Die neue Mutter - Bettina Clausen - E-Book

Die neue Mutter E-Book

Bettina Clausen

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Liza, hör auf, mir die Haare zu zerstruwweln«, rief der fünfjährige Rolf und packte sein übermütiges Schwesterchen bei den Handgelenken. Das dichte dunkle Haar hing ihm widerspenstig in die Stirn. »Au, lass mich los«, wehrte sich Liza. »Du denkst, weil du ein Jahr älter bist, kannst du alles mit mir machen, was du willst.« Sie entwand ihre Hände dem Bruder und lief durch den Garten aufs Haus zu. »Wo willst du hin?«, rief Rolf ihr nach. »Zu Mutti!« »Bleib da! Oder hast du vergessen, dass wir sie den ganzen Nachmittag in Ruhe lassen wollten, weil sie sich nicht wohlfühlt?«, erinnerte Rolf seine Schwester. Liza blieb stehen und strich sich die blonden Locken aus dem Gesicht. Ein enttäuschter Ausdruck trat in ihre Augen. »Ooch«, machte sie. »Warum geht es Mutti so oft schlecht?« »Weiß ich doch nicht. Auf jeden Fall dürfen wir sie nicht immer stören, wenn sie sich mal hinlegt.«

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Seitenzahl: 150

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Sophienlust – 507 –

Die neue Mutter

Bettina Clausen

»Liza, hör auf, mir die Haare zu zerstruwweln«, rief der fünfjährige Rolf und packte sein übermütiges Schwesterchen bei den Handgelenken. Das dichte dunkle Haar hing ihm widerspenstig in die Stirn.

»Au, lass mich los«, wehrte sich Liza. »Du denkst, weil du ein Jahr älter bist, kannst du alles mit mir machen, was du willst.« Sie entwand ihre Hände dem Bruder und lief durch den Garten aufs Haus zu.

»Wo willst du hin?«, rief Rolf ihr nach.

»Zu Mutti!«

»Bleib da! Oder hast du vergessen, dass wir sie den ganzen Nachmittag in Ruhe lassen wollten, weil sie sich nicht wohlfühlt?«, erinnerte Rolf seine Schwester.

Liza blieb stehen und strich sich die blonden Locken aus dem Gesicht. Ein enttäuschter Ausdruck trat in ihre Augen. »Ooch«, machte sie. »Warum geht es Mutti so oft schlecht?«

»Weiß ich doch nicht. Auf jeden Fall dürfen wir sie nicht immer stören, wenn sie sich mal hinlegt.«

»Sie legt sich aber oft hin«, schmollte Liza. Sie hatte ein großes Bedürfnis nach Liebe und Zärtlichkeit. Und gerade das vermisste sie in der letzten Zeit bei der Mutter.

»Na ja, weil sie sich eben oft nicht wohlfühlt und Ruhe braucht«, erklärte der Bruder seiner Schwester altklug.

»Das ist aber gar nicht schön. Man kann nie mit Mutti spielen und sie auch gar nichts mehr fragen«, beschwerte sich Liza. »Wenn Vati wenigstens da wäre …« Es klang wie ein Seufzer.

»Dass Mädchen immer so quengelig sein müssen«, schnaufte Rolf. »Vati ist weit weg in Afrika. Er kann nicht hier sein, weil er dort arbeiten muss. Schließlich hast du ja mich.«

»Phh«, machte Liza und winkte mit der Hand ab. »Dich kann ich doch nicht das fragen, was ich Vati fragen möchte.«

»Dann musst du eben noch ein halbes Jahr warten, bis Vati wiederkommt«, antwortete Rolf beleidigt.

»Warum muss er so lange in Afrika bleiben?«, wollte Liza zum soundsovielten Male wissen.

»Weil er dort Häuser baut«, erklärte der Bruder überlegen.

»Er baut selbst Häuser?«, fragte Liza verwundert.

Rolf schlug sich mit der Hand vor den Kopf, wie er es von Erwachsenen gesehen hatte. »Natürlich baut er selbst keine Häuser. Vati ist Architekt, er macht die Pläne dafür.« Wie das in Wirklichkeit aussah, konnte er sich allerdings selbst nicht vorstellen. Aber das hätte er natürlich nie zugegeben.

Liza war gekränkt. »Wenn ich dir nicht gescheit genug bin, dann brauchst du ja nicht mit mir zu spielen«, stellte sie beleidigt fest und lief davon.

Doch das konnte Rolf nun wieder nicht ertragen. Er liebte seine Schwester zärtlich, auch wenn er ihr ab und zu zeigen musste, wer der Ältere und Klügere war. »Lizalein, warte doch«, rief er und lief ihr nach. »So habe ich das doch nicht gemeint«, entschuldigte er sich atemlos, als er sie eingeholt hatte.

Liza schaute den Bruder an und sagte nichts.

Bittend ergriff Rolf ihre Hand. »Bist du wieder gut?«

Liza nickte. Sie hätte einen Streit mit dem Bruder gar nicht ertragen. Plötzlich verdunkelten sich ihre Augen. »Rolfi, glaubst du, dass Mutti sterben muss?«, fragte sie kläglich und hilflos.

»Wie kannst du so etwas Dummes fragen!«, platzte da der Bruder wieder ärgerlich heraus.

Sofort begann Liza zu weinen. »Wenn sie doch so krank ist und wir sie nicht stören dürfen«, schluchzte sie.

Schreckliche Angst überfiel Rolf. Hilflos legte er seiner Schwester den Arm um die Schulter und bat: »Wein doch bitte nicht, bitte, sonst muss ich auch weinen. Mutti stirbt bestimmt nicht. Wir brauchen sie doch!«

Mit tränenblinden Augen schaute Liza den Bruder an.

»Wir haben ja sonst niemand, nicht wahr? Vati ist weit fort, und unsere große Schwester kennen wir fast gar nicht.«

»Du meinst Ramona?«, fragte Rolf.

Liza nickte.

»Sie ist ja unsere Stiefschwester«, belehrte Rolf seine kleine Schwester.

»Was ist Stiefschwester?«, wollte Liza wissen.

Sie ist unsere Stiefschwester, weil unser Vati nicht ihr Vati ist«, erklärte Rolf der Schwester.

»Das verstehe ich nicht«, beschwerte sich Liza. »Wer ist denn dann ihr Vati?«

»Ach, das weiß ich auch nicht. Die Erwachsenen haben lauter so komische Sachen«, schimpfte Rolf, der nun auch durcheinandergeraten war. »Auf jeden Fall ist unsere Mutti ganz bestimmt auch Ramonas Mutti.«

Lizas Züge hellten sich auf. Sie nickte. Das leuchtete ihr nun wieder ein. »Dann hat sie uns bestimmt auch lieb, nicht wahr?«

»Wer? Ramona?«

»Ja. Möchtest du nicht, dass sie immer bei uns ist?«, fragte Liza.

Rolf zuckte die Schulter.

»Weiß ich nicht. Wir haben sie ja nur einmal gesehen, als wir in Heidelberg bei unserer Tante waren. Und daran kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Vielleicht ist sie recht eingebildet.«

»Das glaube ich nicht«, verteidigte Liza die große Schwester. »Sie ist bestimmt nett.«

Sie beratschlagten noch eine Weile, ob sie Ramona nett finden sollten oder nicht, da rief die Mutter nach ihnen. Wie auf Kommando rasten sie alle beide zum Haus.

»Siehst du, Mutti ist aufgestanden«, rief Liza noch im Laufen dem Bruder zu. Einen Moment lang hoffte sie, die Mutter würde die Arme ausbreiten und sie auffangen, wie sie es früher immer getan hatte.

Doch dazu fühlte Marianne Timbre sich zu schwach. Sie bemühte sich um ein Lächeln und streckte ihren Kindern beide Hände entgegen. »Na, war es schön im Garten?«

»Ja«, bestätigten alle beide begeistert. »Es ist schon richtig warm.«

»Werden die Bäume bald blühen?«, wollte Liza wissen.

»Lange kann es nicht mehr dauern«, verriet ihr die Mutter. Dann brachte sie die beiden ins Badezimmer, damit sie sich vor dem Essen noch die Hände wuschen.

»Hast du keinen Hunger, Mutti?«, fragte Liza während des Essens, als Marianne Timbre ihren Teller fast unberührt wieder von sich schob.

Ein gequälter Ausdruck trat in die Augen der Frau. Sie wusste, dass sie den Kindern ein schlechtes Beispiel gab. Aber das Schwächegefühl war einfach nicht zu überwinden.

Da kam Rolf ihr mit sicherem Instinkt zu Hilfe. »Du siehst doch, dass Mutti sich nicht wohlfühlt, Liza. Und wenn es einem nicht gut geht, kann man auch nichts essen. Stimmt’s Mutti?«

Dankbar streichelte Marianne die Hand ihres Sohnes. »Du bist wirklich ein kluger Junge«, lobte sie, bemühte sich jedoch im gleichen Augenblick auch um Liza, um keinerlei Eifersucht aufkommen zu lassen.

Mit einem innigen Kuss brachte Marianne Timbre Liza und Rolf schließlich zu Bett.

Es hilft nichts, ich muss morgen zum Arzt gehen, nahm sie sich vor, bevor der Schlaf auch sie übermannte.

Gleich am nächsten Morgen bat sie ihre Haushälterin, auf die Kinder achtzugeben, da sie zum Arzt müsse.

»Das wird aber auch Zeit, gnädige Frau«, mahnte die ältere Frau besorgt. »Sie hätten schon viel früher gehen müssen.«

Seit die Mutter sich so schlecht fühlte, besuchten Liza und Rolf jeden Vormittag einen Kindergarten. Doch eigenartigerweise konnten sie sich nicht einleben, obwohl sie ansonsten aufgeschlossen und kontaktfreudig waren. Sie freuten sich jeden Mittag, wenn sie wieder nach Hause durften.

An diesem Mittag war die Mutter nicht da, als sie nach Hause kamen.

»Eure Mutti muss jeden Moment kommen«, versuchte die Haushälterin die Kinder abzulenken.

»Aber wo ist sie denn?«, wollte Rolf nun wissen.

»Eure Mutti ist zum Onkel Doktor gegangen.« Es hatte so selbstverständlich wie möglich klingen sollen. Doch Liza und Rolf waren sofort argwöhnisch.

»Siehst du, es ist doch ganz schlimm«, jammerte Liza, an den Bruder gewandt.

»Das ist doch noch gar nicht heraus«, hielt Rolf ihr entgegen. Aber auch er fühlte plötzlich einen Kloß im Hals.

Da vernahmen die beiden das vertraute, quietschende Geräusch der Gartentür und rasten aus dem Haus. »Mutti! Mutti«, riefen beide und liefen der Mutter entgegen.

Marianne Timbre zauberte ein schwaches Lächeln auf ihr erschöpftes Gesicht. Sie küsste die beiden Kinder zärtlich.

»Bist du arg krank?«, fragte Liza ängstlich.

Eigentlich hatte die Mutter den Arztbesuch vor den Kindern geheim halten wollen, doch das ging nun nicht mehr.

»Ich weiß noch gar nicht, ob mir überhaupt etwas fehlt«, beruhigte sie die Kinder.

»Wann weißt du es denn?«, fragte Rolf.

»Vielleicht in ein paar Tagen. Ich muss erst gründlich untersucht werden, und das dauert einige Tage«, erklärte die Mutter.

»Wieso musst du dich so lange untersuchen lassen, wenn du vielleicht gar nicht krank bist«, fragte Liza verständnislos.

Marianne Timbre beugte sich herab und wollte ihre kleine Tochter auf den Arm nehmen. Doch beim Heben verspürte sie einen so stechenden Schmerz, dass sie Liza schnell wieder auf den Boden stellte. »Kommt, wir wollen zu Mittag essen. Anschließend schreiben wir Ramona einen Brief.«

Neugierig schaute Rolf auf. »Was schreiben wir ihr denn?«

»Wir werden sie fragen, ob sie uns nicht besuchen will«, erwiderte die Mutter.

Begeistert klatschte Liza in die Hände. »Das ist toll! Hast du gehört, Rolf, Ramona wird uns besuchen.«

»Ob sie wirklich kommt, wissen wir doch noch gar nicht«, belehrte Rolf seine Schwester. »Mutti will sie ja erst fragen. Soll sie deswegen kommen, weil du krank bist, Mutti?« Mit großen ernsten Augen forschte der Junge im Gesicht seiner Mutter.

Marianne Timbre zögerte sekundenlang mit der Antwort. Dann entschied sie sich für die Wahrheit. »Ja, das ist der Grund«, bestätigte sie. »Damit ich euch nicht immer allein lassen muss, wenn ich zum Arzt gehe oder mich hinlegen will.«

Der Brief an Ramona wurde nicht sehr lang. Marianne teilte ihrer Tochter in wenigen Worten mit, dass sie krank sei und Ramonas Hilfe brauche. Alles andere wollte sie ihr mündlich sagen, denn sie fühlte sich einfach nicht kräftig genug, einen längeren Brief zu schreiben.

*

Ramona erhielt den Brief der Mutter einen Tag später. Verwundert las sie die wenigen Zeilen und setzte sich dann nachdenklich ans Fenster.

»Gehst du heute nicht zur Vorlesung, Ramona?«, fragte die Tante, als sie Ramona gedankenverloren im Wohnzimmer sitzen sah, obwohl sie schon längst hätte unterwegs zur Universität sein müssen.

Ich glaube nicht«, erwiderte Ramona. Dann zeigte sie ihrer Tante den Brief der Mutter.

Langsam, Wort für Wort las die Tante den Brief. »Es ist doch sonst nicht Mariannes Art, so knapp zu schreiben«, stellte sie ebenfalls nachdenklich fest. »Schade, dass ich schon alt und gebrechlich bin. Ich würde dich sonst begleiten oder an deiner Stelle zu Marianne fahren.«

Ramona schüttelte den Kopf. »Nein, Tantchen, das ist meine Aufgabe. Mama braucht mich, und deshalb werde ich auf dem schnellsten Weg nach Hause fahren.« Sie trat zum Telefon, um sich die Abfahrtszeiten der nächsten Züge durchgeben zu lassen.

Mit Tränen in den Augen verabschiedete sich Ramona zwei Stunden später von der Tante. Ihre blauen Augen, die einen reizvollen Kontrast zu dem dunklen Haar bildeten, blickten nachdenklich und sehr ernst. Zum ersten Mal überlegte sie jetzt, ob es richtig gewesen war, in Heidelberg zu studieren. Aber schließlich war es die Mutter selbst gewesen, die ihr vor sechs Jahren geraten hatte, in Heidelberg zu studieren und bei der Tante zu wohnen. Das war kurz vor der Heirat ihrer Mutter gewesen.

Als Ramona im Zug saß, überlegte sie, wie schon so oft, noch einmal, ob es vielleicht damals ihrem Stiefvater, Marc Timbre, nicht recht gewesen war, eine so große Tochter im Haus zu haben. Ramona hatte diese zweite Ehe der Mutter nie begriffen. Schließlich war Marc Timbre fast zehn Jahre jünger als die Mutter. Trotzdem musste es allem Anschein nach eine Liebesheirat gewesen sein. War es nicht eigenartig, dass sie ihren Stiefvater nie kennengelernt hatte? Doch sie musste zugeben, dass das allein ihre Schuld war, denn zu der Hochzeit war sie aus Trotz und Starrsinn nicht erschienen. Und nach drei Ehejahren hatte der Stiefvater dann dieses blendende Angebot in Südafrika bekommen.

Ramona rechnete nach. Zweieinhalb Jahre lebte er nun schon von seiner Familie getrennt. In einem halben Jahr musste sein Vertrag abgelaufen sein.

Ramona war so in ihre Überlegungen vertieft, dass sie erschrocken auffuhr, als der Zug auf dem Frankfurter Hauptbahnhof hielt. Schnell schlüpfte sie in ihren Mantel und angelte den Koffer aus dem Gepäcknetz. Da sie umzusteigen hatte, musste sie sich beeilen, um den Anschlusszug nicht zu verpassen.

Endlich war es dann so weit, dass sie in ihrer Heimatstadt aus dem Zug stieg. Mit einem Taxi erreichte sie das Elternhaus schon nach zehn Minuten.

Während der ganzen Fahrt hatte Ramona vor allem an die Mutter gedacht. Jetzt galten ihre ersten Gedanken Liza und Rolf.

Da öffnete sich auch schon die Haustür, und die Geschwister kamen herausgestürmt. »Sie ist es! Sie ist es«, rief eine lebhafte Jungenstimme.

Ramona stellte den Koffer ab und wartete, bis die beiden bei ihr waren. Rolf fiel ihr zuerst um den Hals, aber gleich darauf war Liza da und streckte Ramona ihre Ärmchen entgegen.

Ramona ging in die Hocke und umarmte beide gleichzeitig. Als sie die weichen Kindergesichter an ihrer Wange fühlte, spürte sie plötzlich einen drückenden Kloß im Hals. Wie lieb die beiden waren!

Sie küsste beide zärtlich und nahm sie dann bei der Hand, um mit ihnen zum Haus zu gehen.

»Der Koffer?«, erinnerte Rolf. Aber da war auch schon die Haushälterin da, um sich um das Gepäck zu kümmern. Scheu begrüßte sie das junge Mädchen, das ihr noch unbekannt war.

»Schön, dass du das bist«, flüsterte Liza der großen Schwester zu, als sie das Haus betraten.

Ramona strich ihr zärtlich über die blonden Locken. Ob sie die von ihrem Vater hatte? »Wo ist Mama?«, erkundigte sie sich.

»Mutti liegt im Bett«, antwortete Rolf. »Soll ich dich zu ihr bringen?«

Ramona nickte. Überrascht betrachtete sie die große Halle. Das Haus hatte sich auf erstaunliche Weise verändert. Früher war es ihr viel kleiner und enger vorgekommen, nicht so weiträumig. Doch dann fiel ihr ein, dass ihr Stiefvater ja Architekt war. Das erklärte alles.

Liza und Rolf blieben hinter ihr, als Ramona das Schlafzimmer der Mutter betrat. Ihr Schritt stockte, als sie die magere bleiche Gestalt in den Kissen gewahrte.

Das konnte doch nicht Mama sein! Mit einem schmerzlichen Laut in der Kehle, den sie zu unterdrücken versuchte, stürzte Ramona zum Bett. »Mama, liebe Mama!«

Die Mutter streckte die Arme aus und umfing ihre große Tochter zärtlich. »Danke, dass du gekommen bist«, flüsterte sie.

Liza und Rolf standen andächtig daneben. Sie fühlten keinerlei Eifersucht. Als Ramona sich auf der Bettkante niederließ, gingen sie zur anderen Seite des Bettes und setzten sich ebenfalls auf den Rand.

»Mutti liegt schon den ganzen Tag im Bett«, berichtete Rolf der großen Schwester.

Besorgt betrachtete Ramona das Gesicht der Mutter. »Warst du schon beim Arzt, Mama?«

Die Mutter nickte. »Ich soll von Kopf bis Fuß gründlich untersucht werden. Aber so etwas braucht seine Zeit. Jede einzelne Untersuchung nimmt fast einen ganzen Vormittag in Anspruch.«

Ramona nickte. Sie studierte Medizin. Deshalb ängstigte sie auch die große Gewichtsabnahme der Mutter so sehr. Aber sie sprach ihre Gedanken nicht aus.

»Soll ich dich zu den weiteren Untersuchungen in die Klinik begleiten?«, schlug sie vor.

»Bleib lieber bei den Kindern«, bat die Mutter. »Das ist auch der Grund, weshalb ich dir schrieb. Die beiden sind sonst zu viel allein.«

»Natürlich werde ich mich um euch kümmern.« Ramona schaute ihre Geschwister liebevoll an. »Wir können ja Mama in die Klinik begleiten und anschließend spazieren gehen«, schlug sie vor.

»Au ja, das ist fein«, freute sich Liza.

Rolf hatte gleich noch einen anderen Vorschlag. »Wir könnten auch zum Eisessen gehen.«

Da kam auch in Lizas Augen ein genüssliches Leuchten, sodass Ramona den beiden versprach, sie zum Eisessen einzuladen.

Marianne Timbre wollte rasch zum Abendessen aufstehen, doch Ramona bestand darauf, ihr das Essen ans Bett zu bringen. Sie wollte die Gelegenheit nutzen und mit der Mutter ein wenig allein sein.

»Seit wann spürst du diesen Schwächezustand?«, fragte sie, sobald sie mit der Mutter allein war.

Eigentlich schon seit einem halben Jahr«, berichtete die Mutter. »Anfangs war es nur vorübergehend und sah ganz harmlos aus. Deshalb achtete ich auch nicht weiter darauf.«

»Bitte, iss ein wenig von der kräftigen Brühe«, bat Ramona und versuchte, die Angst in ihrer Stimme zu unterdrücken.

Doch die Mutter schob das Essen von sich. »Ich kann nichts essen.« Sie schaute ihre Tochter plötzlich direkt an. »Ich glaube nicht, dass ich noch lange leben werde«, sagte sie ernst.

»Aber, Mama, wie kannst du so etwas sagen? Du kennst doch noch nicht einmal die Diagnose der Ärzte«, hielt Ramona ihr entgegen.

»So etwas spürt man, mein Kind. Deswegen rief ich dich auch zu mir.«

Da konnte Ramona sich nicht länger beherrschen. Schluchzend sank ihr Kopf auf die Schulter der Mutter. »Das ist nicht wahr, Mama. Du wirst wieder gesund werden, du musst! Wir brauchen dich doch!«

Gerührt streichelte Marianne das Haar ihrer Tochter. »Du wirst stark sein müssen, mein Kind.«

Ramona klammerte sich hilflos an die schwachen Schultern der Mutter. Sie wollte einfach nicht wahrhaben, was sie gehört hatte, obwohl ihr eine innere Stimme dasselbe sagte.

Als Ramona die Stimmen der Kinder auf dem Korridor hörte, löste sie sich von der Mutter und trocknete ihre Tränen. »Bitte, iss ein wenig«, bat sie fast demütig. »Ich werde inzwischen mit Liza und Rolf essen.«

Ramona verließ das Schlafzimmer der Mutter. Liza und Rolf drückten sich in der Halle herum. »Wollen wir essen?«, fragte sie die beiden.

Ja, das Essen ist schon aufgetragen«, antwortete Liza und ergriff Ramonas Hand.

»Musst du schon bald wieder fort oder wirst du länger bei uns bleiben?«, fragte Rolf, als er nach dem zweiten Wurstbrot griff.

Ramona dachte an ihr Studium, das sie unterbrochen hatte. Einige Wochen Pause würden nicht schaden, das konnte sie wieder aufholen. Aber wie sollte es weitergehen, wenn die Mutter wirklich nicht gesunden würde? »Ich werde für längere Zeit bei euch bleiben. Auf jeden Fall so lange, bis Mama wieder gesund ist«, versprach sie den Kindern.

Gerührt beobachtete sie, wie Liza und Rolf sich freuten.

Nach dem Essen brachte sie die beiden zu Bett.

»Spielst du noch ein bisschen mit uns?«, bettelte Liza.

»Wenn ihr mir versprecht, danach schön brav zu schlafen«, entgegnete Ramona. Sie beschäftigte sich fast eine Stunde mit den Kindern. Zum Schluss erzählte sie ihnen eine Gutenachtgeschichte.

Als sie sich dann zu Liza hinabbeugte, um ihr einen Gutenachtkuss zu geben, flüsterte das Mädchen: »Ich bin froh, dass du da bist. Wenn du uns ins Bett bringst, dann ist das genauso wie wenn Mutti es macht. Du hast auch die gleichen Augen und die gleichen Haare wie Mutti.« Vorsichtig fuhr sie durch Ramonas dunkles, fast schwarzes Haar.



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