Die Nebelbrücke - Henrik Kielgas - E-Book

Die Nebelbrücke E-Book

Henrik Kielgas

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Beschreibung

Was macht man nicht alles, um eine Prinzessin zu retten? Die kleine Waldhexe Luise muss dazu Hilfe jenseits einer geheimnisvollen Brücke holen, von der noch niemand zurück gekehrt ist. So verlässt sie mit ihrem Raben Ahab die Märchenwelt und bricht in ein düsteres und doch seltsam vertrautes Land auf. Nicht nur die Brücke verbindet die Welten, auch eine alte, unglückliche Liebe hat dunkle Schatten auf das magische Netz geworfen, das alle Dinge im Gleichgewicht hält. Jenseits der Nebelbrücke wird sie schon lange erwartet.

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Seitenzahl: 435

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Im Schloss

Die kranke Prinzessin

Im Kerker

Flucht aus dem Kerker

Der Thronsaal

Der Zauberer

Pfannkuchen

Die Hütte

Die Gaststätte

Schmidtmann

Der Zauberer

Verlaufen

Der Eine

Der Eine

Der Kampf im Berg

Die Trommel

Käfermatsch

Der Metallvogel

In den Berg

Der Kampf im Berg

Zurück bei Gisbert

Der Bürgermeister

Die Drachenreiterin

Ela

Der Abschied

Das Monster

Über den Wolken

Älter als der Wald

Minus 26Std:53Min:03Ssek

Der Wärter

Das Summen

Zwei Feen

„Iss deine Suppe!“

Wieder am Arbeitsplatz

Endlich erwischt

Die Flucht

Urte

Ein Wiedersehen

Die Stadt

Ein ganz kurzes Treffen

Kein Problem mit Mädchen!

Der große Zauber

Hast Du meine Mami gesehen?

Vor dem Anfang ist ein Ende

„Nein! Nein!“

Eseldrache

Das Verhör

Kevin Schmidtmann zu Hause

Luise und Ahab

Ela wartet auf den Bus

Hoch oben in der Luft

Das Netz

Bertie

Vom Sohn zum Vater

„Hmmdd“

Ein ungleicher Kampf

Die Kaffeemaschine

Epilog

PROLOG

„Tötermann!“ Die jüngste der drei Schwestern rannte mit einem Stock durch den großen Garten der ehrwürdigen Familie.

„Tötermann!“, rief sie. „Ich bin ein Tötermann! Paff! Paff!“

Die Mutter stand auf dem Balkon des alten Familienanwesens, sah die Tochter im Garten spielen und schüttelte den Kopf. Der Vater kam zu ihr. Er legte liebevoll seinen Arm um die Hüfte seiner Frau und gab ihr flüchtig einen Kuss. „Lass sie spielen.“

„Tötermann!? Sie trägt diese wunderbare Kraft in sich und weiß damit nichts Besseres anzufangen als ‚Tötermann‘?“

„Sie ist noch so jung, sie spielt.“

„Tötermann!“, hallte es aus dem Garten.

Die beiden älteren Schwestern kamen hinzu.

„Ihr müsst das unterbinden!“, schimpfte Else, die Älteste. „Die Nachbarn reden schon.“

Ein helles, aber kaltes Strahlen umgab die beiden jungen Mädchen. Es hatte die ganze Umgebung erfasst. Die Eltern blickten stolz auf ihre wunderschönen Töchter.

Der Vater lächelte sanft. „Sie ist nicht wie ihr und doch, seht nur, wie prächtig der Garten um sie herum gedeiht. Sie ist etwas Besonderes.“

Die beiden Schwestern hoben missbilligend den Kopf, schauten auf die jüngere hinab und lachten. „Sie? Etwas Besonderes!? Wohl eher nicht!“

Die Jüngste hörte das Lachen oben auf dem Balkon, unterbrach ihr Spiel und blickte neugierig hinauf. Da zeigte Greta, die mittlere Schwester mit dem Zeigefinger auf die jüngere im Garten und kniff ein Auge zu. „Paff, paff!“

Die Jüngste fasste sich an die Brust und taumelte. Plötzlich rief sie: „Tötermann!“ und verschwand lachend im Gebüsch.

„Paff!“, gluckste sie aus ihrem Versteck.

Else schüttelte den Kopf. „Das ist so peinlich.“

Ihre Augen verdunkelten sich. Sie schnippte mit dem Finger. Der Strauch, in dem sich die Jüngste versteckte, verdorrte. Das Versteck war hin.

Die Jüngste stampfte erbost mit dem Fuß auf den Boden. „Nee! So geht das nicht! Ich habe dich getroffen. Du musst jetzt umfallen. Du bist tot!“

An dem Strauch sprossen wieder die ersten Zweige und Blätter.

„Mach’ ich später!“ Else sah vom Balkon herab und verschränkte die Arme.

Greta lachte, dann sah sie ihren Vater an. „Was ist mit der alten Irmgard? Sie lässt das Land erblühen. Wozu brauchen wir die da?“ Dabei zeigte sie auf die Jüngste.

„Irmgard ist 4.987 Jahre alt und wird bald sterben.” Die beiden Schwestern erschraken.

„Wie, sterben!?“, fragte Else entsetzt. „Nein! Wir sterben nicht!“

Die Mutter sah traurig in die Augen ihrer Töchter.

„Das sind keine Gedanken, die ihr in eurem Alter haben solltet. Geht nun und amüsiert euch.“

Schwere Wolken zogen mit einem Mal vor die Sonne, während sich die Augen der ältesten Tochter gefährlich verdunkelten.

„Nein! Wir nehmen es ihnen! Unser eigenes Leben aber endet nicht!“

Roderich trieb die Hacke in den kargen, fruchtlosen Boden des Ackers. Der Himmel war grau und am Horizont kündigten Blitze das nächste Unwetter an. Es war ein raues Land am Fuß des Bergs, am Ende der Welt. Er arbeitete hart und litt dennoch oft Hunger. Das Land hatte ihm nie etwas geschenkt.

Einst, an einem grauen Morgen, ein Morgen wie jeder andere, war mit einem Mal die Brücke da gewesen. Sie führte über den Rand seiner Welt, kam aus dem Nichts und ging ins Nichts. Sie war ganz anders als das trostlose Land. Strahlend weiß und riesengroß, versprach sie ein einfaches Leben auf der anderen Seite. Dennoch wagte er es nicht, hinüberzugehen. Die Brücke war zu groß, der Abgrund unter ihr zu tief und der Nebel, der sie umgab, zu dicht! Am meisten aber besorgte ihn, dass er dann den Berg verlassen müsste. Das wollte er auf keinen Fall. So fristete er sein hartes Leben weiter, im dauernden Hader, die Brücke zu überqueren.

Doch an diesem kalten, öden Tag geschah etwas, dass sein Schicksal endlich verändern sollte.

Roderich blickte auf und sah die drei Schwestern über die Brücke kommen.

Wie die Brücke umgab auch sie eine gewaltige Präsenz. Von den beiden größeren, älteren ging ein kaltes, bedrohliches Leuchten aus. Sie schienen ganz weiß zu sein. Ihre Kleidung, ihre Haare, ja sogar ihre Haut war weiß. Nur die Augen waren sehr groß und unnatürlich dunkel. Roderich hatte seinen Blick nicht von ihnen abwenden können. Die Jüngste aber war anders als ihre Schwestern. In Schwarz gekleidet, strahlte sie Mitgefühl und Wärme aus. Auch ihre Augen waren dunkel, doch Roderich fürchtete sich nicht vor ihnen. Sie waren fröhlich und voller Leben. Er glaubte, solange die Jüngere da war, brauchte er die beiden anderen nicht zu fürchten.

Die zwei älteren Schwestern hatten ihn entdeckt.

Roderich erschauderte. Er ließ die Hacke fallen und starrte, unfähig sich zu bewegen, in die kalten Augen der Mittleren.

Mit einem Mal standen alle drei vor ihm. Roderich erschrak.

Greta lächelte. „Gefalle ich dir?“

„Lass das!“, ging Else dazwischen.

Doch Roderich nickte, sie gefiel ihm sehr.

„Wie alt bist du?“, fragte Greta.

Er zuckte mit den Schultern. Er war schon immer da gewesen.

„Ich weiß es nicht“.

Die Älteste lächelte nun. Dann sah sie die jüngere Schwester an.

„Glaubst du mir nun? Es ist ganz einfach. Brücke, Bauer, unsterblich! Dank diesem armen Bauern hier werden wir nicht sterben.“

Die Jüngste wollte umkehren. „Ich will nicht hier sein.“

Doch die beiden älteren hielten sie zurück. Sie behaupteten, dass sie keine Wahl habe. Sie müssten zusammenbleiben, sonst wären die Dinge nicht im Gleichgewicht. Die beiden Schwestern sahen nun wieder zu Roderich. Der Himmel verdunkelte sich und eine unheimliche Kälte breitete sich aus.

„Gib uns die Macht der Unsterblichkeit“, drohten sie.

Der Bauer bekam große Angst. „Das kann ich nicht! Es ist die Magie des Berges, nicht meine.“

Die zwei Schwestern ließen von ihm ab und starrten zum Berg.

Die Jüngste aber nahm Roderich an der Hand.

„Wir müssen hier weg!“, flüsterte sie. „Sie suchen den Zauber im Berg und sind abgelenkt. Komm!“

Roderich wollte zur Brücke laufen, doch die jüngste Schwester wusste, dass die Älteren sie dort finden würden.

„Wir müssen in das Landesinnere fliehen!“

„Da ist nichts außer endlosem, noch kargerem Land“, erklärte Roderich.

Die Jüngste lächelte. „Das ist nicht schlimm.“

Sie rannten! Ein Jahr flüchteten sie landeinwärts. Überall, wo sie länger blieben, erblühte das Land.

Und so konnten die älteren Schwestern sie schließlich doch finden.

Sie packten Roderich. „Wir brauchen deinen Geist! Der Berg will sich mit uns nicht verbinden.“

Der Bauer weigerte sich. „Ohne meinen Geist werde ich sterben.“

„Nein“, erwiderte Else. „Wir brauchen nur deine Verbindung zum Berg. Du wirst sterben, ja, aber erst in vielen Jahren als alter Mann. So lange werden wir dir den sterblichen Teil deines Geists lassen.“

Roderich weigerte sich weiterhin. Die jüngste Schwester mischte sich ein.

„Das geht nicht. Es ist gegen das Gleichgewicht.“

Doch die Älteren schleuderten sie mit einem Wink beiseite.

Roderich erschrak. „Nein!“

„Dann stirbst du sofort!“, drohte Else.

„Wenn ich sterbe, tut ihr es auch. Zwar nicht gleich, aber später, weil mein Geist, nebst Verbindung zum Berg dann ebenfalls stirbt.“

Greta zog Else am Ärmel. Sie flüsterte ihr etwas ins Ohr.

Die Älteste hörte ihr aufmerksam zu, dann wandte sie sich wieder zu Roderich.

„Gut! Du hast recht, damit wäre keinem gedient. Nenne deine Bedingungen! Bedenke, dass dein Leben hier trostlos und von Leid geplagt ist. Und so wird es in alle Ewigkeit bleiben. Wir aber können das ändern.“

„Bitte!“, rief die Jüngste, verletzt am Boden liegend, „lass dich von ihnen nicht verführen!“

Roderich überlegte. Es machte Sinn, was die älteste Schwester sagte.

„Ich will König sein!“

„Gut! Du bist nun König über dieses Land.“

Roderich sah sich um, nichts hatte sich verändert. „Das ist Betrug!“

„Nein“, erklärte nun Greta. „Wir sind, wenn du es zulässt, aufgrund der Verbindung zum Berg, für alle Zeiten in diesem Land. Und weil es das Gleichgewicht so will, ist unsere jüngste Schwester ebenfalls für lange Zeit hier gebunden. Erst wenn eine neue Macht geboren wird, kann sie zurück. Das wird aber in den nächsten 5.000 Jahren nicht geschehen. Bald ist dies ein wunderbares, reiches Land, voller Wärme und Leben. Du und deine Nachkommen, ihr werdet Könige über dieses herrliche Land sein.“

Roderich schaute zur jüngsten Schwester. „Betrügen sie mich immer noch?“

„Überleg doch mal! Was nützt es dir, König zu sein, wenn meine beiden Schwestern die Macht im Land haben? Was bist du dann für ein König?“

Roderich nickte.

„Doch“, sagte Else, „du wirst Macht in diesem Land haben. An solcher Macht ist uns nicht gelegen.“

Roderich baute sich vor den Schwestern auf und verschränkte die Arme.

„Schwört mir, dass ich und alle meine Nachfahren die Macht im Königreich haben werden. So lange, bis ich oder ein Nachfahre Euch von diesem Schwur entbindet oder bis mein Geschlecht ausstirbt. Schwört Ihr es, werdet Ihr meinen Geist haben können, der Euch ewiges Leben beschert!“

„Nein!“, rief Greta. „Wir werden unsere Macht verlieren.“

„Wir werden nicht sterben“, beschwichtigte die ältere Schwester, „und wir werden nicht alle Macht verlieren. Außerdem wird er keine magische Macht besitzen.“ Sie zwinkerte ihrer Schwester zu. „Wie lange wird so ein Menschengeschlecht schon überleben? Wir aber werden ewig leben!“

„Nein!“ Roderich hatte die Bosheit der Ältesten bemerkt.

„Ihr werdet, so gut Ihr könnt, dafür Sorge tragen, dass mein Geschlecht weiterleben wird!“

Die beiden Schwestern sahen sich an. Dann nickten sie.

„So sei es! Das ist unser Schwur!“

IM SCHLOSS

Die kranke Prinzessin

Die kleine Waldhexe Luise war in einem wunderschönen Schloss. Man ahnt es sicherlich schon, Luise war nicht sonderlich groß. Das wunderschöne Schloss hingegen schon. Es befand sich in einem mächtigen, riesigen Baum, und der stand in einem gewaltigen Wald. Er war der größte Baum von allen und auch von Weitem aus zu sehen. Alle Waldbewohner wussten, hier lebte die ...

... Waldhexe? Eine Waldhexe in einem Schloss? In einem Schloss, da lebten keine Waldhexen! Die lebten in kleinen Holzhütten versteckt im Wald. In einem Schloss, das alle sehen konnten, da lebten der König, die Königin und eine wunderschöne Prinzessin.

Und genauso verhielt sich das auch. Eigentlich. Zum großen Unglück des ganzen Landes war die Prinzessin aber schwer erkrankt. Der König hatte zuerst die Heiler rufen lassen, doch die hatten der Prinzessin nicht helfen können. Dann hatte er die Feen rufen lassen, auch sie hatten der Prinzessin nicht helfen können. Daraufhin hatte er noch weitere Zauberwesen aus dem Wald rufen lassen. Keiner hatte der armen Prinzessin helfen können. Ganz zum Schluss hatte er auch einen Riesengnom, einen Zwerg und eben die kleine Waldhexe rufen lassen.

Der König war ein mächtiger Mann. Wenn der einen rufen ließ, tat man gut daran, zu kommen.

Nun stand die kleine Waldhexe mit Gunter, dem Riesengnom und Albert, dem Zwerg am Bett der Prinzessin. Sie hatte sich nicht sonderlich schick machen können, so schnell waren sie aufgebrochen. Aber auch wenn sie die Zeit gehabt hätte, so schicke Anziehsachen wie die anderen im Schloss hatte Luise auch gar nicht. Wenigstens hatte sie sich am Morgen die Zähne gründlich geputzt und auch hinter den Ohren gewaschen. Das hatte der Gnom bestimmt nicht getan! Er roch etwas sonderbar.

Alle sahen traurig zur kranken Prinzessin, keiner hatte eine Idee, wie ihr zu helfen sei. Hinter ihnen standen die zwei Feen. Sie waren ganz weiß und rein, fast gläsern. So viel schrubben könnte sich die kleine Waldhexe gar nicht, um so sauber zu sein. Ein kaltes Licht ging von ihnen aus. Ihre zarten, blassen Gesichter blickten misstrauisch auf die kleine Gruppe. Es hieß, dass Feen die mächtigsten Wesen im Wald wären. Mit nur einem Fingerschnipp sollten sie ganze Burgen in Schutt und Asche legen können. Doch wegen eines alten Schwurs, der ihnen Güte und Frieden gebot, dürften sie diese Macht nicht gebrauchen.

Luise fühlte sich in ihrer Gegenwart unwohl. Sie bemerkte, wie der Zwerg sie anstarrte.

„Was ist?“, fragte sie leise.

„Tu was!“

„Ich!? Mach du doch!“

„Bist du hier die Waldhexe oder ich?!“

Gunter, der Riesengnom holte einen großen Krabbelkäfer aus seiner Jackentasche. Der Krabbelkäfer strampelte wild mit seinen sechs Beinchen, aber der Gnom hielt ihn fest zwischen Daumen und Zeigefinger.

Albert, Luise und auch die beiden Feen sahen erwartungsvoll zu dem Gnom. Der steckte den Krabbelkäfer in seinen großen Mund, zerbiss ihn mit einem hörbaren Knacken, kaute genüsslich darauf herum und schluckte ihn schließlich herunter. Luise schüttelte den Kopf. Bäh! War das eklig! Aber Gunter steckte seine große, schmutzige Hand erneut in die Tasche und holte sie voller Regenwürmer wieder hervor.

Eine der Feen rannte empört aus dem Zimmer. „Das sag ich dem König! So geht das nicht!“

Die kleine Waldhexe stupste den Gnom an.

Der grinste nur und hielt ihr die Hand hin. „Auch einen?“

Luise zischte. „Steck sofort die Würmer wieder weg! Das gibt Ärger!“

Aber Gunter stopfte sich die Würmer in den Mund. Er schmatzte und schnaufte.

„Hab’ Hunger!“

Der Zwerg sah dem Schauspiel angewidert zu.

„Boah! Ich habe ja schon einiges Fieses erlebt, aber das ist echt das Zweitfieseste, von allen superfiesen Erlebnissen, die man erleben kann! Und ich habe gesehen, wie fiese Spinnen ...“

Luise würde wohl nie erfahren, was fiese Spinnen noch fieser machten als Regenwurm essende Gnome, denn der Zwerg nickte plötzlich ungewollt mit dem Kopf nach vorne. Seine Zwergenmütze flog über das Bett der Prinzessin, quer durch den Raum. Gunter hatte mit der flachen Hand gegen den Hinterkopf des Zwergs gehauen. Nun hob er den Zeigefinger und erklärte wichtig, dass es ganz erlesene Regenwürmer aus dem Sumpf unten im Sumpfdotter Wald seien. Die habe ein Zwerg nicht „fies“ zu nennen!

Albert starrte Gunter mit offenem Mund an. „Hast du mich gerade gehauen?!“

Der Gnom prustete. Dabei flog ein erlesener Regenwurm aus dem Sumpfdotter Wald aus seinem Mund auf das Bett der Prinzessin.

„Du bist ja blöd! Hast du nicht gemerkt, wie deine Mütze weggeflogen ist?! Zwerge sind so doof.“

Albert stieß Gunter fest vor die Brust.

„Jetzt sieh, was du getan hast! Du hast die schöne, weiße Bettwäsche der Prinzessin ganz schmutzig gemacht. Dusseliger Gnom!“

„Jungs“, mischte sich Luise ein, „das ist jetzt kein guter Moment.“

Aber es war zu spät. Gunter schubste Albert heftig zurück. Der stolperte gegen die verbliebene Fee. Die hatte bis dahin entsetzt den Zwerg und den Gnom angestarrt. Albert hielt sich, Halt suchend, an ihr fest. Feen sind zwar größer als Zwerge, aber dennoch sehr zarte Geschöpfe und so ein Zwerg ist ein ganz schöner Brocken. Also riss Albert die Fee mit zu Boden.

Gunter lachte schallend und zeigte mit dem Finger auf den Zwerg. Aber Albert war sofort wieder auf den Beinen. Wütend rannte er mit gesenktem Kopf durch das große Schlafzimmer auf Gunter zu.

„Na warte!“

Gleichzeitig stampfte auch Gunter auf Albert zu.

Die kleine Waldhexe Luise hielt sich die Hände vor die Augen. „Au weia!“

Die Fee, unfähig sich ihrer gewaltigen Macht zu bedienen, flüchtete auf allen vieren rasch in eine Ecke des Raums. Sie schielte zur großen, zweiflügeligen Ausgangstür. Aber da müsste sie an dem Zwerg und dem Gnom vorbei. Das traute sie sich nicht.

Zwischen denen war nun ein heftiger Streit entfacht. Sie rauften sich laut schimpfend und zerstörten dabei die teuren Möbel im Krankenzimmer der Prinzessin. Wunderschöne, große Vasen fielen um und zerschellten am Boden. Große Bücherregale krachten nieder und für einen Moment flogen zahllose Bücher durch den Raum. Albert griff nach dem Kopfkissen der Prinzessin, riss es blitzschnell unter ihrem Kopf weg und schleuderte es nach dem Gnom. Die Prinzessin schien das nicht weiter zu stören. Sie schlief einfach weiter. Gunter fing das Kissen auf und zerriss es kurzerhand. Der Gnom war sehr stark! Mit einem Mal flogen im ganzen Raum jetzt auch noch Federn herum. Auf dem Boden lagen die Regale, zwei umgekippte Beistelltische, ein Prinzessinnen-Nachttisch, zerschlagene Stühle und überall Scherben und die Bücher aus den Regalen. Die Fee krallte ihre zarten Finger in ihre seidigen, glatten Haare und fing an, hysterisch zu schreien. Sie hockte immer noch in ihrer Ecke. Die kleine Waldhexe aber stellte sich mutig vor das Bett der Prinzessin. Wer wusste schon, wonach der Zwerg noch alles greifen würde, um es nach dem Gnom zu werfen. Wenn einer von den beiden nun in die Nähe des Bettes kam, schob sie denjenigen mit all ihrer Kraft weg, was der sich widerstandslos gefallen ließ.

Als das Tohuwabohu auf dem Höhepunkt war, schlugen mit einem Mal die beiden großen Türflügel des Zimmers auf und der König stürmte mit nur drei weiten Schritten hinein. Er war ein großer, mächtiger Mann, viel größer als die kleine Waldhexe oder der Zwerg, ja sogar als der Riesengnom.

„Sofort aufhören!“, donnerte seine tiefe, laute Stimme durch den Raum.

Augenblicklich erstarrten Gunter und Albert, und die Fee hörte endlich auf, hysterisch zu kreischen.

Es dauerte einen Moment, bis der König die Situation begriff. Schließlich eilte er zum Bett seiner Tochter. Die Prinzessin schlief immer noch. Liebevoll strich er die Federn aus ihren Haaren. Er sah lange, traurig in ihr blasses Gesicht. Die Diener waren herbeigeeilt und warteten nun stumm auf Anweisungen. Der König wedelte kurz mit der Hand in die Richtung eines Bediensteten, ohne dabei den Blick von seiner Tochter zu nehmen. Dabei murmelte er „Kissen“. Der Mann entschwand und kam unverzüglich mit einem neuen, königlichen Kopfkissen zurück. Der König nahm es und legte es behutsam unter den Kopf seiner schlafenden Tochter. Keiner im Raum sagte etwas. Alle starrten stumm auf den König und die kranke Prinzessin.

Schließlich beugte er sich über ihr Bett und gab seiner Tochter sanft einen Kuss auf die Stirn. Dann drehte er sich um. Sein Gesicht verfinsterte sich.

Ruckartig riss Albert den Arm hoch und zeigte auf Gunter. „Der Gnom hat angefangen!“

„In den Kerker! In den Kerker!“, rief die Fee aus ihrer Ecke.

Der König nickte. „Holt die Wachen!“

Im Kerker

„Ihr Idioten!“, schimpfte Luise. „Sogar die Trampelenten im Weiher an der großen Weide haben mehr Hirn als ihr und die schwimmen stundenlang im Kreis, weil es die Ente vor ihnen auch so macht.“

„Die sind dumm!“, grunzte Gunter und lachte.

„Ja, aber die sind nicht im Kerker. Wir schon! Weil ihr euch ja unbedingt prügeln musstet!“ Die kleine Waldhexe rannte wütend in der Zelle auf und ab.

Albert lehnte an der kalten Mauer und hatte die Arme verschränkt.

„Der Gunter hat angefangen!“

„Hab‘ ich nicht! Du hast die feinen Regenwürmer vom Sumpf im Sumpfdotter Wald fies genannt und dann hast du mich geschubst.“

„Meine Mütze! Meine supertolle Mütze! Die hast du mir vom Kopf gehauen.“

Luise reichte es jetzt. „Haltet die Klappe. Beide!“

Sofort verstummten die Streithähne. Es wurde still in ihrer Zelle.

Man hatte sie oben vom Krankenzimmer der Prinzessin hinaus in einen großen, hellen Flur gebracht. Wie im Krankenzimmer auch, waren dort riesige Fenster, aus denen man weit über den Wald sehen konnte. Man konnte sogar weit hinten am Horizont die Berge sehen. Sie mussten gewaltig sein. Aber aus dem Fenster hatten sie ganz klein ausgesehen. Die kleine Waldhexe war noch nie in den Bergen gewesen. Klar, sie war ja auch keine Berghexe! Lange hatten sie die Aussicht aus dem großen Fenster jedoch nicht genießen können, da hatte eine der Wachen sie unsanft mit der Hellebarde angestupst und „Weitergehen!“ befohlen. Sie waren aus dem Flur in ein großes Treppenhaus geführt worden. Eine gewaltige Wendeltreppe, auf der bequem fünf ausgewachsene Männer nebeneinander hätten gehen können, führte inmitten des Baumstamms scheinbar endlos hinab. Immer wieder waren sie an großen, verzierten Türen vorbeigekommen, hinter denen die kleine Waldhexe weitere große Räume und Hallen vermutete. Aber sie waren immer weiter die Treppe hinabgestiegen, an der großen Eingangshalle vorbei, bis sie schließlich an den Wurzeln des Baums angekommen waren.

Hier führte ein Höhlensystem tief unter die Erde. Es waren große Gänge, die mit Fackeln beleuchtet wurden. Die kleine Waldhexe, der Gnom und der Zwerg waren in eine weite, unterirdische Halle gebracht worden. Schmale, verwinkelte Gänge führten zu den Gefängniszellen.

Und in so einer Zelle saßen sie jetzt. Also Gunter saß, Albert lehnte ja an der Wand und Luise stampfte wütend auf und ab. Eine Fackel erhellte den schmuddeligen Raum. Der Boden und die Wände bestanden aus groben Felsblöcken. Oben, knapp unter der Decke, waren Lücken zwischen den Blöcken. Luise merkte, wie hier der Wind frische Luft in die Zelle blies. Auf dem Boden und in den Ecken lag überall Stroh, um sich ein Bett zurechtmachen zu können. In einer Ecke stand ein Eimer, der dem Geruch zufolge die Toilette war.

„Sie hat Rhabarber Kringelfieber!“, sagte Gunter nach einer Weile leise.

Luise blieb abrupt stehen und starrte den Gnom an. Albert fiel erst die Kinnlade hinunter, dann starrte auch er mit großen Augen.

„Das weiß ich von Großmutter Urte.“

„Du hast eine Großmutter?“, fragte Albert verblüfft.

Luise sah Albert verwirrt an, dann fragte sie Gunter: „Du weißt, was die Prinzessin hat?“

„Das ist ja nicht meine richtige Großmutter. Das ist so, als ich noch klein war, damals an der alten Hütte am Berg ...“

„Was hat die Prinzessin für eine Krankheit?“ Luise wurde nun lauter.

Gunter war beleidigt. „Ach, so, Frau Waldhexe interessiert meine Familie nicht.“

„Gunter, bitte.“

„Ja, wenn man eine Prinzessin ist, weiße Kringel um die Augen hat und nach Rhabarberkuchen mit Erdbeeren riecht, dann hat man Rhabarber Kringelfieber. Hat Großmutter Urte gesagt.” Er hob wichtig seinen Finger und betonte: „Was Großmutter Urte gesagt hat, das stimmt immer!“

Albert verschränkte die Arme. „Ich habe nichts gerochen.“

„Du bist ein Zwerg“, erklärte Luise. „Ich habe auch nichts gerochen, aber die Kringel gesehen. Die Nase eines Riesengnoms ist viel feiner als unsere.“

„Sieht aber nicht feiner aus“, maulte Albert.

Luise zwinkerte dem Gnom zu. „So finden sie zum Beispiel Regenwürmer aus dem Sumpf im Sumpfdotter Wald.“

Gunter grinste. „Die Erlesensten!“

Mit einem Mal stürmte Albert zur Gefängnistür und rüttelte wie wild daran.

„Holt Großmutter Urte und lasst uns hier raus!“, brüllte er immer wieder. Er bemerkte nicht, wie der Gnom ihn traurig ansah.

Eine Wache erschien an der Gefängnistür. Sie grinste.

„Netter Versuch, Zwerg! Meinst du nicht, wenn wir Großmutter Urte hätten holen können, dass wir das längst getan hätten?“

„Wie?!“, stotterte Albert.

Die Wache zeigte auf Gunter: „Lass es dir von deinem Freund erklären.“ Dann ging er wieder.

„Großmutter Urte ist über die große Brücke gegangen, die hinter den Bergen“, sagte Gunter traurig.

Albert bestand darauf, Soldaten hinterherzuschicken. Bevor er jedoch wieder an der Tür rütteln konnte, hielt Luise ihn auf.

„Wer über die große Brücke hinter den Bergen geht, kommt nicht wieder.“

„Wie?“

„Nö!“, sagte Gunter. „Hat noch keiner getan.“

Sie setzten sich hin und schwiegen.

Arme Prinzessin, dachte Luise. Es ist doof, wenn man krank ist.

Gunter lächelte gedankenverloren. „Ahab könnte helfen.“

Luise und Albert schauten den Gnom erwartungsvoll an. Schließlich erklärte Gunter, dass Ahab sein Freund sei. Er war der Begleiter von Großmutter Urte, ein alter Rabe mit großem Wissen. Vielleicht kannte er ein Heilmittel gegen Rhabarber Kringelfieber.

Sie diskutierten eine Weile, ob man der Wache erneut Bescheid geben sollte, entschieden sich aber dagegen. Natürlich hätte der König auch an Ahab gedacht. Er war immer auf der Schulter der großen, alten Hexe gewesen. Großmutter Urte war ohne Ahab gar nicht vorstellbar gewesen.

Albert wurde es zu viel.

„Es bringt nichts, sich den Kopf über die Rettung der Prinzessin zu zerbrechen. Das kann man später noch machen. Jetzt ist es wichtig, dass wir aus dem Gefängnis kommen.“

Luise protestierte.

„Die Prinzessin kann nichts dazu, dass wir jetzt hier sind. Wenn wir können, ist es unsere Pflicht zu helfen.“

„Ja, aber wir können halt nicht und hier im Gefängnis schon mal gar nicht.“

„Ich will mal mit der Wache reden. Hast du noch einen Krabbelkäfer, Gunter?“

Der Gnom nickte, griff in seine Jackentasche, holte einen Krabbelkäfer hervor und hielt ihn Luise hin. Die Hexe zupfte dem armen Käfer drei Beinchen aus. Das macht man eigentlich nicht! Nur wenn man unschuldig in einem Gefängnis sitzt und dringend eine Prinzessin retten muss. Dann nahm sie etwas Stroh vom Boden und getrockneten Kreuzkümmel aus ihrer Tasche. Sie zerrieb alles sorgfältig zwischen ihren Handflächen, presste diese ganz fest zusammen und flüsterte einen Zauberspruch. Vorsichtig öffnete sie die Hände und guckte hinein. Sie hatte nun ein feines Pulver. Luise hauchte vorsichtig darüber. Daraufhin begann es, in vielen bunten Farben zu glitzern. Schnell legte sie die Hände wieder zusammen.

Gunter hatte den Krabbelkäfer in den Mund gesteckt und blickte nun mit großen Augen auf das Pulver.

„Wie hübsch!“

„Wenn du das einatmest, wirst du einschlafen und lustige Träume haben“, sie kicherte, „von lauter bunten Krabbelkäfern.“

Albert sah dem Geschehen misstrauisch zu. Zwerge halten nicht viel von dem Zauber der Hexen. „Wie soll uns das helfen, wenn der Gunter süß träumt?“

Luise zwinkerte ihm zu. „Wirst du gleich sehen.“

Sie ging zur Zellentür. „Haaaallo! Herr Wachmann!“

Der Wachmann kam, merklich gereizt, zum Gefängnisgitter. „Was ist nun schon wieder.“

Schnell hob die kleine Waldhexe die geschlossenen Hände in Richtung der großen Nase des Wachmanns, öffnete sie und pustete fest. Ein bunter Glitzer umgab das Gesicht des Wachmanns. Er grinste glücklich.

„Bitte schließt doch die Tür auf, Herr Wachmann. Wir möchten gerne hinaus“, bat Luise höflich.

Der Wachmann grinste weiter abwesend, nahm seinen großen Schlüsselbund, suchte den passenden Schlüssel und schloss schließlich die Gefängnistür auf.

„Aber bitte, Herr Wachmann, tretet doch ein und macht es Euch gemütlich. Ihr arbeitet viel und seht so müde aus.“

Der Wachmann lächelte zufrieden. „Ja, das wird das Beste sein, danke Frau Hexe.“

Dankbar ging er in eine Ecke der Zelle und legte sich auf das Stroh. Dann schlief er selig ein.

Flucht aus dem Kerker

Gunter und Albert blickten verwundert auf den schlafenden Wachmann, während Luise ihn nicht weiter beachtete. Sie lugte vorsichtig aus der offenen Gefängnistür. Der Gang war leer. Luise gab den anderen ein Zeichen, ihr zu folgen. Sie trat aus der Zelle in den Gang. Der Zwerg und der Gnom gingen dicht hinter ihr. Links und rechts des Gangs waren weitere Gefängnistüren, aber Luise traute sich nicht hineinzusehen. Sie war sehr aufgeregt. Einen Gefängnisausbruch machte man ja nicht alle Tage. Nicht auszudenken, wenn in so einer Zelle plötzlich einfach einer losschrie und die Wachen ihn hörten oder wenn hinter der nächsten Ecke eine Wache stünde. Dem Zwerg machte das alles nichts aus. Er trabte, viel zu laut, hinter Luise her und guckte in jede Zelle, an der sie vorbeikamen. Gut, dass er nicht auch noch ein fröhliches Liedlein trällert, dachte Luise. Schließlich kamen sie zu der großen, unterirdischen Halle.

Natürlich wimmelte es hier von Wachen. Luise versteckte sich hinter der Tür, um sich mit den anderen zu beraten. Sie hatte keine Ahnung, wie sie an den vielen Wachen vorbeikommen sollten. Um zu signalisieren, dass sie ganz leise sein mussten, hielt sie sich den Zeigefinger vor den Mund. Gunter nickte stumm.

Aber Albert marschierte einfach drauf los. Er nickte ihnen kurz zu. „Ich mach das schon!” Dann trabte er mitten durch die Tür, geradewegs auf die Wachen zu.

Luise blieb beinahe das Herz stehen.

„Sagt mal!“, rief Albert den Wachen zu, „Wo gehts denn hier zum König? Wir sollen uns da melden und das Zimmer wieder aufräumen.“

Die Wachen sahen den Zwerg überrascht an. Jetzt war es zu spät. Luise und Gunter folgten Albert zaghaft. Das hatten die Wachen auch noch nicht erlebt. Natürlich glaubten sie Albert kein Wort, aber wie hatten die drei einfach so aus ihrer Zelle marschieren können?

Albert erklärte, dass es der Wachmann so gesagt hätte, sich nun aber schlafen gelegt habe. Aber bitte, sie hätten es nun eilig. Den König sollte man nicht warten lassen.

Der Hauptwachmann hörte Albert entgeistert zu, dann befahl er einer Wache: „Sieh nach Egbert!“

Er wandte sich zwei weiteren Männern zu: „Und ihr passt auf die drei da auf!“

Die beiden Wachen nahmen ihre Hellebarden und bauten sich vor der kleinen Waldhexe, dem Zwerg und dem Riesengnom auf.

Oh Mann, dachte Luise, hoffentlich geht das gut.

Auch Gunter machte große Augen. Er holte geistesabwesend einen Regenwurm aus seiner Tasche, steckte ihn in den Mund und kaute langsam darauf herum.

Lediglich Albert grinste die Wachen selbstbewusst an, während er kurz nickte.

Die Wache, die zu dem schlafenden Wächter gehen sollte, kam zurück.

„Es stimmt! Egbert schläft! Alles ist in Ordnung!“

Der Hauptmann sah ihn verblüfft an. „Wie? Alles in Ordnung!? Hast du ihn nicht geweckt?“

„Doch, aber er hat gesagt, dass er weiterschlafen wolle, er hätte viel gearbeitet.“

Die Wache hob ratlos die Hände und fuhr dann fort:

„Ich arbeite auch viel, bin auch etwas müde. Könnte ich vielleicht auch ...?“

Er stoppte, als der Hauptmann ihn bitterböse ansah. Hätte der Hauptmann Funken aus seinen Augen sprühen können, hätte die Wache nun in Flammen gestanden. Gut, dass er es nicht konnte.

Albert grinste noch breiter und sagte mit gespielter Unschuldsmiene: „Wenn man uns nun bitte aus dem Weg gehen möchte? Wir werden schon selbst zum König finden. Bitte, wir haben es eilig.“

Der Hauptmann polterte wütend los: „Niemand schläft hier, solange ich der diensthabende Offizier bin! Um Egbert werde ich mich persönlich kümmern. Die drei Gefangenen sind augenblicklich zum König zu geleiten. Da wird ihnen das freche Grinsen schon vergehen!“

Luise schaute zu Albert. Nun zog der die Schultern hoch.

Gunter schüttelte den Kopf. „Zwerge sind so doof!”

„Was?!“, erwiderte Albert trotzig, aber bevor Gunter antworten konnte, führten die Wachen die drei aus der großen Halle. Es ging wieder an den Wurzeln des Baums vorbei, zur großen Eingangshalle hoch und schließlich zur scheinbar endlos langen Wendeltreppe.

Luise dachte an die Worte aus dem großen Zauberbuch.

„Ein Zauber verändert niemals den Ablauf der Dinge. Sie werden immer geschehen, wie sie geschehen sollen.“

Luise hatte das damals nicht verstanden. Jetzt aber war so eine Situation. Sie wären auch ohne den Glitzerpulver-Schlafzauber zum König geführt worden.

Der Thronsaal

Dieses Mal ging es die Wendeltreppe nicht so weit hinauf. Etwa auf halber Höhe waren zwei große Türen, dahinter war ein gewaltiger Saal. Die Türen wurden von der königlichen Garde in leichten, aber edlen Ritterrüstungen bewacht.

Es war der Thronsaal! Hier regierte der König über das Reich. Große Pfeiler ragten weit hoch bis zur gewölbten Decke. Überall funkelte es. Riesige Fenster mit feinen Vorhängen, die an zarte Spinnweben erinnerten, ließen gleißendes Sonnenlicht hinein, das den Saal durchflutete. An den Wänden standen, aus dunklem Holz geschnitzt, die Statuen mächtiger Könige. Die Vorfahren des Königs zurück bis zu Roderich dem Ersten.

Die Wache sprach leise mit einem der Garde-Ritter. Luise konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber der Ritter eilte daraufhin zum König, kniete vor dem Thron nieder und wartete mit gesenktem Kopf auf eine Reaktion seines Gebieters. Es dauerte etwas, bis der König ihm das Zeichen gab, näher treten zu dürfen. Der Ritter sprach nun leise in sein Ohr. Der König nickte kurz. Daraufhin ging der Ritter mit schnellem, festem Schritt zurück zu der wartenden Gruppe an der Eingangstür.

Er baute sich vor Luise auf und erklärte in strengem Ton:

„Euch wird nun die große Ehre zuteil, vor seiner königlichen Majestät sprechen zu dürfen. Und doch redet Ihr nur, wenn Ihr dazu aufgefordert werdet. Ihr habt vor dem König zu knien. Und Ihr blickt dem König nicht in die Augen!“ Er machte eine Pause. „Habt Ihr das verstanden?“

Gunter und Luise nickten.

„Herr Zwerg, habt auch Ihr das verstanden?“

Albert beschwerte sich. „Was soll das denn jetzt!? Ich bin doch nicht taub!“

„In die Zelle mit ihm!“, befahl der Ritter streng.

Albert war gereizt. „Ja, doch! Ich hab‘s verstanden. Nicht quatschen, hinknien und nicht angucken.“

Ein Wächter packte ihn an der Schulter und wollte ihn aus dem Thronsaal führen.

Der Ritter hob die Hand. Er sah Albert prüfend an. Dann blickte er zum Wächter und nickte.

Endlich ließ der ihn los.

„Folgt mir!“ Der Ritter ging erneut zum Thron des Königs. Die Wachen blieben an der Eingangstür.

Luise schlotterten die Knie, aber Albert verdrehte die Augen und blickte genervt zur reich verzierten Decke hoch. Am Thron angekommen, drückte der Ritter den Zwerg auf die Knie. Gunter und Luise folgten.

„Eure Majestät, wie geheißen. Hier sind die drei, die das Krankenzimmer Eurer Tochter verwüstet haben.“

Der Offizier stellte sich neben Albert und blickte ihn böse an.

Der König reagierte lange nicht. Ob der wohl eingeschlafen war? Aber Luise durfte ja nicht aufsehen, um das zu prüfen.

Nach einer Ewigkeit sagte der König: „Man berichtete mir, dass ich Euch rufen ließ?!“

Während Luise noch überlegte, ob das nun eine Aufforderung zum Reden war, plapperte Albert einfach drauf los.

„Ist das jetzt eine Frage? Dürfen wir jetzt reden oder müssen wir es sogar? Was soll man denn dazu sagen?“

Gunter konnte das Lachen nicht unterdrücken und prustete laut. Luise blickte unwillkürlich auf und sah, wie Albert den König unverfroren anstarrte.

Als der Ritter reagieren wollte, winkte der König ab.

„Es ist gut!“

Albert stand redend auf; ob man noch mal über die Knie-Regel sprechen könnte, er sei ja nun auch nicht mehr der Jüngste, da machten die Knie schon mal Probleme.

Der Gnom setzte sich auf seinen Hosenboden. Er kramte wieder in seiner Tasche herum.

Kopfschüttelnd und sichtlich verzweifelt schaute der Ritter zum König.

Luise fasste sich ratlos an die Stirn, blickte dann zum König auf und sprach ihn, entgegen der Regel an.

„Wir wollen zum Raben Ahab.“ Sie stand nun auch einfach auf. „Er könnte ein Mittel gegen die Krankheit Eurer Tochter wissen.” Luise machte eine Pause. Als der König nicht reagierte, fügte sie leise hinzu: „Eure Majestät, wir wollen helfen.“

Dann endlich weiteten sich die Augen des Königs.

„Ihr kennt die Krankheit meiner Tochter?“

„Jap! Rhabarber Kringelfieber!“, triumphierte Albert.

Luise und Albert erzählten dem König, was sie zuvor in der Zelle besprochen hatten. Gunter sagte nicht viel. Er kaute wieder auf etwas Ekligem herum und nickte nur ab und an zustimmend.

Luise bemerkte, wie Leben in das Gesicht des Königs zurückkehrte.

Er sah zu dem Ritter und befahl, den Raben zu holen. Mürrisch fragte er, warum das nicht schon längst geschehen sei.

„Aber Eure Majestät“, stammelte der Ritter, „Der Rabe ist ein dunkles, unwirsches Geschöpf. Dunkler noch als diese hier“, dabei zeigte er auf Luise, Albert und Gunter. „Wir haben es versucht. Wir waren da! Doch das Vogelvieh verspottete uns dreist.“

„Ihr seid die Garde des Königs und lasst Euch von einem Raben verspotten!?“

„Er ist durchtrieben und listig! Der dunklen Magie mächtig. Ein Vogel, er fliegt einfach davon!“

Albert kicherte: „Ja, die machen das so!”

Dem Gnom wurde es jetzt zu viel.

„Ahab ist nicht durchtrieben! Er ist in Ordnung! Du weißt halt nur nicht, wie man mit einem Raben spricht.“

Der Ritter wurde ärgerlich. „Du weißt nicht, wie man am Hofe spricht! Was habe ich euch gesagt?“

„Aber der Gunter fliegt Euch nicht davon!“, antwortete der Zwerg für den Gnom. „Vielleicht platzt er, weil er ständig isst, aber fliegen tut er sicher nicht.”

Gunter grinste. „Nö! Mach’ ich nicht! Ab und an verhau’ ich einen doofen Zwerg, aber fliegen tu’ ich nicht.”

Albert hob die Fäuste. „Komm doch!“

„Ihr nichtsnutzigen, unwürdigen, großmäuligen Tunichtgute“, drohte der Ritter wütend.

Der König ging dazwischen.

„Es reicht! Ihr drei geht und bringt mir den Raben!“

„Nein!“, sagte Gunter entschieden und stand auf.

Augenblicklich zog der Ritter sein Schwert und hielt es dem Gnom vor die Brust.

„Du widersetzt dich meinem Wunsch!?“, fragte der König verdutzt.

„Ich werde mit Ahab reden und ich werde ihn bitten, zu helfen. Aber ich werde ihn nicht gegen seinen Willen zu dir bringen. Das könnte ich genauso wenig wie dein schmucker Gardeoffizier hier.“

Gunter blickte auffordernd zu dem Ritter. Dann sprach er ihn direkt an.

„Nur zu! Stich doch! Dann geh und lass dich erneut von dem Raben demütigen! Wenn hier jetzt aber niemandem plötzlich ein Mittel gegen die Krankheit der Prinzessin einfällt, solltest du das Schwert wieder wegstecken und mich helfen lassen!“

Die kleine Waldhexe sah den Gnom bewundernd an. Er war richtig groß geworden und so ganz anders.

„Und ich komme mit!“, sagte sie, ohne nachzudenken. „Raben und Hexen verbindet von alters her viel. Ich werde mit ihm reden können.“

Gunter blickte dankbar zu Luise.

„Ja! Meine Freundin die Waldhexe kommt mit!“ Daraufhin wandte er sich Albert zu. „Und mein Freund Albert der doofe Zwerg auch!“

„Iiiiich!!? Du hast nicht viele Freunde, was?!“

Der König sah zu dem Gardeoffizier. „Nun, auch gut! Werft den Zwerg wieder in das Verlies! Die anderen beiden aber lasst gehen.“

„Klar komme ich mit“, stammelte Albert kleinlaut.

Der König nickte. „Gut. Ihr brecht heute noch auf!“

DER ZAUBERER

Pfannkuchen

Sie waren nun schon drei Tage durch die Wälder gewandert, um zu Großmutter Urtes Hütte zu gelangen. Aber es lag immer noch ein Tagesmarsch vor ihnen. Luise hatte sich ihre krausen Haare zu einem Zopf gebunden, damit sie ihr nicht immer ins Gesicht fielen. Albert sah sie daraufhin lange an und grinste. Luise war das unangenehm und sie schaute verlegen weg. Doch Albert starrte sie weiter an und grinste blöd. Schließlich wurde es ihr zu viel.

„Warum guckst du so?“

„Man kann nun dein Gesicht genau sehen. Du hast ein lustiges, rundes Pfannkuchengesicht mit Sommersprossen.“

Gunter wurde sofort böse. „Was sagst du da, Zwerg?! Luise ist wunderhübsch!“

Albert lachte. „Klar! Wenn man so aussieht wie du und Regenwürmer mag, ist jedes Gesicht hübsch!“

„Sag das noch mal!“ Gunter ging auf Albert los.

Doch Luise stemmte sich fest mit beiden Händen gegen den großen Gnom.

„Tu ihm nichts“, bat sie, dann giftete sie Albert an. „Du bist so gemein!“

„Nein, ich bin ehrlich.“

Ja, Albert war gemein gewesen, aber Albert war gereizt. Drei Tage durch den Wald zu laufen, war nichts für einen Zwerg. Zwerge lebten in Höhlen in den Bergen. Da gab es keine Mücken! Die aber gab es im Sumpfdotter Wald zur Genüge. Und es schien, als hätten sie nur darauf gewartet, Albert alles Blut auszusaugen. Der kleinen Waldhexe taten sie nichts, was Alberts Laune mächtig verschlechterte. Luise hatte schon am ersten Tag ein Balsam gegen Mücken gemixt und sich damit eingeschmiert. Gunter taten die Mücken ebenfalls nichts. Vielleicht war seine Haut zu dick. Aber Albert hatte sich geweigert, Luises Balsam zu versuchen. Er mochte den Geruch nach Kräutern nicht, außerdem traute er Hexengebräu, wie er es nannte, per se nicht. Also stachen ihn nun die Mücken und er suchte die Schuld bei Luise.

Natürlich hatte Luise kein Pfannkuchengesicht! Sie hatte schwarze, krause Haare, die ihr bis zu den Schultern reichten, eine lustige Stupsnase, Sommersprossen und eine hellbraune Hautfarbe. Ihre dunkelbraunen, fast schwarzen Augen funkelten meistens fröhlich. Sie konnten aber auch, so wie jetzt gerade, finster und bedrohlich wirken. Nämlich dann, wenn sie sauer war. Doch das war sie nur selten. Sogar für eine Waldhexe war sie sehr klein, aber auch sehr kräftig. Schließlich musste sie oft große, schwere Kessel schleppen, in denen sie geheimnisvolle Tränke zubereitete. Sie trug Wasser in Eimern vom Fluss zu ihrer Hütte, im Winter hackte sie Holz, um es warm zu haben, und verrichtete noch so manch andere schwere Arbeit. Für zarte Prinzessinnen war das Leben im Wald nichts. Manchmal musste sie sogar, nur mit einem Stock bewaffnet, die Wölfe vertreiben, wenn sie ihr oder einem ihrer Freunde, wie dem Biber, zu nahekamen. Im Frühjahr kletterte sie hoch auf Bäume und schnitt Misteln und andere Gewächse, die nur dort oben zu finden waren. Sie machte daraus Heiltränke für die Tiere im Wald. Ja! Auch für die Wölfe, wenn sie krank oder verletzt waren.

Dennoch sah es schon lustig aus, wie sie sich gegen den kräftigen Gnom stemmte.

Gunter war viel größer als Luise. Er hatte ein breites freundliches Gesicht, einen dicken Bauch und, wie alle Riesengnome, braune Haut. Ihm wuchsen überall Haare, nur nicht auf dem Kopf, wo andere sie gewöhnlich haben. Gunter hatte dunkle, freundliche Augen, die meistens gutmütig und zufrieden ihre Umgebung beobachteten. Reizen sollte man ihn allerdings nicht, denn er war sehr stark!

Die Stärke des Gnoms beeindruckte Albert den Zwerg weniger. Der war größer und auch kräftiger als Luise, aber bei Weitem nicht so groß und stark wie Gunter. Dennoch sollte man einem streitsüchtigen Zwerg besser aus dem Weg gehen, auch wenn man so stark wie Gunter war. Zwerge waren unheimlich zäh, frech und nicht klein zu bekommen. Dazu waren sie sehr launisch. Ein Zwerg war kein angenehmer Reisebegleiter. Doch Albert war schon in Ordnung. Man musste nur lernen, mit ihm zurechtzukommen. Leider war gerade das in den letzten drei Tagen oft nicht einfach gewesen, dennoch hatte Luise in ihm immer den guten Kern gesehen. Sogar jetzt, wo er ihr vorwarf, ein Pfannkuchengesicht zu haben.

Viele verurteilten Zwerge zu Unrecht, wenn sie sie als jähzornig und garstig abtaten. Aber das waren auch die, die Luise und Gunter für dunkle Wesen hielten, so wie der Garde-Ritter des Königs es getan hatte.

Ja, wenn man in silberner, strahlender Rüstung, mit stahlblauen Augen und vornehmer Blässe von einem weißen Schimmel auf eine Waldhexe oder einen Gnom hinabsah, konnte man sie für dunkle Wesen halten. Denn man würde von ihnen nicht mit lustig funkelnden oder gutmütigen Augen herzlich empfangen werden. Schon lange nicht mehr! Das war, bevor die Menschen vom Schloss die Tiere im Wald jagten und Hexen und Gnome zum Spaß piesackten, nur weil sie nicht so „schön“ wie sie selbst waren. Viel zu oft musste Luise schon Tiere heilen, die die Jäger vom Schloss mit ihren Pfeilen angeschossen hatten. Viel zu oft musste sich Gunter vor den Soldaten des Königs verstecken, weil sie nur zum Spaß ihre neuen Kampftechniken an ihm erproben wollten.

Die Prinzessin aber war anders. Sie hatte sich immer engagiert für alle Waldbewohner eingesetzt. Sie machte keinen Unterschied zwischen silberner Rüstung, stahlblauen Augen und schwarzer Kleidung und dunklen Augen. Sie blickte, wie Luise auch, in die Herzen aller Waldbewohner.

Und deswegen mussten sie der Prinzessin helfen, gesund zu werden. Deswegen stapften sie durch den Sumpfdotter Wald zur Hütte von Großmutter Urte.

Sie liefen schon wieder eine Weile. Keiner sagte etwas. Nur Albert schimpfte ab und an, wenn er wieder eine Mücke erschlug.

Das Tageslicht nahm ab. Es wurde dunkel. Sie richteten sich, wie auch an den Abenden zuvor, ein Nachtlager ein. Luise hatte schon den ganzen Tag Pilze, Knollen, Nüsse und andere Waldfrüchte gesammelt. Albert suchte Holz. So konnten sie ein Feuer machen. Luise hatte einen kleinen Kessel dabei, in dem sie die gesammelten Zutaten nun in ein leckeres Abendessen verwandelte. Wieder versuchte Gunter Würmer und Käfer unterzumischen, aber Luise und Albert protestierten energisch. Nach dem Essen legten sie sich zufrieden nahe ans Feuer und wickelten sich in ihre Decken. Gemeinsam schauten die drei noch lange in den klaren Sternenhimmel und erzählten sich Gute-Nacht-Geschichten. Die letzte Geschichte am Abend erzählte Gunter. Es ging um Ahab den Raben. Wie sie früher zusammen nahe der Berge gespielt hatten. Früher, als Gunter noch ganz jung gewesen war. Sie hatten vor einem Bären weglaufen müssen, der in einer Höhle seinen Winterschlaf halten wollte. Gunter hatte ihn aus Versehen geweckt, aber Ahab war solange um den Kopf des Bären geflogen, bis dem ganz schwindelig geworden war.

Gunter lächelte noch eine Weile. Es wurde ruhig. Ein Waldkauz rief gelegentlich.

Luise dachte, dass alle schon schlafen würden.

„Luise?“, fragte Albert leise. In seinen Augen spiegelte sich der Schein des Feuers.

„Ja?“

„Gunter hat recht.“

„Womit?“

„Du bist wunderschön“, sagte er verlegen.

Luise strahlte. „Danke.“

„Und ich mag Pfannkuchen“, hänselte Albert.

„Du bist so garstig!“ Sie tat, als sei sie beleidigt. Dann lachte sie.

Die Hütte

Am nächsten Tag brachen sie früh auf. Ein langer Weg lag vor ihnen, und sie wollten noch vor Anbruch der Dunkelheit bei Großmutter Urtes Hütte sein. Mittags, als die Sonne am höchsten stand, wurde es sehr heiß. Die Mücken plagten Albert ohne Unterlass und die Laune des Zwergs verschlechterte sich fortwährend. Luise bot ihm ein letztes Mal den Kräuterbalsam an.

„Nein!“, lehnte er entschieden ab. „Ein Zwerg schmiert sich kein klebriges Kräuterzeugs ins Gesicht.“

„Aber das hilft dir.“

„Nein! Basta!“

Luise gab es auf.

Nachmittags wurde der Wald etwas lichter. Die Laubbäume wichen Nadelbäumen. Sie waren nun nahe der Berge. Jetzt war es nicht mehr weit. Großmutter Urtes Hütte lag etwas versteckt in der Nähe eines kleinen Baches, umgeben von großen Tannen, erinnerte sich Gunter. Er ging immer schneller, je näher sie der Hütte waren, so sehr freute er sich, seinen alten Freund Ahab wiederzusehen. Was würde er wohl jetzt ohne Großmutter Urte machen? Ob er eine neue Großmutter gefunden hatte? Man hat ja oft nicht nur eine Großmutter. Eigentlich war Großmutter Urte auch nicht Gunters richtige Großmutter gewesen. Oma Gundis war schon fort, als er noch ganz jung war. Er erinnerte sich kaum an sie. Sie hatte wunderbare Hirschkäferplätzchen gebacken. Das wusste er noch. Das erste, was er gedacht hatte, als sein Vater damals traurig zu ihm kam, war, dass er nun nie wieder die leckeren Plätzchen von Oma Gundis essen konnte. Dafür hatte er sich geschämt. Später hatte er gehört, wie sein Vater zu seiner Mutter gesagt hatte, dass das auch sein erster Gedanke gewesen war. Da hatte er gewusst, dass es in Ordnung ist, an Plätzchen zu denken. Würde er einmal heiraten, müsste seine Frau Hirschkäferplätzchen backen können.

„Kannst du eigentlich Plätzchen backen, Luise?“, fragte er.

Luise stotterte: „Äh, ja ... aber nicht jetzt. Das geht mit dem Kessel nicht. Warum fragst du?“

„Auch Hirschkäferplätzchen?“

„Nein, tut mir leid.“

„Schade“, brummelte Gunter etwas traurig. Dann rannte er plötzlich los.

„Boah, Gunter!“, schimpfte Albert hinter ihm, „du hast eh schon so’n Tempo, dass wir kaum mithalten können, aber jetzt übertreibst du wirklich.“ Zu Luise gewandt sagte er: „Der wird immer komischer. Muss die Luft hier sein.“

„Wir sind da!“, hörten sie seine Stimme aus der Ferne rufen. „Hier ist es! Ahab!? Aaaahaab!“

Nun rannten auch Luise und Albert. Nach kurzer Zeit fanden sie Gunter, der wie angewurzelt vor einer zerfallenen Hütte stand. Die Tür hing lose in den Angeln, alle Fenster waren zersplittert und im Dach war ein großes Loch.

Sie standen eine Zeit lang ratlos vor der Hütte, dann beschlossen sie, hineinzugehen. Auch drinnen sah es schlimm aus. Es musste ein heftiger Kampf stattgefunden haben. Alles war zerstört! Schlimmer noch als im Krankenzimmer der Prinzessin, nachdem Albert und Gunter sich gerauft hatten.

In der Hütte gab es nur zwei Zimmer. Eins war unten, wenn man reinkam und ein Dachzimmer darüber. Oben hatte Gunter früher geschlafen, wenn er die Großmutter besuchte. Jetzt aber konnte man von dem unteren Raum durch das Loch im Dach den Himmel sehen.

Gunter war schockiert. Er rief noch einige Male nach seinem Freund, der aber antwortete nicht. Luise begann etwas aufzuräumen. Sie stellte den Tisch wieder auf und die Stühle daran. Dann schob sie Großmutter Urtes Bett zurück an die Wand gegenüber dem Kamin.

„Das Bett stand weiter links“, sagte Gunter, immer noch regungslos. Luise schob es etwas nach links. Auch Albert machte sich an die Arbeit. Er stellte die Regale und den schweren, alten Schrank wieder auf. Gunter fand einen Besen und fegte die Scherben und Tannennadeln, die durch das Loch im Dach gefallen waren, zusammen.

„Wenn wir etwas Werkzeug hätten, könnten wir auch die Tür reparieren und das Dach. Das sieht alles schlimmer aus, als es ist.“ Albert sah sich um.

„Im Keller unter der Falltür.“ Gunter zeigte auf eine Klappe im Boden. „Da ist das Werkzeug. Aber warum willst du die Hütte wiederaufbauen? Es wohnt doch keiner mehr hier?“

„Hat irgendjemand von euch eine Idee, was wir sonst machen könnten? Wäre ja auch schön, nachts ein Dach über dem Kopf zu haben.“

Albert zeigte erstaunliches Geschick beim Reparieren des Dachs. Er hatte den Dachstuhl schnell zusammengezimmert. Gunter und Luise sammelten die losen Dachziegel, die überall um das Haus herum verstreut waren und gaben sie Albert. Der befestigte sie am Dach. Sie schafften es sogar noch vor Sonnenuntergang, die Scharniere zu richten und die Tür einzuhängen. Abends zogen sie die Fensterläden zu und machten im Kamin ein Feuer an. Luise stellte ihren Kessel darüber und kochte eine Pilzsuppe. Es war richtig gemütlich.

Sie aßen gemeinsam, dann legten sie ihre Decken auf den Boden und bereiteten das Nachtlager vor. Luise sollte in dem Bett schlafen, Albert daneben. Gunter lag etwas entfernt, nahe der Haustür. Vorher gingen sie noch runter zum Bach und wuschen sich. Zurück in der warmen Hütte legten sie sich hin. Albert schaute zufrieden zum Dach. „Morgen reparieren wir das Loch in der Decke und die Treppe nach oben. Dann ist alles wieder in Ordnung.“

Doch Gunter hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und sah traurig zur Decke.

Albert missdeutete Gunters Blick. „Was ist? Das Dach ist dicht, da kommt kein Regen durch.“

„Hast du gut gemacht, Albert.“ Gunter seufzte. „Wo Ahab wohl ist? Ob es ihm gut geht? Meint ihr, die Soldaten des Königs haben hier alles zerstört? Haben sie Ahab wohl etwas angetan?“

Luise schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Dann hätten sie uns nicht hierhergeschickt.“

„Nee, das glaube ich auch nicht“, gab Albert Luise recht. „So’n Loch bekommt man nicht mit Pfeil und Bogen oder einem Schwert in das Dach. Das war etwas anderes. Vielleicht ist Großmutter Urte ihr Zauberkessel explodiert? Was meinst Du Luise?“

„Nein, das sieht dann anders aus. Glaubt mir, das weiß ich.“

Gunter grinste. „Erzähl doch mal.“

„Nein!“

Luise lag noch eine Weile wach im Bett, bevor sie in einen unruhigen Schlaf fiel und träumte. Aus Versehen hatte sie einen Kessel verhext, der war nun hinter ihr her. Dabei schlug er alles kurz und klein. Ein großer, schwarzer Vogel flog darüber und wollte ihn aufhalten, aber der Kessel explodierte und der Zaubertrank flog hoch in die Luft. Er fiel wie kalter Regen auf Luise herab. Der schwarze Vogel kreiste nun in einer Regenwolke und stieß einen entsetzlichen Schrei aus. Luise wachte davon auf. Noch immer hallte der Schrei in ihren Ohren. Außerdem fiel tatsächlich kalter Regen auf sie herab. Sie blickte nach oben. Eine große Hand riss die Ziegel vom Dach und warf sie weit fort. Luise rieb sich die Augen. Sie musste noch träumen! Der Regen wurde stärker. Luise war schon klatschnass. Dann fing es auch noch an zu blitzen und zu donnern. Ein Donnerschlag folgte auf den nächsten. Albert neben ihr schreckte auf. Er wollte etwas zu Luise sagen, aber in dem Moment schien jemand von innen gegen die Haustür zu treten. Die flog aus den gerade reparierten Angeln weit in den Wald hinein, gefolgt von etwas Großem. Luise konnte im Dunkeln nicht erkennen, was es war. Die Fensterläden klapperten und drohten abzureißen. Es donnerte und donnerte, unaufhörlich und unerträglich laut. Luise suchte Gunter, sah ihn aber nicht. Dann merkte sie, wie Albert sie am Arm fasste. Das Wasser lief an ihm hinunter.

Er schrie sie an, doch Luise konnte ihn wegen des Donners nicht verstehen.

„Raus! Wir müssen hier raus!“

Die Möbel flogen durch den Raum. Albert rannte mit Luise an der Hand zur Tür und dann ins Freie. Als Luise durch den Türrahmen ohne Tür stürzte, zog sie instinktiv den Kopf ein. Im selben Moment schoss ihr Reisekessel über sie hinweg.

Draußen trafen sie auf Gunter, der die Hände schützend vor den Kopf hielt und zusammengekauert das Geschehen am Haus beobachtete. Eine große Gewitterwolke schwebte über dem Dach. Aus ihr schüttete es wie aus Eimern. Vereinzelt flogen immer noch Ziegel vom Dach. Splitter und Möbel schossen aus den Fenstern und dem Türrahmen.

Dann, ganz langsam, wurde es weniger. Auch die Wolke löste sich auf. Schließlich hörte der Spuk ganz auf. Das Haus sah nun so aus, wie sie es vorgefunden hatten, nur das jetzt alles nass war.

Albert rannte auf Gunter zu. „Na, du bist ja ein toller Held! Hättest du uns nicht wecken und warnen können?!“