Ähnliches zu stibitzen und nach Hause zu laufen.

Aber warum, dachte Dex jetzt, bin ich noch genauso angezogen wie vorher? Als Fuchs hätte ich doch meine menschlichen Kleider verlieren müssen, oder etwa nicht? Müsste meine Armbanduhr jetzt nicht eigentlich im Schuppen liegen, zusammen mit meinem T-Shirt, meiner Jeans, der Unterhose, den Socken und den Turnschuhen?

Aber vielleicht war das Ganze auch einfach nur ein Traum gewesen. Nur … wie war er dann aus dem Schuppen entkommen? Er warf noch einmal einen Blick auf seine Armbanduhr. Die Leuchtzeiger standen jetzt auf 17.31 Uhr. Abendessen.

Abendessen! O nein. Abendessen! Dex sprang auf, aber dann wurde ihm schwindelig und er geriet ins Wanken. Gina und Alice mussten jeden Moment zurück sein … wenn sie es nicht schon waren! Die Geschäfte machten sonntags um halb sechs zu, also konnte es wirklich nicht mehr lange dauern. Und wenn er bis dahin nicht im Garten … im Schuppen war! Nicht ein einziges Unkraut hatte er gejätet. Nicht eines! Gina würde wie eine Atombombe explodieren, wenn er sie nicht davon überzeugen konnte, dass er auf keinen Fall dazu in der Lage gewesen war, weil er sich ja versehentlich im Schuppen eingesperrt hatte. Er musste sofort dorthin zurück. SOFORT!

Dex rannte durch den Wald, sprang über Wurzeln hinweg und wich im Weg stehenden Bäumen aus. Als Mensch kam er sich schwerfällig und ungelenk vor, aber er versuchte, wenigstens wie ein Fuchs zu denken und sich möglichst ähnlich zu bewegen. Er stürmte zwischen den Bäumen hervor, rannte an den Schrebergärten vorbei, verfing sich in dem Maschendrahtgestell rund um die Himbeeren und zog sich an einer der kleinen Bambusstreben einen tiefen Kratzer an der Schulter zu. Er hetzte weiter über die Brachfläche, stolperte durch das Unkrautgewirr und musste mehrfach hochhüpfen und sich mit kleinen, tänzelnden Schritten aus dem rostigen Maschendraht befreien, der nach oben gefedert war und sich in seinen Knöcheln verheddert hatte. In Angstschweiß gebadet gelangte er zu der niedrigen Brombeerhecke. Jetzt, als Mensch, war sie sehr viel schwieriger zu überwinden als zuvor, aber er wagte nicht, nur wegen ein paar kleiner Kratzer stehen zu bleiben.

Also schob er sich, angetrieben von purer Willenskraft, unter den stacheligen Zweigen hindurch und an den Überresten seines frittierten Hühnchens vorbei in den Garten. Dann rannte er so schnell zum Schuppen, dass er mit voller Wucht dagegenprallte, und zwar mit dem Gesicht voraus. Im Haus brannte noch kein Licht, doch gerade, als er einen erleichterten Seufzer ausstieß, sah er zwei Scheinwerferstrahlen in die Einfahrt neben dem Haus einbiegen. Sie waren zurück!

Entsetzt hielt Dex die Luft an und kauerte sich vor die Lücke an der Rückwand des Schuppens, um sich wieder ins Innere zu schieben. Erst jetzt wurde ihm klar, dass das ja gar nicht möglich war. Er war viel zu groß dafür!

Wie eine blutrote Flutwelle jagte die Panik durch seine Gedanken. Es kostete ihn größte Mühe, einen halbwegs kühlen Kopf zu bewahren. Was tun? Hektisch blickte er sich im Garten um. Drüben neben dem Komposthaufen lag eine Mistgabel und reckte ihre Zinken gefährlich in die Luft. Er rannte zu ihr, packte sie und stand nach wenigen Sekunden schon wieder neben dem Schuppen. Dann hörte er Autotüren schlagen und dazu das ferne, keineswegs willkommene Klappern von Ginas Schlüsselbund.

Dex packte den Stiel der Mistgabel, steckte ihn in das Loch in der Bretterwand und rüttelte hin und her, um die zerbrochene Holzlatte vollends abzulösen. Es kam ihm vor, als würde sie sich keinen Millimeter bewegen, obwohl das eigentlich unmöglich war! Jetzt wurde die Haustür ins Schloss geknallt und das Licht im Flur eingeschaltet. Dex konnte bereits die Stimmen hören.

Die Angst packte ihn, und sein Herz raste. Jetzt konzentrierte er die ganze wahnsinnige, kreischende Energie, die durch seinen Körper tobte, auf einen einzigen, gewaltigen Ruck am Stiel der Mistgabel. Mit einem lauten Knall wurde die Latte abgesprengt und fiel zur Seite. Dex schleuderte die Mistgabel quer durch den Garten und quetschte sich durch das nunmehr deutlich größere Loch. Es war zwar immer noch sehr eng, und die Schmerzen an seiner verletzten Schulter wurden dadurch noch größer, doch irgendwann hatte er es geschafft und sich unter Ziehen und Schieben und Drücken in den Schuppen gezwängt.