Die Nemesis Verschwörung - Andreas Grenacher - E-Book

Die Nemesis Verschwörung E-Book

Andreas Grenacher

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Beschreibung

Chris war schon immer abenteuerlustig und sein Job als Projektingenieur führt ihn regelmäßig in die entlegensten Regionen der Erde. Als seine Ex-Freundin Lara ihn überraschend bittet, sie auf eine archäologische Expedition nach Ostafrika zu begleiten, ist er daher ohne lange zu zögern dabei. Ein rasanter Wettlauf gegen die Zeit beginnt und führt die beiden von Hamburg über Sylt bis nach Kenia und Äthiopien. Doch schon bald bemerken sie, dass sie gefährliche Gegner haben und weit mehr auf dem Spiel steht, als ein verschollener Schatz. Und nichts ist so, wie es scheint...

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Über den Autor:

Andreas Grenacher wurde 1974 in Karlsruhe geboren und wuchs im nordhessischen Baunatal auf. Nach einem Betriebswirtschaftsstudium in Münster war er zunächst in der Finanzbranche tätig und arbeitete in München, Frankfurt, London und Zürich. Im Jahr 2013 ging er als Entwicklungshelfer nach Ostafrika und lebte für viele Jahre in Nairobi. Neben seiner Tätigkeit als Schriftsteller unterstützt er seitdem Projekte in Kenia und reist regelmäßig in die Region.

Es fiel mir auf, als ich versuchte, eure Spezies zu klassifizieren. Ihr seid im eigentlichen Sinne keine richtigen Säugetiere. Jedwede Art von Säugern auf diesem Planeten entwickelt instinktiv ein natürliches Gleichgewicht mit ihrer Umgebung. Ihr Menschen aber tut dies nicht. Ihr zieht in ein bestimmtes Gebiet und vermehrt euch, bis alle natürlichen Ressourcen erschöpft sind. Und der einzige Weg zu überleben, ist die Ausbreitung auf ein anderes Gebiet. Es gibt noch einen Organismus auf diesem Planeten, der genauso verfährt. Wissen sie welcher? Das Virus.

AGENT SMITH, DIE MATRIX

NEMESIS. In der griechischen Mythologie die Göttin des gerechten Zorns und der ausgleichenden Gerechtigkeit, weshalb sie auch als Rachegöttin gilt.

WIKIPEDIA

FÜR CLAUDIA

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

KAPITEL 43

KAPITEL 44

KAPITEL 45

KAPITEL 46

KAPITEL 47

KAPITEL 48

KAPITEL 49

KAPITEL 50

KAPITEL 51

KAPITEL 52

KAPITEL 53

KAPITEL 54

KAPITEL 55

KAPITEL 56

KAPITEL 57

KAPITEL 58

KAPITEL 59

KAPITEL 60

KAPITEL 61

KAPITEL 62

EPILOG

PROLOG

Das alte Fabrikgelände in dem abgelegenen Außenbezirk war schon seit vielen Jahren unbenutzt und entsprechend verirrte sich normalerweise niemand hierher. Der perfekte Ort für ein Treffen, das unter dem Ausschluss fremder Augen und Ohren stattfinden sollte.

Es war noch früh am Morgen und ein frischer Wind blies ihm scharf ins Gesicht. Er ging schneller und überquerte den verlassenen Parkplatz, bis er endlich die heruntergekommene Fabrikhalle erreicht hatte, in der er sich mit seinem Geschäftspartner schon einige Male zuvor getroffen hatte.

Solche Versteckspiele hatten ihm noch nie viel Freude bereitet. Allerdings ließ es sich in seiner Branche leider nicht ganz vermeiden, wenn man keine neugierigen Blicke auf sich ziehen wollte. Vorsichtig öffnete er die mit bunten Graffitis besprühte rostige Tür, die in das Innere des verlassenen Gebäudes führte und die in diesem Moment ein hässlich quietschendes Geräusch von sich gab, als er sie fest aufdrückte.

Erschrocken schaute er sich um und horchte. Niemand zu sehen. Er öffnete die Tür noch einen Spalt weiter, trat ein und schloss sie schnell wieder hinter sich. Dann zog er seine Wollmütze ab und steckte sie tief in die Manteltasche. Dorthin, wo sich auch der Revolver befand, den er zur Sicherheit mit sich führte.

„Sie sind spät“, rief ihm die vertraute, tiefe Stimme entgegen, als er einige Schritte in den staubigen Eingangsbereich gemacht hatte. Seine Augen mussten sich erst an das Halbdunkel gewöhnen. Das wenige Tageslicht, das durch die verdreckten Scheiben fiel, ließ ihn seinen Gegenüber nur schemenhaft erkennen.

„Das Warten hat sich gelohnt“, entgegnete er schnell und bewegte sich langsam auf seinen Geschäftspartner zu.

Er hatte in seinem Leben schon mit vielen zwielichtigen Gestalten zu tun gehabt. Aber dieser Kerl hatte ihm vom ersten Tag an ein ungutes Gefühl in der Magengegend bereitet. Allerdings war er zweifellos der Beste, wenn es darum ging, ihre spezielle Ware schnell zu Geld zu machen.

„Hm, ist das so?“, antwortete die große Gestalt mit dem glattrasierten Schädel und dem dichten schwarzen Vollbart skeptisch.

„Ja. Wir sind diese Woche endlich weitergekommen. Ich bin zuversichtlich, dass wir bald am Ziel sein werden.“

Er ging zu dem Tisch in der Ecke des Raumes, der offenbar auch hin und wieder von Obdachlosen und Junkies als Zufluchtsort genutzt wurde, und nahm auf einem der herumstehenden, abgenutzten Hocker Platz. Er hatte intensive Vorarbeit geleistet und hohe Auslagen gehabt. Heute wurde es Zeit, sich mit seinem Partner über die Verteilung des Profits ihrer Transaktion zu einigen.

„Wir haben übrigens noch immer nicht über die exakte Aufteilung des Gewinns geredet“, begann er zögernd. Im Laufe der Jahre hatte er gelernt, unangenehme Themen bei bestimmten Klienten oder Partnern nur äußerst vorsichtig anzusprechen.

„Fünfzig Prozent“, unterbrach ihn sein Gegenüber knapp. „Ich habe drei potenzielle Käufer identifiziert und schätze, dass es auf über 200 Millionen rauslaufen wird.“

Er überlegte kurz. Das bedeutete 100 Millionen Dollar pro Nase. Mehr, als er erwartet hatte. Aber der Kerl war nunmal einer der besten Dealer im Markt und in den einschlägigen Kreisen dafür bekannt, weder zu bluffen noch ein Freund von langwierigen Preisverhandlungen zu sein. Und auch nicht sonderlich zimperlich mit unliebsamen Kunden oder Mitwissern umzugehen.

„Einverstanden.“

„Gut.“ Die stahlgrauen Augen des Mannes durchbohrten ihn.

„Sind Sie sicher, dass Sie Ihre Leute unter Kontrolle haben? Niemand von denen darf wissen, worum es hier wirklich geht.“

„Keine Sorge. Ich habe alles im Griff.“

„Das hoffe ich für Sie“, antwortete die hünenhafte Gestalt emotionslos. „Machen Sie keine Fehler. Mein Team steht auf Abruf bereit, falls Sie Hilfe brauchen.“

Ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken. Schon einmal hatte er mit dem Mann zusammengearbeitet und wusste, wie brutal dessen Leute vorgehen konnten, wenn sich ihnen jemand in den Weg stellte. Bei ihrem letzten Deal in Brasilien hatten sie anschließend zwei Leichensäcke entsorgen müssen. Immerhin war das Geschäft damals äußerst profitabel gewesen. Er lächelte. So, wie hoffentlich auch dieses Mal wieder.

„Danke. Aber das sollte vorerst nicht nötig sein. Ich melde mich, sobald es Neuigkeiten gibt.“

Mit diesen Worten stand er auf und die beiden Männer gaben sich zum Abschied schweigend die Hände. Dann verließ er das Fabrikgebäude auf demselben Weg, den er wenige Minuten zuvor hergekommen war.

Mit schnellen Schritten lief er über den verlassenen Parkplatz zu seinem Wagen. Der Wind war noch stärker geworden und er spürte, wie er trotz seines langen Mantels eine leichte Gänsehaut hatte. Er war sich nicht sicher, ob es am scheußlichen Wetter oder an seinem unheimlichen Geschäftspartner lag.

KAPITEL 1

Drei Wochen später.

Inzwischen war es dunkel und leichter Nieselregen prasselte gegen die beiden Fenster in der Dachschrägen. Für August war das Wetter ziemlich mies und die dichte Wolkendecke verfinsterte den Nachthimmel noch zusätzlich.

Chris hatte seine Nachttischlampe ausgeschaltet, die restliche Zimmereinrichtung war daher nur schemenhaft zu erkennen. Die Anstrengungen der letzten Tage steckten ihm noch in den Knochen. Es fühlte sich gut an, endlich wieder im eigenen Bett zu liegen. Definitiv bequemer als das versiffte Hotelbett in Jinja, dachte er und kratze sich unbewusst über den Dreitagebart, der ihm zusammen mit seinen verstrubbelten blonden Haaren im Moment das Aussehen eines Truckdrivers verlieh. Die letzten 48 Stunden war er ununterbrochen unterwegs gewesen und hatte keine Zeit für so unwesentliche Details wie die morgendliche Rasur gehabt.

In seinem Job als Projektmanager kam Chris ziemlich in der Welt herum. Meistens allerdings in Länder, in denen Luxus ein Fremdwort war, und in denen man Hotels mit Sternestatus an einer Hand abzählen konnte. Außerdem fehlte seinem Brötchengeber manchmal entweder der gute Wille oder das nötige Kleingeld, um ihm Etablissements zu spendieren, die über den Mindestkomfort hinausgingen.

Aber der Job machte ihm natürlich trotzdem Riesenspaß. Das Reisen in exotische Länder und das Kennenlernen fremder Kulturen hatte ihn schon als kleiner Junge gereizt. Und diese Leidenschaft konnte er bei seiner Arbeit voll ausleben. Denn die Kunden, die sich für die klimafreundlichen Energieanlagen seines Arbeitgebers interessierten, saßen vor allem in Entwicklungsländern. Daher verschlug es ihn fast ausschließlich in Gegenden, die abseits der ausgetretenen Touristenpfade lagen. Genauso, wie er es liebte.

Nicht umsonst lautete das Firmenmotto: „If we can’t make it, nobody can!“ Sein Boss machte ihnen entsprechend regelmäßig deutlich, dass er vollen Einsatz von jedem Mitarbeiter verlangte. So wie in den vergangenen Wochen. Es war erst wenige Stunden her, dass Chris am Airport in Hamburg gelandet und von seinem vierwöchigen Trip aus Uganda zurückgekehrt war. Ein echter Knochenjob.

Zu Hause angekommen hatte er in seinem Kühlschrank außer einem verschimmelten Käse und einem vergammelten Nudelsalat, der in allen Regenbogenfarben schimmerte, lediglich ein paar Flaschen Bier entdeckt. Diese hatten ihm als Abendessen jedoch notgedrungen ausgereicht. Ich lebe das harte Leben eines Mönchs, hatte er sich beim zweiten Flensburger wieder einmal lächelnd ins Gedächtnis gerufen.

Sein Projekt in Uganda hatte sich vier Stunden Autofahrt südlich der Hauptstadt Kampala befunden und lag an der Mündung des Nils zum Viktoriasee im Herzen Afrikas. Wohlgemerkt dem Weißen Nil, der in Burundi und Ruanda entspringt und von dort über zahllose Zuflüsse in den gigantischen Viktoriasee führt, bevor dieser längste Fluss der Welt durch Uganda und über Südsudan und Ägypten schließlich ins Mittelmeer mündet. Nicht zu verwechseln war er mit dem deutlich kleineren Blauen Nil, der seinen Ursprung in Äthiopien hat, und von dort nach Norden fließt, wo er sich im Sudan nahe der Stadt Khartum mit dem Weißen Nil vereinigt. Dieser beeindruckende Fluss war nicht nur lebenswichtige Quelle für Mensch und Natur, sondern durch seine Staudämme auch ein unverzichtbarer Energielieferant für die rasant wachsenden Länder in der Region.

Hier kam Chris ins Spiel. Während seines Geologiestudiums hatte er sich zusätzlich auf Geothermie und Wasserkraft spezialisiert und galt inzwischen als echter Experte auf dem Gebiet. Wie üblich hatte sein Job darin bestanden, die Fachkräfte vor Ort in der frühen Phase der Projektplanung zu unterstützten, um bei der Erstellung der Machbarkeitsstudie zu helfen. Keine leichte Aufgabe, da nur die Hälfte der lokalen Arbeiter ein einigermaßen verständliches Englisch sprach und der Titel „Fachkraft“ dort ohnehin oft genug nach dem Zufallsprinzip vergeben wurde.

Wenigstens habe ich jetzt erstmal zwei Wochen Urlaub, hatte er fröhlich pfeifend gedacht, als er zu Hause unter der heißen Dusche gestanden und sich den Staub der letzten Tage vom Körper geschrubbt hatte. Es war Sonntagabend und er war fest entschlossen, die kommenden vierzehn Tage, die ihm sein Chef zähneknirschend genehmigt hatte, ganz entspannt in Hamburg zu verbringen. Bei seinen ständigen Projektreisen war der deutsche Sommer wieder einmal fast völlig an ihm vorbeigegangen. Es wurde Zeit, sich mit seinen Kumpels zum Grillen an der Alster oder auf ein kühles Bierchen in einer der chilligen Strandbars an der Elbe zu treffen. Da Chris gerade Single war, konnte es aus seiner Sicht ohnehin nicht schaden, sich mal wieder ein wenig unter Leute zu mischen.

Vielleicht würde er sogar eine kleine Party schmeißen und in seinen Geburtstag hineinfeiern. Schließlich war am kommenden Sonntag sein Ehrentag. Aber die Details würde er sich am nächsten Morgen in Ruhe beim Frühstück überlegen, im Moment wollte er einfach nur noch schlafen. Nachdem er sich seine Pyjamahose und ein T-Shirt übergezogen hatte, fiel er müde ins Bett und es dauerte nur wenige Minuten, bis er eingenickt war.

Ein Geräusch von zersplitterndem Glas, das scheinbar aus dem Erdgeschoß gekommen war, ließ ihn plötzlich aus seinen Träumen hochfahren. Was war das, verdammt?

Chris sprang auf und schlich bereits wenige Sekunden später leise die Treppe zum Erdgeschoß des kleinen Einfamilienhauses hinunter, um nach dem Rechten zu sehen.

Auf dem Weg nach unten hatte er sich seinen Baseballschläger geschnappt, der stets in der Ecke seines Schlafzimmers lehnte. Nur für alle Fälle. Ein altes Relikt aus Kindheitstagen, als er sich noch vor Einbrechern gefürchtet hatte.

Diese Zeiten waren glücklicherweise lange vorbei. Die Natur hatte es gut mit ihm gemeint. Sein muskulöser Körper und die vielen Jahre Kampfsporttraining hatten ihm ein gesundes Selbstvertrauen gegeben. Chris bewegte sich lautlos nach unten und war schon fast am Fuße der Treppe angekommen, als er beinahe über die leeren Bierflaschen gestolpert wäre, die er einige Stunden zuvor taktisch unklug auf der untersten Stufe abgestellt hatte. Gerade nochmal Glück gehabt, fuhr es ihm durch den Kopf.

Er lauschte in die Stille. Es war keine Minute vergangen, seit ihn das Geräusch aus dem Schlaf gerissen hatte. Er knipste das Licht im Flur an und sah sich misstrauisch nach allen Seiten um. Mit erhobenem Baseballschläger stand er nun im hell erleuchteten Eingangsbereich des kleinen Eigenheims, das er sich vor ein paar Jahren von seinen Ersparnissen geleistet hatte. Mit dem Kauf hatte er sich damals zwar den Spott seiner Kumpels zugezogen, die sich coole Junggesellenbuden direkt in der Hamburger City zugelegt hatten, und die das Leben inmitten der Bars und Clubs demjenigen am Stadtrand vorzogen. Doch Chris erlebte schon genügend Abenteuer auf seinen Auslandsreisen und hatte sowieso schon immer das Leben im Grünen bevorzugt. Eine Einstellung, die ihm bisher bei den Mädels tendenziell eher Pluspunkte eingebracht hatte, und der er die ein oder andere Kerbe in seiner Bettkante zu verdanken hatte.

Wo war das Geräusch bloß hergekommen? Die Haustür war fest verschlossen und auch im Flur war nichts zu erkennen. Hatte er sich das Geräusch etwa nur eingebildet?

Chris schlich weiter und näherte sich der Tür zum großzügigen Wohnzimmer, dessen helle, bodentiefen Sprossenfenster zur Terrasse und dem grünen Garten führten. Dort, auf dem Sofa, hielt er sich am liebsten auf, wenn er entspannt ein Buch lesen oder einen Film anschauen wollte. Von hier aus konnte er auch den Meisen, Spatzen und Rotkehlchen dabei zusehen, die fröhlich im schön angelegten Garten in der Vogeltränke badeten, die er extra dort aufgestellt hatte. German wildlife watching.

Chris schüttelte den Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf die vor ihm lauernde, unbekannte Gefahr. Die Tür zum Wohnzimmer war leicht angelehnt. Er versuchte, durch den engen Spalt etwas zu erkennen. Nichts.

Konzentriert behielt er den Baseballschläger weiter im Anschlag, während er die Tür mit seinem Ellenbogen vorsichtig aufdrückte, um einen Blick hineinwerfen zu können. Doch als er nach dem Lichtschalter an der Wand tastete, spürte er plötzlich einen kühlen Luftzug, der ihm leicht entgegenblies. Mit einem Mal wusste er, dass er in dem dunklen Raum nicht allein war.

Chris machte einen schnellen Schritt zurück in den Flur und schaltete das Licht aus. Im Haus herrschte nun vollkommene Dunkelheit. Vom Gejagten zum Jäger.

Während er sich an die Wand drückte, bemerkte er, dass sein Puls schneller ging und sich kleine Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Er umklammerte den Baseballschläger noch fester. Bereit, um jederzeit zuzuschlagen. Ein kleiner Adrenalinstoß hat noch nie geschadet, um die Sinne zu schärfen.

Chris hatte noch nie viel von der Vorstellung gehalten, Kriminelle mit Samthandschuhen anzufassen. Wir reichen uns alle schön die Hände, reden über die Probleme unserer Kindheit und singen dann zusammen Kumbaya? Nein, danke. Alles, was er diesem Einbrecher zu sagen hatte, hielt er im Moment fest in seinen Händen. Die Diskussion würde kurz, hart und einseitig werden.

Er ging in die Hocke und versuchte, ein Geräusch aus dem Inneren des Wohnzimmers wahrzunehmen. Doch bevor er sich entscheiden konnte, ob er besser mit Brachialgewalt in den Raum stürmen oder doch eher lautlos wie ein Ninja in den Raum schleichen sollte, hörte er eine warme weibliche Stimme, die ihm bestens vertraut war, sagen: „Komm schon rein, Süsser. Ich habe auf dich gewartet.“

KAPITEL 2

Im Laufe der Jahre hatte Chris einige kluge Lebensweisheiten gelernt. Einige davon hatten ihn bereits aus der ein oder anderen misslichen Lage befreit oder vor groben Dummheiten bewahrt.

So hatte er es sich zum Beispiel angewöhnt, beim Betreten eines Restaurants oder einer Bar sofort alle Notausgänge zu registrieren. Eine Vorsichtsmaßnahme, die ihm schon einmal bei einer üblen Kneipenschlägerei im Kongo, in die er zufällig geraten war, die Haut gerettet hatte. Always expect the unexpected!

Auch verschwendete er mittlerweile keine Zeit mehr damit, sich auf neue Reiseziele durch das minutiöse Studium von Reiseführern oder irgendwelchen Internetseiten vorzubereiten. Stattdessen erkundete er unbekannte Orte lieber ausgiebig mit dem Taxi. Denn lokale Taxifahrer waren seiner Erfahrung nach die mit Abstand beste Quelle für echte Insiderinformationen. Egal, ob er nun die angesagtesten Bars oder die schönsten Ausflugsziele wissen wollte. Locals know it best! Alles, was man dafür benötigte, war ein gewisses Talent und natürlich der gute Wille für ein wenig freundlichen Small Talk. Ein kleiner Scherz hier und da wirkte auf Einheimische meistens wahre Wunder, um die wirklich besten Tipps zu bekommen, die man sonst nirgends nachlesen konnte.

Die Mutter aller Weisheiten lautete jedoch, stets positiv zu denken und eine natürliche Lässigkeit an den Tag zu legen. Wenn man sich erst einmal angewöhnt hatte, jeder noch so unschönen Situation etwas Gutes abzugewinnen, ging Vieles im Leben wesentlich leichter. Denn wenn man ehrlich war, handelte es sich dabei ohnehin meistens um Luxusprobleme. Bus verpasst? Hey, immerhin war es nicht der Letzte. Dieses Jahr keinen Bonus bekommen? Na, wenigstens hast du einen Job. In den Finger geschnitten? Glückwunsch, immerhin ist er noch dran. Zahlreiche dieser lessons learnt hatte er sich hart erarbeiten müssen. Aber man musste definitiv kein Nobelpreisträger sein um zu wissen, dass besondere Vorsicht immer dann geboten war, wenn man von einer dunkelhaarigen Schönheit mitten in der Nacht unerwartet mit Kosenamen angesprochen wurde. Doch in diesem Fall war ihm klar, dass seine Bedenken unbegründet waren. Die warme Stimme, die aus der Ecke seines Wohnzimmers kam, weckte ebenso aufregende wie sehnsüchtige Erinnerungen. Er ließ den Baseballschläger sinken.

„Finde ich ja toll, dass du mich mal besuchen kommst“, sagte er zu der verführerischen Silhouette, die sich schemenhaft vor seiner Terrassentür abzeichnete. „Aber du hättest auch anklopfen können, Lara.“ Dann fand er endlich den Lichtschalter.

KAPITEL 3

Lara lachte, kam zu ihm und gab ihm eine lange Umarmung. „Ich weiß, Chris. Aber ich wollte deine Eingangstür vermeiden und deine Terrassentür war nicht abgeschlossen.“ Sie hob den Zeigefinger und ließ diesen tadelnd hin und her wackeln.

„Wie konnte das eigentlich passieren? Du bist doch sonst immer so vorsichtig? Aber egal. Falls du es noch nicht bemerkt hast: Du wirst überwacht.“

Chris blinzelte verwirrt. Wie bitte? Nicht genug, dass seine Exfreundin plötzlich in seinem Wohnzimmer auftauchte. Sie behauptete, dass er überwacht würde?

„Sag mal, ist bei dir alles in Ordnung?“ Er schaute sie besorgt an. Die beiden hatten sich schon seit einer kleinen Ewigkeit nicht mehr gesehen. Wie so oft trug sie eine figurbetonte Bluejeans, ein schlichtes, helles Top und darüber einen lässigen hellgrauen Sweatblazer. Sportlich, aber elegant. Ihre langen, kastanienbraunen Haare fielen ihr in leicht gelockten Strähnen über die Schultern. Zu seiner Freude sah er, dass sie auch immer noch die Halskette mit dem kleinen silbernen Herzchen trug, die er ihr vor einem Jahr geschenkt hatte. Soweit konnte er äußerlich nichts Ungewöhnliches an ihr erkennen.

„Wirklich toll, dich wiederzusehen. Du siehst gut aus, Lara.“

„Danke, du aber auch“, antwortete sie und zwinkerte ihm zu. „Tut mir übrigens echt leid wegen der Vase. Ich hoffe, die war nicht teuer?“ Sie deutete auf den Boden hinter sich und schaute ihn mit entschuldigender Miene an.

Neben dem Sofatisch erkannte Chris die Überreste der bunten Glasvase, die er vor einigen Monaten spontan auf einem Kunstmarkt in Blankenese gekauft hatte, weil ihm die leuchtenden Farben so gut gefallen hatte. Offenbar war Lara im Dunkeln dagegen gestoßen, sodass die sterblichen Überreste dieser Krönung der Glasbläserkunst nun in tausend Scherben über dem dunklen Parkettfußboden verstreut lagen.

Er versuchte, sich zu erinnern. Hatte er vor lauter Müdigkeit und Bierdurst tatsächlich am Abend zuvor vergessen, die Terrassentür abzuschließen? Möglich. Ein Fehler, der ihm normalerweise nicht unterlief.

„Schon okay, die war nicht teuer. Ich überlege mir mal, wie du das wiedergutmachen kannst.“ Er hob eine Augenbraue und schaute sie mit vielsagendem Blick an, wurde dann jedoch schnell wieder ernst. „Aber jetzt mal ehrlich: Was meinst du damit, dass ich überwacht werde?“

Lara machte einen Schritt zu dem Fenster, dass von dem Wohnzimmer zur Straßenseite zeigte, und vergewisserte sich, dass die Vorhänge fest zugezogen waren und kein Licht nach draußen drang. Dann fasste sie Chris bei der Hand und zog ihn in Richtung des rustikalen Esstischs aus massivem Eichenholz, der sich in der Mitte des Wohnzimmers befand. Beide setzten sich und Lara schaute ihm fest in die Augen.

„Hör zu. Wir haben nicht viel Zeit. Pack ein paar Sachen zusammen und lass uns dann so schnell wie möglich von hier verschwinden. Ich erkläre dir alles, sobald wir unterwegs sind, okay?“

Chris war überrascht, als ihm auffiel, dass sie ihn beinahe flehend ansah. Ein Gesichtsausdruck, den er noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte.

„Jetzt mal langsam, das geht jetzt schon alles ein bisschen schnell“, begann er und schaute sie skeptisch an. „Ich bin gerade erst vor ein paar Stunden von einem echt anstrengenden Trip aus Afrika zurückgekommen. Und du tauchst hier Mitten in der Nacht auf und…“

„Entspann dich“, unterbrach sie ihn sanft, aber dafür mit umso entschlossenerem Blick. „Ich würde dich nicht darum bitten, wenn es nicht wirklich wichtig wäre, oder?“

Chris dachte nach. Das alles klang schon ziemlich verrückt. Allerdings war es Lara, die hier vor ihm saß und ihn um einen Gefallen bat. Sie war zweifellos etwas Besonderes. Und das lag nicht nur an ihrem selbstbewussten Auftreten und den italienischen Wurzeln, denen sie zweifellos ihr Temperament und ihre mediterranen Kochkünste zu verdanken hatte. Während der zwei Wochen, in denen sie sich vor einem Jahr bei einem Projekt in Ecuador kennengelernt hatten, war sie eine erfrischende Ausnahmeerscheinung von den Frauen gewesen, die er bis dahin getroffen hatte. Intelligent, humorvoll und mit dem bezauberndsten Lächeln, dass er je gesehen hatte.

Sie war Archäologin und galt als Expertin auf dem Gebiet der frühen Hochkulturen. Für sein damaliges Projekt war sie als Beraterin hinzugezogen worden, da die lokalen Aufsichtsbehörden vermuteten, dass sich in dem Areal möglicherweise Überreste der Inkakultur befinden könnten. Vor der Erteilung einer Baugenehmigung wurde daher das Gutachten eines Spezialisten gefordert. Das war Laras Part gewesen.

Die Bedenken der Regierung hatten sich glücklicherweise als Fehleinschätzung erwiesen. Doch Chris und Lara hatten dadurch viel Zeit mit den für die Beurteilung notwendigen Bodenanalysen verbracht.

Mit ihrer einnehmenden, witzigen und professionellen Art hatte sie es damals in kürzester Zeit geschafft, sich in dem von Männern dominierten Projektteam zu behaupten. Chris hatte natürlich ebenfalls alle Register gezogen und seinen unvergleichlichen Charme spielen lassen. Entsprechend hatte es zwischen den beiden dann auch ziemlich schnell gefunkt und sie hatten eine wunderbare Zeit erlebt. Aber leider waren die zwei Wochen dann zu rasch vorüber gewesen, als dass sich eine ernste Beziehung daraus hätte entwickeln können.

Lara war freie Beraterin und musste im Anschluss für ihren nächsten Auftrag nach Mexiko fliegen, während Chris volle vier Monate in Namibia im Einsatz war. Beide waren keine Anhänger von Pendelbeziehungen und hatten daher beschlossen, nur Freunde zu bleiben. Seitdem hatten sie regelmäßig geskypt und sich ab und zu Whatsapp-Nachrichten geschrieben, um wenigstens den Kontakt zu halten.

Chris konnte sich jedenfalls nicht erinnern, dass ihm Lara während dieser ganzen Zeit jemals durch paranoide oder hysterische Wesenszüge aufgefallen wäre. Er würde wohl nie vergessen, wie damals in Ecuador plötzlich eine Bananenspinne ausgerechnet in dem Zelt aufgetaucht war, in dem ihr Projektteam gerade zu Mittag gegessen hatte. Ein Biss dieser haarigen Biester konnte auch für einen gesunden Erwachsenen lebensbedrohlich enden. Es war daher nicht überraschend, dass einige der zartbesaiteten Küchengehilfen fluchtartig aufgesprungen und aus dem Zelt gerannt waren. Nicht jedoch Lara. Sie war schon immer eine leidenschaftliche Umweltschützerin gewesen und liebte Tiere und die Natur.

Noch bevor Chris seine außergewöhnlichen Qualitäten als notorischer Lebensretter und Spinnenjäger unter Beweis hatte stellen können, war Lara aufgesprungen, hatte sich eine der gläsernen Salatschüsseln vom Esstisch geschnappt, diese kurzerhand ausgeschüttet und dann über die furchteinflößende, schwarzgelb gemusterte Spinne gestülpt. Danach hatte sie einen Pappteller unter dem Schüsselrand hindurchgeschoben und das verängstigte Tierchen an der versammelten Mannschaft vorbei nach draußen getragen, um es schließlich in einem weit entfernten Gebüsch wieder in die verdiente Freiheit zu entlassen. Das war schon ziemlich lässig gewesen.

Auch in stressigen Situationen reagierte Lara cool und besonnen. Was war also passiert, dass sie nun so drängend in der Nacht vor ihm stand und keine Details preisgab? Chris wusste allerdings auch, dass er ihr hundertprozentig vertrauen konnte.

„Hm. Wie lange wären wir denn unterwegs?“, erkundigte er sich immer noch ein wenig zweifelnd. Zwar hatte er jetzt zwei Wochen Urlaub und noch keine festen Pläne. Allerdings spielte in drei Tagen sein Lieblingsverein gegen den lokalen Stadtrivalen und er hatte spontan noch eine Eintrittskarte für die Südkurve ergattert. Das Derby würde er nur äußerst ungern verpassen.

„Keine Sorge. Dauert nur ein paar Tage.“ Sie schaute ihn mit gespieltem Schmollmund an. „Du wirst mir meine kleine Bitte doch nicht etwa abschlagen, oder?“

Chris atmete tief aus. „Na schön, du hast mich überzeugt.“ Aus irgendeinem Grund hatte er das untrügliche Gefühl, dass er sich das Fußballspiel nun vermutlich abschminken konnte. Lara konnte wirklich sehr überzeugend sein. „Aber wirklich nur, weil du es bist.“

„Danke, so gefällst du mir schon besser. Und jetzt zieh dir erstmal was an. Männer in Pyjamahose wirken immer so hilflos auf mich. Und das willst du doch bestimmt nicht, oder?“ Sie verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen.

„Okay, schon klar. Na schön. Ich packe schnell ein paar frische Klamotten ein. Bin in fünf Minuten startklar.“

Immer noch ein wenig verblüfft über die plötzliche Wendung, die sein erster Urlaubstag so früh am Morgen genommen hatte, ging er rasch nach oben ins Schlafzimmer und zog sich eine Jeans und ein frisches Hemd an. Dann schnappte er sich aus dem Kleiderschrank einen Stoß Unterwäsche und ging wieder nach unten in den Flur, wo noch immer seine Reisetasche auf dem Boden lag. Während er routiniert seine Sachen packte, lehnte sich Lara gegen den Rahmen der Wohnzimmertür und schaute ihm geduldig zu.

„Du wirst schon sehen, das wird wie in alten Zeiten. Ich verspreche, dass ich dir nachher am Flughafen alles erkläre.“

Flughafen? Warum überrascht mich das jetzt nicht? Chris verkniff sich, näher darauf einzugehen und vergewisserte sich stattdessen, dass er seinen Reisepass und seine Kreditkarten auch wirklich eingesteckt hatte.

„Ja, das hoffe ich doch. Es wäre übrigens toll, wenn du in der Zwischenzeit das Desaster wieder in Ordnung bringst, das du vorhin im Wohnzimmer angerichtet hast.“

Er schmunzelte und deutete dann mit der gespielten Strenge eines enttäuschten Lehrers kopfschüttelnd in Richtung der Scherben auf dem Fußboden, die hinter ihr verstreut lagen.

„Das mit dem Einbrechen will nun mal gelernt sein. Und schließ bitte die Terrassentür gut ab, ja? Nur für den Fall, dass wir länger unterwegs sind.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, zog er den Reißverschluss seiner Tasche fest zu. Er konnte nicht ahnen, wie recht er mit seiner Vermutung haben würde.

KAPITEL 4

Seit er sich zurückerinnern konnte, nannten ihn seine Kollegen nur „Biggy“, was zweifellos an seinen physischen Attributen lag. Schon als Jugendlicher war es ihm aufgrund seiner Körperlänge zunehmend schwergefallen, Kleidungsstücke in der richtigen Konfektionsgröße zu finden. Von Schuhen ganz zu schweigen. Aber er hatte sich inzwischen daran gewöhnt.

Wie üblich arbeitete er auch diesmal wieder allein, um seinen Auftrag möglichst diskret auszuführen. Worum es bei der Mission genau ging, wusste er selbst nicht so genau. Aber es schien wichtig zu sein, sonst hätte sein Boss ihn kaum mehrmals täglich um einen Statusbericht gebeten.

Die Organisation, für die er arbeitete, war für ihre strengen Sicherheitsmaßnahmen geradezu berüchtigt und die Verwendung von Kommunikationsmitteln wurde daher üblicherweise auf das absolute Minimum beschränkt. Was war bei dieser Mission bloß so wichtig, dass man von dieser eisernen Regel abwich?

Aber eine ihrer grundlegendsten Prinzipien war es nunmal, keine unnötigen Fragen zu stellen. Daran würde er sich natürlich auch bei dieser Mission halten.

Er harrte nun bereits seit über acht Stunden in dem unauffälligen weißen Kombi aus, den er rund zwanzig Meter von dem Haus entfernt geparkt hatte, das er überwachen sollte. Viel war in dieser Zeit allerdings nicht passiert, wenn man einmal von dem stark übergewichtigen Nachbarn absah, der auf der gegenüberliegenden Strassenseite wohnte und in regelmäßigen Abständen im viel zu weiten Trainingsanzug bekleidet das Haus verließ, um mit seinem Schäferhund Gassi zu gehen.

Die Straße war eine Sackgasse und seine Zielperson war offenbar für einige Tage nicht zu Hause gewesen. Denn als der Typ am Abend zuvor mit dem Taxi vorgefahren und im Haus verschwunden war, hatte er eine riesige Reisetasche über der Schulter getragen. Das war nun schon etliche Stunden her. Seitdem hatte sich nichts Erwähnenswertes ereignet. Langweiliges Vorstadtnest, dachte Biggy verächtlich.

Der Nieselregen hatte mittlerweile aufgehört und am sternklaren Nachthimmel kündigte nun die erste, schwache Morgenröte am Horizont einen herrlichen Sommertag an. Biggy hatte seinen Sitz weit nach hinten gefahren und die Lehne zurückgekippt, um eine einigermaßen bequeme Position einzunehmen.

Er gähnte. Bis zu seiner Wachablösung war es noch eine kleine Ewigkeit. Er griff nach der Thermoskanne, die auf dem Rücksitz verstaut war, und schenkte sich noch etwas Kaffee ein. Es reichte gerade noch für eine halbe Tasse. Kein Wunder. Inzwischen hatte er schon so viel von der schwarzen Brühe konsumiert, dass der Koffeingehalt in seinem Blut vermutlich alle empfohlenen Grenzwerte bei weitem überschritten hatte.

Zwar hatte der Kaffee die gewünschte Wirkung entfaltet und ihn halbwegs wachgehalten, allerdings hatte er auch den unerwünschten Nebeneffekt, dass Biggys Blase nun wieder einmal unangenehm zu drücken begann. Er blickte konzentriert zu dem roten Backsteinhaus, in dem sich seine Zielperson aufhielt. Alles wirkte unverändert ruhig.

Biggy fasste einen Entschluss. Wird ja wohl jetzt in der einen Minute nicht gerade was passieren, hoffte er und öffnete leise die Wagentür. Er stieg aus und ging dann rasch zu der dicht bewachsenen Hecke, die das Nachbargrundstück umsäumte, und entledigte sich seines drängenden Bedürfnisses. Wenige Augenblicke später saß er wieder im Wagen und nahm zufrieden und deutlich erleichtert seinen Beobachtungsposten ein.

Die ersten Vögel begannen ihr morgendliches Konzert. Während Biggy dem fröhlichen Zwitschern lauschte, musste er sich eingestehen, dass es in diesem verschlafenen Vorort eigentlich doch gar nicht so übel war, wie er zuvor gedacht hatte. Manchmal findet man Schönheit, wo man sie am wenigsten erwartet, sinnierte er nachdenklich. Er streckte seinen Rücken durch und massierte sich eine Weile mit der Hand den Nacken. Er konnte es kaum erwarten, dass ihn sein Kollege in einigen Stunden endlich ablösen würde und er zurück in sein Hotelzimmer fahren konnte. Für Biggy waren solche Observationen der mit Abstand langweiligste Teil seines Jobs. Aber wo Licht ist, ist auch Schatten.

Er konnte nicht ahnen, dass sich wenige Minuten zuvor zwei dunkle Gestalten durch den dicht bewachsenen Garten des hübschen Backsteinhauses und über das angrenzende Nachbargrundstück zur Straße geschlichen hatten. Unbemerkt waren sie dem Schein der Laternen entkommen und entfernten sich nun schnell in der aufkommenden Dämmerung. Einer von ihnen trug eine Reisetasche über der Schulter.

KAPITEL 5

Sein Haus lag zwar im Grünen, das hieß jedoch nicht, dass er von der Außenwelt völlig abgeschnitten war. Nachdem die beiden durch den Garten und das Nachbargrundstück geschlichen waren, hatten sie sich zunächst vergewissert, dass ihnen niemand gefolgt war. Dann waren sie im Schutz der Dunkelheit auf schnellstem Weg zur nahegelegenen S-Bahnstation gelaufen, wo sie nun auf die nächste Bahn warteten. Lara tippte schon fleißig auf ihrem Smartphone und schaute die Fahrpläne durch.

„Siehst du? Ganz easy. Die nächste Bahn kommt in fünf Minuten. Wir fahren zum Hauptbahnhof und nehmen von dort den Zug.“

„Sagtest du nicht, dass wir zum Flughafen fahren?“ Chris sah sie irritiert an.

„Hab’s mir doch anders überlegt. Lass uns lieber low profile bleiben. Außerdem ist Zugfahren viel besser für die Umwelt und geht auch noch schneller.“

Zugfahren geht schneller? Er runzelte die Stirn. Zu häufig waren in den letzten Monaten die Züge ausgefallen oder hatten Verspätungen gehabt, als dass er diese leichtfertige Aussage unterschreiben würde. Aber Lara schaute ihn so motiviert an, dass er sie mit seinen Erfahrungen mit der Deutschen Bahn nicht unnötig schockieren wollte. Vielleicht haben wir diesmal ja Glück, hoffte er und nickte ihr ermutigend zu. Und tatsächlich ging diesmal zu seiner Überraschung alles glatt.

Keine halbe Stunde später standen sie bereits in der riesigen Bahnhofshalle des Hamburger Hauptbahnhofs, in der sich trotz der frühen Morgenstunde schon wahre Menschenmassen tummelten. Es war die Zeit der Berufspendler, die täglich aus dem Umland in die Innenstadt strömten. Beinahe im Minutentakt fuhren um diese Zeit die Züge ein. Es herrschte das übliche Durcheinander eilig umherlaufender Menschen, die spät dran waren und wertvolle Sekunden auf dem Weg zur Arbeit gutmachen mussten.

Ihnen stieg der Duft von frischen Brötchen und Kaffee in die Nase, der von einer der Backstuben innerhalb des Bahnhofs zu ihnen herüberwehte. Der Magen von Chris begann zu grummeln. Ohne Frühstück aus dem Haus zu gehen, war definitiv nicht sein Ding. Aber heute musste er notgedrungen eine Ausnahme machen.

Lara lief zielstrebig neben ihm und schaute konzentriert auf ihr Smartphone, während sie gleichzeitig nach dem richtigen Bahnsteig Ausschau hielt.

„Hey, wenn du mir endlich sagen würdest, wohin wir fahren, könnte ich dir bestimmt helfen“, bemerkte Chris mit ironischem Unterton. Sie macht es aber auch wirklich spannend. Weder in der S-Bahn noch seit ihrer Ankunft am Bahnhof hatte sie ihm den leisesten Hinweis gegeben, wohin sie ihn bringen wollte.

„Gleis Sieben!“, rief Lara in dem Moment und streckte den Arm in Richtung einer Rolltreppe aus, die etwa zwanzig Meter von ihr entfernt hinunter zu den Bahngleisen führte. „Unser Zug fährt gleich ab. Die Fahrkarten habe ich gerade schon online gekauft. Schnell, wir müssen rennen!“

Sie gab Chris lachend einen Klaps und spurtete los. Obwohl es bis zu der Rolltreppe nicht weit war, strömte ihnen von dort nun auf einmal eine dichte Menschenmenge entgegen. Anscheinend war soeben ein Zug eingetroffen und die Passagiere bahnten sich nun den Weg zum Ausgang.

Zu ihrem Pech befand sich direkt vor ihnen ausgerechnet auch noch ein Dutzend desorientiert wirkender Senioren, die mit ihren unzähligen Koffern und ihrem hilflosen Gesichtsausdruck so langsam vor ihnen herschlurften, dass sich Chris unweigerlich an eine Episode der legendären TV-Serie The Walking Dead erinnert fühlte. Doch sowohl Lara als auch Chris liebten glücklicherweise jede Form der sportlichen Herausforderung. Geschickt rannten sie hintereinander an der Reisegruppe vorbei, die Rolltreppe hinunter und erreichten den Bahnsteig gerade noch in letzter Sekunde, um in den Zug zu springen.

„Geschafft!“, rief Lara triumphierend und außer Atem. In dem Moment, als sich die beiden in zwei freie Sitzplätze fallenließen, fuhr der Zug auch schon los. „Super Timing, oder?“ Lara lächelte erleichtert und stupste Chris in die Seite.

„Morgensport stelle ich mir eigentlich anders vor“, antwortete dieser augenzwinkernd. „Aber jetzt wird es echt langsam Zeit, dass du mir sagst, was los ist und wohin es geht.“

Lara seufzte. „Okay, schon gut. Also wir fahren nach Sylt. Dort treffen wir meinen Mentor, Professor Martin Pfeiffer. Er kann dir am besten erklären, worum es geht und warum wir dich unbedingt brauchen.“

Chris stutzte. Professor? Sylt? Er schaute seine attraktive Ex-Freundin erneut fragend an. Doch diese erwiderte seine Neugierde lediglich mit einem leichten Kopfschütteln und warf ihm dann denselben amüsierten Blick an, den sie ihm schon damals in Ecuador geschenkt hatte, als er ihr bei ihrem ersten Date einige unanständige, wenn auch äußerst kreative Ideen für den weiteren Verlauf des Abends ins Ohr geflüstert hatte.

Doch Geduld war noch nie seine größte Stärke gewesen.

„Wie? Mehr willst du nicht verraten? Das kann ja wohl echt nicht dein Ernst sein!“

„Schhhhht…!“ Sie legte ihren Zeigefinger auf die Lippen und senkte die Stimme. „Nicht so laut, Chris“, begann sie in verschwörerischem Ton. „Jetzt gedulde dich halt noch ein wenig. Ich weiß, diese ganze Geheimniskrämerei ist nervig, aber es gibt Personen, die hinter unser Geheimnis kommen wollen. Wir müssen extrem vorsichtig sein.“

Lara schaute sich argwöhnisch im Zugabteil um, das fast bis auf den letzten Platz voll besetzt war.

„Mit den vielen Leuten ist es keine gute Idee, mehr zu verraten, okay?“

Chris verdrehte die Augen. Offenbar musste er sich mit der dünnen Erklärung fürs Erste zufriedengeben.

„Na schön. Dann warte ich eben, bis wir deinen tollen Professor treffen.“ Er setzte sein lausbubenhaftes Grinsen auf. „Dafür musst du mir aber alles erzählen, was bei dir in letzter Zeit so passiert ist. Vor allem natürlich, wie sehr du mich vermisst hast.“

Lara lachte. „Na klar, Deal.“ Auch sie freute sich, mit Chris endlich wieder in Ruhe zu plauschen. Es war schon eine Ewigkeit her, dass sie zuletzt telefoniert hatten.

Ohnehin war sie heilfroh, dass sie in der Dunkelheit seine Adresse in dem Hamburger Außenbezirk gefunden hatte, die er ihr damals in Ecuador auf ein kleines Zettelchen gekritzelt hatte. Und sie hatte natürlich ein Riesenglück gehabt, dass sie ihn überhaupt zu Hause angetroffen hatte, als sie aufs Geratewohl zu ihm gefahren war, nachdem sie ihn tagelang weder telefonisch noch per Email hatte erreichen können.

Sie wusste, dass er bei seinen Projekteinsätzen manchmal wochenlang keinen Empfang hatte, aber sie hatte trotzdem diesen letzten Versuch wagen wollen.

Im Nachhinein war sie sogar ein bisschen stolz auf sich selbst, dass sie sich in weiser Voraussicht mit dem Taxi einige Straßen weiter hatte absetzen lassen und das letzte Stück zu seinem Haus zu Fuß gegangen war. Andernfalls hätte sie den verdächtigen weißen Lieferwagen garantiert zu spät bemerkt, der in der abgelegenen Sackgasse einsam und verlassen am Straßenrand geparkt hatte.

Konnte es etwa Zufall gewesen sein, dass dieser unbekannte Mann mitten in der Nacht regungslos in einem Wagen am Straßenrand ausharrte? Sie wusste es nicht. Aber im Zweifel hatte sie es nicht darauf ankommen lassen wollen. Sich durch den Garten zu schleichen und dann durch die Terrassentür ins Haus einzusteigen, war daher vermutlich die richtige Entscheidung gewesen.

Gut, dass Chris alleine zu Hause gewesen war. Lara wollte sich gar nicht ausmalen, wie peinlich es gewesen wäre, wenn sie ihn bei einem romantischen Abend mit einer anderen Frau gestört hätte. Wie sie ihm inzwischen jedoch durch ihre geschickte Fragetechnik hatte entlocken können, war er derzeit Single. So wie sie selbst. Alles richtig gemacht, dachte sie zufrieden.

Die beiden hatten sich viel zu erzählen. Sie scherzten über alte Zeiten und tauschten sich über ihre Erlebnisse der letzten Monate aus. Die dreistündige Fahrt verging dadurch beinahe wie im Flug. Als die Lautsprecherdurchsage schließlich knisternd den Bahnhof von Westerland auf Sylt ankündigte, hatte Chris beinahe vergessen, weshalb sie hergekommen waren.

KAPITEL 6

Chris kannte die größte der nordfriesischen Inseln seit seiner frühen Kindheit. Schon als kleiner Junge hatten seine Eltern mit ihm auf diesem unverwechselbaren Eiland vor Deutschlands rauer Nordseeküste herrliche Sommerurlaube verbracht.

Er liebte die unendlich langen Sandstrände, die unberührte Dünenlandschaft und den stetigen Wind. Als Jugendlicher war er auf Klassenfahrt zum Zelten nach Sylt gekommen, und selbst als notorisch klammer Student und später als unterbezahlter Berufseinsteiger hatte er sich von seinem bescheidenen Gehalt ab und an einen Urlaub hierher gegönnt. Ein bisschen Sonne tanken, Windsurfen und lecker Fischbrötchen essen war dann auch der perfekte Dreiklang, den man hier finden konnte.

Obwohl Sylt der Ruf anhaftete, vor allem eine Zufluchtsoase der Reichen und Schönen zu sein, hatte er dem stets widersprechen müssen. Im Gegenteil. Die Insel war wohl einer der wenigen Orte, an dem Menschen unterschiedlichster Herkunft und sozialer Schicht gesellig nebeneinander in einer der einfachen Strandbuden oder Restaurants saßen, um dem Meeresrauschen zu lauschen oder sich die frische Nordseeluft um die Nase wehen zu lassen.

Als junger Student war Chris einmal mit seinem Strandnachbarn ins Gespräch gekommen, der ihn nach den besten Windsurfspots auf der Insel gefragt hatte. Die beiden hatten sich prima verstanden und spontan beschlossen, eine Pizza im nahegelegenen Campingrestaurant zu essen. Beim zweiten Weizenbier stellte sich dann heraus, dass sein neuer Kumpel der Vorstandsvorsitzende eines großen DAX Konzerns war, der hier auch einfach nur Mensch sein wollte.

Ob jung oder alt, ob Milliardär oder Backpacker, das Publikum war immer bunt gemischt und nie langweilig. Man flanierte an der Promenade, genoss den Trubel in der quirligen Fußgängerzone oder erkundete die Insel einfach mit dem Fahrrad. Spätestens an einem der traumhaften weißen Sandstrände mit ihren unzähligen blauweißen Strandkörben verloren dann alle Statussymbole ihre Bedeutung.

Dass diese Strandkörbe nach Einbruch der Dunkelheit zu einem echten El Dorado für Herzensbrecher wurden, war ebenfalls längst kein Geheimnis mehr. Chris hatte nicht wenige Bekannte, die hier vor der Kulisse des romantischen Sonnenuntergangs mit entspanntem Wellenrauschen bei ihrer Traumfrau entscheidend hatten punkten können und es nach Einbruch der Nacht bis zur dritten Base und, in besonders erfolgreichen Fällen, sogar bis zum Homerun geschafft hatten. Nicht umsonst entschieden sich so viele Paare für eine Hochzeit auf Sylt. Dort, wo alles begonnen hatte.

Aus eigener Erfahrung wusste Chris allerdings, dass ein Strandkorb unter dem funkelnden Sternenhimmel bei den Mädels tatsächlich manchmal wahre Wunder bewirken konnte. Allerdings war es nicht zwangsläufig der sicherste Ort für einen gegenseitigen, heißen Liebesbeweis.

Denn nur wenige Casanovas wissen, dass die Körbe nachts hin und wieder von äußerst pflichtbewussten Strandwächtern inspiziert werden. Chris hatte selbst einmal einen solch denkwürdigen Moment der dritten Art erlebt, als er vor vielen Jahren mit seiner damaligen Freundin auf frischer Tat ertappt worden war.

„Ja hallo, was machen Sie denn da?“, hatte ihnen der neugierige Kontrolleur entrüstet zugerufen, während er mit seiner gigantischen Taschenlampe die Nacht zum Tag gemacht und ihren Strandkorb grell ausgeleuchtet hatte. Sie waren sich damals vorgekommen, als hätte man einen Flakscheinwerfer aus nächster Nähe direkt auf sie gerichtet. Voll im Spotlight. Die äußerst leidenschaftliche und künstlerisch wertvolle Darbietung, die sie kurz zuvor noch sitzend hingelegt hatten, hätte diese mediale Aufmerksamkeit zwar zweifellos gerechtfertigt. Aber Chris stand nicht auf Zuschauer. Zumindest keine männlichen.

Glücklicherweise war ihr ungebetener Gast damals schnell wieder abgezogen, nachdem Chris den Kerl so verärgert angeschaut hatte, dass dieser offenbar um sein vorzeitiges Ableben fürchtete. Praktischerweise hatte ihnen das kurze Intermezzo mit dem Strandkorbwächter immerhin einen prima Adrenalinstoß gegeben, sodass sie bereits wenige Minuten später die zweite Runde eingeläutet hatten. No risk, no fun.

Die Insel Sylt hielt jedenfalls für jeden Besucher eine Vielzahl versteckter Juwelen und außergewöhnlicher Erlebnisse bereit. Man musste nur die Augen offenhalten.

Manchmal war es ganz simpel. Wenn Chris zum Beispiel an einem lauen Sommerabend zwischen den mit hellgrünem Strandhafer bewachsenen Dünen mit einer Flasche Rotwein saß und den spektakulären Sonnenuntergang beobachtete, konnte er sich kein anderes Fleckchen auf diesem Planeten vorstellen, wo er gerade lieber wäre. Und er hatte eine ganze Menge Ecken gesehen. Vor allem zog ihn das raue Klima, mit dem manchmal orkanartigen Wind, der salzigen Luft und dem typischen Duft nach Meer und Syltrosen immer wieder in seinen Bann.

Natürlich hatte Chris das Wetter auch schon einige Male verflucht. Er konnte sich noch gut erinnern, wie er einmal mit dem Fahrrad bei strahlendem Sonnenschein von der Südspitze in Hörnum gestartet und dann die achtunddreißig Kilometer bis nach List im Norden gefahren war. Plötzliche Wetterumschwünge waren keine Seltenheit. Daher war es nicht ungewöhnlich, dass er auf dem Rückweg bei heftigem Regen und strammem Gegenwind seine Wadenmuskulatur an unbekannte Schmerzgrenzen hatte führen müssen. Aber letztlich war das alles halb so schlimm. Wer auf die Insel kam, der wusste in der Regel, worauf er sich einließ.

Der Zug fuhr nun langsamer. Sie näherten sich ihrem Ziel, der Endhaltestelle in Westerland. Wenige Minuten zuvor hatten sie den Hindenburgdamm überquert, der seit fast hundert Jahren die Insel mit dem Festland verband. Der Moment, in dem man nach stundenlanger Fahrt das Festland endlich hinter sich ließ und zu beiden Seiten die glitzernde Nordsee sah, war jedes Mal aufs Neue sensationell. Wenige Minuten später rollte ihr Zug in den Bahnhof ein. Als die beiden schließlich aus dem Waggon ausstiegen, war es bereits früher Vormittag.

„Echt schön, wieder hier zu sein, oder?“ Lara hakte sich gut gelaunt bei ihm unter, während die beiden entspannt nebeneinander den Bahnsteig entlangliefen und Kurs auf den Ausgang nahmen.

„Ja, nicht übel.“

Es war mittlerweile schon beinahe ein Jahr her, dass Chris zuletzt auf Sylt gewesen war. Sein Job mit der vielen Reiserei machte solche Ausflüge auf seine Lieblingsinsel leider nicht einfach. Diesmal hatten sie sogar richtiges Glück mit dem Wetter. Die Sonne strahlte und kein einziges Wölkchen war am tiefblauen Himmel zu sehen.

Er atmete tief ein. Der einzigartige Duft der Insel nach Strand und Meer ließ sein Herz wieder einmal höherschlagen. Wie so oft wehte eine leichte Brise und die Temperaturen lagen deutlich über zwanzig Grad, was für Sylter Verhältnisse einer hochsommerlichen Hitzewelle gleichkam.

Obwohl der Tag für ihn viel zu früh und holprig begonnen hatte, fühlte er sich nun plötzlich wieder frisch und quicklebendig. Wie jedes Mal, wenn er auf die Insel kam.

Als die beiden den Ausgang erreichten, deutete Lara auf eine schwarze Limousine, die nur wenige Meter entfernt auf dem gegenüberliegenden Parkplatz auf sie wartete.

„Dort ist unser Fahrer.“

„Wow, gute Logistik.“ Chris nickte beeindruckt, während sie auf den Wagen zugingen. So einen luxuriösen Service kannte er von seinen Trips normalerweise nicht.

„Kleinigkeit“, antwortete Lara gelassen, öffnete die Tür des schwarzen Mercedes und stieg schwungvoll ein. „Warte erstmal ab, was du heute sonst noch so alles siehst.“

„Na, da bin ich ja mal gespannt.“ Er verstaute seine Reisetasche im Kofferraum und setzte sich dann neben Lara auf den Rücksitz. Irgendwie erinnerte ihn das Ganze an einen Hollywood Film, in den er durch Zufall geraten war.

Der Mercedes setzte sich langsam in Bewegung und fädelte sich in den Verkehr ein. Chris schaute verträumt aus dem Fenster, während der elegante Wagen die Hauptstraße entlangfuhr und er einen Blick in die belebten Einkaufsstraßen der Innenstadt werfen konnte. Im August herrschte gerade Hochsaison. Scharen von Feriengästen bummelten um diese Zeit durch die Fußgängerzone und hielten ein Fischbrötchen oder eine Eiscreme in der Hand.

Neuankömmlinge waren sich der Gefahr, die hoch über ihren Köpfen lauerte, selten bewusst: Riesige weiße Seemöwen kreisten in der Luft und warteten dort geduldig auf eine günstige Gelegenheit, in die Tiefe zu stürzen und ihren überraschten Opfern das Matjesfilet mit solch chirurgischer Präzision vom Brötchen zu stehlen, wie man es sonst nur von jagenden Seeadlern in der wilden Steppe Nordamerikas kannte.

Ja, hier ist die Welt noch in Ordnung. Auf der rund hundert Quadratkilometer großen Insel gibt es insgesamt zwölf Ortschaften. Eine davon, Kampen, war nun ihr Ziel und zugleich wohl auch Deutschlands bekanntester Promiort.

Lara hatte ihm während der Zugfahrt zwar doch noch einige wenige Informationen gegeben. Die wirklich spannenden Details hatte sie jedoch beharrlich ausgelassen. Sie wolle ihrem Mentor nicht vorgreifen, hatte sie ihn vertröstet. Immerhin hatte sie ihm so viel verraten, dass es sich bei dem Professor um einen Kunstmäzen handelte, für den sie seit einigen Monaten an einem geheimen Projekt arbeitete.

Ihr Fahrer hatte die Limousine inzwischen auf die idyllische Landstrasse in Richtung Norden manövriert. Sie sahen grüne Wiesen, auf denen glückliche Kühe und Pferde weideten, und passierten in dem Augenblick den majestätischen, schwarzweiß gestreiften Leuchtturm von Kampen.

„Du wirst den Professor übrigens mögen, da bin ich mir sicher“, sagte Lara zuversichtlich.

„Hm, na mal sehen. Woher kennst du ihn eigentlich?“

Chris konnte sich zwar erinnern, dass sie ihm vorhin im Zug irgendetwas dazu erzählt hatte. Allerdings war da gerade der freundliche Verkäufer vom Zugbistro mit dem rollenden Snackstand bei ihnen vorbeigekommen. Er war dann so darin vertieft gewesen, sein Frühstück zusammenzustellen, dass er Laras Erläuterungen leider nur als entferntes Hintergrundrauschen wahrgenommen hatte. Ein Automatismus, der sich auch bei den wöchentlichen Teammeetings im Büro als ausgesprochen nützlich erwiesen hatte. Einige seiner geschätzten Kollegen hatten nämlich immer wieder die unangenehme Angewohnheit, ebenso unnötige wie langweilige Grundsatzdiskussionen zu führen, die ihn als Macher regelmäßig an den Rand des Wahnsinns trieben. Bei Lara war ihm seine kleine Gedächtnislücke nun jedoch ein wenig unangenehm.

„Das habe ich dir doch vorhin schon alles erzählt“, beschwerte sie sich in dem Moment und schaute ihn vorwurfsvoll an, als wäre er im fortgeschrittenen Demenzstadium. „Hast du mir denn vorhin nicht zugehört?“

Chris kannte diesen Blick von seinen früheren Beziehungen. So wie viele Männer, die wie er manchmal für den Bruchteil einer Sekunde unkonzentriert waren und die monotonen, akustischen Signale ihrer jeweiligen Gesprächspartnerin unklugerweise ausblendeten.

In der Vergangenheit hatte Chris in solchen Situationen dann gerne die wissenschaftlich belegbare Theorie vom Höhlenmenschen referiert. Für Kenner auch homo habilis genannt. Dieser hatte im Rahmen der Evolution über Jahrmillionen erlernen müssen, nicht-lebensbedrohliche Sinnesreize in bestimmten Momenten aus seiner Wahrnehmung auszublenden. Jäger und Sammler, Mammut jagen, Beeren pflücken, genetische Disposition und so weiter.

Im Laufe der Jahre war Chris jedoch weiser und klüger geworden. Er wusste inzwischen, dass Mann diese Diskussion trotz der zweifellos starken Faktenlage nur verlieren konnte. Daher hatte er seine Strategie mittlerweile grundlegend geändert und zuckte stattdessen nur entschuldigend mit den Schultern. Dazu brummte er einen nicht näher definierbaren Laut, der sich wie eine Entschuldigung anhören sollte. Das funktionierte eigentlich immer.

So auch diesmal. Wie erwartet rollte Lara zwar mit den Augen, ließ es damit aber auf sich bewenden.

„Also wie ich vorhin schon sagte“, begann sie und sprach nun wie mit einem Kleinkind betont langsam und deutlich. Ein Effekt, den Chris in vergleichbaren Situationen schon häufig bei seinen Probandinnen erlebt hatte. Faszinierend. Er wischte den Gedanken schnell wieder beiseite und gab sich Mühe, diesmal kein Detail zu überhören, während Lara fortfuhr.

„Ich habe Professor Pfeiffer vor einigen Monaten zufällig an meiner alten Uni in Frankfurt kennengelernt. Es gab dort einen Gastvortrag zu meinem Lieblingsthema ‚frühe Hochkulturen‘. Wir haben uns anschließend noch unterhalten und intensiv über alte Schriftzeichen und die Geschichte Ägyptens und Äthiopiens diskutiert.“ Sie machte eine Pause und sah Chris scharf an, um sich zu vergewissern, dass er ihr diesmal wirklich zuhörte. Als sie seinen aufmerksamen Gesichtsausdruck sah, war sie offenbar zufrieden und setzte ihre Erklärung fort.

„Ein paar Tage später hatte mich der Professor dann angerufen und gefragt, ob ich ihm bei einem geheimen Projekt helfen möchte. Es ist wirklich unglaublich, was wir seitdem herausgefunden haben. Du wirst begeistert sein!“ Sie sah Chris freudestrahlend an.

„Nicht schlecht. Und wie kann es sich dein Professor leisten, in einem so sauteuren Ort wie Kampen zu wohnen?“ Chris war grundsätzlich skeptisch, wenn Leute viel Geld besaßen und er nicht wusste, ob sie die Kohle tatsächlich ehrlich verdient oder mit irgendwelchen Taschenspielertricks ergaunert hatten.

„Also, soweit ich weiß, gehört ihm noch eine Beratungsfirma, mit der er ziemlich viel Geld verdient. Da er weder Frau noch Kinder hat, gibt er sein Geld für Kunst aus. Ist wohl seine große Leidenschaft. Ist das nicht fantastisch?“

„Okay, nicht übel. Auf den Typ bin ich ja mal gespannt.“

Chris runzelte nachdenklich die Stirn. Was der Professor wohl von ihm wollte? Er war grundsätzlich immer offen für neue Projekte. Solange er das mit seinem aktuellen Job unter einen Hut bringen konnte, war er für jedes Abenteuer zu haben. Und wenn der Kerl wirklich so viel Geld hatte, wie Lara sagte, dann würde er ihm gerne dabei helfen, diese schwere Bürde im Gegenzug für seine unschätzbaren Dienste zu erleichtern.

„Warum grinst du eigentlich so?“, fragte Lara plötzlich, während er so vor sich hinträumte.

Mist, dachte Chris erschrocken und fühlte sich schon wieder ertappt. Er nahm sich vor, seine Gesichtsmuskulatur zukünftig besser unter Kontrolle zu behalten.