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Die Oaknights jagen wieder! Die Zwillinge Scott und Scarlett stehen vor einem Mysterium: Hamish, ihr Butler und Verbündeter bei der Werwolfjagd, ist spurlos verschwunden! Gemeinsam mit der Seherin Zavah folgen die Oaknights einer Spur von Geheimnissen und Rätseln bis tief in das finstere Fürstentum Vallachia hinein. Zu spät verstehen die Geschwister, dass sie durch ihre Nachforschungen schon längst zu Figuren in einem jahrhundertealten Spiel geworden sind. Denn in der nahenden Sonnenfinsternis erwacht bereits ein vor langer Zeit besiegt geglaubter Schrecken zu neuem Leben ...
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Seitenzahl: 427
Veröffentlichungsjahr: 2025
Vampirjagd liegt im Blut
Für meine literarischen Hebammen Anja und Rosi
5 4 3 2 1
eISBN 978-3-649-65108-6
© 2025 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,
Hafenweg 30, 48155 Münster
Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise. Die Nutzung des Werkes für das Text- und Data-Mining nach §44 b UrhG ist durch den Verlag ausdrücklich vorbehalten und daher verboten.
Text: A. E. Leinkenjost
vermittelt durch Agentur Brauer & Kern
Illustrationen: Helge Vogt
Umschlaggestaltung: Frauke Maydorn unter Verwendung
einer Illustration von Helge Vogt
Lektorat: Anja Fislage
Satz: Sabine Conrad, Bad Nauheim
www.coppenrath.de
Die Print-Ausgabe erscheint unter der ISBN 978-3-649-64685-3.
A. E. Leinkenjost
Vampirjagd liegt im Blut
Mit Illustrationen
von Helge Vogt
COPPENRATH
Vorwort
Teil I: Das Geheimnis der Roten Pforte
Scarlett
Scott
Zavah
Scarlett
Zavah
Scott
Scarlett
Scott
Scarlett
Scott
Teil II: Die Symphonie des Blutes
Scarlett
Scott
Scarlett
Zavah
Scott
Scarlett
Scott
Scarlett
Zavah
Scott
Teil III: Ein folgenschweres Nachtmahl
Scarlett
Scott
Gaspar
Scott
Scarlett
Scott
Scarlett
Zavah
Scott
Scarlett
Zavah
Scott
Scarlett
Zavah
Scott
Scarlett
Gaspar
Scott
Zavah
Scarlett
Scotts Traum
Zavah
Teil IV: Der Schatten von Bragoviszte
Scarlett
Scott
Arminius
Zavah
Scarlett
Scott
Hamish
Zavah
Scarlett
Scott
Zavah
Scarlett
Renna
Scarlett
Scott
Teil V: Hoffnung
Scott
Tybalt
Scott
Ganymed
Scarlett
Renna
Scott
Hamish
Scott
Ludmilon
Scott
Tybalt
Zavah
Epilog: Scarlett
Danksagung
Die Welt, in die du nun eintauchen wirst, hat ein Geheimnis. Sie mag aussehen wie unsere – wie im Jahr 1799 –, doch sie ist nicht dieselbe. Sie birgt Gefahren, die nur diejenigen überleben, die wagemutig sind. Sie beheimatet Rätsel, die nur du lösen kannst. Ihre Schatten sind so dunkel, so kohlrabenschwarz, dass sie dir lauschen können – also überlege dir gut, wem du von dieser Welt erzählst. Denn wer von den geheimen Chroniken der Oaknights weiß, der muss von diesem Augenblick an gemeinsam mit dir das gefährlichste Abenteuer bestehen, das du dir vorstellen kannst. Wenn du hier also sonderbaren Worten oder längst vergessenen Namen und fremd klingenden Orten begegnest, so lasse dich davon nicht aus der Ruhe bringen. Wenn du allerdings ein Heulen im Wind hörst oder ein scharrendes Kratzen an deiner Tür, dann lauf – und nimm dieses Buch mit dir, wenn du überleben willst.
Genug der Worte.
Du wurdest gewarnt.
Willkommen in den Oaknight-Chroniken!
Oaknight Manor, Nova Caledonia
Am Morgen des 13. Novembers 1799 trug sich auf dem Anwesen von Oaknight Manor ein ganz und gar rätselhaftes Ereignis zu.
Es hatte nichts damit zu tun, dass hinter den zahlreichen Gemälden im Speisesaal geheime Zugänge existierten, die in ein Labyrinth aus hochgefährlichen Katakomben unter dem altehrwürdigen Familiensitz führten. Ebenso wenig mit der märchengleichen Sammlung präparierter Werwölfe oder der obskuren Kollektion kupferverzierter Waffen, die man darunter gewissenhaft vor den Augen der restlichen Welt verborgen hielt.
Es formte sich des Weiteren ebenfalls nicht aus der Tatsache, dass die hohe Lady des Hauses, Scarlett Oaknight, sich in unregelmäßigen Abständen und zur verständlichen Unbill des Küchenpersonals in eine fellüberzogene Bestie verwandelte, wenn ihr Appetit überhandnahm, oder dass ihr bibliophiler Zwillingsbruder, Lord Scott Oaknight, sich allmorgendlich mit der hauseigenen Wahrsagerin, Madame Zavah, in einer Debatte darüber wiederfand, ob der Schicksalsfaden eines Stückes Kandiszucker nun festgelegt sei oder nicht – oder gar überhaupt existiere.
Wer die exzentrischen Gepflogenheiten jener illustren Persönlichkeiten über eine adäquate Spanne verfolgte, stellte schon bald fest, dass sich zuvor erwähntes Mysterium aus zahlreichen Einzelteilen zusammensetzte, die jedoch allesamt auf einen gemeinsamen, unverneinbaren Punkt hinausliefen: Hamish Balthazar Porter, der stets zuverlässige Butler der Familie, war vollkommen spurlos verschwunden.
Die Scriptura war eine nach altem Papier und gehärtetem Leder duftende Bibliothek, in der man alles finden konnte, was mit Werwölfen zu tun hatte. Der surrende Schein schwacher Lichter tanzte auf zahllosen Vitrinen voller lykanthropischer Ungeheuer. Er glitt über die durchgebogenen Sprossen der meterhohen Leiterschlitten, dann hinweg über die antiken Tribünen voll drohender Buchrücken und zauberte schließlich einen flackernden Rahmen an die düsteren Wände hoch oben über den prasselnden Kaminen.
Es war kein Ort für angenehme Träume und doch schlief Scarletts Zwillingsbruder hier. Auf einem Ledersessel, der vor einem der Studiertische stand, war Scott vor Erschöpfung mit dem Kopf auf das Tagebuch vor ihm gesackt. Scarlett konnte sein Herz leise und unruhig in seiner Brust schlagen hören. Sie konnte die Gänsehaut auf seinen blassen Unterarmen sehen und den verkrusteten Blutstropfen an seinem Daumen riechen, den er sich wahrscheinlich wieder einmal an einer Buchseite geschnitten hatte.
Vorsichtig nahm Scarlett eine der von ihrer Haushälterin, Mrs Devonshire, bestickten Decken, strich ihrem Bruder das maikäferbraune Haar aus dem eingefallenen Gesicht und deckte ihn zu.
Hoffentlich wärmt dich das wieder ein wenig auf, dachte Scarlett und zog den schweren Sessel einhändig in Richtung Kamin, immer darauf bedacht, ihren Bruder nicht aufzuwecken. Seine Haut strahlte eine sonderbare Kälte aus, und die dunklen Ringe unter den Augen, die er nun schon seit einigen Monaten hatte, schienen seit den unerklärlichen Vorkommnissen des Tages noch tiefer geworden zu sein. Besorgt betrachtete Scarlett ihren Bruder noch einen Moment lang, dann drückte sie seine Hand und wandte sich um, um tiefer in die Scriptura hineinzugehen.
Ich muss dieses Chaos in mir doch irgendwie ordnen können, verdammt, dachte sie. Mich irgendwie ablenken. Ehe sie weitersuchte. Nach Hinweisen. Antworten. Irgendetwas.
Wie auf einer geisterhaften Allee aus Museumsstücken wurde ihr Weg von Schaukästen gesäumt, in denen furchterregende Geschöpfe lauerten. Einige davon kaum mehr als ein wild aussehender, stark behaarter Mensch:
GARWAL-KLASSE
Der klassische Mondwandler, weitestgehend intakte
menschliche Morphologie.
Verbreitung: Westliches Terra Europa.
Extrem gefährlich – sofortige Erlegung.
Andere waren majestätische Albträume aus stromlinienförmigem Fell auf zwei Beinen, wie zum Beispiel der berüchtigte Reißer der Schattenläufer-Klasse, wohingegen andere wiederum mehr Ähnlichkeit mit einem typischen Wolf aufwiesen:
ARCANIS-LUPUS–KLASSE
Die sogenannten »unechten« Lykanthropen.
Verbreitung: Siehe Untergruppen.
Gefahr variabel – Experten empfehlen dennoch
sofortige Erlegung.
Der größte aller Schaukästen jedoch, ein mit schimmernden Kupferornamenten geschmückter Gigant aus finsterem Ebenholz, thronte auf einer Tribüne über allen anderen und war leer. Sein Glas war derart auf Hochglanz gebracht, dass man sich darin spiegeln konnte. Auf dem fein gravierten Goldschild, das man daran angebracht hatte, las Scarlett:
BESTIA ENIGMA-KLASSE
Seltenste Lykanthropenart der Welt (?)
Verbreitung: Nicht nachvollziehbar.
Existenz umstritten.
Scarlett musterte ihre Züge im polierten Glas.
Eigentlich dürfte es mich also gar nicht geben, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Sie sah ein scharf geschnittenes Gesicht, in dem bernsteinbraune Augen leuchteten, fast so hell wie die feine Narbe auf ihrer linken Wange. Vor Kurzem hatte sie damit aufgehört, ihr wildes Haar offen zu tragen, doch ihr zartgliedrig geflochtener Zopf schien hoffnungslos überfordert zu sein. So sieht also ein Ungeheuer aus.
Kaum hatte sie den Gedanken beendet, tauchten die wütenden Echos der Stimmen ihrer Eltern aus den Schatten der Scriptura auf.
»Glaubst du, irgendjemand will sich um dich haben, wenn du ständig so aus deiner Haut fährst?«, hörte sie ihre Mutter. »Wundere dich ja nicht, wenn du irgendwann mutterseelenallein bist!«
Schnaubend atmete Scarlett aus. Ihr kondensierter Atem zauberte eine feine Nebelschicht auf das Glas des verwaisten Schaukastens. Als sie sich wieder auflöste, so kam es Scarlett vor, schien für einen kurzen Moment lang sein Inneres zum Leben zu erwachen: Für einen Wimpernschlag lang sah sie einen hochgewachsenen Mann in nachtschwarzem Mantel und abgewetztem Dreispitz, der ein blitzendes Rapier und eine rauchende Steinschlosspistole von sich schleuderte – dann warf er sich mit gefletschten Reißzähnen gegen das Glas, loderndes Feuer in seinen aschefarbenen Augen.
KNACK!
Scarlett atmete scharf ein und machte einen halben Schritt rückwärts, dann verschwand das unheimliche Trugbild wieder – so viel zum Thema, Schlafmangel mache ihr nichts aus.
Sebastíen Denneval, wiederholte sie seinen Namen in Gedanken. Jede Silbe jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Die Bestie von Bisclavret. Und genau wie ich eine Bestia Enigma. Scarlett kaute auf der Innenseite ihrer Wangen. War das ihr Schicksal? Früher oder später so zu werden wie er? Ein Monster, dessen menschliches Gesicht die wahre Maske war? Jemand, der seine Seele in seinem inneren Feuer verloren hatte …
Plötzlich spielte Scarletts aufgewühlter Geist ihr erneut einen Streich: Ein in Gemütlichkeit gealterter Mann mit wissenden Augen und Hakennase erschien in dem Schaukasten, verschränkte die Arme hinter seinem Rücken und schenkte ihr ein vielsagendes Nicken, dann lächelte er warm, herzlich – und verschwand.
Reynard Berger, hörte Scarlett ihre innere Stimme sagen. Der gelernt hatte, mit seinem Erbe zu leben, um anderen Menschen zu helfen. Und genau wie ich eine Bestia Enigma. Die letzten Worte, die der Werwolf kurz vor seinem Tod an sie gerichtet hatte, waren tief in ihr Gedächtnis gebrannt.
Ich bin hier, um dir den ersten Schritt zu zeigen.
Scott, diesem Buchwurm von einem Bruder, war ihr innerer Zustand in der letzten Zeit nicht verborgen geblieben – natürlich nicht –, und in seiner typisch nervigen Oberlehrer-Art hatte er erklärt, dass den Helden in seinen Büchern früher oder später immer ein Mentor begegnete, jemand, der älter und erfahrener war als der Neuling und ihn auf seinem Weg in die richtige Richtung weisen konnte.
Schön wär’s.
Scarlett schüttelte übermüdet den Kopf und presste die Lider fest aufeinander. Reynard konnte ihr nun nicht mehr helfen. Ebenso wenig Denneval. Es gab niemanden mehr, der ihr erklären konnte, was es bedeutete, eine Bestia Enigma zu sein. Oder, und das mochte vielleicht noch viel wichtiger sein, was es bedeutete, Scarlett Oaknight zu sein …
Hamish war der einzige Mensch, der ihrer Vorstellung von einem Mentor nahekam. Eines Beschützers. Dem Rest von etwas, das man eine Familie nennen konnte. Plötzlich stellte Scarlett überrascht fest, dass sich wieder einmal Zornesfalten zwischen ihren Augenbrauen gebildet hatten. Sie versuchte, ihr Gesicht zu entspannen. Es funktionierte nicht. In ihr brodelte es, und es wurde mit jeder Minute, in der sie sich nicht erklären konnte, warum Hamish sie verlassen hatte, schlimmer.
Erst Mama und Papa … und jetzt auch noch Hamish?, dachte Scarlett. Er hatte in Bisclavret geschworen, dass er sie niemals wieder allein lassen würde. Niemals wieder allein mit sich selbst, allein mit der Bestie in ihr. Scarlett wollte – konnte sich nicht vorstellen, dass der Familienbutler einfach so verschwunden war, ohne ihnen auch nur irgendeine Nachricht zu hinterlassen. Mit mühsam zurückgehaltener Wut blickte Scarlett ein letztes Mal in den Schaukasten hinein, doch nur sie selbst sah zurück. Es wirkte fast wie eine Herausforderung. Vielleicht sollte sie einfach –
Ein kühler, kaum wahrnehmbarer Luftzug ließ sie innehalten.
Prickelnd stellten sich die feinen Härchen in ihrem Nacken auf. Ihr Magen zog sich zusammen.
Was zum Henker …?, fuhr es Scarlett durch den Kopf.
Ihr Magen zog sich zusammen.
Instinktiv wanderte ihre Hand an den Griff ihres Rapiers.
Irgendetwas stimmte nicht.
Mit weit ausladenden Schritten lief Scarlett zurück ins Herz der Scriptura.
Die Schaukästen zischten an ihr vorbei. Pranken. Klauen. Schatten.
»Scott?«, rief sie, ihre Stimme hallte vor Panik und Sorge. »Scott?! Wo …?«
Die bestickte Decke lag auf dem Boden.
Das Tagebuch halb geöffnet vor dem sterbenden Feuer im Kamin.
Scarletts Atem beschleunigte sich. Kälte breitete sich in ihren Innereien aus. Ihr scharfes Gehör vernahm keine Schritte. Und als sie alle Konzentration zusammennahm –
Scarlett zuckte zusammen und stieß einen erschrockenen Laut aus.
Nein. Nein!
Doch es bestand kein Zweifel.
Der Herzschlag ihres Bruders war fort.
Es begann genau wie in jenen unheimlichen Nächten der letzten Monate, in denen Scott schweißgebadet hochgeschnellt war. Panisch hatte er nach dem Schatten gesucht, der noch vor wenigen Augenblicken an seinem Bett gestanden hatte – dieses kalte Etwas, das ihn aus den Tiefen des Traumreichs in die Wirklichkeit gefolgt war, um ihm aus der Finsternis seines Zimmers heraus anzustarren … doch dieses Mal war es anders.
Scott war nicht in seinem Zimmer, so viel stand trotz der stockfinsteren Umgebung definitiv fest. Das Gefühl, beobachtet zu werden, verschwand allerdings nicht wie gewohnt mit seinem Erwachen und ebenso wenig schlug sein Herz ihm bis zum Hals. Im Gegenteil. Es schien überhaupt nicht mehr zu schlagen.
Gedankenverloren legte er die flache Hand unter sein aufgeknöpftes Hemd und auf sein Brustbein. Seine Fingerspitzen fuhren über die schwarze, verdickte Narbe, die der Stich eines Amantius-Dolches hinterlassen hatte.
Kein Puls.
Scott kniff sich.
Nichts.
Ein Traum, ganz eindeutig, dachte er. Ja, keine andere Erklärung ergibt Sinn – aber wo zum rabenhaften Kuckuck befinde ich mich hier?
Aus der Dunkelheit vor ihm erwuchs mitten aus dem Nichts plötzlich ein hölzerner Rahmen – ein großzügiges Familienporträt, wie es den Anschein hatte. Und Scott kannte es.
Das Familiengemälde in der Haupthalle, schoss es Scott durch den Kopf. Aber warum ist es so viel größer und … finsterer?
Fünf Personen zierten die Leinwand: Da waren zum einen ein edel gewandeter Mann auf der linken und zum anderen eine vornehme, in Hosen gekleidete Frau auf der rechten Seite. In der Mitte erhob sich, wie ein alles überragender Schatten, die penibel geordnete Gestalt von Hamish, mit den markanten, von bretonischer Adelsblässe betonten Zügen und dem distinguierten Silber im Haar seiner Schläfen.
Seine Augen, fiel Scott jedoch auf. Nicht graublau, wie auf dem Original, sondern auffallend fahl und leblos.
Von den drei Figuren wie in einem behütenden Dreieck eingeschlossen, standen in ihrem Zentrum zwei Händchen haltende Kleinkinder, die einander bis auf das zerfurchte Kleid und den strengen Frack zum Verwechseln ähnlich sahen: Scott und Scarlett Oaknight.
Die Gesichter seiner Eltern, Connor und Elizabeth Oaknight, waren für Scott nur schwerlich auszumachen. Warum, wusste er nicht. Es war ohnehin lange her, dass er das Gemälde in der Haupthalle eines Blickes gewürdigt hatte – zumindest seit dem … dem Abschied seiner Eltern. Erneut erkundete Scotts Blick die Darstellung seiner Mutter und seines Vaters, auf der Suche nach ihren vertrauten Zügen, ihrer Nähe, der Erinnerung an ihre Stimmen. Ihr Lachen. Ergebnislos. Eine Art wabernder Schleier lag über ihren Gestalten, der es sonderbar schwer machte, sie anzusehen.
Plötzlich erklang eine Stimme. Es war Scarlett.
Fühlst du denn überhaupt nichts mehr?, hallte ihre Stimme mit mühsam zurückgehaltener Wut, ein blasses Echo aus der Vergangenheit. Ehe Scott antworten konnte, durchbrach ein scharfes, knackendes Geräusch die Finsternis.
Was zum …
Eine pechgleiche Flüssigkeit lief von der oberen Rahmung des Gemäldes auf die Leinwand hinunter und trieb feingliedrige, knisternde Eiskristalle vor sich her. Langsam, aber sicher verschlang sie die Gestalten seiner Eltern.
Mama!, hauchte Scott. Papa! Bitte, ihr –!
Die Luft um Scott herum wurde eiskalt.
Für den Bruchteil einer Sekunde wollte Panik in seiner Brust explodieren, doch noch ehe er Luft für einen verzweifelten Schrei holen konnte, griff etwas in seinem Inneren danach, zerrte es davon und ließ ihn fröstelnd zurück.
Sie sind fort!, flüsterte seine eigene Stimme scharf in seinem Kopf. Du kannst nichts mehr daran ändern. Verschwende deine Herzschläge nicht an unnötiges Trauern!
Die Ränder des Gemäldes lösten sich auf. Die Finsternis brannte sich kalt von beiden Seiten weiter auf die Mitte des Porträts zu und schien für einen unheimlichen Moment vor den breiten Schultern Hamishs innezuhalten. Scott atmete erleichtert auf.
Dann verblasste die Form des Butlers wie eine schwächer werdende Erinnerung. Ein beinahe triumphierendes Zischen und Knacken ging von der Finsternis aus, ehe sie ihren hungrigen Weg fortsetzte.
»Nein«, hauchte Scott hilflos. »Bitte, ich kann nicht …«
Auch nicht an andere Gefühlsduselei, die dir deinen Verstand vernebelt!, mahnte die Stimme erneut. Konzentriere dich! Denk andeine Schwester! Scarlett braucht dich! Scarlett braucht dich intakt. Nicht zerbrochen, hörst du!Nicht zerbrochen …
Scotts Blick grub sich in das ruinierte Gemälde. Die Finsternis machte sich genüsslich über die Leere her, die Hamish hinterlassen hatte.
»Hamish«, hörte sich Scott sagen. »Wo bist du?« Er streckte die Hand aus, doch schien unendlich weit von dem Bild entfernt zu sein. Scott verdoppelte seine Anstrengungen. Er musste sich und all seine verbliebene Energie auf dieses Ziel richten, koste es, was es wolle. »Ich muss dich finden … muss dich zurückholen … zurück zum Anfang …«
Irgendetwas … geschah.
Als hätte die merkwürdige, dunkle Welt, in deren Inneren Scott erwacht war, seinen Ruf vernommen und würde nun – egal, ob sie es so wollte oder nicht – antworten.
Auf einmal schien es an den Rändern seiner Wahrnehmung, als würde sich eine Wand aus Nebel nähern, um ihn in eine Umarmung zu schließen. Als Scott jedoch seinem Verstand, der seit jeher sein Anker und sein Kompass war, weiter durch die unwirkliche Wand folgte, fand er sich schließlich in einer Nebel-Version der Empfangshalle seines Familiensitzes wieder, umringt von seiner Schwester und den Angestellten Oaknight Manors.
Das Ganze kam ihm merkwürdig bekannt vor.
»Die Gärten?«, hörte Scott sich selbst abwesend fragen und rieb sich das Kinn. Bei dem Gedanken daran, Hamish könne etwas zugestoßen sein, schloss sich eine eiserne Faust mit jedem Herzschlag enger um seine Brust. »Die Stallungen? Der Pfad zum Moor?«
»Keine Spur von ihm, Sir«, antwortete Archibald, der Gutsbverwalter. Er führte Bellerophon und Perseus, zwei uralte Bassetts, noch immer an der Leine. »Und diese Tiere lieben Mr Porter mehr als ihr Frühstück.« Er fuhr sich mit zitternden Händen durch das schüttere Haar. »Eine Ungeheuerlichkeit, wenn Sie mich fragen! Er hat sich bei niemandem auch nur abgemeldet!«
»Wir haben auf den Gütern nachgesehen und jede Seele befragt, die uns über den Weg gelaufen ist, Sir«, ergänzte Geraldine, hinter der Theodore und Maryanne sich in den Arm nahmen und einander zu beruhigen versuchten. »Ohne Erfolg.«
»Das ganze Haus habe ich auf den Kopf gestellt«, beteuerte Mrs Devonshire. Ihre sonst stets so beschwerte Miene hatte einem Ausdruck außerordentlicher Besorgnis Platz gemacht. Immer wieder rieb sie sich ihre Hände, auf dass die Knöchel kalkweiß wurden. »Als ob er vom Erdboden verschluckt worden wäre!«
Scott tauschte einen ernsten Blick mit seiner Schwester.
Nicht das ganze Haus, dachte er.
Ein helles Licht umhüllte die gespenstische Szenerie, dann fand sich Scott in den rußgeschwärzten Katakomben von Oaknight Castle wieder. Scarlett atmete immer wieder stoßartig durch die Nase ein. Auch hier, in der Halle mit den verbotenen Pforten, schüttelte sie nur abgehackt den Kopf.
»Und?«, fragte Scott nervös und schwenkte die flackernde Laterne hin und her. Sein Schatten tanzte über die gewaltigen Torbögen, so als wolle er in alle Richtungen zugleich vor etwas davonrennen. Etwas daran ließ Alarmglocken in Scott klingeln, doch in seinem Kopf rangen bereits ein gutes Dutzend immer verrückterer Theorien und Hypothesen miteinander und übertönten alles andere.
Einbruch? Keine Kampfspuren in seiner Kammer.
Überfall? Keine Schwarzpulverrückstände.
Unfall? Kein Blut.
War Hamish tatsächlich einfach so mir nichts, dir nichts gegangen? Ohne ihnen auch nur eine Ahnung zu hinterlassen, wo er sich aufhalten würde? Das ergab keinerlei Sinn! Erst recht nicht, wenn man bedachte, was sie gemeinsam in Bisclvaret erlebt hatten.
»Irgendetwas Auffälliges?«, hakte Scott nach.
»Natürlich riecht es hier nach ihm«, sagte Scarlett verärgert und sah sich mit zusammengekniffenen Augen um. »Er hat hier mehr Zeit verbracht als wir alle zusammen.«
»Blut?«, fragte Scott. »Angstschweiß?«
Scarlett deutete auf Scotts Daumen. »Nur Eures, Euer Durchlaucht.«
Scott nahm verwirrt die freie Hand vor die Augen.
»Hm?«, machte er. »Oh, ja. Ein papyrischer Hinterhalt, fürchte ich.«
Scarlett verdrehte die Augen. »Von wegen, Bücher sind ungefährlich.«
Scott rang sich ein übermüdetes Lächeln ab. »Bücher sind nur dann gefährlich, wenn man sie nicht liest, Schwesterherz.« Er räusperte sich. »Hier ist sein Geruch am stärksten?«
Seine Schwester nickte schulterzuckend. »Ja.«
»Der Lichtschacht dort drüben« – Scott deutete auf eine der seltenen Spalten im alten Gemäuer, die über einen antiken Kaminschacht an die Oberfläche führte – »führt zum Wassergraben, richtig?«
Was zum –
Tief durch das Gemäuer wandelte eine geisterhafte Melodie, so klar wie der blutrote Faden im mythischen Labyrinth des Minotaurus. Sie war sehnsüchtig, lockend und so kalt wie das Herz eines Grabes – und so schnell verschwunden, wie sie gekommen war.
»Hast du das gehört?«, fragte Scott und hielt inne.
Seine Schwester reagierte nicht.
Das hast du sie an dieser Stelle nicht gefragt, hörte Scott verblüfft seine eigene Stimme in seinem Kopf sagen. Dabei hatte er doch –
Da, schon wieder!
Woher kommt diese Melodie?, dachte Scott und sah sich verwirrt um, doch wo immer sie auch hergekommen war, sie war abermals wieder verschwunden. Verwirrt sah er zu seiner Schwester herüber, die ihn einfach nur musterte.
Was ist das hier? Ein Traum? Eine Erinnerung? Etwas dazwischen?
»Denke schon«, sagte Scarlett und holte Scott damit aus seinen Gedanken.
»Was?«, gab er perplex zurück.
»Der Lichtschacht«, wiederholte Scarlett. »Der führt tatsächlich zum Wassergraben, glaube ich.«
Scott verengte die Augen zu Schlitzen und seine nächsten Worte kamen ihm wie von selbst über die Lippen. »Lassen wir einmal vollkommen außer Acht, dass Hamish nicht fliegen kann – würde sich seine Spur nicht in einem Gewässer verlieren?«
»Denke schon!«
Scott hob schulmeisterlich den Zeigefinger, verzog jedoch dann die Lippen und schüttelte den Kopf.
»Nein, nein«, murmelte er erschöpft. »Selbst wenn … wir haben nirgendwo am Ufer Fußspuren im Schnee gefunden.« Er straffte sich, dann richtete er seinen Kragen. »Ist Zavah noch immer auf ihrem Zimmer?«
Scarlett hob eine Augenbraue. »Ja. Und?«
Scott verzog einige Male die Lippen, ehe er antwortete. »Hm. Dann hat sie also dieses Ritual, von dem sie gesprochen hat, noch nicht beendet.«
»Nein«, sagte Scarlett. »Aber in ihrem Zimmer haben wir noch nicht nachgesehen.«
Scott runzelte die Stirn. »Red? Was willst du damit sagen?«
Seine Schwester verschränkte die Arme. »Ich meine ja nur. Wer weiß, was sie da macht.«
»Ich tippe auf eine Kartenlegung«, erwiderte Scott. »Wir sollten froh sein, dass man sie so gut aufgenommen hat.« Sein Ton wurde kühler. »Es war schon schwer genug, Mrs Devonshire und den anderen schonend beizubringen, was mit dir … in welchem Zustand du aus Veta Gallia zurückgekehrt bist.« Er räusperte sich und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. »Wir alle haben es im Moment nicht leicht. Uns gegenseitig für irgendetwas zu verdächtigen, hilft niemandem.«
Scarletts Augen funkelten gefährlich auf, dann ließ sie ihre angespannten Schultern sinken und presste seufzend die Augenlider aufeinander.
»Ist ja schon gut«, sagte sie. »Tut mir leid, in Ordnung? Es ist – ich bin wütend auf Hamish.« Scott wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Seine Schwester schüttelte den Kopf. Ihr Blick suchte nach etwas in seinem. »Du nicht?«
»Nun, von Wut kann wohl kaum die Rede sein«, erwiderte Scott mit gehobener Augenbraue. Er nickte nachdenklich. »Wir müssen rational vorgehen.«
»Enttäuschung?«, schlug Scarlett stattdessen vor.
»Kalkulativ.«
»Verbitterung?«
»Analytisch.«
»Hunger? Durst? Müdigkeit?«
Scott zog die Stirn kraus. »Verwirrung. Ich will herausfinden, was geschehen ist.«
Verständnislos kaute seine Schwester auf ihrer Unterlippe herum und warf müde die Arme in die Luft. Sie schien ursprünglich zu einer weitaus vorwurfsvolleren Geste angesetzt zu haben.
»Meine Güte, das will ich doch auch – aber – ich meine, fühlst du denn gar nichts?«
Scott öffnete den Mund, als diese Worte etwas in seinem Inneren berührten – eine Erinnerung. Für eine Spanne lang gab es nur noch die fühlbare Schwere der Schwärze um sie herum. Das leise Knistern der Laterne, die tapfer der Finsternis trotzte. Die Kantate der Winterluft auf ihrem Raubzug durch die Gewölbe der Katakomben. Und das Echo einer Frage, die sich Scott schon manches Mal selbst gestellt hatte, wenn er mit der Dunkelheit in seinem Zimmer allein gewesen war.
Abermals zuckte ein helles Licht über das mitternächtliche Schauspiel – und Scott fand sich allein in der Galerie des Treppenhauses von Oaknight Manor wieder.
Merkwürdig, dachte Scott und ließ den Blick durch das Gemäuer gleiten, über das sich die Stille wie ein Seidentuch gesenkt hatte. Daran kann ich mich gar nicht erinnern.
Nein, nein – es hatte an diesem Abend ganz entschieden keine kleinen Schwärme aus glitzernden Schneeflocken gegeben, die um Scott herumgetanzt waren. Keine davon hatte sich auf seine Haut gesetzt, ihn eisig gebissen und war kurz darauf für immer verschwunden. Hatte jemand etwa den Haupteingang offen stehen gelassen, während draußen der Winter Einzug hielt? Unerhört! Als Scott seinen Arm hob, der aus dem hochgekrempelten Ärmel seines maßgeschneiderten Schlafanzuges schaute, konnte er die Härchen darauf dabei beobachten, wie sie sich der Reihe nach aufstellten.
Er erzitterte und der Atem vor seinem Gesicht verwandelte sich zu Nebel.
Es bestand keinerlei Zweifel.
Er war hellwach.
Vorsichtig, wie gebannt, stieg Scott die Stufen hinunter. War er etwa hierher geschlafwandelt? Die Sohlen seiner nackten Füße ließen die feine weiße Schicht aus Puderzuckerschnee sachte knirschen. Je tiefer er hinabstieg, desto mehr schien ihn etwas Unsichtbares weiter und weiter zu sich zu ziehen.
Scott hielt inne.
Wenn er nun wirklich wach war –
… warum hörte er dann schon wieder diese Melodie?
Komm zu mir, schien sie zu flüstern. Komm zu mir in die Finsternis …
Alles in Scott schrie ihm zu, umzukehren. Wegzulaufen.
Doch seine Beine gehorchten ihm schon längst nicht mehr.
Es war wie bei einer jeden Legung, nach der kurz darauf etwas Schreckliches geschehen würde. Zavah überkam eine Welle aus prickelnder Gänsehaut, während sie ihre Karten in einer fließenden Bewegung auffächerte.
Ich hatte recht, dachte sie. Der Schatten, der jetzt seit Monaten über Oaknight Manor schwebt, ist nah.
Es war eine gute Entscheidung gewesen, einen Teil ihrer Armbänder, Ringe und Ketten an die Anwohner des Anwesens zu verschenken. Ein jedes der Schmuckstücke war ein gesegneter Talisman, den Zavah noch in der ersten Nacht, die sie in Oaknight Manor verbracht hatte, mystisch an eine Nimmerkerze gebunden hatte. Jede von ihnen, einmal entzündet, brannte an einer windgeschützten Stelle ewig, solange es der beschenkten Person mehr oder minder gut ging.
Etwa ein Dutzend davon, zwei von ihnen für die wundervollen Seelen von Perseus und Bellerophon, züngelten leise auf dem Sims vor einem großen Fenster, von dem aus man bei Tage das nahe Moor und die Wälder unter dem Schnee sehen konnte. Die Kerze von Hamish, des geheimnisvollsten Bewohners dieses Ortes, hatte in der vergangenen Nacht angstvoll geflattert und gefaucht, doch sie war, den Lichtern sei Dank, nicht erloschen.
Zavah streckte ihre Hand danach aus …
KSSS!
– und schreckte zurück.
Die Nimmerkerze des Butlers brannte eisig kalt.
Jegliches Gefühl war aus Zavahs Fingerspitze verschwunden. Genau wie in der vergangenen Nacht. Ernst runzelte die junge Seherin ihre Stirn. So etwas hatte sie wahrlich noch nie gesehen. Ein Mysterium.
Zwölf weitere Kerzen, grob und bunt und eine für jede der reisenden Familien ihres Volkes, spendeten weiteres Licht. Aus den Winkeln der alten Kammer warfen sie wild schaukelnde Umrisse an die verzierten Wandteppiche und hauchten den Jagdmotiven darauf ein neues, unwirkliches Leben ein, so als erwache ihre Geschichte aus einem tiefen, märchengleichen Schlaf.
Neun zusätzliche Kerzen, symbolisch für die verwobenen Welten des Lichts, bildeten einen schützenden Kreis in der Mitte des Raumes, in dessen Zentrum Zavah nun stand.
Achtsam und offen, so wie es ihr ihre Ebrâm beigebracht hatte, mischte sie die im Mondlicht aufgeladenen Karten. Ihr Herz hoffte zutiefst darauf, eine Antwort auf das Mysterium um den armen Hamish zu finden, doch ihre innere Stimme flüsterte von einem Spiel, das weitaus größer war als nur das Verschwinden eines guten Freundes. Ein Schauer lief abermals über ihre Schultern.
Ein Spiel. Wie immer, wenn sie in Ereignisse hineinlauschte, deren Schicksalsfäden miteinander verknüpft waren, überkamen sie Worte wie von den Lippen einer anderen Person. Eine wirklich beunruhigende Art, solch etwas Furchtbares zu beschreiben.
Sorgfältig breitete Zavah das Kartendeck vor sich aus, öffnete ihr rabengefiederschwarzes Haar und tauchte mit ihrer Aufmerksamkeit tief in die Energie der Frage hinein, die sie stellen wollte.
Niemand auf Oaknight Manor hatte in den letzten Wochen ihre Vorahnung geteilt oder die schlechten Omen gesehen – die Zeichen für Mitternacht und Blut in den Teesätzen, die Formen für Unheil und Gräber in den vorbeiziehenden Wolken oder Scotts rätselhaften Schlafmangel, den er zuverlässig wie ein Uhrwerk verleugnete. Zavah fand ein warmes Schmunzeln in ihrem Gesicht, wie immer, wenn sie an den jungen Lord dachte, doch dann fühlte sie abermals die nagende Sorge um ihn.
Mein fantastischer Zu-viel-Denker, hörte sie in ihrem Inneren. Mein todesmutiger Zu-viel-Leser, mein unverbesserlicher Auf-Alleseine-Antwort-haben-Müsser. Was verbirgst du vor uns?
Ein Knistern begann, sich leise von den verdeckten Kartenrücken zu erheben.
Zavah wischte die aufkommende Energie temperamentvoll mit dem Handrücken aus der Luft – zweimal, dreimal – und atmete laut durch die Nase aus.
Bei den Lichtern! Was tat sie denn hier? Sie sollte doch eine Frage über Hamish stellen, nicht über Scott!
Erneut fokussierte sie sich.
»Ein guter Freund ist verschwunden«, sprach sie laut aus. »Ich bitte um Führung aus der ätherischen Welt … was ist mit Hamish Balthazar Porter geschehen?« Abermals schob sich Scott in ihre Aufmerksamkeit. Zavah schüttelte sich. »Wo ist er? Was –«
Zavah verdrehte die Augen. Aus irgendeinem Grund, der hoffentlich nicht das war, wovor ihre Ebrâm sie so oft gewarnt hatte, drängte sich immer wieder ein äußerst ablenkender Adliger nach vorn …
Die Ränder der Karten blitzten auf – ein ätherisches, gespenstisches Blau – und ließen nach ihrem Verschwinden tanzende Punkte in Zavahs Augen zurück.
Kein gutes Zeichen, schoss es ihr durch den Kopf. Es sei denn …
»Ist das, was mit Hamish geschehen ist, mit Scott verbunden?«, fragte Zavah und wappnete sich.
Wieder Gänsehaut.
Wieder blitzten die Karten auf.
Beherzt ließ Zavah ihre Hand über den Halbkreis aus verdeckten Kartenrücken wandern, immer aufmerksam darauf lauschend, ob sie Wärme oder ein Kribbeln spürte, die das Zeichen dafür waren, dass diejenige Karte gezogen werden wollte. Doch alles, was sie fand, war eine überraschende Kühle. Eine unangenehme, beißende Kühle. Eine, die sich unendlich langsam, aber unaufhaltbar in den Knochen ihrer Hand einnistete …
Scharf sog Zavah die Luft zwischen den Zähnen ein.
Bei den Lichtern!
Das war keine einfache Kälte, die sie hier fühlte, es war …
»… Grabeskälte«, hauchte Zavah erschrocken – und alle zwölf Lichter der Familien erloschen mit einem Schlag. Die erste Schutzbarriere gegen das Böse war gebrochen. Mit wild pochendem Herzen sah Zavah sich um, stellte mit Entsetzen fest, dass der zweite schützende Zirkel wild zu flackern begann. Es blieb nicht mehr viel Zeit. Zavah nickte entschlossen.
»Was befindet sich im Herz unserer Reise?«, rief Zavah und spürte, wie ihr Haar von einem unsichtbaren Wind erfasst wurde. Die Temperatur im Raum fiel schlagartig. »Welche Energie hat die Herrschaft über dieses Rätsel?«
Sie drehte die ersten beiden Karten um – und ihre Augen weiteten sich.
Finsternis sammelte sich in den Ecken des Zimmers. Der Wind wurde drohender, wütender.
»W-wer sind die wichtigen Spieler in diesem Spiel?«, rief sie über die tosende Luft hinweg und zog weitere Karten, eine davon eisiger als die nächste. »Wer steht auf unserem Weg?« Wieder zuckten die Augen der Seherin über die Symbole, schnellten voller unheilvoller Erwartung hin und her. Ein Fauchen zischte durch den Raum – der Schutzkreis knackte, knisterte, kämpfte gegen eine unsichtbare Macht – Zavahs Atem wurde zu Nebel – der Wind wurde beinahe sturmgleich, zerrte, riss an ihren Haaren, an den kleinen, tapferen Kerzenlichtern.
»Was ist der letzte Zug des Spiels?!«, keuchte Zavah. Kalt, so kalt! »Was müssen wir tun, um zu gewinnen?!« Mit bebenden Fingern überschlug sie die letzten beiden Karten, zwang sich, hinzusehen –
Schlagartig herrschte Stille.
Das Heulen war fort, als ob es nie existiert hätte.
Die Kälte war verschwunden, hatte der leicht holzigen, aber warmen Luft des Zimmers Platz gemacht.
Ungläubig blinzelte Zavah sich ihre zerwühlten Strähnen aus dem Gesicht.
Das … hat ein besseres Ende genommen, als ich befürchtet habe, dachte sie.
Dann fiel ihr Blick auf die Nimmerkerzen und ihr Herz setzte für einen Schlag lang aus. Ein leichter, kaum wahrnehmbarer Hauch von glimmendem Docht verwehte in der Luft. Ein einzelner Tropfen Wachs lief auf eine Fensterbank aus finsterem Holz, der letzte Funken Wärme darin verloren.
Zavah schlug eine Hand vor den Mund.
Scotts Nimmerkerze war soeben erloschen.
Scotts Fährte verlor sich im Treppenhaus von Oaknight Manor.
Scarlett ignorierte ihr schnell schlagendes Herz, sprang von einem der großen Geländer und landete dumpf mit beiden Händen und Füßen auf dem darunter, ohne auch nur zu wanken. Sie hatte das Gefühl, ihr Magen würde ihr in die Füße fallen.
Nein – nein!, flehte ihre Stimme in Gedanken. Nicht auch noch ihn!
Sie schüttelte sich. Konzentriert hielt sie die Nase in die Luft und nahm erneut Witterung nach ihrem Bruder auf. Nach dem feinen Schweißfilm auf seinen Fingerspitzen. Dem Geruch von altem Papier. Der Mischung aus Scriptura-Staub und Frackseife. Dem vertrauten Rauschen in seinen Adern.
Doch alles, was sie fand, war kaum mehr als ein allerletzter Hauch seiner Wärme, genau unter ihr, auf einer der letzten Stufen in Richtung Haupthalle.
Er kann sich doch nicht einfach so in Luft aufgelöst haben!
Tief lauschte Scarlett in das Erdgeschoss hinein, rief Scotts Namen, hechtete zum Haupteingang, öffnete ihn, sah hinaus – keine Spuren im Schnee –, schloss die schwere Tür wieder, damit der Frost nicht in das Treppenhaus wehen konnte. Dann fiel ihr der feine Nebel auf, der von einem der uralten Gemälde im Flur ausging.
»Was zum Geier …?«, murmelte Scarlett und legte ungläubig den Kopf schief. Schnurstracks lief sie hinüber, hievte den in eine verborgene Schwungangel eingehängten Rahmen beiseite – und wurde von einem Schwall aus dichter Nebelsuppe willkommen geheißen.
Geheimgang Nummer XVIII, fiel es ihr ein. Der mit der Sichelfalle … nein, nein, es war der mit den Zermalmsteinen – oder war es der mit dem rutschenartigen Tunnel? So oder so, Hamish hatte ihnen das Betreten strengstens verboten, da er stets befürchtete, sie könnten sich bei der Nutzung der älteren Gänge verletzen. Scarlett sah zurück ans Ende der Treppe. Dann wieder in den Gang mit der undurchsichtigen Suppe. Kein weiter Weg von dort drüben. Und das mit dem Nebel war garantiert kein Zufall.
Wahrscheinlich müsste mir dieser unheimliche Nebel jetzt irgendwas sagen, dachte sie schnaubend, ehe sie eintrat und das Gemälde sich hinter ihr wieder in die ursprüngliche Position schaukelte. Bestimmt habe ich bei genau der Lektion von Hamish wieder mal irgendetwas mit meinem Rapier aufgespießt, anstatt zuzuhören …
Unter ihr versank sie mit den nackten Füßen bis zum Knöchel in einem schnell fließenden Bach aus milchweißer Luft. Der darunter verborgene Boden fühlte sich abwechselnd glitschig und morastig zwischen ihren nackten Zehen an. In den dicken Wänden hörte Scarlett vereinzelt ein Schnarchen, leise Worte oder ein aufgebrachtes Schnüffeln, erhaschte aber noch immer keinen Hinweis auf Scott. Plötzlich wurde der Boden unter ihr abschüssiger. Schiefer. Rutschiger. Scarlett verzog das Gesicht.
Der moderige Gang Nummer XVIII war nun stockfinster, doch das kümmerte sie nicht besonders. Ihre Augen sahen hervorragend im Dunkeln.
Genau wie die von Denneval, flüsterte es in Scarletts Hinterkopf. Sie verscheuchte den Gedanken grimmig und konzentrierte sich auf ihre Umgebung. Wohin führte dieses Ding überhaupt? Und was war das für ein merkwürdiger Laut?
Der Nebel, dachte Scarlett. Er … flüstert?
Mit jedem Schritt wurde es eisiger. Scarletts Füße wehrten sich gegen die aufkommende Kälte mit einer Fähigkeit, die sie ihrem Erbe als Bestia Enigma zu verdanken hatte: Sie spürte, dass sich die feinen Gefäße in ihren Beinen weit stellten und damit begannen, das dadurch heranströmende Blut aufzuheizen. Es wurde immer schwerer für ihre Zehen, Halt zu finden, und nach und nach kamen sie trotz aller Achtsamkeit ins Rutschen. Scarlett musste sich auf die Seite fallen lassen – so ein Mist, die sauberkeitsbesessene Mrs Devonshire würde ihr die Hölle heißmachen, wenn sie ihren bematschten, feinen Zwirn zu sehen bekam! – und schlitterte immer schneller ins Dunkel hinein.
Der Boden verschwand.
Scarlett verschluckte vor lauter Überraschung ihren eigenen Aufschrei, flatterte wild mit den Armen in der Luft und sah einen weiß wabernden Boden auf sich zurasen. Im letzten Augenblick drehte sie sich um ihre eigene Achse und knallte so hart mit dem Rücken auf, dass es ihr den Atem aus der Lunge prügelte.
»In Ordnung«, stöhnte Scarlett, pustete sich den ruinierten Zopf aus dem Gesicht. »Geheimgang Nummer XVIII ist wirklich eine blöde Idee.« Knackend kreiste sie mit den Schultern und richtete sich auf, um sich zu orientieren – dann hielt sie schlagartig inne. Hierhin führte XVIII also. Aber das war nicht unbedingt die größte Überraschung.
»Oh«, machte Scarlett, als sie verstand, woher der mysteriöse Nebel kam.
Dann zog sie ihr Rapier.
Zavah warf den dicken Schemel zur Seite, der an der östlichsten Wand ihres Raumes stand. Sie würde den armen Gärtner Theodore und die insgeheim schwangere Maryanne aufwecken, doch darauf konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Wieder und wieder glühten die Bilder der Legung in ihrem Geiste nebeneinander auf.
Der Tod.
Das Rad des Schicksals.
Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Panisch zerrte sie am Eckzipfel des Wandteppichs, griff mit der freien Hand in eine faustgroße Lücke zwischen zwei Steinen und suchte mit den Fingerspitzen nach einem metallenen Ring. Es gab nur einen Ort, an den sich Scott jedes Mal zurückzog, wenn er sich auf die Suche nach Antworten begab – sein Heiligtum, den Büchertempel in der versunkenen Burg unter Oaknight Manor.
Was befindet sich im Herzen unserer Reise?
Der Tod – das Symbol von Anfang und Ende.
Das Rad des Schicksals – ein sich immer wiederholender Kreislauf.
Zavah fand den Mechanismus und zog. Ein Ruck ging durch die Wand hinter dem Teppich, dann schob sich ein Haken aus seinen Angeln und die verborgene Tür öffnete sich einen Spaltbreit. Sie zwängte sich rücklings hinein, fand mit ihren Stiefelabsätzen die ersten Sprossen einer eisernen Leiter und begann den Abstieg.
Meine Ebrâm hat mich vor dem gleichzeitigen Auftauchen dieser Zeichen gewarnt, dachte Zavah und hörte die knorrige Stimme ihrer Großmutter in ihrem Geist, während sie tiefer und tiefer in den Geheimgang hinabkletterte. Wer ein Rad des Schicksals betritt, wird für immer seinen Zyklen unterworfen sein, Kind. Also überlege dir gut, ob du es betreten willst, wenn es von Neuem beginnt.
Zavah spürte nicht, welche Weisheit die Karten ihr damit mitteilen wollten. Doch eines wusste sie, so klar und deutlich wie das Licht eines Sterns: Scott war in höchster Gefahr. Denn die letzten beiden Karten, die Zavah gelegt hatte, erschienen stets nur gemeinsam, wenn –
Zavah presste ihre Augenlider und ihre Lippen aufeinander. Nein. So etwas durfte sie nicht denken. Es gab einen anderen Grund, eine andere Energie, die diese Kombination hervorgebracht hatte.
Das Gericht.
Die Sonne … aber umgedreht.
Zavahs Stiefel fanden festen Boden unter sich, dann atmete sie erschrocken ein – die Katakomben waren zur Heimat eines stummen Meeres aus Nebel geworden, der hoch genug stand, um den Saum ihres bunt bestickten Flickenkleides zu verschlingen.
Das Gericht – ein Symbol für Wiederauferstehung.
»Scott?!«, rief Zavah und stürmte vorwärts. »Scarlett!?«
Die nassen schwarzen Wände glitten an ihr vorüber. Ihr eigenes Echo wiederholte sich in den Hallen der uralten Festung und blieb ihre einzige Antwort.
»Umgedrehte Karten bedeuten stets das Gegenteil der Essenz einerKarte«, raunte die Stimme der Ebrâm. »Alles auf dieser Welt hat ein Widerspiel, Kind. In unserem Inneren und in der Welt außerhalb von uns.«
Das scharfe Klacken von Zavahs Stiefeln hallte durch die labyrinthartigen Gänge der Katakomben von Oaknight Castle. Ihr schneller Atem schuf einen bedrückenden, ungleichen Rhythmus in ihren Ohren.
Die Sonne. Umgedreht.
»Scott!«, rief Zavah verzweifelt.
»Zavah?!«, rief eine Stimme in der Ferne. Es war Scotts Schwester.
»Scarlett?«, antwortete Zavah erleichtert und rannte um eine Abzweigung, die tiefer ins Herz der Katakomben führte, weiter zur Quelle des Nebels: in den Saal der verbotenen Pforten. »Wo ist Scott? Ich muss euch unbedingt etwas –«
»Du hast nicht zufällig gerade eine Ahnung, was hier vor sich geht, oder?«, fragte Scarlett, die mit gezogenem Rapier in der Mitte der gewaltigen Halle stand. Zavahs Augen weiteten sich. Ihr Mund öffnete sich, um etwas zu sagen, aber sie brachte kein Wort heraus. Alles, was sie tun konnte, war, das kolossale Portal aus Rotbuchenholz anzustarren, unter dem der Nebel in wabernden Wellen hervorkroch. Es besaß kein Schlüsselloch. Es hatte keine Scharniere. Es gab keinen Hebel, der es aufsperrte. Mit einem Schauer erinnerte sich Zavah an den Spitznamen, den Scott diesem Ungetüm geschenkt hatte. Die blutrote Pforte.
»Ich glaube, er ist dadrin«, sagte Scarlett trocken und deutete mit der Spitze ihrer silbern aufblitzenden Waffe nach vorn. »Und ich habe nicht die geringste Ahnung, wie wir dieses Ding öffnen können.«
Das Erste, was Scott wahrnahm, war allumfassende Finsternis.
Dann das sterbende Echo eines ohrenbetäubenden Knalls, so als wäre nur wenige Momente zuvor etwas Gewaltiges in einer Kirche umgestürzt. Überall roch es nach trockenem Papier und altem Stein. Es war so kalt, dass Scotts Zähne klapperten. Mühsam versuchte er, sich daran zu erinnern, wie er hierher gelangt war. Wie lange war er schon hier? Seit Minuten? Seit Stunden? Er hatte jedwedes Gefühl für Zeit verloren.
STIEFEL.
SCHWERE STIEFEL AUF SCHNEE.
BEISSENDER WIND.
Ich friere, verstand Scott. Ich sollte den Fellkragen hochschlagen …
Er wusste nicht, woher er überhaupt wusste, dass er einen Fellkragen trug. Aber er half nicht im Geringsten. Die Kälte nistete tief in Scott, in seinen Rippen, seinem Brustbein, seinem Herzen.
GEDÄMPFTE STIMMEN.
GEDÄMPFTE MUSIK.
KNARZENDES HOLZ.
Scotts Hand ging instinktiv an seinen Gürtel. Seine linke Hand fand überraschenderweise den Griff eines ihm fremden Säbels, seine rechte jedoch das vertraute Gewicht seiner grob gefertigten Steinschlosspistole. Erleichtert wollte Scott aufatmen, doch schon allein der Versuch, die klirrende Nachtluft in seine Lungen zu saugen, schien zu einer vor Ewigkeiten vergessenen Erinnerung zu gehören, wie ein Wort aus einer verlernten Sprache.
Das alles hier fühlt sich zu echt an, um ein Traum zu sein, meldete sich Scotts sonderbar gedämpfter Verstand. Der Gedanke erschien ungewöhnlich laut in seinem Kopf. Aber es ist auch keine Erinnerung von mir. Was also geschieht hier?
GELÄCHTER.
GESANG.
FANFAREN.
Scott blinzelte. Wieder und wieder kämpfte er damit, seine Konzentration zu sammeln, aber jeder Anlauf war wie das Fangen einer mit Öl übergossenen Seife.
STAUNENDE RUFE.
TIEFE BEWUNDERUNG.
UNVERHOHLENE VERACHTUNG.
Somnambulismus, spuckte Scotts geistiges Wörterbuch aus. Ich schlafwandle. Das ist die einzig vernünftige Erklärung … Ich muss unbedingt aufwachen!
Kaum hatte er die Worte in seinem Verstand vollendet, kam ein unheimliches Rauschen und Flüstern auf. Ätherischer Schimmer stieg aus der Dunkelheit empor, tanzte in einer Wirrnis aus Rauch und Nebel durch einen gewaltigen Ort, der direkt vor Scotts Augen Wirklichkeit wurde. Es bildeten sich Wände, Marmorböden und festlich geschmückte Säulen. Um Scott herum entstand ein majestätischer Tanzsaal, aus dessen Umrissen Gestalten in prachtvoller Gewandung hervortraten und damit begannen, um ihn herumzuwirbeln. In der Ferne spielten die Saiten einer unsichtbaren Harfe einen schläfrigen, traumgleichen Walzer. Aus Nebel wurden Seidenkleider, Gänsebraten, erlesener Wein. Aus Rauch wurde Lachen, Gesang, gehobene Konversation. EINSAMKEIT.
SEHNSUCHT.
VERLOREN.
Ein Ball des Adels?, kam es Scott in den Sinn.
Plötzlich spürte er eine merkwürdige Form von Dankbarkeit in sich aufsteigen – endlich etwas, das er erkannte, verstand. Sofort stellten sich die über Jahre hinweg ausgefeilten Etikette-Reflexe bei ihm ein: Seine Haltung wurde erhaben, seine Nase rutschte ein Stück höher in seinem Gesicht und seine Lippen pressten sich leicht aufeinander. Als er kurz darauf an sich hinuntersah, erkannte er sich kaum wieder. Er trug die brachialen Stiefel einer fast mittelalterlich anmutenden Kampfrüstung, eine prunkvoll verzierte Hose mit drei verschiedenen Gürteln und ein mit Goldfasern durchwebtes Hemd mit einem tiefen Ausschnitt. Auf dem spitzen Kragen des rabenschwarzen Fellmantels, den er noch immer darüber trug, schmolzen die letzten Überreste von Schneeflocken. Erstaunt rollte Scott seine Schultern, fühlte das ungewohnte Gewicht des Stoffes auf sich liegen.
»Was geht hier vor?«, hörte er sich sagen – und stutzte.
Hatte er das mit den Schultern gerade tatsächlich selbst getan? Zum Test hob er seinen Arm. Inmitten von umeinander wirbelnden Paaren hielt Scott seine Hand in die Höhe und betrachtete, wie zwischen seinen Fingern die goldgelben Spiegelungen zahlloser Fackeln von kristallenen Kronleuchtern eingefangen und wieder freigelassen wurden.
»Hm«, machte Scott. »Anscheinend ist zumindest meine motorische Feinfunktion intakt.«
Was auch immer soeben geschehen war, Scott fühlte sich wach und präsent, wie ein lebendiger Teil dieses Traums. Auch wenn er – zugegebenermaßen – noch immer nicht ganz davon überzeugt war, dass es sich hierbei wirklich um einen Traum handelte. Doch als ihn die Augen eines ganz bestimmten Menschen trafen, erschien ihm das kaum noch von Bedeutung.
Die Zeit schien sonderbar langsam zu verrinnen: Adelige Männer in langen, pelzbesetzten Überröcken und mit hohen Stehkrägen an den engen Jacken verneigten sich theatralisch und bildeten dabei vor Scott eine sich öffnende Allee, die den Blick auf eine Blüte aus wirbelnden Röcken und geschlitzten Ärmeln freigab.
Tappert, Schauben, Schecken – all diese Dinge sind doch schon seit über zweihundert Jahren aus der höfischen Mode, flüsterte es irgendwo aus Scotts Hinterkopf, doch schon einen Augenblick später zollte er der Stimme keine Aufmerksamkeit mehr. Denn aus dem Kreis der sich drehenden Adelsfrauen trat, so opulent und majestätisch gekleidet wie eine wahre Fürstin, Zavah … und machte einen übermenschlich schnellen Schritt direkt auf ihn zu.
»Scott?«, rief Scarlett, lauschte – nichts – und schlug abermals gegen die Pforte. »Scott!?« Knurrend ergriff sie einen der gewaltigen Knäufe mit beiden Händen und warf sich mit aller Kraft rückwärts. Splitter sprangen über dem Metall aus dem Holz. Scarletts Kleid riss zwischen ihren Schulterblättern auf. Nichts tat sich – als wäre da eine Hand auf der anderen Seite, mit viel mehr Kraft, als Scarlett in ihrer menschlichen Gestalt aufbringen konnte.
»Geh auf – geh auf – komm schon!« Neben ihr sah Zavah immer wieder verzweifelt zwischen ihr und der Pforte hin und her. »Was stehst du da so blöd rum? Wir müssen da irgendwie rein! Hilf mir!«
Die Seherin zögerte, blinzelte schnell und schien plötzlich etwas im Nebel unter ihnen zu suchen.
»Das – das wird nicht funktionieren!«, sagte sie, dann suchte ihr Blick den Scarletts. »Was auch immer ihn dahinter festhält, sperrt uns gleichzeitig aus!«
»Denkst du, ich bin blind?!«, schrie Scarlett und musste sich zusammenreißen, nicht nach der Seherin zu schnappen. Stattdessen presste sie die Lippen aufeinander, schnaubte und ließ den Türknauf los. »Was geht hier vor? Was weißt du darüber?«
»I-ich bin mir nicht sicher!«, antwortete das Mädchen.
»Spuck es aus! Wir müssen ihn da rausholen – jetzt!«
Zavahs Mund öffnete und schloss sich mehrere Male. Ihr Blick zuckte panisch hin und her – dann hielt sie inne und ihre Augen leuchteten auf.
»Ein Bann!«, rief sie. »Ich kann einen Bann auslegen!«
Scarlett beäugte das hölzerne Ungetüm vor ihnen. Viel zu groß, um von zwei Mädchen aufgestoßen zu werden. Aber lange nicht groß genug, um eine verwandelte Bestia Enigma aufzuhalten …
Ein kraftloses, dumpfes Stöhnen erklang hinter der Pforte. Der Laut setzte Scarletts Blut in Brand. Wer oder was auch immer ihn darin festhielt, sobald dieses Tor offen war, würde sie alles und jeden darin in Stücke reißen, zerfetzen – !
»Scarlett?«, rief Zavah alarmiert. »Deine Augen!«
Scarlett kniff die Lider zusammen, biss die Zähne aufeinander und schüttelte abgehackt den Kopf.
»In Ordnung – in Ordnung!«, sagte sie. »Mach dieses – diesen Bann!«
»Dafür … ich brauche Zutaten –«
»Was brauchst du dafür?«
»Salz!«
»Salz?«
»Eine Menge Salz!«
»Was?«, machte Scarlett verwirrt. »Aber –«
Zavah zog die Augenbrauen zusammen. »Verdammt noch mal, vertrau mir einfach!«
»Schon gut, schon gut! Ich – ich denke, es ist genug Salz oben in der Küche!«
Die Seherin fuhr herum. »Bin schon auf dem Weg!«
Scarlett hielt inne. »Nein, warte!«
»Was?«
»Warte! Scott – Scott hat die Schubladen neu sortieren lassen!«
»Was meinst du damit?«
»Er – er hat sich immer aufgeregt, dass es keine speziellen Schubladen für Dinge mit kristalliner Struktur gibt – das Salz ist – es ist links unten in der letzten Schublade vom mittleren Schrank!«
»Ach, Scott!«
»Du kennst ihn – ich hoffe, es ist genug da!«
»Ich bin sofort wieder hier – halte durch, hörst du? Versuch es weiter! Vielleicht schaffst du es im Notfall auch ohne mich!«
Scarlett nickte zögerlich, dann noch einmal abgehackt und entschlossen.
»Ich komme schon klar.«
Für den Bruchteil eines Moments musterte die Seherin sie noch einmal besorgt, dann nickte sie ebenfalls und verschwand.
Gut.
Sie sollte nicht mit ansehen, was jetzt geschehen würde.
Scarlett wandte sich erneut der Pforte zu.
Ihre Hände ballten sich zu Fäusten.
Reynard hatte es ihr vorgelebt – irgendwie hatte er es zustande gebracht, seine Werwolfsgestalt immer so anzupassen, wie er sie gerade brauchte: Manchmal waren es nur seine Hände oder seine Augen gewesen, die sich transformiert hatten, manchmal nur seine physische Kraft. Nie zu viel, aber auch nie zu wenig. Stets kontrolliert.
Ich kann es also auch irgendwie schaffen, dachte sie. Einfach nur die körperliche Kraft der Bestia Enigma manifestieren, ohne die Kontrolle zu verlieren …
Mit mehr Dickköpfigkeit als Können konzentrierte sich Scarlett auf das dichte Gewebe in ihren Beinen. Dann auf ihren Rücken. Auf ihre Arme. Sie spürte, wie heißes Blut und wilde Stärke in jede einzelne Muskelfaser hineinschossen, ihr Wille kaum mehr als ein notdürftig zusammengehaltener Staudamm für einen brüllenden Fluss. Das Monster in ihr wollte sich vollständig manifestieren – hier und jetzt – und sich nicht nur mit einem lächerlich kleinen Stückchen zufriedengeben.
Scarlett knurrte auf, als rotbraunes Fell auf ihren Unterarmen zu sprießen begann. Ihr Kiefer bog sich nach vorn, ihre Schneidezähne zogen sich in die Länge. Tief aus ihrem Bauch brach ein dunkles, machtvolles Dröhnen hervor.
So weit, so gut, dachte Scarlett und blinzelte Schweißtropfen fort. Ist doch gar nicht so schwer – ZU REISSEN, ZERRUPFEN, ZERFETZEN!
So aufglühend wie ein einschlagender Blitz brannte das grauenerregende Bild Dennevals vor Scarletts innerem Auge auf – gewaltig, gnadenlos und in seiner vollen, monströsen Pracht. Die Transformation musste höllische Qualen für ihn bedeutet haben, doch dasselbe glorreiche Feuer im Körper des Jägers brannte in diesen Augenblicken auch in Scarletts Adern. Ihre Fingernägel verformten sich zu rasiermesserscharfen Krallen, ihre kleinen Hände wuchsen zu mächtigen Pranken heran, ihre Rippen pumpten sich auf – und ein roter Schleier, den Scarlett mehr als alles andere zu fürchten gelernt hatte, sank über ihre Welt. Im allerletzten Augenblick riss sie ihr schwelendes Herz aus dem drohenden Inferno und stoppte die Verwandlung. Mit einem spitzen Aufkeuchen sank sie auf die Knie und versuchte verzweifelt, ihre Atmung zurück unter ihre Kontrolle zu bringen. Zeit verlor jegliche Bedeutung. Jedes Einatmen war qualvoll, jedes Ausatmen ein Kampf. Ihre Sinne überschlugen sich, eine Kakofonie aus Fährten, Gestank und Düften überfiel ihren Geist. Um sie herum schien die schwarze Burg zu vibrieren. Jeder Windzug an der Oberfläche und jedes Raunen im alten Gebälk Oaknight Manors schienen sich durch das Gemäuer zu übertragen wie die Kreise eines Steins, der auf die stille Oberfläche eines Sees fiel. Ein Teil dieser Wellen – polternde, bebende Schritte – bewegte sich gerade direkt auf Scarlett zu.
»Ich hab’s! Ich habe alles!«, rief eine keuchende Stimme. »Einen Beutel Salz, Kreide und getrocknete Königskerze und – bei allen Lichtern!« Scarlett schluckte schwer, kämpfte sich mühsam zurück in ihren Körper und versuchte zu antworten, doch außer einem tiefen Grollen brachte sie absolut nichts zustande.
»Brauchst du Hilfe?«, sagte Zavah. Das Mitgefühl in ihrer Stimme machte Scarlett aus einem Grund, den sie nicht verstand, schlagartig wütender. »Was kann ich tun?«
»Kümmer – rrrgh! – kümmer dich nicht um mich!«, presste Scarlett hervor und streckte die Hand von sich. Ihre Nase rang mit ihrer Umgebung, drückte den seltsam ätherisch duftenden Nebel beiseite, zwang die süßlichen Noten von Zavahs mitgebrachter Pflanze von sich … und fand den entfernten Geruch von Scotts Blut.
Bitte … bitte nicht!
»Bist du sicher?«, antwortete Zavah besorgt, hin- und hergerissen zwischen Scarlett und der Pforte.
»Ja!«
Kreide scharrte hastig auf feuchtem Stein. Scarlett schüttelte benommen den Kopf. Vor ihr zeichnete ein Umriss, der nur Zavah sein konnte, einen Halbkreis auf den Boden, dessen Enden an der Pforte mündeten. Hastig, aber konzentriert entleerte die Seherin einen Beutel mit Salz über die Kreidelinie, dann