Die Neue - Harriet Walker - E-Book

Die Neue E-Book

Harriet Walker

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Beschreibung

Was Frauen Frauen antun Alle beneiden Margot – um ihr perfektes Äußeres, ihren tollen Ehemann und vor allem um ihren Traumjob als Moderedakteurin. Doch als Margot schwanger wird, bricht die äußere Fassade zunehmend zusammen: Maggie, ihre Elternzeitvertretung, läuft ihr von Anfang an den Rang ab und drängt sich immer mehr in alle Bereiche von Margots Leben. Auch das Zerwürfnis mit ihrer besten Freundin Winnie setzt Margot zu, denn Winnie, die ihr in der Jugend schon übel mitgespielt hat, kennt Margots schlimmstes Geheimnis … Als sich die Zeichen mehren, dass Winnie und Maggie sich gegen Margot verbünden, stellt sich immer mehr die Frage: Könnte ihre Tochter in Gefahr sein? Oder ist die Bedrohung, die sie empfindet, nur Einbildung?

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Seitenzahl: 453

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Über das Buch

Alle beneiden Margot – um ihr perfektes Äußeres, ihren tollen Ehemann und vor allem um ihren Traumjob als Moderedakteurin. Doch als Margot schwanger wird, bricht die äußere Fassade zunehmend zusammen: Maggie, ihre Elternzeitvertretung, läuft ihr von Anfang an den Rang ab. Auch das Zerwürfnis mit ihrer besten Freundin Winnie setzt Margot zu, denn Winnie, die ihr schon einmal übel mitgespielt hat, kennt Margots schlimmstes Geheimnis.

Als eine unbekannte Person Margot im Internet bedroht, kommt ihr ein gefährlicher Verdacht: Was, wenn Maggie und Winnie sich gegen sie verbündet haben?

 

 

 

 

Für Moomy und Pops, die mich so weit gebracht haben, weil sie auch selbst

Prolog

Es sah aus, als wäre sie vom Himmel gefallen.

Sie lag vor ihnen allen auf dem Boden, neben ihrem Kopf eine kleine Lache schwarzer Tinte, die sich schnell ausbreitete.

Das Trommeln der Schritte erstarb, als beschuhte Füße ihre Bewegungen einstellten und rings um sie herum stehen blieben. Wo gerade noch Menschen aneinander vorbeigehastet waren, fanden nur noch vereinzeltes Raunen und entsetztes Nach-Luft-Schnappen statt. Aber auch diese Geräusche verstummten nach ein paar Sekunden wie Husten in einem Konzertsaal. Hundert gerade noch plappernde Münder waren mit einem Mal wie geknebelt.

Im Hintergrund – völlig ungerührt von der Schockstarre, in die die Szene die Anwesenden versetzt hatte – ging das Leben weiter. Regentropfen prallten gegen Fensterscheiben; ein Vogel zwitscherte die Imitation eines Handyklingeltons. In der Ferne knallte irgendwo eine Tür zu – der Wind musste sie geschlossen haben, denn in diesem eingefrorenen Moment waren alle menschlichen Aktivitäten erst einmal auf Pause gestellt. Für sie.

Neben ihr bildeten zwei junge Frauen ein symmetrisches Tableau des stummen Entsetzens: Die Hände vor den Mund geschlagen, die Blicke panisch durch den Flur irrend – überall schauten sie hin, eine drängende Frage im Blick. Nur in eine Richtung schauten sie nicht.

Sie sahen nicht einander an.

Und sie würden niemals einander diese Frage stellen.

Je weiter die schwarze Tinte sich auf dem pistaziengrünen Linoleum ausbreitete, desto heller und weniger viskos wurde die Flüssigkeit, bis sie irgendwann genauso aussah wie das, was sie tatsächlich war: Blut.

TEIL 1

Margot

EINS

Ich spürte die Bewegungen meines Babys zum ersten Mal an dem Tag, als Winnies Sohn geboren wurde.

Und eine Stunde später starb.

Ich war gerade aus der Dusche gestiegen und wickelte mir ein Handtuch um den Körper, als ich tief in meinem Inneren die Ahnung einer Bewegung spürte. Ein Beinahe-Purzelbaum, das Gefühl des Schwungs, mit dem man über einen Straßenbuckel fährt. Ein einzelner Schwimmzug, ein Flip, eine in Utero geskatete Halfpipe: die ersten Kindsbewegungen.

Ich schnappte nach Luft, und der Gedanke, dass da etwas in mir lebte, erfüllte mich mit leichter Übelkeit.

Daran ist nur Science-Fiction schuld. Früher symbolisierte dieser Moment das Wunder des Lebens, den Augenblick, in dem das Göttliche gütig auf Bettler und Edelmann gleichermaßen herablächelte. Aber heute ist der gemeinsame Referenzpunkt aller Schwangeren ein Alien, das in einem Schwall aus Blut und Innereien aus dem Brustkorb eines Mannes ausbricht.

Ich musste lächeln und die Gänsehaut an meinen Armen ließ nach. Später schämte ich mich, wann immer ich mich an meinen kurzen Moment des Ekels erinnerte.

In genau diesen Minuten wurde Winnies Sohn in einer winzigen Plastikwanne durch Krankenhausflure geschoben, an seinen violett verfärbten Gliedmaßen klebten noch Spuren des Blutes seiner Mutter. Als ich endlich die Nachrichten voller medizinischer Fachausdrücke auf meinem Handy las, die meine älteste Freundin mir geschickt hatte – sein Herzschlag hatte sich verlangsamt, dann wieder normalisiert –, und sie gerade voller Entsetzen und Erleichterung beantwortete, war es bereits passiert.

Ihre nächste Nachricht lautete einfach nur: Er ist tot.

Ich rief sofort an, bekam aber keine Antwort. In diesem Moment dachte ich nicht im Traum daran, dass ich nie wieder mit meiner besten Freundin reden würde, aber das flaue Gefühl in meinem Inneren, das die Lebhaftigkeit von vorhin abgelöst hatte, erschien mir im Nachhinein wie eine Vorahnung davon, dass dieses schreckliche Ereignis das erste seit zwanzig Jahren sein würde, das wir nicht gemeinsam durchstehen konnten. Wenn sich die Kondolierenden zerstreut haben und die Auflaufformen zurückgegeben sind, wenn die Zeit vergeht und die Jahreszeiten sich ändern, dann ist die Trauer um ein Kind eine einsame Angelegenheit.

Ich hinterließ ihr eine Nachricht, von der ich kein einziges Wort mehr wusste, nachdem ich aufgelegt hatte. Ich schickte ihr eine Nachricht: »Es tut mir so leid. Ich liebe dich und bin für dich da, wenn du mich brauchst.«

Ich muss zur Arbeit. Nach beinahe einem Monat auf den Schauen wurde ich heute im Büro zurückerwartet. Als ich als Assistentin und Mädchen für alles in meinem Beruf angefangen hatte, durfte ich nur auf die Londoner Fashion Week, und selbst das nur mit der Kategorie Ticket, die einem höchstens einen Stehplatz ganz hinten in einer zugigen Halle oder einem Lagerhaus sichert. Von dort musste ich mir den Hals verrenken, um einen Blick auf die ätherischen Kreationen zu erhaschen, die die Models trugen. An die damaligen Designer-Kollektionen erinnere ich mich wegen der Soundtracks und der Frisuren und nicht wegen der Kleider – die schaute ich mir danach online an. Als ich die Karriereleiter hinaufkletterte, wurde mir klar, warum so viele Moderedakteurinnen von Schuhen besessen sind: Die sieht man erst, wenn man einen Platz in der ersten Reihe ergattert hat.

In dieser Saison hatte ich außer London auch New York, Paris und Mailand besucht, genauso, wie ich es in den vergangenen zehn Jahren immer zweimal jährlich getan hatte. Nur dass ich dieses Mal meinen kleinen Schwimmer in seinem schützenden Kokon mit mir herumtrug, mit ihm auf harten Bänken oder weich gepolsterten Brokatsesseln saß, ihn (oder sie, wir hatten uns dagegen entschieden, das Geschlecht herauszufinden, weil Nick das nicht wollte) an den Samtkordeln und den schwarz gekleideten Türstehern vorbei auf Designerpartys und zu Luxusboutique-Eröffnungen schleuste, auf denen ich mit Champagnerflöten anstieß, ohne aus ihnen zu trinken.

Ich lachte über meinen blinden Passagier, wenn ich darüber nachdachte, wie unmöglich es sonst war, bei diesen Events eine Begleitperson einzuschmuggeln – vor allem eine, die so darauf versessen war, möglichst viele der eleganten Mini-Häppchen zu finden und zu verputzen, die von Kellnern mit wie aus Marmor gemeißelten Gesichtern auf silbernen Tabletts serviert wurden.

Aber jetzt war ich zurück in London und musste ins Büro. Heute sollte meine Schwangerschaftsvertretung ausgewählt werden. Die Person, die den Job übernehmen würde, für den ich zehn harte Jahre lang geschuftet hatte. Bis heute hatten sich mir bei der Vorstellung, meine Arbeit einfach so abzugeben, die Haare gesträubt. Aber jetzt konnte ich nur noch an das winzige Lebensfeuer denken, das nur ein paar Kilometer entfernt so schnell wieder erloschen war.

Winnie und ich hatten uns erst letztes Wochenende getroffen, geplaudert und gekichert. Die Monate geplant, in denen wir nicht mehr an den Schreibtisch gefesselt sein würden und die Freiheit genießen wollten, bei Tageslicht gemeinsam mit unseren winzigen Begleitern durch die Gegend zu stromern. In der Straße, in der Nick und ich wohnten, hatte nur ein paar Gehminuten von unserem Haus entfernt ein neues Café mit den üblichen nackten Ziegelwänden und an Kabeln hängenden Glühbirnen eröffnet. Winnies Bus hielt genau davor.

Winnie wusste, dass sie einen Jungen bekommen würde. Sie hatte beim Ultraschall darum gebeten, so schnell wie möglich das Geschlecht zu erfahren. Sie wolle gut für ihn planen und vorher seinen Namen aussuchen, sagte sie, als ich sie scherzhaft einen Kontrollfreak genannt hatte. Seit der zwanzigsten Woche war er Jack gewesen. Als ich bei Winnie auf dem Klo gewesen war – allgemein eine Örtlichkeit, wo ich im Moment einen Großteil meiner Zeit zu verbringen schien und alle halbe Stunde ein paar Tropfen herauspresste, obwohl meine Blase sich immer voll anfühlte –, hatte ich die winzigen weißen Strampelanzüge bestaunt, die im Badezimmer meiner Freundin fein säuberlich aufgereiht zum Trocknen hingen. Danach bewunderte ich das hölzerne Gitterbettchen mit der strahlend weißen Bettwäsche und den Wickeltisch, der mit Windeln, Wattebäuschen und verschiedenen Lotionen ausgestattet war, von denen ich noch nie gehört hatte, obwohl es zu meinem Job gehörte, über obskure und esoterische Schönheitsprodukte aus aller Welt zu schreiben.

Winnie war schon immer mütterlicher gewesen als ich, ruhiger, geduldiger, mehr im Einklang mit ihren Instinkten. Sie war auch viel liebenswürdiger als ich. Sie würde eine so gute Mutter werden, dass ich dankbar war für die fünf Monate, die zwischen ihrem und meinem Geburtstermin lagen – fünf Monate, in denen ich mir ihre Expertise genauso aneignen konnte wie früher in der Schule ihre Physikhausaufgaben.

Ich saß im Bus und fuhr zum Büro, und bei dem Gedanken an all die Vorbereitungen, all das Falten, Stapeln, Glattziehen und Bereitlegen für Jacks heiß ersehnte Ankunft schnürte sich mir die Brust zusammen. Tränen brannten mir in den Augen, als ich mir vorstellte, wie Winnie und ihr Mann Charles in ein Haus zurückkehren mussten, das letztes Wochenende vor Vorfreude beinahe gesummt hatte. Ich stellte mir vor, dass selbst ihre rote Ziegelterrasse vor lauter Trauer einsacken würde, wenn sie heute Abend zu zweit statt zu dritt zurückkehrten.

Sie waren voll und ganz dafür bereit gewesen, Eltern zu werden – sie vibrierten vor Potenzial und glühten vor Aufregung und Nervosität. Während Winnie mit Feuereifer ein Nest baute, hatte Charles alles abgearbeitet, was im Büro liegen geblieben war, denn er hatte vor, Jacks erste sechs Wochen mit den beiden zu Hause zu verbringen.

»Wahrscheinlich schlagen wir uns irgendwann die Köpfe ein«, hatte Winnie am Sonntag gelacht. »Wenn wir uns hier sechs Wochen lang auf die Füße treten.«

Das bezweifelte ich. Wahrscheinlich würden sie sich nicht einmal anschreien. Das taten sie nie. Kein Missklang störte ihre Harmonie, als Charles zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her eilte, uns tassenweise Tee brachte und die Babyartikel holte, die Winnie und er vor der Geburt angehäuft hatten und die sie mir unbedingt zeigen wollte. Er war genauso enthusiastisch gewesen wie sie, so schwanger mit seiner bevorstehenden Vaterschaft gegangen wie sie mit dem eigentlichen Baby.

Charles war weit mehr als nur ein fürsorglicher Ehemann. Er erinnerte mich an einen der Hunde, die sich weigern, ihren schwangeren Frauchen von der Seite zu weichen. Er konnte gar nicht genug für Winnie tun; er war ihr voll und ganz ergeben. Er hatte dank YouTube sogar gelernt, wie man perfekte Fußmassagen gibt. Als die beiden sich schließlich von mir verabschiedeten und mir von der Tür aus nachwinkten, stand er neben ihr auf der Schwelle, den Arm schützend um ihre Taille gelegt.

Die nächste Szene hätte sein sollen, dass er mir die Tür öffnete und mir seinen brandneuen Sohn vorstellte. Nicht dies.

Normalerweise lese ich auf dem Weg zur Arbeit immer die Nachrichten auf dem Handy, aber heute erfassten meine Augen keins der Worte auf dem Display. Während der Doppeldecker durch die smogvernebelten Straßen von Südostlondon schlich, versuchte ich, den Jack, auf den wir alle gewartet hatten, und die Hoffnungen, die er repräsentiert hatte, mit diesem toten Baby in Einklang zu bringen, das beweint und betrauert wurde, statt geknuddelt und verwöhnt zu werden. Das vor ein paar Tagen noch kräftig gegen Winnies pralle Bauchdecke getreten hatte und jetzt still und reglos war.

Ich hatte das Gefühl, in einem Paralleluniversum aufgewacht zu sein, in dem ich geduscht und mich angezogen hatte und jetzt mit der Linie 40 zu einem bizarren neuen Zielort unterwegs war. In der realen Welt war Jack bestimmt heute Morgen gesund auf die Welt gekommen und lag jetzt warm und sicher in den Armen seiner Mutter – Arme, die Winnie als meine liebste Freundin und loyalste Unterstützerin auch schon oft um mich gelegt hatte.

Aber in der alternativen Realität, in der ich mich jetzt befand, hatte sich mein eigenes Baby heute bewegt. Es hatte seine Präsenz, seine Existenz, seinen Anspruch auf mich und die Welt kundgetan. Und es war das Realste – das Lebendigste –, das ich je gespürt hatte.

Die Bewerberinnen saßen nebeneinander vor einer Wand, als ich im Büro ankam. Die glänzenden Haarschöpfe über ihre Handys gebeugt, warteten sie unter einem überdimensionalen aus Plastik geformten Logo der Zeitschrift, für die ich arbeitete: HAUTE. Es war einer von Moffs liebsten Tricks, hoffnungsvolle Stellenanwärterinnen unter diesem ziemlich ostentativen Leuchtsignal zu platzieren. Ich kannte meine Chefin gut genug, um zu wissen, dass sie beinahe alle Aspekte ihres Lebens ganz bewusst in Szene setzte. Moff, die mit Leib und Seele Journalistin war, sah überall Storys: Shootings, Seitenlayouts und Schlagzeilen waren ihr tägliches Brot. Zwei Frauen, die um die seltene Chance konkurrierten, bei einem der erfolgreichsten Modemagazine des Landes einzusteigen – und sei es auch nur als meine Schwangerschaftsvertretung –, das gehörte genau zu der Sorte Geschichten-die-das-Leben-schrieb-Knaller, für die meine Chefredakteurin Emily Moffat lebte und atmete. Ich traute ihr durchaus zu, dass sie die abgelehnte Bewerberin damit beauftragen würde, in der nächsten Ausgabe über diese frustrierende Erfahrung zu berichten.

Ich eilte an den Kandidatinnen vorbei, ohne ihnen allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken, und war dankbar dafür, dass mein Schwangerschaftsbauch noch nicht offensichtlich war. Ich sah noch fast genauso aus wie die beiden schlanken, eleganten Frauen, die hier waren, um sich meinen Posten unter den Nagel zu reißen. Ich zähle zwar nicht zu den dürrsten Hungerhaken der Modebranche, bin aber groß und ziemlich schlank, und mein gesunder Zynismus sagte mir, dass mir das bei den Machtspielchen, die während der Bewerbungsgespräche heute Morgen stattfinden würden, eindeutig von Vorteil wäre. Noch watschele ich nicht irrelevant durch die Gegend, vielen Dank auch.

Moff suchte zwar eine Vertretung, die als Journalistin genauso schnell und effizient schreiben konnte wie ihre aktuelle Moderedakteurin, aber mir war nur allzu klar, dass meine Chefin auch mit Adleraugen darauf achten würde, wie die Bewerberinnen vor der Kamera und auf der Titelseite wirkten, und wie gut sie die sündhaft teuren Designerstücke tragen konnten, die in dem vollgestopften Moderaum am Ende des Flurs so dicht an dicht gehängt waren wie in einem Secondhandshop.

Als ich vor all den Jahren als Praktikantin hier anfing, hatte mich Moffs persönliche Assistentin mit den Worten »Räum mal ein bisschen auf« in diesen Raum bugsiert.

Es gab einige Aspekte an der Arbeit für Haute, die nicht ganz den Der Teufel trägt Prada-Paradigmen entsprachen, die meinem zweiundzwanzigjährigen Ich bei meinem Arbeitsantritt im Kopf herumschwirrten, da ich den Film erst einen Monat zuvor im Kino gesehen hatte. Zum Beispiel die eiskalten Büroklos, in die sich die männlichen Fahrradkuriere, die uns die mit Markenlogos verzierten Kleidersäcke lieferten, schlichen, um zwischen ihren Auftragsfahrten dort heimlich ihre Käseblätter zu lesen; der Gestank von fettigen Speckbrötchen, der aus Spiros Café ins Treppenhaus wehte; die Typen von oben, die für die Fußballzeitschrift Goal! arbeiteten und sich im Aufzug den Hintern kratzten; und die Mäuse, die regelmäßig unter meinem Drehsessel umherhuschten und die Cornflakes-Packung leer fraßen, die ich in meinem Schreibtisch aufbewahrte.

Aber der Zustand des Moderaums war wohl der krasseste Gegensatz zu dem Branchenmärchen, den man sich vorstellen konnte. Ich weiß noch, dass ich – wie alle anderen auch – glänzende Augen bekommen hatte, als ich den Moderaum sehen durfte. Wie jeder, der in diesem verdammten Film gewesen war, hatte ich eine Art perfekt organisierte Designerboutique erwartet, mit beleuchteten Regalen, leiser House-Musik, fein säuberlich an den Wänden aufgereihten Schuhen und Handtaschen, die nur darauf warteten, fotografiert und bewundert zu werden.

Meine Enttäuschung über den Anblick, der sich mir stattdessen bot, war so groß, dass sie an Abscheu grenzte. Der Raum hatte die Größe eines kleinen Badezimmers und war vom Boden bis unter die Decke mit Regalen ausgestattet. In der Mitte standen dicht an dicht vier Kleiderständer. Der Boden war vom Eingang bis zum Fenster an der hinteren Wand hüfthoch bedeckt mit steifen Luxuseinkaufstaschen aus der Sorte Boutiquen, von denen ich bis zum damaligen Zeitpunkt nur gelesen hatte.

Aus ihnen quollen Satin-Stilettos in satten Juwelentönen, Handtaschen aus Krokodilleder mit Nieten und Applikationen aus Roségold, bedruckte Seidenblusen, berüschte Tüllröcke, Leder, Jeansstoff, glänzender Lamé und glitzernde Pailletten. Alles an uns geschickte Teile, damit die Redakteurinnen und Stylisten sich ihre Lieblinge herauspicken, sie an den heißesten Models für Modestrecken fotografieren, sie anprobieren, über sie berichten, von ihnen schwärmen, sie anpreisen und verkaufen konnten – und die von den Assistentinnen zurückgeschickt werden sollten, wenn die Zeitschrift mit ihnen fertig war.

Ich hatte noch nie zuvor so schöne Dinge aus der Nähe gesehen, berührt oder anprobiert (zumindest bis ich im Moderaum allein war). Aber ich hatte auch noch nie eine solche Nachlässigkeit gegenüber Gegenständen erlebt, die mindestens ein Dreifaches meines Monatsgehalts kosteten. Ich passte seit meiner Kindheit gut auf meine Sachen auf, war ordentlich und sorgfältig und respektierte den Wert von Dingen. In diesem Moment begriff ich, wie tief die Kluft zwischen mir und den Frauen hinter der Tür wirklich war. Für sie waren Schönheit und Geld Wegwerfmaterial, da ihnen von beidem unendlich viel zur Verfügung stand.

Ich redete mir gerne ein, dass Moff mich wegen meiner glänzenden Prosa, meiner Schlagfertigkeit und meines knackigen Schreibstils eingestellt hatte – alles Eigenschaften, die meine Chefin im Laufe der Zeit an ihrer Moderedakteurin auch wirklich zu schätzen gelernt hatte –, aber tief im Inneren wusste ich, dass ich den Job bekommen hatte, weil ich den Moderaum-Flohmarkt in eine Leihbücherei verwandelt hatte.

Ich hatte tief durchgeatmet, die Schultern gestrafft und damit begonnen, den Boden von seinem glamourösen Schutt zu befreien. Die kleineren Stücke ordnete ich nach Lieferdatum sortiert in die Regale ein, die mit den Initialen der Redakteurinnen gekennzeichnet waren, die sie bestellt hatten. Die Kleidungsstücke auf Bügeln sortierte ich nach Designer und Saisontrend. Immer mal wieder fand ich in dem Haufen Treibgut in Form eines einzelnen Schuhs oder Ohrrings, den ich beiseitelegte, bis ich das fehlende Pendant gefunden hatte. Ich entdeckte längst verloren geglaubte Schätze, für die wütende Label-Pressesprecher der Redaktion den vollen Preis berechnet hatten – ein Pelzmantel, der sofort in Moffs Eckbüro landete und den sie seither jeden Winter gelegentlich trug; eine mit Diamanten besetzte Haarspange, mit der die Beauty-Redakteurin Trisha an ihrer Hochzeit ihre Frisur geschmückt hatte; ein asymmetrisch geschnittenes Etuikleid aus Seide, das Laura, die damalige Moderedakteurin, Saison um Saison zu den Schauen mitnahm. Dabei zwinkerte sie mir jedes Mal theatralisch zu, um dann dem gesamten Büro zuzuträllern: »Vielen Dank, Miss Jones, Glamour-Putzfrau extraordinaire!«

Das tat schon ein bisschen weh.

Tatsächlich kam ich zwar aus einfacheren Verhältnissen als die meisten anderen Frauen im Büro, die keine Elternhäuser, sondern Familiensitze hatten, aber ich war keineswegs an der Armutsgrenze aufgewachsen. Doch mein ländlicher Tonfall und die Tatsache, dass ich Moff wegen meiner Putz- und Sortierfähigkeiten aufgefallen war, sorgte dafür, dass diese Aschenputtellegende an mir haften blieb. Ich zuckte nur errötend mit den Schultern: Zu den Schätzen, die ich gefunden hatte, gehörte auch ein zerknitterter Gabardine-Trenchcoat, den meiner Vorstellung nach Jackie O. mit einem schwarzen Pulli und Zigarettenhosen kombiniert hätte. Ich hätte jahrelang sparen müssen, um einen dieser Marke zu kaufen, und so viel Geld für ein einziges Stück auszugeben, hätte mich mit Sicherheit in Angstzustände versetzt. Ich bekam ihn geschenkt, weil ich für die Zeitschrift, wie sie sagten, einen großartigen Job gemacht hatte. Damals hatte niemand erwartet, dass ich zehn Jahre später immer noch hier arbeiten würde. Und besagten Trenchcoat immer noch gelegentlich trug, nur jetzt eben als leitende Redakteurin des Moderessorts.

Als das erste Bewerbungsgespräch beginnen sollte, hatte ich immer noch nichts von Winnie gehört. Ich konnte die Tragödie nicht beiseiteschieben und sah immer wieder die kleinen Baumwollmützchen vor mir, die ich für Jack gekauft hatte, die geradezu rührend winzigen Söckchen, über die wir am Sonntag noch gelacht hatten, die Babybadewanne, die am Waschbecken gelehnt hatte.

Ich begriff nicht, warum ich noch immer nicht geweint hatte – dank des Schwangerschafts-Hormon-Nebels, in dem ich gerade existierte, brach ich seit ein paar Wochen normalerweise schon bei Fernseh-Spendenaufrufen für Tierschutzeinrichtungen und Werbespots für Lebensversicherungen in Tränen aus. Stattdessen spürte ich die Trauer meiner Freundin als dumpfen körperlichen Schmerz in meiner Kehle, meinem Herzen, meinen zitternden Händen und meinem Bauch, in dem alles aufgeregte Flattern einer stillen, felsbrockenschweren Traurigkeit gewichen war. Einer Traurigkeit jenseits der Tränen, die nur noch aus Schmerz besteht.

Ich konnte Moff nichts davon erzählen: Weil mir die Worte fehlten, und weil ich sicher war, dass sie nicht damit umgehen konnte. Ich hatte Angst, wie eine rührselige Fernsehsendung zu klingen. Nur da hört man davon, dass Kinder sterben. Kinder sterben jeden Tag, aber wir verschließen die Augen davor. Ich wollte nicht riskieren, vor meiner Chefin in Tränen auszubrechen. Moff konnte nicht gut mit Gefühlen umgehen. Sie würde geschockt und verkrampft reagieren und mich dann höchstwahrscheinlich nach Hause schicken. Aber ich wollte heute auf keinen Fall allein sein. Also hängte ich meinen Mantel hinter meinem Schreibtisch auf und strich das Oversize-Hemd glatt, das ich zu einer dunkelblauen Jeans trug. Noch keine Umstandsmode nötig! Ich kramte in meiner steifen Lederhandtasche (Schwangerschaftstagebuch, Make-up-Täschchen, Wasserflasche, pränatale Vitamine) nach der schwarzen Leder-Pochette, in der ich mein Handy, meine Ausweiskarte und meinen Laptop aufbewahrte, und machte mich auf den Weg in den vollverglasten Konferenzraum neben Moffs Büro.

Die beiden Frauen, die sich als Vertretung für mich beworben hatten, wussten genau, wer ich war. Sie erkannten mich anhand meines Autorenfotos, eines unschmeichelhaft zugeschnittenen Porträts, das die meisten meiner Artikel begleitete und oben direkt neben meinem Namen prangte. Sie kannten mich von den Schauen, bei denen kalligrafisch gestaltete Namenskarten auf Kissen oder in absichtlich engem Abstand auf weißen Bänken ausgelegt wurden, um darauf hinzuweisen, welcher Po wohin gehörte. Während die geladenen Gäste in den Reihen vor dem Laufsteg nach ihren eigenen Namen Ausschau halten, merken sie sich auch die anderen, entweder um sich später eifrig in die Gespräche einzuschalten oder sich in ihren persönlichen Cliquen erbarmungslos darüber auszulassen, welche Makel die betreffende Person aufweist.

Ich hatte Moff gesagt, ich hätte eine ungefähre Ahnung davon, wer die beiden Kandidatinnen seien. Aber in Wahrheit wusste ich es ganz genau. Ich hatte genauso viel Mühe darauf verwendet, meine potenziellen Vertreterinnen zu recherchieren, wie ich auch dafür aufwenden würde, eine Tagesmutter für mein Baby zu finden, wenn ich bereit dazu war, in den Beruf zurückzukehren. Dieser Job schlug zwar keine Salti in meinem Bauch, war aber genauso ein Teil von mir. Zeitraubend, kräftezehrend, manchmal ärgerlich – aber abwechslungsreich und voller Leben: Ich liebte meinen Job. Und ich würde ihn nur in ein fähiges Paar Hände legen.

In die Hände einer Frau, die sowohl dazu fähig war, Moffs Anordnungen Folge zu leisten, als auch dazu, sich in einem Jahr anstandslos wieder zu verpissen.

Die erste Bewerberin, die ich aus den Gesellschaftsspalten kannte, war mit einem Konservendosenfabrik-Erben verheiratet, der Millionen wert war. Ich sah, dass der enorme Reichtum, den diese Frau ausstrahlte, Moffs Interesse weckte. Er war erkennbar an ihrem makellosen Haar, das zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst war, der ihr glänzend über eine Schulter hing, an ihrer strahlenden Haut und den perfekt manikürten, nudefarbenen Fingernägeln. An ihren Pterodactylusflügel-Ellbogen, die man nur bekommt, wenn man sich ausnahmslos auf die Anzahl Kalorien beschränkt, die nötig ist, um die Körperfunktionen aufrechtzuerhalten. Ihre zierliche Puppengestalt war in perfekt sitzende schwarze Hosen und einen schlichten Rollkragenpullover gehüllt, und an den Füßen trug sie ein Paar der Slipper, für die sich fast sämtliche Moderedakteurinnen auf die Warteliste hatten setzen lassen.

Bei dem Gedanken, dass diese Frau an meinem Schreibtisch Platz nehmen könnte, gefror mir das Blut in den Adern. Ich hatte mich in der Gegenwart so reicher und eleganter Menschen schon immer unwohl gefühlt. Mir war klar, dass diese Einstellung nur meiner eigenen Dünnhäutigkeit und Unsicherheit geschuldet war (Winnie tadelte mich immer mit erhobenem Zeigefinger dafür und schnaubte: »Nicht attraktiv!«), aber diese Frau verkörperte alles, was ich nicht war, und wenn sie meinen Job übernahm, dann merkte Moff vielleicht, wie mangelhaft die Originalbesetzung tatsächlich war. Dieses Selbstbewusstsein, das mit einer bestimmten Schulbildung einhergeht, die Ausstrahlung, die Pflege und Schönheit verleihen, diese mühelose Konversation, die auf dem sicheren Wissen beruht, dass die Welt einem zuhören will. Auf keinen Fall.

Während Moff über die Anekdoten der Frau kicherte und sich nach gemeinsamen Bekannten aus der Welt des Pferdesports erkundigte, arbeitete ich meine Strategie aus. Ich hatte den Verdacht, dass jemand, der nicht direkt auf das Gehalt angewiesen war, das diese Position mit sich brachte, wahrscheinlich vor dem Einsatz zurückschrecken würde, den Moff von all ihren Angestellten erwartete. Ich erzählte ihr also von Überstunden im Büro, um das Layout rechtzeitig vor der Druck-Deadline fertigzustellen, von im Regen auf der Straße ins Handy getippten Schlagzeilen, von in höchster Eile verfassten Storys, damit Haute als Erste online gehen konnte.

Die tief liegenden Augen der Frau weiteten sich vor Entsetzen. Das war beinahe zu einfach gewesen! Sie würde ihre Bewerbung bereits auf der Taxifahrt nach Hause höflich per E-Mail zurückziehen.

»Und damit kommen wir zu …« Moff schaute auf den zweiten Lebenslauf, sobald die erste Bewerberin aus dem Raum geschwebt war und die zweite auf der anderen Seite des roten Plexiglastisches Platz genommen hatte.

»Margot?«

»Oh nein«, korrigierte eine warme Stimme, deren Besitzerin sich gerade aus einem gut geschnittenen schwarzen Blazer schälte. »Das steht zwar in meinem Lebenslauf, aber ich war noch nie eine Margot – für mich ist das viel zu förmlich und altmodisch.« Die Frau strahlte mit signalroten Lippen und schüttelte ihre dunklen Locken.

»Ich bin Maggie.«

Maggie

ZWEI

Sie hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen, als sie realisierte, was sie da gerade gesagt hatte. Förmlich! Altmodisch! Der Name, den die Frau vor ihr mit ihr teilte – und über den ihre Augen schon seit Jahren gewandert waren, wenn sie eine Ausgabe von Haute las. Der Name, den ihr eigener im Impressum hätte ersetzen können. Na ja, das konnte sie jetzt wohl vergessen.

Jesus, Maggie, du Vollidiotin.

Sie bekam oft Kommentare über ihre große Klappe – meist von Männern in Pubs oder auf Baustellen –, und mit leuchtend rotem Lippenstift war ihr Mund tatsächlich eines ihrer besten Merkmale. Aber ihre große Klappe in einem derart unpassenden Moment aufzureißen, war ihr bisher noch nie passiert. Bis heute. Typisch. Sie war nicht zu gebrauchen, wenn sie nervös war, und dieses Bewerbungsgespräch machte sie extrem nervös.

Jobs wie dieser waren außerordentlich selten – und das aus gutem Grund. Es war ein ziemlich guter Deal, als Moderedakteurin für ein Hochglanz-Magazin zu arbeiten.

Man sitzt im Büro und schreibt über schöne Dinge, die einem die Leute, die diese schönen Dinge herstellen, zuschicken, damit man sich selbst davon überzeugen kann, wie schön sie sind. Man reist viel herum – zur Fashion Week natürlich, aber auch, um an schönen exotischen Orten schöne, glamouröse Menschen zu interviewen, und manchmal einfach, weil eine Marke, die dich für sich gewinnen will, genug Geld hat, um dich dorthin zu schicken.

Maggie hätte definitiv nichts dagegengehabt, diesen Job zu übernehmen, zumindest für ein Jahr oder bis Margot Jones ihn wiederhaben wollte. Maggie hätte absolut kein Problem damit gehabt, Margot zu vertreten.

Wenigstens war die Moderedakteurin so großmütig, ihr ihren Aussetzer nicht krummzunehmen. Während Maggie noch versuchte, wegen ihres Fauxpas nicht allzu deutlich das Gesicht zu verziehen, warf ihr Margot lächelnd einen Rettungsring zu.

»Hi, Maggie! Ich wusste gar nicht, dass du auch eine Margot bist! Der Name ist wohl doch gar nicht so selten, das merke ich immer wieder. Wie geht es dir?«

Maggie geriet kurz in Versuchung, als Entschuldigung zu erwidern, dass die Frau, die ihr gegenübersaß, vom Scheitel bis zur Sohle eine echte Margot war, eine M-a-r-g-o-t, wie sie selbst sie niemals, niemals sein würde. Maggie war ihrem eleganten Namen nie gerecht geworden: Sie war klein, großbusig und ein bisschen vulgär, und sie neigte dazu, in Gesellschaft unangenehm aufzufallen.

Die andere Margot war groß und gertenschlank – perfekt zurechtgemacht. Ihr Haar war lang, blond und glatt und ihre blasse Haut ebenmäßig. Sie sah so makellos aus wie immer, obwohl sie sich wahrscheinlich grässlich fühlte. Wie schwanger war sie eigentlich? Bestimmt war sie noch nicht sehr weit. Maggie war aufgequollener als sie, das hatte sie daran gemerkt, dass sie den Blazer, den sie von ihrer Mitbewohnerin Cath ausgeliehen hatte, kaum über ihre Arme bekommen hatte.

Aber davon sagte Maggie nichts. Sie sagte: »Mir geht’s gut, danke.«

Maggie sah, wie das Glitzern in Emily Moffats Augen bei ihren Worten erlosch – bisher hatten sie vor Schadenfreude über ihren Fehler und die peinliche Situation, in die sie Margot gebracht hatte, gefunkelt. Maggie verfluchte sich dafür, dass sie nicht spritziger oder interessanter war. Aber Margot schien Vertrauen in sie zu haben.

Sie hatten sich vor Jahren auf einem Presse-Event kennengelernt, wie sie heutzutage von Marken kaum noch veranstaltet wurden: teuer, exzessiv und vollkommen unnötig.

Irgendeine Nischen-Edelwodka-Marke schickte eine Horde Journalisten drei Tage lang nach Island, brachte sie in einem schnieken Hotel unter, kutschierte sie mit einer Flotte schwarzer Mercedeslimousinen zu den heißen Quellen, legte noch eine Hubschraubertour über die Geysire obendrauf und verköstigte sie alle in den hipsten Restaurants von Reykjavik.

Maggie hatte sich durch das Versprechen, in der Kulinarik-Kolumne der Lokalzeitung darüber zu berichten, einen Platz ergattert; Margot war dabei, weil sie die Moderedakteurin von Haute war, also genau die Sorte Person, die deinen Nischen-Wodka kennen muss, wenn deine Firma den Mainstream erobern will. Zumindest in gewissen Kreisen.

Es war ein merkwürdiges Grüppchen. Maggie war anfangs ziemlich enttäuscht gewesen, als sich alle Teilnehmer vor dem Abflug am Gate versammelten und sie sah, dass die meisten Männer mittleren Alters waren, die für große Zeitungen Produktempfehlungen verfassten. Männer mittleren Alters und diese unfassbar glamouröse blonde Frau in einer schwarzen Motorradjacke, grauen Jeans und Stiefeletten, die ihre Mitreisenden genauso entsetzt betrachtete wie Maggie. Sie waren zwar nur durch Zufall aufeinander getroffen, aber sie freundeten sich trotzdem an. Die Männer nutzten die Reise, um sich wie Junggesellen zu benehmen und zu saufen, als wären sie kinderlos. Die beiden Frauen amüsierten sich damit, sie dabei zu beobachten.

»Bei dem Anblick bin ich beinahe froh darüber, dass ich Dauersingle bin«, sagte Maggie am ersten Abend zu Margot, als sie mit dem Rücken an die geflieste Wand einer Cocktailbar gelehnt nebeneinander saßen. Die Bar war als eine Art Hipster-Labor konzipiert und servierte Drinks in Erlenmayerkolben und Reagenzgläsern. Dass ihnen nicht klar war, dass an diesem Konzept rein gar nichts cool war, machte die Betreiber geradezu liebenswert europäisch.

»Bevor ich so einen heirate, bleibe ich lieber für immer allein«, fuhr Maggie fort, als einer der Teilnehmer eine zarte isländische Frau über die Tanzfläche jagte, auf der alle Tänzer höchstens halb so alt waren wie er.

Das war vielleicht ein bisschen übertrieben, aber damals war Maggie von der Liebe sehr enttäuscht gewesen. Ihre letzte ernsthafte Beziehung war bereits sechs Jahre her, und ein paar Monate später würde sie dreißig werden. Sie hatte seit ihrer Trennung zwar ein paar Dates und einige kurzlebige Affären gehabt, aber nichts Langfristiges mehr. Der Unterschied zu jetzt war, dass sie sich inzwischen endlich mit sich selbst wohlfühlte und das Alleinsein meistens ziemlich genoss.

»Dann lieber ein Baby aus so einem Ding«, hatte Margot erwidert und mit dem halb leeren Reagenzglas gewedelt, in dem der Rest ihres giftgrünen Drinks hin und her schwappte.

Sie hatten gelacht und sich dann gegenseitig von ihren schlimmsten Dates erzählt: dem Nasenbohrer, dem Säufer, dem leicht Bedrohlichen (Margot), dem Kerl im bodenlangen Ledermantel (Maggie).

Maggie hatte den Eindruck – und den bekam sie oft, wenn sie Frauen ihres Alters traf, die in einer Beziehung lebten –, dass Margot sie davon überzeugen wollte, dass auch sie im Herzen immer Single bleiben würde. Die meisten dieser Frauen hielten sich im tiefsten Inneren immer noch für Mädchen, die in einer Bruchbude voller Schuhe lebten und rein zufällig den einen Kerl kennengelernt hatten, der kein Arschloch war. Ohne diesen Zufall wären sie noch genau wie Maggie. Und würden in ihrer Bruchbude leben. Maggie vermutete, dass diese Frauen versuchten, sich mit ihr zu solidarisieren, was aber auch nur eine nettere Version von Mitleid ist, wenn die Person, die es tut, erfolgreicher ist als man selbst. Richtig?

Aber auf der Reise hatten sie viel Spaß miteinander gehabt. Sie trafen sich zum Hotelfrühstück und saßen bei Ausflügen nebeneinander. Es war eine der Freundschaften, die man im Ferienlager oder während der Studienorientierungswoche knüpft: funktional, aber intensiv, voller Wärme, aber nicht von Dauer.

Als Maggie wieder zu Hause war, kaufte sie alle Outfits nach, in denen sie Margot gesehen hatte, allerdings in deutlich billigeren Läden, wo die Einkaufstüten nicht aus Papier, sondern aus Plastik waren. Bei näherer Betrachtung hörte sich das zugegebenermaßen ein bisschen gruselig an, aber es war schließlich Margots Job, alle anderen davon zu überzeugen, sich genauso zu kleiden wie sie. Maggie wäre es trotzdem peinlich gewesen, wenn die andere Frau sie dabei ertappt hätte.

Seitdem hatte sie Margot noch ein paarmal gesehen, bei Release-Partys und Abendessen, die neue Label oder edle Schreibwarenmarken gelegentlich ausrichteten. Manchmal auch aus der Ferne von ihrem Stehplatz bei den Schauen aus. Und immer unterhielten sie sich dann miteinander.

Als Margot ihr getextet hatte, dass sie schwanger sei und ob Maggie sich vorstellen könne, ihre Schwangerschaftsvertretung zu übernehmen, konnte sie ihr Glück kaum fassen. Es war nicht hundertprozentig sicher, dass sie den Job bekommen würde, so viel war klar, aber Margots Vertrauen verschaffte ihr einen eindeutigen Vorteil.

Als Freiberuflerin war sie zwar nie völlig pleite, aber was ihre Aufträge anging, wechselten Mangel und Überfluss einander ab, und immer wieder erlebte sie Durststrecken.

Eine feste Stelle reizte Maggie durchaus: Vielleicht konnte sie dann ein bisschen entspannen und tatsächlich das Sparbuch anlegen, das sie für ihre Eltern erfunden hatte. Oder in die Rente investieren, von der sie ihnen immer vorlog. Und dass es sich bei der Zeitschrift um Haute handelte – sie hätte ja gesagt, dies sei das Sahnehäubchen auf dem Kuchen, aber wie sie heute Morgen mit eigenen Augen gesehen hatte, rührte in diesem Büro garantiert niemand dieses Teufelszeug an, ob mit oder ohne Sahne.

Ehrlich gesagt verlief das Bewerbungsgespräch nach dem anfänglichen Ausrutscher sogar ziemlich gut. Maggie war zwar keine Moderedakteurin, aber dafür eine Vollblutjournalistin. Sie erkannte eine gute Story, wenn sie sie vor sich hatte; sie wusste, wie man gute Storys fand, und sie war eine Meisterin darin, aus einer Sache eine richtig große Sache zu machen.

Maggie war schon immer davon fasziniert gewesen, wie aus einer Geschmackssache ein Trend wurde. Und sie hatte schon sehr früh erkannt, dass die meisten Leute nur über die Dinge Bescheid wissen wollten, die jemand anders ebenfalls für interessant hielt.

Mit ihrem Enthusiasmus brachte sie auch Emily Moffat recht schnell wieder auf ihre Seite – sobald die Chefredakteurin merkte, dass sie nicht nur eine nervöse Amateurin vor sich hatte.

Emily Moffat. Maggie musste auch innerlich ihren vollen Namen verwenden, denn schließlich war sie Emily Moffat. In der Zeitschriftenbranche gab es niemanden, der beeindruckender oder mächtiger war als sie. Außerhalb der Modewelt wurde sie ziemlich scharf kritisiert – man nannte sie ein Biest, eine Tyrannin, eine Karikatur ihrer selbst –, aber alle Bekannten von Maggie, die jemals mit ihr zusammengearbeitet hatten, bezeichneten sie als echten Profi. Sogar diejenigen, die jahrelang ein Büro mit ihr geteilt hatten, verfielen in einen ehrfürchtigen Flüsterton, wenn sie von Emily Moffat sprachen.

Und hier war sie nun, saß Maggie gegenüber wie ein zum Leben erwachtes Autorenfoto und interviewte sie. Diese kunstvoll gefönte rabenschwarze Frisur – ein Haarhelm, der an Legofiguren erinnerte. Ein grauer Glencheck-Anzug, der so messerscharf geschnitten war, dass man mit ihm Karotten schneiden konnte. Und ein Gesicht, das so diskret, so perfekt bearbeitet worden war, dass man sie aufschneiden und ihre Jahresringe hätte zählen müssen, um herauszufinden, wie alt sie wirklich war. Und sie interviewte Maggie!

Maggie hatte gespürt, wie die Redakteurin sie taxiert hatte, als sie ins Sitzungszimmer gekommen war. Emily Moffat hatte sie von Kopf bis Fuß mit ausdruckslosem Gesicht gemustert, von ihrem Haar (Maggie hatte es heute Morgen beim Frisör fönen lassen, da sie wusste, dass sie ihre krausen Locken für einen so wichtigen Anlass nicht gut genug in den Griff bekäme) bis zu den bestickten Samtslippern an ihren Füßen, die sie gestern Abend in einem Anflug von Panik noch schnell gekauft hatte (weil Margot bei ihrer letzten Begegnung ein Paar ganz ähnliche getragen hatte).

Während ihres Ganzkörper-Scans registrierte Emily Moffat Maggies geliehenen Blazer (der weitaus besser geschnitten und von edlerer Qualität war, als sie es sich hätte leisten können), ihr »perfektes weißes T-Shirt«, wie Moderedakteurinnen es nannten (soweit sie wusste, rührte die Perfektion daher, dass das Ding knapp hundert Pfund gekostet hatte), ihre schwarzen Hosen (schick, aber seriös) und ihre Vitaldaten. So fühlte es sich auf jeden Fall an. Maggie fragte sich, ob ihre potenzielle Chefin ihr gleich sagen würde, dass sie die falsche BH-Größe trug, wie die Verkäuferinnen in teuren Lingerie-Boutiquen, die auf Anhieb sehen, ob du Körbchengröße C oder D hast.

Maggie hätte niemals zugegeben, wie lange sie dafür gebraucht hatte, ihr Outfit zusammenzustellen, aber sie hatte sogar die Deadline für einen Artikel verstreichen lassen, um möglichst perfekt auszusehen. Was sollte man auch bei einem Bewerbungsgespräch mit jemandem anziehen, der schon vor sechs Monaten entschieden hat, was du heute tragen musst, um »in« zu sein?

Seit Maggie begonnen hatte, mit Moderedakteurinnen zu interagieren – und sei es nur aus der Ferne –, überraschte es sie immer wieder, wie diese Frauen sich im täglichen Leben kleideten. Auf den Hochglanzseiten ihrer Magazine sagten sie dir zwar, dass die 70er der Trend der kommenden Saison oder Pünktchenmuster ein Muss seien, aber wenn man sie in freier Wildbahn erspähte, trugen sie meistens Jeans und Pulli oder eine schlichte weiße Hemdbluse. Gut, es waren natürlich die It-Jeans du jour, und der Pulli war eine Million Prozent Kaschmir, aber von ein paar schrilleren Exemplaren abgesehen waren diese Frauen nur selten die Paradiesvögel, die man erwarten würde.

Für sie war Power Dressing keine Sache des Auffallen-Wollens. Ihr Status lag darin, unbemerkt zu bleiben und so zu signalisieren, dass sie über schnelllebige Trends erhaben waren – es ist viel schwieriger, in dezenter Kleidung hervorzustechen als in einem gelben Tüllrock mit passenden Highheels. Diese Looks überließen sie gerne den Social-Media-Persönlichkeiten.

Wenn Maggie zynisch gestimmt war, dann glaubte sie fest daran, dass Moderedakteurinnen sich so anzogen, weil sie an einem unausgesprochenen Wettkampf teilnahmen, bei dem sie damit punkteten, wie schön sie alle waren. Nur mit Jugendlichkeit, Sport, Pflege und gutem Knochenbau (oder ein bisschen Hilfe) schaffte man es, mit minimalem Make-up, einem blauen Pulli und Baggy-Jeans richtig gut auszusehen. Offensichtlich hatte Margot damit kein Problem. Maggie hingegen sah ohne Schichten von Schminke und gürtelbetonte Taille aus wie die Sorte Teeniejunge, die sich nur durch Grunzer verständigen. Es hatte sie eine Menge Überwindung gekostet, zu dem Bewerbungsgespräch nicht in Highheels zu erscheinen.

Ihre Mitbewohnerin Cath hatte ihren Augen nicht getraut: »Ziehst du wirklich deine Hausschuhe an, Maggie?«, hatte sie ihr heute Morgen zugerufen, während Maggie panisch herumeilte und sich fertig machte.

Hätte Maggie noch etwas mehr Zeit gehabt, hätte sie Cath darüber aufgeklärt, dass sie dazu noch eine seidene Pyjamahose tragen müsste, um wirklich im Trend zu liegen. Nein, ehrlich.

Im Gegensatz zu Emily Moffat, die Maggie von Kopf bis Fuß gescannt hatte, noch bevor sie an ihrem Platz angelangt war, hatte Margot eher desinteressiert gewirkt, wie Maggie aufgefallen war. Die Moderedakteurin schien in einer anderen Sphäre zu schweben. Ihre eisblauen Augen blickten ins Leere, und man sah hin und wieder einen Zahn aufblitzen, wenn sie auf ihrer Unterlippe kaute und mit dem Stift in ihrer Hand spielte. Sie hatte von Maggie erst richtig Notiz genommen, als diese zu reden begonnen hatte (oh Gott, wenn sie ihren dämlichen Einstieg doch nur vergessen könnte!).

Tatsächlich wirkte Margot so abwesend, dass Maggie sich kurz fragte, ob sie so tun sollte, als würden sie sich nicht kennen. Sie hatte schon von Schwangerschaftsvertretungen gehört, bei denen die schwangere Frau und die Bewerberin genau das getan hatten, weil die Chefin niemandem, der von ihrer Angestellten vorgeschlagen worden war, eine realistische Chance gegeben hätte. Den Bossen gefiel der Gedanke nicht, dass die Vertretung von ihrer scheidenden Mitarbeiterin abgesegnet worden war, weil sie nicht mit einem langweiligen Dummchen enden wollten, das die werdende Mutter als harmlos eingestuft hatte.

Natürlich hatte sich Maggie gefragt, ob Margot sie nur deshalb angeschrieben hatte, weil sie sie nicht als Konkurrentin betrachtete. Sie war schließlich keine Idiotin. Und die Antwort lag auf der Hand: Sie war kleiner, fetter, weniger glamourös und weniger erfolgreich als Margot. Normalo-Maggie gegen Skandi-Chic-Margot. Genau die richtige Wahl für Margots Schwangerschaftsvertretung. Aber Maggie wollte auch gern daran glauben, dass die Moderedakteurin sie für den Job für geeignet hielt und in ihr die loyale Mitstreiterin sah und nicht die falsche Schlange.

Nachdem das Gespräch in Gang gekommen war, war Margot aber absolut freundlich gewesen, und das Interview hatte sich bald von einem Verhör zu einer lockeren Unterhaltung entwickelt. Maggie hatte sogar ein paar Witze untergebracht. Als sich der Termin dem Ende zuneigte und Emily Moffat ihr sagte, sie werde in ein paar Tagen von ihrer Assistentin hören, hatte Margot sie sogar freundschaftlich angelächelt. Maggie hatte das Gefühl, dass die schwangere Frau ihr damit sagen wollte, dass alles gut gegangen war. Sie war so erleichtert, dass sie beinahe vergessen hätte, ihre Frage zu stellen.

Man hatte ihr immer gesagt, dass es einen positiven und interessierten Eindruck vermittelte, wenn man beim Bewerbungsgespräch selbst auch eine Frage stellte – solange es die richtige war, natürlich. Und Maggie hatte sich eine zurechtgelegt.

»Wie stehen die Chancen auf eine langfristige Mitarbeit bei Haute, wenn Margot aus der Elternzeit zurück ist?«, fragte Maggie, den Blick auf die Chefin gerichtet.

In diesem Moment geschah etwas Merkwürdiges: Margot hatte gerade ihr Handy gecheckt – während einer Unterhaltung mal kurz den Posteingang zu aktualisieren, um auf dem Laufenden zu bleiben, war inzwischen sogar akzeptabel. Einen Augenblick später war sie leichenblass geworden und zitterte wie Espenlaub. Ihre Lippen erschienen vor ihrer auf einmal grau und klamm wirkenden Haut wie weiße Striche, und ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie blickte Maggie starr an, gleichzeitig aber durch sie hindurch, und die Sehnen an ihrem Hals traten durch die Anspannung hervor.

»Darüber müssen wir noch beraten, Maggie«, sagte sie knapp. »Wenn das dann alles ist …?«

Margot

DREI

Das Foto war beim Eintreffen der Nachricht nicht auf dem Display zu sehen gewesen, nur der Name, auf den ich gewartet hatte, seit ich heute Morgen die schreckliche Nachricht erhalten hatte. Winnie.

Wie geht es dir, du liebe? Wie kann es dir denn gehen? Wie kannst du weitermachen, jetzt, wo die Zukunft zur Vergangenheit geworden ist?

Mit zitternden Händen rief ich die Nachricht meiner Freundin auf. Wegen der Datenmenge dauerte das Laden ein Weilchen.

Auf dem Foto trug Jack eins seiner weißen Baumwollmützchen, das auf seinem Kopf absurd groß wirkte, obwohl es vollständig in Winnies Handfläche gepasst hatte, als sie es mir am Sonntagnachmittag zeigte. Er trug einen weißen Strampelanzug mit Füßchen und Ärmeln, die sich zu Fäustlingen umklappen ließen, was aber nicht geschehen war. Seine winzigen Händchen schauten aus den Ärmeln hervor. Lange schmale Finger mit Fingernägeln, die trotz ihrer unfassbaren Winzigkeit so perfekt waren wie ein Schiff in einer Flasche. Ich stellte mir vor, wie diese Finger sich wie Seetang in einer unsichtbaren Strömung bewegten, wenn er schlief.

Aber er schlief nicht.

Sein weißer Strampelanzug war zerknittert und fleckig, die Mütze behütete einen letzten Gesichtsausdruck. Seine Augen waren geschlossen, die Wimpern dunkel vor der fleckigen Haut, die Lippen blau. Die Schläuche, die sich um ihn wanden, verliefen von seinem Arm zu den Druckknöpfen seines Stramplers und schlängelten sich auf der anderen Seite davon. Sie verbanden Namenloses mit Unbestimmtem, und ihren Sinn verstanden nur die Neonatologen. Jack lag schlaff und aufgebahrt auf dem Leintuch, einen Plüschhasen an der Seite.

Ich kam mir so dumm und oberflächlich vor, weil meine Tränen erst zu fließen begannen, als ich den winzigen Blutfleck auf dem Plüschfell des Hasen entdeckte.

Inzwischen war ich auf der Toilette angelangt. Maggie Beecher hatte ich im Sitzungsraum zurückgelassen, und Moff befand sich längst wieder in ihrem Eckbüro. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, was ich zu den beiden gesagt hatte, nachdem die Nachricht gekommen war. Ich saß in einer Kabine auf der Toilettenschüssel und wurde von kehligen, tierischen Schluchzern geschüttelt.

Weinte ich um Jack? Ich hatte ihn doch nie gekannt. Vielleicht weinte ich um die Idee von ihm. Winnies flachshaariger Junge, ein Siebenjähriger, dessen Fußballspiele abgesagt worden waren und dessen Stollenschuhe nie im Schlamm landen würden. Ein junger Mann, dessen Diplom zu Staub zerfallen war, dessen Hochzeitstag wie schmelzendes Zelluloid in sich zusammensank, und dessen eigene Kinder heute Morgen ebenfalls gestorben waren, als er die Atemzüge verbraucht hatte, die ihm gegönnt gewesen waren. Wahrscheinlich weinte ich um Winnie, die es irgendwie schaffen musste, heute und morgen und nächste Woche durchzustehen, weil die Zeit keinen Respekt vor Tragödien kennt.

Ich schnappte unter Tränen nach Luft und realisierte, dass ich so heftig schluchzte, als sei auch ich selbst verwundet worden. Ich weinte aus Schmerz und Verzweiflung und aus Wut darüber, dass das Leben einem Menschen, den ich liebte, etwas so Schreckliches angetan hatte. Diese Grausamkeit aus heiterem Himmel verstörte mich zutiefst. Ich spürte die Ungerechtigkeit darin wie eine Messerklinge, die sich mir ins Fleisch bohrte: stechend, brennend und immer stärker werdend.

Wenn ich mich so fühle, wie muss es dann erst für sie sein? Ich konnte nicht ahnen, wie oft ich mir diese Frage in den kommenden Monaten noch stellen würde. Ich konnte auch nicht ahnen, dass ich zwar nicht mehr um Winnie und Charles weinen, aber dennoch täglich trauern würde. Dass meine heißen Tränen und erstickten Schluchzer, diese Wehen in einer Kabine der Bürotoiletten, ein Gefühl geboren hatten, das mich nie wieder verlassen würde.

Zu dem Foto gehörte kein Text und ihm folgte auch keine Nachricht. Wahrscheinlich wusste Winnie schlichtweg nicht, was sie sagen sollte. Ich wusste es definitiv nicht.

Als meine Tränen versiegt waren und meine Atmung sich beruhigt hatte, schrieb ich eine Antwort.

»Er war wirklich ein wunderschönes Baby. Es tut mir so unendlich leid.«

Danach rief ich Nick an, packte meine Sachen zusammen und machte mich auf den Heimweg. Die Arbeit konnte warten.

Als Nick am Abend nach Hause kam, klammerte ich mich minutenlang stumm an ihn. Er war sonst kein Fan von ausdauernder körperlicher Zuwendung, aber heute schien er diese Umarmung genauso dringend zu brauchen wie ich.

Als wir uns vor fünf Jahren kennengelernt hatten, hatte ich ihn, meinen neuen Lieblingsmenschen, instinktiv all dem Händchenhalten, Kniestreicheln und Rückenkraulen ausgesetzt, mit dem ich in meiner extrem taktilen Familie aufgewachsen war. Nick hatte mir erklärt, dass er meine Gefühle zwar sehr schätzte, aber nicht genau wusste, wie er mit meiner Berührungsfreudigkeit umgehen sollte. Und dass er sich, wie er mir gestand, dadurch manchmal in seiner Haut unwohl fühlte. Zugegebenermaßen klammerte ich tatsächlich ein bisschen, und inzwischen beschränkte ich meine Umarmungs- und Kussorgien nur noch auf die Gelegenheiten, bei denen ich einen guten Grund dafür hatte.

Aber an dem Tag, an dem Winnies Baby gestorben war, suchte er bei mir genauso sehr nach Trost wie ich bei ihm. Er umschlang mich mit seinem ganzen Körper und legte seinen hellbraunen Lockenkopf auf meinen blonden, den ich instinktiv an seine Schulter geschmiegt hatte, noch bevor er seine Jacke ausgezogen oder den Rucksack abgenommen hatte. Seine Umarmung ließ mein Herz langsamer schlagen, und es war nicht länger ein harter Klumpen in meiner Kehle, sondern wanderte zurück an seinen angestammten Platz in meiner Brust. In Nicks Armen meldete sich auch die sprudelnde kleine Präsenz in meinem Unterleib wieder, die nicht wusste, was am heutigen Tag alles geschehen war – aber irgendwie zu spüren schien, dass Papa zu Hause war.

»Gott, Margot, wie schrecklich. Wie beschissen scheußlich das alles ist.«

Er setzte sich auf unsere steile Holztreppe und vergrub kurz den Kopf in den Händen. »Hast du schon mit ihr gesprochen?«

»Nein«, gestand ich. »Ich habe angerufen, aber sie ist nicht ans Telefon gegangen. Ich habe ein paar Nachrichten geschickt, aber …« Meine Stimme verklang, und ich hielt Ausschau nach dem Apfel, den ich gerade gegessen hatte. Er lag auf dem niedrigen Midcentury-Couchtisch. In letzter Zeit hatte ich ständig etwas zu essen in der Hand gehabt, aber heute hatte ich erst kurz vor Nicks Eintreffen so etwas wie Hunger verspürt. Aber als mein Appetit erwachte, tat er das mit solcher Macht, dass ich an nichts anderes mehr denken und keinen klaren Gedanken fassen konnte.

Außerdem war der Apfel auch eine Ablenkung, auf die ich mich konzentrieren konnte, während ich redete. Ich wollte nämlich nicht, dass meine wahren Gefühle – die direkt hinter meiner Trauer um das tote Baby und mit seinen Eltern lauerten – zum Vorschein kamen.

Als ich Nicks Frage beantwortete, spürte ich immer größer werdende Scham darüber, dass ich mit meiner besten Freundin immer noch nicht über die unaussprechliche Tragödie geredet hatte, die heute Morgen passiert war. Ich hatte Angst davor, was das über unsere Beziehung aussagte, darüber, wie nahe wir uns wirklich standen. Darüber, ob Winnie mich wirklich brauchte. Wie erbärmlich, dass du Winnies Tragödie in eine persönliche Zurückweisung verwandelst. Sie ist wahrscheinlich einfach zu verzweifelt, um ans Telefon zu gehen. Aber der Gedanke ließ mich nicht los: Ich hätte sie sofort angerufen.

In Frauenfreundschaften ist die Liebe auf beiden Seiten nicht unbedingt gleichmäßig verteilt. Ich hatte schon oft das Gefühl gehabt, dass ich mich mehr auf Winnie verließ und sie öfter um Rat bat, als meine Freundin es bei mir tat. Winnie hatte schon immer auf mich aufgepasst, sich für mich eingesetzt, mein Haar gestreichelt, wenn ich traurig war, oder es mir während unserer alkoholisierten Teenagerzeiten aus dem Gesicht gehalten – abgesehen von dem schrecklichen Halbjahr, an das ich nicht gerne zurückdachte.

Sechzehnjährige Mädchen verkrachen sich ständig; ehrlich gesagt, war es ein halbes Wunder, dass uns das nur einmal passiert war.

Ich war immer davon ausgegangen, dass unsere Dynamik darauf basierte, dass Winnie ein paar Monate älter als ich und ein Einzelkind war, aber seit wir erwachsen waren, fragte ich mich häufig, ob es daran lag, dass Winnie beschlossen hatte, mich ein bisschen auf Distanz zu halten. Ob die Vergangenheit doch größere Wellen geschlagen hatte, als mir bewusst gewesen war.

An Nick lag es nicht; Winnie mochte ihn sehr gern. Und es lag auch nicht daran, dass wir unterschiedliche Ansichten vertreten hätten – Winnie und ich waren uns in allem einig: von Kunst und Politik über die relativen Vorzüge verschiedener Promi-Haarschnitte bis hin zu unseren Lieblingsserien. Ich war zu der Überzeugung gekommen, dass Winnie einfach weniger demonstrativ war als ich, ausgeglichener und weniger leicht aus dem Takt zu bringen. Ich konnte mich nicht erinnern, wann meine älteste Freundin zum letzten Mal eine Krise gehabt hatte. Ich hatte im Durchschnitt alle paar Monate eine. Die meisten ließen sich durch eine Flasche Rotwein und gründliches Durchdiskutieren der Situation beheben, egal, wie banal mein Problem auch sein mochte. Ich konnte alles meistern, wenn ich auf Winnies Kelim saß und ihre Katze Clover streichelte.

Seit wir gemeinsam schwanger geworden waren, hatte sich unsere Freundschaft wieder vertieft. Wir waren wieder wie damals als Schulmädchen – VH, wie ich diese Zeit nannte. Vor Helen. Wir schrieben uns während der Arbeit den Tag über E-Mails und schickten den ganzen Abend lang Nachrichten hin und her: diesen Buggy oder lieber doch den anderen; welche Zusatzvitamine; hast du den neuesten Ratgeber für schmerzfreie Wehen gelesen; gibt es so etwas überhaupt?

Ich freute mich sehr darüber, dass wir uns wieder so nahestanden. Die Intensität unserer Freundschaft hatte in unseren Zwanzigern immer wieder ab- und zugenommen, je nachdem, in welche Richtungen wir uns entwickelt hatten. Winnie war schon früh mit Charles sesshaft geworden. Ich hatte länger gebraucht, um Nick zu finden, und war deshalb auch viel länger bis in die Puppen feiern gegangen, um dann am nächsten Tag noch länger zu schlafen.

Ich hatte aber sorgfältig vermieden, den Kontaktanstieg zwischen mir und Winnie ihr gegenüber zu thematisieren. Schließlich kannte ich meine Freundin gut genug, um zu wissen, dass leidenschaftliche Gefühlsbekundungen ihr ziemlich unangenehm waren. Vor Jahren, an ihrem und Charles’ Hochzeitstag, hatte ich meiner ältesten Freundin eine Karte geschrieben, in der ich ihr aufrichtig geschildert hatte, wie viel sie mir bedeutete. Winnie hatte sie geöffnet, gelesen und nie wieder erwähnt.

»Oh Mann«, sagte Nick, wischte sich die Hände an der Hose ab und stand auf, um die Treppe hinaufzugehen. »Wir müssen einfach für sie da sein, wenn sie so weit sind. Kam keine Antwort auf deine Nachrichten?«

»Nur eine.« Ich versuchte vergeblich, den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken. Meine Stimme zitterte, als ich an das Foto dachte. Ich wollte den kleinen Leichnam und das leblose Gesichtchen nie wieder sehen, aber ich wusste, dass ich Winnie im Stich lassen würde, wenn ich nur den Schrecken zuließ und mich auf das Groteske konzentrierte, anstatt dem wunderschönen kleinen Jungen Beachtung zu schenken, der Jack gewesen war.

»Hier.« Ich reichte Nick mein Handy. Als er das Foto sah, wurde er kreidebleich.

»Jesses. Musste sie dir das wirklich schicken?«, keuchte er.

Ich musste zugeben, dass ich gar nicht weiter über das Foto nachgedacht hatte. Was mir im Nachhinein ziemlich dumm vorkam. Ich hatte es den ganzen Tag betrachtet und wurde das Bild nicht mehr los, aber mir war überhaupt nicht aufgefallen, dass es eigentlich ziemlich seltsam – beinahe aggressiv – war, einer schwangeren Frau das Foto eines toten Babys zu schicken. Aber so hatte Winnie das natürlich nicht gemeint. Sie hatte mir das Bild geschickt, weil wir beide uns so nahestanden.

So nahe, dass sie nicht einmal ans Telefon geht, wenn ich anrufe.

»Sie ist meine beste Freundin, Nick«, sagte ich tonlos. »Wir teilen alles miteinander.«

»Arme Winnie«, murmelte er, zog mich dann wieder an sich und küsste mich aufs Haar. »So etwas verdient wirklich niemand. Ich hoffe nur, dass sie irgendwann einmal darüber hinwegkommen werden.«

In dieser Nacht träumte ich von Brutkästen und Beatmungsgeräten, von lebenserhaltenden Systemen und Tragbahren. Von Wiegen und Totenbetten.

Manchmal lag ich ausgestreckt auf ihnen und flehte um Hilfe, die niemals kommen würde. Manchmal schaute ich auf Winnie herab, die aber nicht den blauen Standard-Patientenkittel trug, sondern unsere grün-graue Schuluniform.

Ich hatte schon immer eine sehr lebhafte Fantasie, und seit ich schwanger war, träumte ich so intensiv wie noch nie zuvor in meinem Leben. Wenn ich das Licht ausgeschaltet hatte, reiste ich in meinen Träumen mehrmals um die Welt, bis mich das Piepsen meines Weckers aus dem Schlaf riss, und meine Reisen wurden immer lebensechter und realer.

In der Woche, in der ich herausfand, dass wir ein Baby bekommen würden, führte ich im Traum ein langes, interessantes Gespräch mit meiner Großmutter, die schon seit beinahe zehn Jahren tot war. Als ich die Zwölf-Wochen-Marke überschritt und begann, meine freudige Neuigkeit mit anderen Menschen zu teilen, drückte meine Psyche den »Play«-Knopf und lieferte mir einen Traum davon, wie ich ein blondes, engelhaftes kleines Mädchen mit rosigen Wangen auf meinem und Nicks Bett stillte, während Sonnenlicht durch die Jalousien ins Zimmer fiel. Ich war beinahe enttäuscht darüber gewesen, dass ich wieder aufgewacht war.

Aber in der heutigen Nacht waren meine Träume dunkel und erdrückend. Immer wieder brachte ich tote Babys zur Welt, zog winzigen Leichen Strampelanzüge an und versuchte, sie zu stillen, nur um festzustellen, dass sie keine Münder hatten. Ich wachte schweißgebadet und tränenüberströmt, aber mit ausgedörrtem Mund auf und torkelte – schon wieder – zur Toilette. Ich fragte mich, ob Winnie wohl gerade schlief, ob sie überhaupt schlafen konnte oder jemals wieder schlafen würde. Bestimmt hatte sie ein Schlafmittel bekommen, das ihr dabei half. Ganz bestimmt. Wenn ich doch nur mit ihr reden könnte.