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Dr.Carlotta Rubens kümmert sich als Internistin eigentlich um die inneren Organe lebender Menschen. Als jedoch eine Leiche mit einem auf gemalten Herzen gefunden wird, bittet Kriminalhauptkommissar Mathias Bloss sie um ihre fachliche Unterstützung. Schon bald zeigt sich,dass die Organmalerin tötet, um Kunstwerke aus den Körpern ihrer Opfer zu erschaffen. Sie greift dabei auf einen Farbkasten aus Kontrasten zurück,die über Schwarz und Weiß, Leben und Tod, Gut und Böse hinausgehen. Carly und Matti setzen alles daran, die Mörderin zu überführen. Dabei gerät Carly selbst in den Fokus der Künstlerin und sieht sich mit den Abgründen ihrer Vergangenheit konfrontiert.
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Seitenzahl: 353
Veröffentlichungsjahr: 2022
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»Die Wissenschaft ist der Verstand der Welt, die Kunst ihre Seele."
-Maxim Gorki
Für Mathias
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Ihr Mittelfinger erigierte in ihrer Jackentasche vor unterdrückter Verachtung, als Thomas ihr hinterhergrölte: »Schaut euch den heißen Feger an!«
Carly schritt mit quietschenden Schuhen an Thomas vorbei, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Blicke gab es hier ohnehin genug und die meisten davon waren auf sie gerichtet. Als wäre es so ungewöhnlich, sie in diesem Aufzug sehen. Als wäre es verwerflich, seine Freizeit in einem alten Jeanshemd und einer Leggings zu verbringen. Sie wünschte sich die Zeiten zurück, in denen man sie angestarrt hatte, weil man sie bewunderte, und nicht aus Mitleid. Die Blicke wanderten von ihrer Front zu ihrem Hinterkopf, als Carly den langen Flur entlang an den gläsernen Affengehegen vorbeilief und sich fragte, weshalb man überhaupt Wände errichtete, wenn sie nicht der Privatsphäre dienten. Ihr Ziel war das Büro am Ende des Gangs. Der Löwenkäfig, um ihrer Metapher treu zu bleiben. Ihre Dynamik beibehaltend und ohne zu klopfen, öffnete sie die gläserne Tür.
»Heute hast du dich aber besonders fein rausgeputzt«, grüßte sie Matti, der hinter seinem Schreibtisch saß und kurz aufblickte, während Carly ihm seinen Kaffee to go vor die Nase stellte. »Begrüßt man so den Kaffeelieferanten?«, antwortete diese und platzierte sich eingefaltet wie ein Origami auf dem Sessel am anderen Ende des Raumes.
»Hat man dir das Wasser abgestellt, oder ist das eine Art Statement an die Männerwelt?«
»Klappe, saubere Sachen sind noch in allen möglichen Kartons verteilt und duschen war mir zu anstrengend«, antwortete Carly mit gespielter Abscheu. Sie schlug die Beine übereinander und drapierte sie auf dem Beistelltisch.
Matti räusperte sich. »Was gibt es Neues aus dem Krankenhaus?«
»Was soll es schon geben? Die Leute brauchen jetzt wohl nur noch halbtags medizinische Versorgung.« Carly schnaubte empört und sah sich auf der Suche nach etwas Interessantem im Raum um. »Was die sich dabei gedacht haben. Kaum funktioniert man mal nicht mehr wie gefordert, wird man aussortiert.« Ein überspitztes »Pfff« hallte durch das spartanisch bestückte Zimmer.
Matti griff nach seinem Kaffee, während er sich erhob und den massiven Schreibtisch umrundete. Halbsitzend nahm er auf der Carly zugewandten Seite auf der Tischplatte Platz. Er schwieg. Was sollte er dazu auch sagen. Sie hatte recht. Ebenso wir ihr Arbeitgeber.
»Ich meine«, sie nippte aufgebracht an ihrem To-Go-Produkt, welches sie der Tragevorrichtung aus Pappe entnommen hatte. »Wofür habe ich mir ein Medizinstudium angetan? Unter diesen Bedingungen kann ich mir nur gerade so das Drecksloch leisten, in dem ich jetzt wohne.«
Matti nickte. Für einen Moment herrschte Stille, als Carly zu überlegen schien. »So schlimm wird es nicht sein. Ein bisschen Farbe und ein paar Möbel mehr werden die Wohnung schon aufwerten«, äußerte er sich vorsichtig.
»Immer deine ekelhafte Positivdenkerei. Kannst du mich nicht einmal in meinem Tief unterstützen? So als Freund?« Sie kratzte wild an ihrer Stirn. »Ich meine, es hat auch was Gutes. So kann ich in vergammelten Klamotten rumlaufen, mich in meinem eigenen Dreck suhlen und niemanden stört das.«
»Niemand wäre untertrieben, ich rieche dich bis hierher, Carly«, war sein kläglicher Versuch, sie möglichst diplomatisch zum Duschen zu bewegen.
»Ich bin unterfordert. Geistig, mental. Ich gehe ein.« Nun kratzte sie sich an ihrer Wange. »Mit so viel Freizeit kann ich nicht umgehen.« Carly verzog das Gesicht. »Hilf mir!«, forderte sie ihn mit großen Augen und Schmollmund auf.
Mattis Muskeln spannten sich an, sodass er nun aufrechter saß, als müsste er sich selbst unterbauen in dem, was er zu sagen gedachte.
»Du weißt, dass ich über meine Arbeit nicht reden darf. Da bist du als Ärztin auch keine Ausnahme.« Er rückte sein Shirt zurecht. Metallica lächelte ihr von seiner Brust zu. Carly passte ihre Körpersprache an seine an und lehnte sich ihm entgegen, als sollte das Gesprochene zwischen ihnen geheim bleiben.
»Ich meine, so unter Freunden, unter besten Freunden. Was nützt es mir, wenn du Mordermittler bist, aber ich da überhaupt nichts von habe. Also so rein intellektuell.« Sie lachte.
»Das sind mal Probleme«, erwiderte Matti.
»Selbst mein Verdauungstrakt ist gelangweilt«, sagte Carly vorwurfsvoll, denn ein Ziehen manifestierte sich in ihren Eingeweiden.
»Leider kann ich dir nichts Spannenderes bieten. Eine völlig vergeudete Mittagspause also«, zwinkerte ihr Matti zu, während er tastend nach seinem Handy suchte, das in seiner Hose zu vibrieren begonnen hatte. Carly horchte gespannt auf, musste aber dann doch dem Verlangen ihres Darms Gehorsam leisten und die Toilette aufsuchen. Sie erhob sich langsam und gestikulierte in Mattis Richtung, der ihr geistesabwesend zunickte. Er hatte ihr bereits den Rücken zugedreht und nahm ihre Bewegungen nur peripher wahr. Eifrig schrieb er den Inhalt des Anrufs stichpunktartig mit. Seine Körpersprache war angespannter als zuvor. Carly sah förmlich durch seine Jeans hindurch, wie seine Gesäßmuskeln jedes Mal kontrahierten, wenn er sich wieder aufrichtete, um gespannt zuzuhören. Sie öffnete die Glastür.
»Was soll das heißen, ›Alle unabkömmlich‹?«, hörte sie Matti betont leise zischen. Sie freundete sich derweil mental mit dem Gedanken an, in ihrer Wohnung allein zu versauern.
»Carly?«
Sie drehte sich erschrocken um. Matti sah aufgeregt aus. Seine Wangen zeichneten kreisrunde rote Flecken ab. »Carly, gute Nachrichten. Dein Genie wird verlangt.«
»Wir hätten wirklich noch bei dir zu Hause vorbeifahren können. Du hättest dich noch umziehen können.« Matti zog seine rechte Augenbraue hoch und schaute Carly gequält an.
»Hab dich nicht so. Wenn es wirklich eine Leiche gibt, dann ist der doch absolut egal, wie ich aussehe«, Carly grinste. »Oder rieche. Tot ist tot.«
»Tot ist tot«, wiederholte er nahezu geräuschlos, als könnte er nicht fassen, dass sie das wirklich gesagt hatte.
Sie gingen einen schmalen Bürgersteig entlang und ließen sich den Rücken von den goldenen Sonnenstrahlen wärmen. Schließlich bogen sie in eine enge Gasse ab, die hauptsächlich durch das Blaulicht der Einsatzfahrzeuge beleuchtet wurde, welche sie für den Rest der Welt absperrten. Belebend moderte ihnen die Feuchtigkeit entgegen, die aus dem nassen Laub aufstieg, das den Boden zierte und dessen Ursprungsbaum nirgends zu sehen war. Hauswände ohne Fenster reihten sich zu Mauern auf beiden Seiten der Gasse aneinander. Einst war dies ein Graben gewesen, der zum Schutz des Dorfes gezogen worden war. Somit befand sich links der alte Ortsteil, während man auf der rechten Seite das neuere, wenn auch nicht schönere, Örtchen sah. Diese Information hatte sie beim Vorbeigehen von einer Informationstafel erhaschen können.
Sie wurden bereits erwartet. Ein Polizist mittleren Alters kam auf sie zu. Carly verkniff sich ein Schmunzeln, als der kleingewachsene Mann sich vor ihnen aufplusterte und Matti seine Hand zur Begrüßung entgegenstreckte.
»Schmidt«, grüßte er ihn, Carly keine Beachtung schenkend.
»Mathias Bloss, Morddezernat.« Matti gab Schmidt die Hand, dann schob er sich an ihm vorbei. Carly wollte es ihm gleichtun, wurde aber durch eine breite Geste davon abgehalten.
»Kein Zutritt für Unbefugte«, schnauzte ihr Schmidt entgegen. Carly verdrehte die Augen. Die Kleinen waren immer die Schlimmsten.
»Ich bin Ärztin. Ich soll hier sein.«
»Sie sollen Ärztin sein? Sehen gar nicht so aus.«
Er begutachtete sie demonstrativ und rümpfte die Nase.
»Sie dagegen sehen schon aus wie ein Idiot«, sagte sie zornig. Sie ertrug es nicht, auf ihr Äußeres reduziert zu werden. Entweder sie war zu jung, zu hübsch oder falsch gekleidet, um Ärztin zu sein. Als wären Ärzte eine besondere Art Menschen, die sich immer gut kleideten und stets genau das richtige Alter und ein durchschnittlich gutes Aussehen besaßen. Sie war es leid, sich den Erwartungen anzupassen. Ihr Leben passte sich auch nicht ihren Wünschen an.
Schmidt stemmte seine Hände in die Hüfte. »Das ist Beamtenbeleidigung. Das lasse ich mir nicht gefallen«, rief er empört.
Matti hatte den Tumult offenbar nicht überhören können und kam zu Carly und Schmidt zurück. Er sah Carly amüsiert an, schließlich wusste er, dass sie schwer erträglich war, wenn sie einen schlechten Tag hatte, und die letzten Wochen waren voll von diesen Tagen gewesen. Carly wollte schon Luft holen, um dem Polizisten ihre Meinung zu sagen. Auf Männer, die sie nicht respektierten, reagierte sie seit der Trennung allergisch.
Matti griff ein, bevor sie ihre Gedanken zu diesem Thema kundtun konnte. Er tätschelte Schmidt von hinten die Schulter, wobei dieser unter der breiten Männerhand Mattis noch zierlicher wirkte. »Schmidt, das ist Frau Doktor Carlotta Rubens. Die Frau Doktor«, er sah Carly über Schmidts Kopf hinweg mit großen Augen an und nickte, »meint es nicht so und möchte sich gerne bei Ihnen dafür entschuldigen. Sie wissen doch, wie die Studierten sind«, versuchte er die Stimmung aufzulockern. Carly blähte die Wangen auf, danach lächelte sie Schmidt gekünstelt an. Noch bevor dieser die Situation für sich geordnet hatte, war sie an ihm vorbeigehuscht.
»Na endlich«, rief ihnen ein junger Sanitäter bruchstückhaft zu. Den größten Teil seiner Atemkapazitäten benötigte er dabei für seine körperlichen Ertüchtigungen. »28, 29, 30«, zählte er die Male, die er den Brustkorb der Frau vor sich auf dem Boden mit seinen ausgestreckten Armen eindrückte.
Carly blickte von dem knienden Ersthelfer zu einem älteren Herrn, ebenfalls Rettungssanitäter, auf, der mit verschränkten Armen an der Hauswand lehnte. Dieser schüttelte den Kopf, als Antwort auf Carlys fragenden Blick. Sie ging ihm entgegen. Der jüngere Sani fühlte sich dadurch in seinem Verhalten offenbar bestätigt und ratterte, die Augen nicht von der Frau vor ihm abwendend, einen Lagebericht herunter: »Etwa 70 Jahre alte Frau. Bei Eintreffen Asystolie.« Er führte Mund-zu-Mund-Beatmung durch. »Wiederbelebungsmaßnahmen wurden sofort eingeleitet.«
Carly besah sich die Gesamtlage, ließ seine Bemühungen jedoch unkommentiert und wandte sich dem Wandstehenden zu.
»Seine Erste«, war dessen einzige Reaktion. Traurig sah er auf den Burschen herab und führte norddeutsch aus: »Er ist erst seit gestern im Dienst. Frisch aus der Schule und noch grün hinter den Ohren.« Er räusperte sich. »Hab versucht, ihn davon abzubringen.« Nun sah er auf die Uhr. »Schon vor 20 Minuten. Schätze, er steht unter Schock.«
Carly nickte.
Matti hatte sich unterdessen neben den Sani gehockt.
»Wie heißt du?«, fragte er ihn.
»Sascha«, keuchte er erschöpft. »Sascha Luboch.« Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn.
»Okay Sascha, mein Name ist Mathias. Ich bin von der Polizei und das da hinten«, er zeigte mit seinem Kopf auf Carly, »ist meine Partnerin Doktor Rubens. Sie ist Ärztin hier im Krankenhaus.«
Carly lächelte Matti wissend zu und hockte sich auf die andere Seite Saschas, an den Kopf der Patientin. Sie stockte, als sie ihr Gesicht sah. Sie vergaß das Atmen, als sie um die Hände Saschas auf dem Brustkorb der Frau eine leicht verschmierte Zeichnung bemerkte.
»Okay Sascha, das hast du wirklich gut gemacht«, sagte sie, nachdem sie ihre Atemfähigkeit wiedererlangt hatte, mit ruhiger Stimme und legte ihre Hand auf seine Schulter.
»Sie kann es schaffen, oder?«, schrie er. Sein Blick war starr auf seine rhythmischen Armbewegungen gerichtet.
Sie würde es nicht schaffen. Vermutlich war sie schon eine ganze Weile tot. Carly konnte den Schmerz des Jungen förmlich riechen und fühlte sich zu ihrem ersten Toten zurückversetzt, zu dem sie zuvor keine persönliche Bindung gehabt hatte, die von da an aber für immer existiert hatte und fortbestehen würde. Noch während des Medizinstudiums hatte sie diese Erfahrung sammeln müssen. Sie konnte es Sascha nachempfinden. Man wurde in der Theorie auf den Tod vorbereitet, aber nicht darauf, wie man fühlte, denn das konnte man beim besten Willen nicht voraussagen. Sie besah Sascha von Neuem. Er würde nicht von der Frau ablassen. Adrenalin gespeist würde er weiter drücken, bis er vor Erschöpfung zusammenbräche. Das war ihr Stichwort: »Sascha, ich glaube nicht, dass wir sie wiederbeleben können. Du versuchst es schon lange und das ohne Erfolg. Was meinst du?« Sie schob ihren Kopf in sein Sichtfeld und lächelte ihn mit schmalen Lippen an.
Wie besessen drückte er weiter den Brustkorb der leblosen Person ein. »Nein. Sie hat vielleicht Familie. Kinder, Enkel. Wir können sie doch nicht sterben lassen!« Seine Stimme zitterte. Erschöpfung suchte sich ihren Weg in Form von Tränen. Matti und Carly tauschten Blicke aus. Ihre nonverbale Kommunikation hatte sich in der Vergangenheit bereits als effizient erwiesen. Matti verstand, entnahm seiner Jackentasche ein Paar Handschuhe, die er sicherheitshalber immer dabei hatte und reichte es Carly.
Diese stülpte die Latexhaut mit dem spezifischen Gummischnalzen über und setze zu einem weiteren Versuch an: »Wie wäre es damit: Du bist sicherlich schon entkräftet, schließlich vollbringst du hier Spitzenleistungen. Ich lege jetzt meine Hände hier direkt neben deine und übernehme für dich. Ist das okay?«
Sascha blickte sie an. Er verlangsamte seinen Rhythmus, doch dann besann er sich wieder seiner Aufgabe.
»Sascha?«, fragte Carly bestimmter nach.
»Gut, aber Sie dürfen sie nicht sterben lassen. Okay? Das müssen Sie mir versprechen!« Inzwischen war seine Stimme heiser unter dem mangelnden Atem.
Carly warf einen mitleidigen Blick zu Saschas Kollegen an der Wand, wandte sich schließlich aber erneut Sascha zu: »Gut, ich verspreche es dir.« Sie nickte als Signal ihrer Schichtübernahme, dann legte sie ihre Hände behutsam auf den Brustkorb der Dame und übernahm die Wiederbelebungsmaßnahmen. Sascha blieb zunächst vor der Frau knien, ließ sich aber dann auf seinen Hintern fallen, sodass das Orange seiner Hose dem Blaulicht präsentiert wurde und an Intensität zunahm. Nur die Knie der Dienstkleidung blieben in der Feuchtigkeit verborgen. Carly drückte weiter, ohne von der Frau aufzusehen. Einige Minuten drückte und drückte sie immer wieder, während sie in ihrem Kopf »Stayin Alive« vor sich hinsang. Die Anstrengung machte ihr zu schaffen. Der Sänger ihres imaginären Konzertes verlor ebenfalls an Lust und Geschwindigkeit, sodass ihre Impulse zusehends langsamer wurden.
»Was machen Sie da?«, fragte Sascha empört. Er wollte von seiner sitzenden Position aufspringen, doch mit dem abfallenden Adrenalin hatte auch sein Kreislauf an Schwung verloren und so musste er sich mit den Armen abstützen, um überhaupt aufrecht sitzen bleiben zu können. Carly sah ihn nicht an. Widmete ihm keine Antwort. Gab ihm jedoch Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen, das Bild an den Tod zurechtzumachen, bevor es gleich eingerahmt für immer die Wände seiner Erinnerungen schmücken würde. Ihre Bewegungen wurden langsamer und schwächer, bis sie schließlich die Hände von der Brust der Frau nahm. Noch immer blickte sie nicht zu Sascha auf. Stattdessen betrachtete sie die Zeichnung auf dem entblößten Thorax vor ihr. Sie ließ sich einige Augenblicke Zeit, kontrollierte dann Radialis und Carotispuls und die Atmung. Nun sah sie den jungen Sanitäter an. Dieser saß mit weit aufgerissenen Augen vor ihr. Sie holte tief Luft und spürte, wie sie ihre Erinnerungen an ihren ersten Toten einzuholen versuchten. Jetzt benötigte auch sie einen Moment, um sich zu fangen.
»Zeitpunkt des Todes«, sie blickte auf ihre Armbanduhr. »13.02 Uhr.«
»Was? Nein! Wieso?«, stammelte Sascha vor sich hin. Sein bärtiger Kollege trat von hinten an ihn heran und setzte sich halb hockend neben ihn. Er sagte nichts. Für unerträglich lange Sekunden schwebte Stille über den Anwesenden. Carly war unterdessen vom kalten Boden aufgestanden. Ihr Bauch zog sich schmerzhaft mitfühlend zusammen beim Anblick dieses Häufchens gemachter Erfahrung.
Schließlich kehrte Matti zurück und hielt eine Decke in der einen und einen Schokoriegel in der anderen Hand. Sascha wurde von seinem Kollegen aufgeholfen, der ihn sogleich, die Decke und die Stärkung an sich nehmend, aus der Situation zum Rettungswagen führte.
»Alles okay?«, erfragte Matti vorsichtig, als er sich neben Carly stellte. Diese nickte ihm mit einem schwachen Lächeln zu, wandte ihren Blick dann wieder zum Leichnam. »Was soll man darüber denken?«, murmelte sie kaum hörbar. »Wer würde ihr sowas nur antun?«, fragte sie etwas lauter.
»Wie meinst du...« Matti ging an Carly vorbei, um das Gesicht der Frau besser betrachten zu können. Er zögerte. »Ist das Frau Roßkopf?«
»Jap«, war Carlys knappe Antwort. Sie versuchte noch zu sortieren, was sie hier vor sich sah. Natürlich brachte sie als Ärztin das Konzept des Todes nicht dermaßen durcheinander, dennoch, wo sie eben noch an Erinnerungen im Studium dachte, wurde sie nun in ihre Grundschulzeit entführt. Ihre Klassenlehrerin tot, entblößt und beschmiert vor sich zu sehen, brachte ihre wohlgeordneten Gedanken und Abläufe aus dem Konzept.
»Was meinst du?«, wandte sie sich ihren Gedanken nachhängend an ihren besten Freund, der zunächst auch die Verstorbene betrachtet hatte, aber nun die Umgebung inspizierte.
»Was ich dazu meine? Na ja, faktisch liegt hier eine alte tote Frau, völlig nackt, mit einem aufgemalten Herz auf der Brust.« Er drehte sich abrupt um. »Schmidt, bringen Sie mir bitte eine Rettungsdecke oder irgendetwas, womit wir diese arme Frau bedecken können. An Beweisen können wir dank der ausführlichen Reanimation nicht mehr viel zerstören!« Ohne auf eine Reaktion von Schmidt zu warten, fuhr er fort: »Die Frage ist, was meinst du als Ärztin dazu? Ist Fremdverschulden auszuschließen und wir haben es hier ›nur‹ mit einer Leichenschändung zu tun, oder hat sie jemand ermordet und als menschliche Leinwand missbraucht?« Er rümpfte die Nase und betastete nachdenklich sein Kinn. Carly beugte sich nochmals zur Leiche hinunter. Normalerweise hatte sie keine Berührungsängste, auch bei Toten nicht, aber mit Frau Roßkopf verband sie eine unbeschwerte Epoche ihres Lebens, in der sie Kind war, in der sie glücklich war, ohne die Welt zu zerdenken. Nun lag ihre damalige Lehrerin als Mahnmal der Belehrung einer schwereren Zeit vor ihr. Vorsichtig begutachtete sie die kalten, steifen Hände und suchte nach Einstichen, so gut es ohne Lupe ging. Anschließend fuhr sie hinter den Ohren, unter den Armen und in diversen Gelenkbeugen damit fort. Schlussendlich hob sie den Kopf ihrer ehemaligen Lehrerin sachte an, drehte ihn zur Seite und betrachtete den Nacken. Nichts. Vorsicht drapierte sie alle Körperteile und erhob sich zu Matti. Schmidts Gesicht begegnete ihr auf dem Weg nach oben. Er nahm ihre Aufrichtung zum Anlass, den Leichnam unter einem lauten Knistern mit der gewünschten Goldfolie zu bedecken. Carly schüttelte derweil ihre Muskeln und Knochen zurecht. Die Kälte der Gasse und die Feuchtigkeit breiteten sich in ihrem Inneren aus.
»Ist das denn anatomisch korrekt?«, unterbrach Schmidt Carly im Sortieren ihrer Physis. Kurz war sie irritiert, auf was er anspielte, als er jedoch die Decke von der Frau hob und ihren Brustkorb abermals entblößte, war klar, worauf er hinauswollte. Ein einfaches Nicken wurde lediglich von Schweigen begleitet. Dieses wog schwerer, als es Worte in diesem Moment gekonnt hätten. Schmidt stand neben der Leiche, wie Eltern an der Seite des Bettes ihrer Kinder: Mit der Decke in der Hand, bereit, ihnen einen schönen Schlaf zu wünschen. Hier gab es nichts mehr zu wünschen. Er betrachtete ihr nahezu friedlich wirkendes Gesicht und deckte die Entschlafene liebevoll zu.
»Nun aber zu deiner Frage«, Carly wandte sich zu Matti. »Genaueres wird wohl erst eine Autopsie und die Forensik klären können, aber abgesehen von der Nacktheit und dem non-permanenten Tattoo«, sie zeigte Matti ihre Handflächen, die auf dem beige-farbenen Latex die schwarze Farbe der Zeichnung von der Reanimation an sich trugen, »lässt nichts auf einen gewaltsamen Tod schließen.«
Ein eisernes Läuten erklang, als ich die schwere Holztür nach innen öffnete und das über ihr schwebende Glöckchen mein Betreten geräuschvoll ankündigte. Stickige, verbrauchte Luft gedrängt mit dem Geruch nach Schweiß schlug mir wie eine Backsteinmauer entgegen und durchströmte meine Nasenlöcher aufdringlich scharf. Ich musste einen Würgereiz unterdrücken, ein kurzer Schwindelanfall blieb mir jedoch nicht erspart. Kurz zögerte ich, ob dies der richtige Ort für mich war. Schon suchte sich aber der Geruch nach frischen Pommes den Weg in mein Bewusstsein und mein Magen überredete mich, der Kneipe zumindest eine Chance zu geben. Ich trat ein und nachdem sich die Tür hinter mir geschlossen hatte, umgab mich der Mief der Menschheit. Völlig umnebelt mit Ausdünstungen und Abfallprodukten, die Homo sapiens an ihre Umgebung abgaben. Die Gewöhnung siegte und ich arrangierte mich, nun als Teil der Duftwolke, schneller als vermutet, mit meinem Geruchsumfeld. Ich trat aus dem Eingangsbereich hinaus in das Stimmwirrwarr des Raumes.
»Noch drei davon«, rief ein Mann von hinten links, als wäre er hier der einzige Gast. Eine Kellnerin nickte ihm zu, verdrehte ihre Augen jedoch einen Moment zu früh, sodass der Gast ihren nervlichen Zustand zu erahnen schien. »Zicke«, schimpfte er.
Bereits in diesem Augenblick hatte ich genug vom Kleinstadtcharme, mein Magen allerdings hatte viel zu wenig Genug, weshalb er mich immer wieder an unser Ziel erinnerte. Essen. Die blonde Kellnerin lief rot an, senkte ihren Blick und huschte an mir vorbei. Dabei folgte der Duft nach Kokosnuss ihren Haaren ebenso unauffällig wie der Geruch nach getrocknetem Blut, der aus ihrer Leistengegend strömte. Damit wäre zumindest ihre Reizbarkeit erklärt. Ich schritt weiter in den Raum hinein und tastete nach meiner Handtasche, deren Gewicht ich durch meinen dicken Wintermantel nicht mehr spürte. Erneut ein Akt der Gewöhnung. Der Inhalt klimperte eisern. Alles noch da. Meinen Mantel gedachte ich von der Raumtemperatur verführt schnellstmöglich abzulegen, jedoch wollte ich zunächst einen Platz finden. Die Bar schien mir geeignet, schließlich würde ich hier weniger mit menschlichen, als mit alkoholischen Gerüchen konfrontiert. Die Bar war aus diesem typischen überbeizten dunklen Holz gefertigt, das man in verrauchten Kneipen in kleinen Orten fand. Ein Überbleibsel aus Zeiten, da man sich gegenseitig durch Indoor-Rauchen Lungenkrebs anzüchtete. Die Kapazität der Schenke war bereits zu einem Drittel von einem blonden mittelalten Mann ausgefüllt, dessen Anwesenheit mir zuwider war. Er hatte sich den Hocker außen links erwählt. Ich ging an ihm vorbei, ohne ihm groß Aufmerksamkeit schenken zu wollen, allerdings wurde die Neugierde meiner Olfaktion geweckt, als sich der Geruch nach Bauernhof seinen Weg über den Riechnerv in mein Gehirn suchte. Unmittelbar sah ich das Geruchsabbild fermentierenden Stickstoffs vor mir. Ich betrachtete den Mann im Augenwinkel und atmete das Ammoniak, das aus jeder seiner Poren zu flüchten schien und meinen Riechkolben verätze. Mein Nasenrücken kräuselte sich zu einem faltigen Gruß meiner Abscheu auf, während ich ihn, Tasche und Mantel auf den Hocker zwischen uns platzierend, begutachtete. Seine Haut wirkte leicht gelblich. Das musste an den Lichtverhältnissen liegen. Auch wenn mein primäres Interesse Kohlenhydraten in kartoffeliger Form galt, konnte ich nicht abstreiten, dass sein Aussehen, gepaart mit seinem ungewöhnlichen Geruch meine Neugierde geweckt hatte. Er schien ebenfalls auf mich aufmerksam geworden zu sein – natürlich, wie könnte er auch nicht – und hielt es für angemessen, mich von der Seite anzulabern. Selbst schuld, redete ich mir im gleichen Augenblick ein. Ihn zu betrachten war geradezu eine Einladung gewesen. Ich schüttelte den Kopf. Menschen.
»Hey, ich bin Lukas«, war sein erbärmlicher Versuch, ein Gespräch zu beginnen.
Ich hatte auf etwas Kreativeres gehofft, aber was sollte man in einer Dorfkneipe an einem Mittwochabend erwarten. Er streckte mir die Hand zum Gruß entgegen. Erneut rümpfte ich die Nase. Essen. Ich wollte nur etwas essen. »Nicht jetzt schon die Antisoziale heraushängen lassen«, versuchte ich mich zu überreden. Es war Anfang des Monats und ich wollte meinen Vorsatz, Menschen nicht so schnell abzuschreiben, einhalten. Erstmal. Ich befürchtete, bei ihm würde mir das schwerfallen. Dennoch schüttelte ich meine Schultern zurecht, meine Sozialkompetenz wach und setzte ein Lächeln auf.
»Marta«, erwiderte ich seine Geste.
Er lächelte zurück und seine absolut weißen Zähne blinkten mir entgegen. Ein herausragender Kontrast zu seinem uringegerbten Hautton. »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du hungrig aussiehst?«
Nun konnte ich mir ein echtes Lachen nicht verkneifen. So offensiv, fast schon charmant, war mir dies tatsächlich noch nie mitgeteilt worden. »Du hast vollkommen recht. Ich befürchte, wenn ich nicht bald etwas zwischen die Zähne bekomme, werde ich qualvoll verhungern.« Mein Magen grummelte in diesem Moment als Zeichen seiner Zustimmung.
»Und das können wir auf gar keinen Fall zulassen.« Er beugte sich nach vorne über die Theke und rief in Richtung Wand: »Halloooo, wir haben hier einen Notfall!« Erwartungsfroh nahm er wieder eine normale Sitzposition ein. Beeindruckend. Nach der langweiligen Begrüßung hätte ich mit einer solchen Einlage nicht gerechnet. Aus der Flügeltür hinter der Bar, die in die Küche führte, stürmte ein bärtiger Herr mit kugelrundem Bauch. Er blieb abrupt stehen und sah sich mit wirren Blicken suchend um. Seine Stirn in Falten gelegt, stemmte er seine Hände in die nicht vorhandene Taille. »Und wo ist jetzt der verdammte Notfall?«, brummelte er vor sich hin.
Lukas zwinkerte mir zu – Alphamännchengetue – und lehnte sich erneut über die Theke, um dem klein gewachsenen Mann etwas entgegenzukommen.
»Diese Schönheit hier neben mir droht zu verhungern, wenn sie nicht bald etwas zu essen bekommt«, sprach er unnatürlich laut, damit ich es auf jeden Fall hörte, zu dem Kerl mit dem inzwischen hochroten Kopf. Mein Interesse mutierte derweil zu einem innerlichen Augenverdrehen. Dem Mann konnte ich nun ganz genau ansehen, wie er in einem inneren Monolog versuchte, die Fassung zu wahren. Er atmete nach Luft ringend durch aufeinandergepresste Lippen ein und aus. Es quietschte. Ich war irritiert, Lukas amüsiert.
»Du elender...«, entfuhr es dem verschwitzten Rumpelstilzchen.
Lukas lachte.
»Es tut mir leid, aber nach 22 Uhr ist die Küche geschlossen«, sagte der Teekessel in meine Richtung gewandt, seine Hände unterdessen an seiner Schürze abputzend. »Auch mein Neffe kann an dieser Tatsache nichts ändern.« Er sah Lukas an. Sein Lächeln erstarb. In diesem Moment war mir klar, dass dies ein ewiges Spiel der beiden sein musste und der Onkel nicht mich abwies, sondern seinen Neffen zu disziplinieren versuchte. Er blickte vorwurfsvoll auf das halb geleerte Glas in Lukas Hand. Lukas wollte es anscheinend nicht bei seiner Niederlage belassen, denn er hatte mehr zu verlieren als diesen Kampf. Bei ihm hing, so dachte er vermutlich, sein Erfolg des heutigen Abends irreversibel davon ab, ob er mir etwas zu essen besorgen könnte. Primitiv. Deshalb gedachte er seinem Onkel zu widersprechen. Ich legte meine Hand auf seinen Oberschenkel. Er verstummte. Nun beugte ich mich, wie er vorhin, ebenfalls über die Theke vor, um besser in Hörweite des Onkels zu sein. Leider war Hörweite gleich Riechweite und der Geruch von ranzigem Fett getragen von Schweißaroma setze sich auf meinen Nasenschleimhäuten fest. Heute blieb mir nichts erspart. Ich musste mich beherrschen, meine Abneigung nicht nach außen zu tragen.
»Auch mir tut meine freche Bitte leid. Sie machen ja nur ihren Job und blicken in den wohlverdienten Feierabend«, ich senkte meinen Blick, um schließlich mit einem Augenaufschlag zu punkten. »Ich kann das so gut verstehen. Mir ging es vorhin im Rettungswagen nicht anders. Nach einem langen Tag harter Arbeit möchte man einfach nur den Abend genießen.« Zeitgleich zu meinem Überredungsversuch drückte ich mit der flachen Hand auf Lukas‘ Schoß zu – damit hatte ich ihn nicht nur bildlich in der Hand – und erhob mich demonstrativ von meinem Platz. Männer muss man unter Druck setzen, wenn man effizient ans Ziel gelangen möchte.
»Ähm, stopp«, stotterte es leise aus der Richtung des Onkels. »Halt!«, rief er mir mehr fragend als auffordernd hinterher. »Sie arbeiten im Rettungsdienst?«
Abendessen, ich komme.
»Ja, ich bin Sanitäterin«, lächelte ich ihn überzeugend schüchtern an. »Emotionen sind auch nur aufgemalte Gesichter«, sagte mir mein Vater immer wieder und so hatte ich die gesamte Farbpalette perfekt einstudiert. Ich drehte mich mit dem Oberkörper zu ihm. Keine Erklärung notwendig. Eine halb geöffnete Pose, die Zuwendung und gleichzeitig eine drohende Dynamik anzeigte.
Der Onkel nickte: »Wissen Sie was. Ich zaubere Ihnen eine Kleinigkeit. Kann Sie doch nicht hungrig nach Hause gehen lassen, wenn Sie den ganzen Tag Menschenleben retten.«
»Ach, Sie müssen doch nicht. Ich finde Zuhause sicherlich…«
»Nein, nein, keine Wiederrede«, stoppte er mich.
»Was darf ich Ihnen bringen?«
Na also. War doch gar nicht so schwer.
»Ach, wissen Sie,«, ich strich mir durchs Haar.
»Als ich vorhin ankam, habe ich Pommes gerochen. Damit würden Sie mich sehr glücklich machen.« Ich grinste passend zu den Haaren verlegen. Obwohl ein Grinsen natürlich eigentlich erst in der Kombination mit einem gesenkten Blick als verlegen wahrgenommen wird.
»So soll es sein«, nickte er mir erneut entgegen und verschwand, wie er gekommen war, durch die Flügeltür.
Lukas, der sich nach wie vor an seinem Glas festkrallte, als hinderte es ihn daran, vom Hocker zu fallen, schien ansonsten fassungslos.
»Wie hast du das gemacht?« In seinem Blick stand Ungläubigkeit geschrieben.
Ich antwortete ihm nicht, denn ich hatte Jahre gebraucht, um dieses Vorgehen zu perfektionieren. Das würde ich ihm nicht nebenbei einfach so erklären können. Mal abgesehen davon, dass ich es nicht wollte. Er rutschte aufgeregt auf seiner Sitzgelegenheit umher.
»Bist du wirklich Sanitäterin?«
Eine rhetorische Frage, damit gedachte er lediglich seine Bewunderung auszudrücken. Ich drehte meinen Kopf nur leicht zu ihm, sodass er, würden meine Gesichtszüge meine Gedanken verraten, sie nicht ablesen könnte. Mein Blick blieb von ihm abgewandt. Die Leere hinter der Bar war ohnehin spannender als das, was der Alkoholismus von diesem Menschen übriggelassen hatte. Erregung eroberte meinen Körper wellenartig. Ich schielte zu ihm und nahm einen tiefen Atemzug seiner Duftmoleküle, die mir mehr sagten, als er es den Rest des Abends gekonnt hätte, und ließ sie durch meinen Organismus fließen. Unterdrückte Emotionen pochten gegen meine Gefäßwände und erst nachdem ich diese niedergerungen hatte, blickte ich zu Lukas auf. Ein Lächeln manifestierte sich spürbar auf meinen Lippen und ich konnte förmlich fühlen, wie sich der Ausdruck meiner Augen veränderte. Meine Erregung verbarg ich in einem weiteren tiefen Atemzug. Schließlich sagte ich matt, fast so, als wäre es nicht von Bedeutung: »Nein, ich bin Künstlerin!«
Es klopfte hölzern an der Tür. »Wer ist da?«, trällerte Carly übertrieben melodisch, wohlwissend, dass ihr unerwarteter Gast Matti war. Sie bekam ansonsten keinen Besuch, was sie allerdings eher froh als traurig stimmte. So blieb es ihr erspart, den Zustand ihrer Wohnung zu erklären. Es war ohnehin ausreichend belastend, ihren Gemüts- und Gesundheitsstatus immer und immer wieder zu Protokoll zu geben. Matti hatte ihr Spiel nicht mitgespielt, weshalb sie die Tür lieber langsam öffnete. Sicher sein konnte man sich dann schließlich doch nicht.
»Was ist los?«, fragte sie das blasse Gesicht vor sich um Auskunft, aufatmend, dass sich ihr Verdacht bestätigt hatte.
Matti lehnte sich schräg an den verkratzten Türrahmen. »Es wurde eine Leiche gefunden.« Pause. »Sie wurde mit Farbe bemalt.« Erneute Unterbrechung. Er gestaltete es dramatisch.
Carly spürte, wie das Adrenalin ausgehend von ihrem Herzen durch ihren Körper schoss und sich in ihrem Darm versammelte. Dieser ziepte aufgeregt. Mit einer ausufernden Armbewegung bat sie Matti rein und begab sich zum Sofa.
Er folgte ihr, während er sein Anliegen ausführte: »Ich wurde auch eben erst angerufen, aber die Sanis behaupteten den anderen Polizisten gegenüber, dass es sich um eine aufgemalte Leber handele. Die Kollegen hätten das Gemälde zwar nicht als solche identifiziert, vertrauten aber der Aussage des medizinischen Kollegiums vor Ort.«
Carly ließ sich auf das cremefarbene Sofa sinken. »Also ein Serienmörder?« Ihre Stimme klang ungewöhnlich hoch, selbst unter der fragenden Betonung. Matti blieb vor der Couch stehen und sah sich im Zimmer um, welches zu 90 Prozent aus Kartons zu bestehen schien.
»Wenn man’s genau nimmt, ist das der erste Mord dieser Art und selbst, wenn er das nicht wäre, könnte man bei zwei Morden noch nicht von einer Serie sprechen.« Er schob sich einen Karton vor das Sofa und setze sich darauf. Sein langer Ledermantel schlug geräuschvoll gegen die Pappe, derweil Matti sich niederließ.
»Klugscheißer«, warf ihm Carly halbgrinsend, halb die Stirn gerunzelt entgegen. »Und nun? Wir wissen inzwischen, dass Frau Roßkopf an einem Herzinfarkt starb und erst post mortem beschmiert wurde. Was ist dieses Mal anders?« Sie griff sich ein orangefarbenes Kissen zur seelischen Unterstützung und umschlang es vor ihrem Brustkorb mit beiden Armen.
»Der Unterschied scheint zu sein, und ich spreche absichtlich im Konjunktiv, da ich selbst noch nicht vor Ort war, dass die Leiche in einer Blutlache zu liegen scheint.« Carly war erstaunt, wie gelassen er den Sachverhalt äußerte. Sie hatte keine Probleme mit dem Tod, er gehörte unmittelbar zum Leben, aber sobald aus Tod Mord wurde, stellte sich ihre Körperbehaarung um 90 Grad zum Rest ihres Körpers und wollte vor ihr fliehen. So, wie auch sie eine impulsive Fluchtreaktion in Form von Übelkeit niederzuringen versuchte. Ihr Lebensinhalt bestand darin, Menschen zu helfen, ihnen das Leben zu retten, und ihr war es unbegreiflich, wie man mit vollem Bewusstsein und Absicht zum Gegenteil beitragen konnte.
»Okay«, war alles, was sie fürs Erste beisteuerte. Ein zweites Okay folgte und mit ihm die Frage, weshalb Matti dann zu ihr zu Besuch kam, anstatt auf direktem Wege zum Tatort zu fahren.
»Du kommst mit!«, war seine knappe Antwort darauf.
Carly schüttelte abwehrend den Kopf.
»Ich bin krankgeschrieben«, untermalte sie ihre Dynamik verbal.
»Genau deshalb, Carly. Seit Tagen vergräbst du dich hier und badest in deinen Bauchschmerzen. Du warst es doch, die mich um geistige Herausforderung anbettelte. Da ist sie. Als wäre dieser Mord für dich gemacht.«
Carly zog ihre Knie zu sich heran. Sie konnte die Wohnung nicht verlassen. Mal abgesehen davon wollte sie es nicht. Wenn man die Rollläden zuzog und nur den Fernseher als Lichtquelle nutze, konnte man sich die kahlen Wände und die vollen Kartons schöndenken. Draußen bei Tageslicht würde sie an all das hier erinnert werden, in der Konfrontation mit der Normalität anderer.
»Ich muss erst duschen«, versuchte sie sich an einer weiteren Ausrede.
Matti lachte. »Dann warte ich solange, schließlich läuft uns da nichts weg.«
»Du weißt, ich bin voll auf Cortison und habe Stimmungsschwankungen. Ich bin ein unberechenbares Monstrum.«
Matti lachte laut auf. »Ich bin mit zwei Schwestern aufgewachsen. Mich kannst du nicht so leicht irritieren!« Er verschränkte die Arme amüsiert vor der Brust. »Sonst noch einen logischen Einwand oder können wir dann langsam an unserer Abreise feilen?«
Carly suchte angestrengt nach Gründen, ihre Wohnung nicht verlassen zu müssen. Plötzlich machte ihr ein aufkommendes Bauchgrummeln klar, dass sie nicht zu suchen brauchte, und sie rutschte hin und her. Matti steckte seine Hände abwartend in seine Manteltaschen. Ihr Gesicht halb hinter dem kuscheligen Kissen versteckend sagte Carly zögernd: »Selbst, wenn ich wollte, ich kann hier nicht weg. Du weißt doch, dass ich ständig aufs Klo muss.« Sie spürte Tränen ihre Tränengänge hinaufwandern, als ihre Stimme am letzten Wort des Satzes versagte.
Matti sah sie eine Zeit lang an. Sein Blick wirkte traurig, aber nicht bemitleidend. Ohne Vorwarnung zog er seine rechte Hand aus der Jackentasche und schmiss Carly ein weißes, weiches Etwas gegen den Kopf. Noch während sie sich sammelte und das Etwas betrachte, war Mathias aufgestanden.
»Ist das dein Ernst?« Ihre Stimme klang empört. Zunächst. Ein Lachen mischte sich nun dazu. »Du hast mir eine Windel mitgebracht?« Matti setzte sich neben sie. »Natürlich. Du kennst mich. Ich bin dein persönlicher Problemlöser. In meinem Auto gibt es noch mehr davon. Zur Sicherheit.« Er zwinkerte ihr zu.
»Als ob die passt«, war ihr nächster Versuch.
»Carlotta...«, entfuhr es Matti schroffer. »...du schwingst jetzt deinen viel zu dürren Hintern von der Couch, duschst dich heiß ab und dann schlüpfst du in diese supersexy Erwachsenenwindel, sodass wir den verdammten Dreckskerl schnappen können.«
Zu Anfang war es ein gewöhnungsbedürftiges Gefühl gewesen. Schließlich hatte sie sich aber schnell an das leise Rascheln beim Gehen gewöhnt und fühlte sich überdies ein bisschen selbstbewusster als sonst. Sicher verpackt, geschützt vor dem plötzlichen Divengehabe ihres Gastrointestinaltraktes, konnte sie ohne Panikknopf im Hintergrund Matti fokussiert zur Seite stehen. Hin und wieder zwickte die Windel im Schritt, aber insgesamt war Mattis Idee ein Volltreffer und gab ihr die Lebensqualität zurück, die sie in den letzten Wochen arg vermisst hatte. Da konnte sie ihren Stolz und den wattigen Hintern ruhig hintenanstellen.
»Oh, das bemantelte Duo rückt an«, hörte sie Thomas von Weitem rufen. Sie konnte ihre Abneigung gegen diesen geleckten Kerl nur schwerlich verbergen, gab sich aber größte Mühe, indem sie schwieg.
»Was haben wir hier, Kajic?«, war Mattis Reaktion auf Thomas‘ Provokation. Dieser plusterte sich auf und betrachtete Carly von oben bis unten.
»Soweit ich sehe, hast du deine Ärztin in restauriertem Zustand mitgebracht. Bravo. Eine Augenweide.«
Ekel suchte sich Muskelschicht für Muskelschicht seinen Weg in Carlys Gesichtsausdruck. Matti schien kurz zu überlegen, ob diese Aussage einen Konter wert wäre, winkte schließlich aber ohne Kommentar ab und ging an Thomas vorbei in Richtung Tatort. Carly heftete sich an seine Fersen wie ein treuer Hund.
Es war ein sonniger Tag, allerdings waren ihre Augen nicht mehr an diese Helligkeit gewöhnt und sie fühlte sich in ihrem Dauerkater geblendet. Ein sachter Wind ließ das Laub als Ausblick auf den Tod über den Boden wehen, auf dem sich in den nassen Vertiefungen des Asphalts das goldene Sonnenlicht spiegelte. Ein wundervoller Tag. Allerdings nicht, um zu sterben. Carly besah sich die Szenerie und hakte beruhigt den Punkt Sanitäter ab. Heute würde sie niemanden traumatisieren müssen, denn alle Beteiligten standen geordnet an der Seite. Einige rauchten eine Zigarette, andere schlürften an ihrem To-Go-Produkt, alle jedoch schienen bei Sinnen und unterhielten sich fröhlich, als Matti und Carly den Tatort betraten.
In diesem Moment verstummten die Gespräche und es waren lediglich die Autos im Hintergrund und die raschelnden Blätter im Wind zu hören. Carly und Matti positionierten sich um die Leiche. Vor ihnen auf dem Boden fand sich der nackte Körper eines Mannes. Flach auf dem Rücken liegend, mit akkurat ausgerichteten Gliedmaßen. Fein säuberlich waren die Beine und Arme parallel zueinander und zum Körper drapiert worden. Die Handflächen zeigten nach oben und waren zu Behältnissen für weiße und schwarze Farbe umfunktioniert worden. Der Blick des Toten, insofern seine Augen nicht geschlossen wären, ging ebenfalls zum Himmel. Er lag in seinem eigenen Blut, das ihn, augenscheinlich aus dem Kopfbereich stammend, einrahmend umflossen hatte. Seine Haut hatte eine bläuliche Färbung, die Carly zu genaueren Untersuchungen veranlasste. Sie ließ sich Handschuhe geben, umrundete den Mann mittleren Alters langsam, und hockte sich mit etwas Abstand an seinen Kopf. Sorgfältig inspizierte sie Mund und Augen, nachdem sie die durch die Totenstarre versteifte Muskulatur behutsam weichmassiert hatte. Ein seltsam ätzender Geruch ärgerte ihre Nase. »Riechst du das auch?«, fragte sie, zu Matti aufblickend. Dieser beugte sich über die Leiche und wedelte fächernd mit der Hand, um Geruchsmoleküle zu sich zu wirbeln.
Er sah Carly irritiert an. »Ich rieche nichts Besonderes, nur Alkohol. Er hat ne ordentliche Fahne. Halte ich aber für nicht ungewöhnlich, schließlich sind hier einige Kneipen in der Nähe.« Er drehte sich zu seinen Kollegen um. »Habt ihr bei ihm irgendwas Persönliches gefunden, was Rückschlüsse auf seine Identität zuließe?«
Kollegiales Kopfschütteln war die Folge.
Carly drehte unterdessen sachte den Kopf des Mannes zur Seite, um seinen Nacken zu betrachten. Dort fand sie ein tiefes Loch am Schädelansatz, was die Blutungsquelle gewesen sein musste. Sie hatte den Abdruck einer Klinge erwartet, aber die Eintrittsstelle war kreisrund.
Sie vernahm die Präsenz von Thomas im Nacken und erhob sich deshalb, um sich wieder zu Matti zu stellen. Obwohl sie das hier gleichermaßen faszinierte wie abschreckte und die Ablenkung insgesamt ihre Stimmung hob, befürchtete sie dennoch, eine Anzeige wegen Beamtenbeleidigung zu riskieren, würde sie sich allein mit Thomas unterhalten müssen. Im Stehen zog sie die Handschuhe aus und zappelte durch knappe Hüftbewegungen ihre Windel wieder an den richtigen Platz. Zum Glück verdeckte ihr dicker Wintermantel die plötzliche Volumenzunahme ihres Hinterns, ansonsten hätte man sie sicherlich mit nervigen Sprüchen zugemüllt. Sie betrachtete mit abgesenktem Blick ihre Stiefel und versuchte, durch den Geruch des Herbstes und die metallische Note des Blutes hindurch herauszufiltern, welche Assoziationen die Ausdünstungen der Leiche in ihr auslösten. Sie kratzte sich grübelnd an der Nase, als würde dies ihre Denkleistung verbessern, wodurch ihr Nasenpiercing verrutschte. Als sie den silbernen Ring richtete, fielen ihr nicht nur Schuppen, sondern ganze Fische von den Augen. Diese Metapher passte sowohl bildlich wie olfaktorisch. Ammoniak war der gesuchte Geruch. Aufregung überkam sie, als sich plötzlich alle Puzzleteile zusammensetzen.
»Hey, Matti«, rief sie ihren Freund zu sich, drosselt dann aber das Volumen. »Ich glaube, ich weiß, was hier los ist. Also zunächst mal ist er, insofern man den Petechien in Mundschleimhaut und Augen sowie der zyanotischen Färbung seiner Haut glauben kann, wahrscheinlich erstickt. Vermutlich, aber das ist reine Spekulation, wurde mit einem spitzen Gegenstand sein Atemzentrum verletzt, wodurch er nicht mehr in der Lage war, zu atmen. Aber, und jetzt kommt das eigentlich Interessante, er riecht nach Ammoniak und das Weiß seiner Augen hat eine gelbliche Verfärbung. Das und die Tatsache, dass man ihm eine Leber aufgemalt hat, lassen mich glauben, dass er vermutlich an einer Lebererkrankung litt.« Sie lächelte ihn hibbelig an. »Darauf würde ich meinen Doktortitel verwetten.« Ihre Wangen glühten vor Freude. Matti betrachtete, von Carlys Stimmung weniger beeindruckt, als von der Falldienlichkeit ihrer Informationen, weiter die Leiche. »Fassen wir zusammen. Ein Mann um die 35 oder 40, mit vermeintlichem Leberversagen, der erdolcht wurde und infolgedessen erstickte, bevor er verblutete. Anschließend füllte man schwarze Farbe in die rechte und weiße Farbe in die linke Hand und benutze sie so als Gefäße, um daraus Material zur Anfertigung eines Organgemäldes auf seinem Körper zu schöpfen?« Er schüttelte langsam den Kopf. »Was will uns der Dreckskerl damit sagen? Ist das eine Art Fetisch?« Erneut besah er sich die Umgebung, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches feststellen. Eine ordinäre Seitengasse und ein durchschnittlich wirkendes Opfer. »Wo ist die Verbindung zu unserer ersten Toten?«
Carly verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere. »Ich sehe keine. Betrachtet man es aus medizinischer Sicht, sind sie an völlig unterschiedlichen Dingen gestorben. Mal abgesehen davon, dass die Auswahl der Organe ziemlich inkonsequent ist. Frau Roßkopf starb an einem Herzinfarkt und wir fanden sie mit einem anatomisch korrekten Abbild eines menschlichen Herzens auf der Brust. Opfer zwei starb einen gewaltsam herbeigeführten Erstickungstod, es wäre also nur konsequent, ihm eine Lunge aufzumalen.« Sie suchte sich einen Hausvorsprung zum Dranlehnen. »Wieso also die Leber?«
Matti folgte ihr zur Hauswand, blieb jedoch einen Meter von ihr entfernt stehen. »Carly, so ungern ich es auch sage, wir dürfen jetzt nicht Opfer unseres Verstandes werden. Wir haben zwei Leichen, die nichts gemein haben, außer, dass sie Menschen waren und jetzt tot sind. Unterschiedliches Alter, Geschlecht, Todesursache, Fundort, Aufmachung und selbst die aufgemalten Organe unterscheiden sich. Es ist logisch, dass wir nach Mustern suchen«, er stütze die Arme in seine Hüfte. »Aber, um statistisch von Relevanz zu sein, um ein Muster erkennen zu können, so bräuchten wir, und Gott bewahre, mindestens eine dritte Leiche.«
Es klingelte, als sie die schwere Holztür nach innen öffneten. Bevor Matti eintrat, schüttelte er zunächst seinen mit Regen benetzen Schirm aus und lehnte ihn dann an die Wand. Carly hatte auf ihn gewartet und so gingen beide gemeinsam weiter in den Innenraum hinein. Ihre Stiefeletten quietschen beim Laufen auf dem Holzboden.