Die Orsini Affaire - Kerrin Skadi - E-Book

Die Orsini Affaire E-Book

Kerrin Skadi

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Beschreibung

Minetta May, genannt Miena, Tochter aus gutem Hause, wird durch einen Einbruch in ihr Elternhaus in die aufregende Jagd nach dem Dieb einer kostbaren Handschrift verwickelt. Die Wiederbeschaffung führt sie kreuz und quer durch das viktorianische London. Tatkräftig unterstützt wird Miena dabei durch den charismatischen jungen Bibliothekar Phillander Millford, der ein gefährliches Doppelleben führt. Die Orsini Affaire bildet den Auftakt zu einer vierteiligen Mini-Serie, die die Protagonisten quer durch das Europa des 19. Jahrhunderts schickt, immer auf der Suche nach den vier Bänden eines verschollenen Tagebuches dessen Inhalt auch Jahre nach dem Tod des Schreibers noch immer gefährlich ist.

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Seitenzahl: 351

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Das Buch

Minetta May, genannt Miena, Tochter aus gutem englischen Hause, wird durch einen Einbruch in ihr Elternhaus in die aufregende Jagd nach dem Dieb einer kostbaren Handschrift verwickelt. Die Wiederbeschaffung führt sie kreuz und quer durch das viktorianische London. Tatkräftig unterstützt wird Miena dabei durch den charismatischen jungen Bibliothekar Phillander Millford, der ein gefährliches Doppelleben führt.

Die Orsini Affaire bildet den Auftakt zu einer vierteiligen Mini-Serie, die die Protagonisten quer durch das Europa des 19. Jahrhunderts schickt, immer auf der Suche nach den vier Bänden eines verschollenen Tagebuches dessen Inhalt auch lange nach dem Tod des Schreibers noch immer gefährlich ist.

Die Autorin

Kerrin Skadi (geb.1958) wuchs in Münster i.W. auf. Schon seit frühester Jugend schreibt sie Geschichten. Sie studierte Sozialpädagogik und arbeitete in Deutschland und in Asien. Nach ihrer Rückkehr aus Übersee gründete sie eine eigene Firma und lebt heute mit Mann und Kater Merlin in Frankfurt am Main.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Kapitel XXVII

Kapitel XXVIII

Kapitel XXIX

Kapitel XXX

Kapitel XXXI

EPILOG

Prolog

Böhmen 1798

„Mein lieber junger Freund, ich beschwöre Sie. Bewahren Sie diese Geheimnisse, als wären es die Ihren.“

Als die Porzellanuhr auf dem Kaminsims zu schlagen begann, schrak der alte Mann mit der weiß gepuderten Perücke zusammen.

Seine altersschwachen, trüben Augen konnten die Uhrzeit nicht mehr erkennen. So lauschte er auf den Glockenschlag. Erst vier helle Schläge für die volle Stunde, dann zählte er mit: ... zehn, elf, zwölf. Mitternacht. Die Zeit lief ihm davon.

Seine Hände zitterten leicht, als er die Feder in das Tintenfass tauchte, um die Schlussformel auf das Papier zu kritzeln. In letzter Zeit ermüdete ihn langes Schreiben. Er setzte noch einmal an. „Mit vorzüglicher Hochachtung für Ihre unbestechliche Integrität und Ihren aufrichtigen Charakter verbleibe ich stets Ihr guter Freund“.

Für die Unterschrift begann er in neuer Zeile: „Giacomo Girolamo Casanova.“

Er benetzte die Feder erneut mit Tinte und schrieb hastig weiter: „Schloss Dux, am Ersten des Juni im Jahre des Herrn 1798.“

Der alte Mann hielt inne. Er hatte es geschafft. Nachdenklich ruhte sein Blick auf dem Papier.

Es war ein guter Brief. Wohlgesetzte Worte ohne unnötige Schmeicheleien. Oder zumindest nicht mehr als nötig.

Es klopfte und sofort öffnete sich die Tür. Casanova wollte auffahren, den Mann anschreien, der, ohne auf entsprechende Aufforderung zu warten, einfach eintrat. Mühsam kämpfte er seinen Zorn nieder, als er den Eindringling erkannte. Noch mühsamer erhob er sich, um sich vor dem Hausherrn zu verneigen.

„Ach, wusst ich’s doch, dass Ihr das seid, mein lieber Giacomo, der sich so spät noch in der Bibliothek herumtreibt.“ In die Stimme des Grafen Karl von Waldstein mischte sich ein besorgter Unterton: „Aber Ihr seht nicht wohl aus, mein Lieber. Nun solltet Ihr besser zu Bett gehen.“

„Das werde ich bald tun, mein lieber Graf.“

Casanova legte Bescheidenheit in seine Stimme, wann immer er mit seinem Gönner sprach.

„Doch zuvor wollte ich noch einige Werke bereitlegen, die für unseren morgigen Besucher von Nutzen sein könnten.“ Casanova wies auf den Lesetisch, auf dem er verschiedene Bücher und Folianten zusammengetragen hatte. Der Graf trat einen Schritt näher und begutachtete das vorbereitete Material.

„Karten des Landstrichs, Mineralogie Böhmens, Flora und Fauna, das Herbarium meiner Mutter.“ Der Graf wandte sich zu Casanova und nickte erfreut und anerkennend.

„Das wird den jungen Bergbaumeister freuen. Doch nun sollten wir beide dringend der Ruhe pflegen, mein alter Freund. Auch mit diesen wunderbaren Vorbereitungen wird uns der junge Mann sicher ordentlich auf Trab halten.“

Casanova nickte lächelnd dazu und die beiden Herren wünschten sich eine gute Nacht.

Wieder allein, ging Casanova zurück zu seinem Schreibsekretär. Aus einer verborgenen Schublade zog er vier dünne gebundene Registerbände. Ein letztes Mal strich er nachdenklich über die ledernen Einbände mit der eleganten, geprägten Goldborte und dachte an den diffizilen Inhalt der Bücher. Jedes von ihnen steckte in einem eigenen Schuber aus dem gleichen Material, um sie vor Staub und Licht zu schützen. Doch vor anderem Unheil boten sie keinen Schutz.

Niemand wusste von diesen Aufzeichnungen – glaubte er, hoffte er. Und niemand durfte je davon erfahren. Doch vielleicht war es auch schon zu spät. Vielleicht war das Geheimnis schon nicht mehr geheim. Vielleicht waren sie bereits hier? Hatten ihn aufgespürt in seinem stillen Refugium, seiner letzten Zuflucht. Irgendjemand hatte seine Sachen durchsucht. Alle Dinge hatten ein wenig anders dagelegen, als er sie zurückgelassen hatte. Nicht viel, nur ein ganz klein wenig. So, als hätte jemand mit großer Umsicht alles in die Hand genommen und genau betrachtet, bevor er es vorsichtig zurückgelegt hatte. Sehr bemüht, es genau an der gleichen Stelle und auf die gleiche Art und Weise abzulegen, aber eben doch nicht ganz. Jedoch das Geheimfach im Schrankkoffer hatte der Sucher nicht entdeckt. Zumindest der Lederriemen war unangetastet geblieben. Er war sich sicher, denn das Haar, das er wie unabsichtlich in den Verschluss geklemmt hatte, war noch immer dort.

Dennoch. Er war zu alt, um das Spiel von vorne zu beginnen. Seine Tage waren gezählt.

Er schüttelte den Kopf, um die hartnäckig wiederkehrenden, kreisenden Gedanken anzuhalten. Jetzt nur nicht sentimental werden. Er musste sich an seinen Plan halten. Die Vergangenheit ließ sich nicht ändern. Nicht die seine und auch nicht die der anderen. Nun zählte nur noch die Sicherung der Zukunft. Er wog die vier Bände in der Hand.

Hier waren sie versammelt, die großen und dunklen Geheimnisse seiner Zeit: Morde und Anschläge, geplante wie gelungene, Raub, Verrat und Niedertracht. Verübt von den Reichsten und Mächtigsten ihrer Zeit, den Fürsten und Königen, den Spionen und ihren Auftraggebern, den Mätressen und Buhlschaften und ihren Kindern, den schönen Frauen und skrupellosen Männern aller Schichten der Gesellschaft. Und sogar der Klerus war daran beteiligt, ja sogar die Frommen, vom niedrigsten Betbruder bis zu den Päpsten. Sie alle hatten ihre dunklen Seiten, die Schatten, die sie sorgfältig zu verbergen trachteten.

Die Bücher waren leicht, doch ihr Inhalt wog schwer. Er konnte töten – oder zu unermesslichem Reichtum verhelfen, wenn jemand skrupellos genug war, sich dieses Wissens zu bedienen. Er hätte die Aufzeichnungen vernichten sollen, brachte es aber einfach nicht über sich. Er wurde wohl wirklich sentimental auf seine alten Tage.

Aber nein. Welcher Schriftsteller könnte seine eigenen Bücher brennen sehen? Was also sollte er sonst damit tun? Es seinen nichtsnutzigen Neffen hinterlassen? Zu gefährlich. Zu verführerisch für sie. Nein, seine Familie war schwach. Dieses Wissen zu hüten, dazu bedurfte es eines gefestigteren Charakters.

Er wickelte die Bücher in Ölpapier und verknotete das Paket mit einem Stück weißen Seidenbandes. Dann faltete er das Schreiben, beschriftete und versiegelte es.

Schließlich klemmte er den Brief unter die seidene Kordel, achtete aber darauf, dass der Name des Empfängers gut lesbar blieb. Er betrachtete sein Werk und nickte. Mehr konnte er nicht tun. Alles andere lag nun in den Händen des jungen Mannes, der sich hoffentlich als so fähig und weitsichtig erweisen würde, wie Casanova hoffte.

Müden Schrittes ging der Mann von einem Kandelaber zum anderen und löschte sorgfältig die Kerzen, bis auf die eine, die er für seinen Weg über die langen kalten Flure in sein Zimmer benötigte.

Als er die Tür hinter sich verschloss, lag die Bibliothek in fast völliger Dunkelheit. Nur ein sanftes Mondlicht schien durch die Fenster und verwandelte die Schatten der Zweige in bizarre Muster, die sich sacht im Nachtwind wiegten und wie dunkle Finger nach dem Paket auf dem Tisch tasteten. Selbst in diesem schwachen Licht stach die nachtschwarze Tinte auf dem hellen Grund des Papiers hervor wie ein Fanal: „An den werthen Herrn Oberbergmeister Alexander von Humboldt, zu treuen Händen.“

I

London 1875

Die Kristallvase auf dem achteckigen Tisch in der Halle schwankte gefährlich und der Strauß bunter Blumen zitterte leise, als Minetta, gänzlich undamenhaft, die Haustür aufriss.

Sie stürmte herein und stieß dabei beinahe mit dem ehrwürdigen Butler Jarvis zusammen, der hinter der Tür die Holzvertäfelung abgestaubt hatte und nun rasch beiseite sprang.

„Oh, Miss Miena“, setzte er mit vorwurfsvollem Unterton an, wurde jedoch von seiner jungen Herrin unterbrochen.

„Jarvis, wo ist mein Vater?“ Miena klang atemlos. Der schnelle Lauf hatte sie erhitzt. Ihre Wangen waren gerötet. Ihre am Morgen sorgfältig aufgesteckte Frisur löste sich vollends auf, als sie sich ungeduldig den Hut vom Kopf zerrte, ohne die Hutnadel entfernt zu haben. Einige vorwitzige Strähnen ihres hochgesteckten, mahagonifarbenen Haars lösten sich aus dem schlichten Knoten und kringelten sich nun als feine Locken über Stirn und Ohr.

„Jarvis, bitte, es ist unglaublich dringend. Sagen Sie mir, wo mein Vater ist.“

„Sir Winston“, antwortete Jarvis gemessenen Tones und bemühte sich nebenbei, Miena Hut, Handschuhe und Mantel abzunehmen, „ist heute Morgen eilig ins Innenministerium gerufen worden. Er wird erst zum Tee zurückerwartet, Miss Miena.“

„Aber das ist viel zu spät!“, rief Miena erschrocken. „Ich brauche sofort Begleitung. Ich muss noch einmal zum Markt zurück.“

Sie hielt nur kurz inne und überlegte fieberhaft, dann fuhr sie in bestimmtem Ton fort: „Nun, Jarvis, dann müssen Sie eben mit mir kommen. Ruby!“, wandte sie sich an das Mädchen, das soeben mit den Einkäufen durch die Tür trat. Offensichtlich war das Küchenmädchen mit dem gut gefüllten Korb nicht in der Lage gewesen, mit ihrer leichtfüßigen Herrin Schritt zu halten. Nun setzte Ruby die Einkäufe mit einem hörbaren Klatschen auf dem schwarz-weiß gefliesten Boden des Vestibüls ab und richtete sich schnaufend auf. „Ja, Miss?“

„Trage die Lebensmittel in die Küche und bitte die Köchin, mir das Haushaltsgeld zu bringen. Ich brauche das gesamte Bargeld, das wir im Hause haben.“

Damit lief Miena zum kleinen Salon, um von dort ihre eigenen Ersparnisse zu holen. Jarvis versuchte sie zurückzuhalten, doch in ihrer Hast ignorierte sie ihn.

„Aber, Miss Miena“, rief er ihr hinterher und rang die mit Staubwedel und Hut gefüllten Hände. Doch Miena riss schon die Tür auf, stürzte, ohne sich auch nur einmal umzusehen, zu ihrem Schreibsekretär und rüttelte ungeduldig an der Schublade. Die Lade war etwas schwergängig, doch schließlich öffnete sie sich und offenbarte ihren Inhalt, dessen Anordnung durch die unsanfte Behandlung etwas gelitten hatte.

Als Miena sich über den Sekretär beugte, um ihren Geldbeutel herauszunehmen, hörte sie ein dezentes Hüsteln hinter sich und fuhr erschrocken herum.

Die hinter der Brille freundlich blitzenden Augen des Reverends Shervin strahlten sie an: „Guten Morgen, meine liebe Miena, wozu denn diese Aufregung, mein Kind?“

Des Reverends ruhige Stimme durchdrang Mienas inneren Aufruhr.Verlegen versuchte sie, ihr Haar zu ordnen.

„Oh, Reverend Shervin, welche Überraschung. Ich hatte nicht mit Ihrem Besuch gerechnet.“

„Ja, gewiss, es ist ungewöhnlich, mich um diese Zeit hier einzufinden.“

Der Reverend war Sir Winston Griffin-Smythes ältester Freund und Schachpartner und ein häufiger Dinner-Gast im Hause. Verlegen drehte der alte Herr nun an einem Siegelring und Mienas Blick blieb an der glatten Oberfläche des schweren Goldrings hängen. Mit vielen Schnörkeln verziert, waren darin die Buchstaben IHS eingraviert. H und S standen wohl für Henry Shervin. Aber wofür stand das I?

Miena kannte diese nervöse Geste des Reverends, an seinem Ring zu drehen. Allerdings hatte sie bisher nur einen schlichten Goldreif an ihm bemerkt, beinahe so etwas wie einen Ehering, obwohl er, wie viele Männer der Anglikanischen Kirche, nicht verheiratet war. Den schweren Siegelring hatte sie noch nie zuvor an ihm gesehen.

„Nun ja“, begann der Reverend umständlich und wand sich ein wenig, als wüsste er nicht, wie er fortfahren sollte. Dann platzte es aus ihm heraus.

„Meine Berufung nach Rom wurde mir heute mitgeteilt. Und diese aufregende Neuigkeit wollte ich gleich mit meinen besten Freunden teilen.“

Er strahlte vor Glück. So aufgeregt hatte Miena den zurückhaltenden, freundlichen Mann noch nie erlebt.

„Oh Reverend, wie wundervoll, ich gratuliere herzlich! Dennoch. Ich bitte um Verzeihung, aber ich bin wegen einer dringlichen Angelegenheit, die keinen Aufschub duldet, sehr in Eile.“

Miena brach ab, um dann leiser hinzuzusetzen: „Ich muss Ihnen furchtbar unhöflich erscheinen.“

„Aber nicht doch, mein Kind. Es ist vielmehr an mir, mich für diesen Überfall zu entschuldigen.“ Er erhob sich und folgte Miena zur Tür.

Doch bevor der Reverend weitersprechen konnte, polterte Mrs. Somers, die Köchin, in die Eingangshalle und dröhnte, an die hinter ihr auftauchende Ruby gewandt: „Was ist das wieder für ein Unsinn, Mädchen? Warum sollte wohl Miss Miena das Wirtschaftsgeld verlangen? Wovon sollen wir denn dann leben? Und wozu sollte sie es überhaupt brauchen?“

„Eine berechtigte Frage!“, setzte sich eine kühle Stimme über den Tumult hinweg. Die Köchin, Mrs. Somers, blieb stehen wie vom Donner gerührt und Ruby stolperte in das plötzlich vor ihr auftauchende Hindernis, schrie auf und sprang entsetzt zurück.

„’tschuldigung, Missus Somers!“, nuschelte das Mädchen und verstummte mit hochrotem Kopf, als sie merkte, dass alle Aufmerksamkeit sich plötzlich auf sie richtete.

„Was hat dieser Tumult zu bedeuten?“, forderte die kühle Stimme erneut.

Phillander Millford war aus der Bibliothek getreten. Dem Allerheiligsten, wie Miena diesen Ort für sich nannte. Schon als Kind hatten sie die Geheimnisse, die hinter dieser Tür verborgen lagen, magisch angezogen. Doch war ihr der Raum immer verschlossen geblieben.

Miena konnte sich nicht erinnern, dass die Bibliothekstür jemals offen gestanden hätte. Immerhin beherbergte der Raum dahinter eine der wertvollsten Privatsammlungen Englands, manche behaupteten sogar, Europas. Besonders Sir Winstons Handschriftensammlung war einzigartig und seine Expertise in Fachkreisen beinahe schon legendär.

Daher hatte der Vater die Tür zur Bibliothek stets verschlossen gehalten. Die Bücher waren zu wertvoll, als dass seine Tochter oder eines der Hausmädchen dort hinein gedurft hätten.

Sogar das Staubwischen hatte Sir Winston zunächst selbst übernommen und es in späteren Jahren einem jungen Mann überlassen, der als Bibliothekar im Lesesaal des Britischen Museums tätig war und sich an den Wochenenden ein kleines Zubrot verdiente, bis der vor Kurzem geheiratet hatte.

Darum hatte Sir Winston vor einigen Wochen diesen Menschen als ständigen Bibliothekar seiner Sammlung ins Haus geholt: Mr. Phillander Millford. Ein unangenehm hochmütiger junger Mann, der niemanden im Hause eines Blickes, geschweige denn, einer Antwort würdigte. Seine verschlossene Art machte ihn jedoch auch ein wenig geheimnisvoll, wie Miena zugeben musste. Auch gehörte er als Bibliothekar streng genommen zum Personal und sollte dementsprechend behandelt werden. Dennoch bewohnte der junge Mann auf ausdrücklichen Wunsch des Hausherrn eines der Gästezimmer im Hause und nahm auch an den Mahlzeiten der Familie teil. Wie sie wusste, war unter den Hausmädchen sehr getuschelt und gerätselt worden, woher der junge Mann mit den blitzenden braunen Augen und dem leicht fremdländischen Akzent kam und was er vielleicht zu verbergen hatte.

Aber nun blickte Millford mit blasierter Mine auffordernd in die Runde.

„Möchten Sie mir bitte endlich erklären, was das alles zu bedeuten hat? Wie soll ich bei diesem Lärm das Archiv neu ordnen? Also, bitte, ich warte?“ Dabei legte er die Hände auf dem Rücken zusammen und wippte ungeduldig auf den Zehenspitzen.

„Ja, mein Kind“, sagte der Reverend, der mit Miena noch immer in der Tür zum kleinen Salon stand.

„Setzen wir uns und Sie erklären uns den Grund für Ihre Aufregung.“ Sanft führte er Miena zur Garderobenbank und sie nahm gehorsam Platz. Einen Moment brauchte Miena noch, um sich zu sammeln. Wie sollte sie nur beginnen?

Dann sagte sie mit klarer Stimme: „Auf dem Markt steht ein Mann, der seine Frau zum Verkauf anbietet.“

Dem aufgeregten „Was?“ der Köchin folgte eine allgemeine Unruhe der anderen Zuhörer, doch der vorwurfsvolle Blick des Reverends ließ sie rasch verstummen.

„Aber das ist doch absurd“, meinte der Bibliothekar, „wer hätte je so einen Unsinn gehört.“

„Meinen Sie, dass ich lüge, Mr. Millford?“, fuhr Miena ihn an. Dieser aufgeblasene Mensch. Was dachte er sich nur?

„Aber nein, keineswegs“, beeilte sich dieser zu versichern.

„Ich glaube nur, dass Sie da etwas falsch verstanden haben müssen.“

„Hören Sie“, Miena war aufgebracht, aber ihre Stimme klang fest. „Der Mann hat seiner Frau die Hände gefesselt und eine Leine um ihren Hals gelegt. Er hat sie hinter sich her gezerrt wie ein Stück Vieh und hat sie vor einem der Pferdeställe angebunden. Er ruft den Preis aus, den er für sie haben will. Die Männer bieten auf die Frau wie auf einen Gaul.“

Mienas Stimme wurde von Satz zu Satz lauter und ihre Haltung energischer. Nun stand sie auf und ihre veilchenblauen Augen blitzen Millford herausfordernd an. Dieser Wichtigtuer hatte ihr gerade noch gefehlt. „Was, Sir, sollte daran falsch zu verstehen sein?“

Millford erwiderte Mienas Blick mit gerunzelten Brauen, dann sagte er nachdenklich: „Ich habe schon von dieser barbarischen Sitte gehört, hätte aber nicht gedacht, dass sie noch praktiziert wird!“

„Doch“, antwortete der Reverend leise, „leider kommt es immer wieder einmal vor! Das ist wirklich schockierend, aber noch immer gibt es ein paar Banausen, die meinen, sie müssen ihrer Frau nur eine Leine um den Hals legen und schon hätten sie das Recht, mit ihr zu tun, was immer ihnen beliebt. Erst vor wenigen Jahren hat mir einer meiner Amtsbrüder von einem solchen Fall in Bristol berichtet.“

Der Reverend war jetzt aufrichtig empört. „Wo ist denn das Auge des Gesetzes, wenn man es braucht? Hat niemand die Polizei gerufen?“, wandte er sich erneut an Miena.

„Wie es mir schien, machte es den Anwesenden viel zu viel Spaß, als dass jemand das arme Ding aus seiner misslichen Lage befreien wollte. Hätte ich genügend Geld bei mir gehabt, dann hätte ich sie auf der Stelle ausgelöst.“ Miss Miena sprühte vor Entschlossenheit.

„Und das wäre absolut recht getan, mein liebes Kind.“ Der Reverend nickte verständnisvoll.

„Nun, dann sollten wir keine Zeit verlieren, Miss Minetta. Solcher Barbarei muss Einhalt geboten werden. Kommen Sie und zeigen Sie mir den Weg?“

Miena traute ihren Ohren nicht. Millford, der distinguierte Bibliothekar, der in den gesamten sechs Wochen, seit er in ihres Vaters Dienst getreten war, kaum fünf Sätze mit ihr gewechselt hatte, wollte sie tatsächlich begleiten? Sie zögerte, aber auch der Reverend schien von dem Vorschlag angetan.

„Eine ausgezeichnete Idee, Millford. Gehen Sie mit unserer lieben Miss Minetta und befreien Sie die arme, unglückliche Person aus ihrem schrecklichen Los.“

Zu Miena gewandt setzte er hinzu: „Ich würde Sie selbst gern begleiten, wenn ich könnte. Aber ich fürchte, ich würde Sie nur aufhalten. Ich bin nicht mehr so schnell wie früher.“ Dabei wies er mit seinem Gehstock auf sein steifes Bein, das er sich vor vielen Jahren bei einem Sturz vom Pferd zugezogen hatte.

„Gehen Sie, meine Liebe, gehen Sie mit unserem guten Mr. Millford und stehen Sie der armen Frau bei. Und nehmen Sie dies hier mit.“

Der Reverend zückte seine Brieftasche und entnahm ihr eine Fünfzig-Pfund-Note. „Erlauben Sie mir, hiermit zu Ihrer Rettungsmission beizutragen.“

Miena traute ihren Augen nicht und wollte schon ablehnen, doch Millford griff zu und steckte das Geld umstandslos in die Tasche.

„Danke, Reverend“, sagte er und drehte sich zu Miena um.

„Sind Sie soweit, Miss Minetta? Wir sollten keine Zeit verlieren.“

Auch der Reverend drängte zur Eile.

„Gehen Sie nur, meine Liebe. Eilen Sie sich. Nehmen Sie auf mich keine Rücksicht.“

Der Reverend setzte sich und Jarvis reichte Miena ihren Hut, den sie im Hinausgehen geschickt mit einer perlenbesetzten Hutnadel feststeckte. Im Vorbeigehen schob ihr die Köchin das Wirtschaftsgeld in die Tasche, was Miena mit einem dankbaren Blick quittierte.

„Ich bin fertig, Mr. Millford. Machen wir uns auf den Weg.“

Und schon eilten die beiden die weißen Marmorstufen hinunter ins Freie, drängten sich durch die Passanten und eilten entlang der Eaton Square Gardens in Richtung des Marktes.

II

Auf dem Belgravia Market, einer quirligen Ansammlung von kleinen Läden und hölzernen Ständen, riefen Bäcker, Fleischer, Fisch- und Gemüsehändler ihre Waren aus. Hausfrauen und Damen der Gesellschaft mit ihrem Hauspersonal drängten sich durch die Reihen, bestaunten die Auslagen und feilschten, jede so gut sie konnte oder wie es sich für ihren Stand schickte. Hausmädchen schleppten die Einkäufe ihrer Herrschaft in Weidenkörben davon und schimpften wie die Spatzen, wenn vorwitzige Gassenjungen ihnen im Vorbeigehen die Schürzenbänder aufzupften.

Miena führte Millford zielstrebig durch das Gewimmel und hielt auf den Kleintiermarkt zu, auf dem lebende Hühner, Gänse oder gelegentlich auch ein Pferd zum Verkauf feilgeboten wurden.

„Sagen Sie, Miss Minetta, wo steht denn dieser Tropf?“, knurrte Millford.

Miena wies in Richtung des Pferdemarktes und wunderte sich über die Veränderung ihres Begleiters, seit sie die Eaton Square Gardens verlassen hatten. War er in den Räumen ihres Heimes stets der überkorrekte Bibliothekar, der sich gemessenen Schrittes zur Bibliothek bewegte, so ging er nun zielstrebig, aber nicht überhastet, auf den Pferdemarkt zu. Seinen sonst über Folianten gebeugten Rücken hielt er aufrecht und unter den Ärmeln seines gut geschnittenen dunkelblauen Gehrocks konnte sie die Andeutung von Muskeln erkennen, wie man sie einem Bücherfreund üblicherweise nicht zutrauen würde. Seine braunen Augen suchten nun aufmerksam die Umgebung ab und blieben schließlich mit einem gefährlichen Funkeln an einer Menschenansammlung hängen, die sich um eine Pferdebox drängte.

Vorsichtig näherten sich Miena und Millford den Umstehenden und schon bald konnten sie im Gejohle der Männer und dem Kreischen der Frauen einzelne Stimmen unterscheiden.

Ein Bariton mit dem unverkennbaren Akzent Schottlands rief: „Also, was is nu, Leute? Is ’ne einmalige Gelegenheit.“

Schallendes Gelächter war die Antwort. Einer rief: „Was soll ich denn mit noch ’ner Alten, wo mich meine schon teuer genug kommt?“

Die Menge grölte, doch der Verkäufer ließ sich so schnell nicht beirren. „Sie is ’ne gute Frau. Kochen kann se. Für ’nen Hunderter könnt ihr sie hab’n.“

Inzwischen hatten sich Miena und Millford weit genug nach vorn durch die Menge geschoben, um den Verkäufer und seine „Ware“ sehen zu können. Der Mann war klein und untersetzt, seine Kleidung einfach, aber weitgehend sauber, wenngleich sie ein wenig schief saß und zerknittert war, als hätte er ein paar Nächte darin geschlafen.

Ein Dreitagebart zierte sein Gesicht und ließ ihn heruntergekommen und verwahrlost erscheinen. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch die blutunterlaufenen Augen, die auf exzessiven Alkoholkonsum hinwiesen. Die Hemdsärmel aufgekrempelt, stand er vor der Pferdebox, an der er die Frau angebunden hatte, und gestikulierte wild, als er nun rief: „Und sogar lesen und schreiben kann se. Gebt se in ’ne Anstellung bei ’ner feinen Herrschaft und ihr habt euer Geld schnell wieder raus.“

„Warum tust du’s nicht selbst, wenn’s so einfach is?“, fragte einer der Umstehenden forsch zurück.

Und eine der Frauen rief: „Pfui, du solltest dich schämen, du Halunke. Deiner Frau so etwas anzutun. Seht sie doch nur an, die Arme.“

Die anderen Frauen schrien Zustimmung. Millford und Miena beobachteten die Frau, die mit einer Leine um den Hals an der Pferdebox angebunden war, Hände aneinandergefesselt. Sie hielt den Kopf gesenkt und starrte auf den mit Sand und Stroh bedeckten Boden, doch schien sie ihre Umgebung nicht wahrzunehmen. Der Zopf, zu dem ihr dunkelblondes Haar ursprünglich gebunden war, hatte sich durch die unwürdige Behandlung, halb aufgelöst und einzelne Strähnen hingen unordentlich herunter.

Millford betrachtete die Szene mit Abscheu, dann wandte er sich zu Miena und seine Stimme klang eindringlich: „Bitte geben Sie mir die Börse, Miss Minetta.“ Miena zog den Beutel mit dem Wirtschaftsgeld hervor und steckte auch ihren eigenen Beitrag hinein.

„Was haben Sie vor, Mr. Millford?“

„Vertrauen Sie mir, Miss Miena. Ich werde erst einmal das unwürdige Spiel mitspielen. Seien Sie sehr vorsichtig, wenn wir jetzt näher herangehen. Bleiben Sie dicht hinter mir. Und wenn Sie nahe bei der Frau sind, lösen Sie ihre Fesseln und gehen Sie zügig mit ihr nach Hause. Warten Sie nicht auf mich. Schauen Sie sich nicht nach mir um. Kümmern Sie sich nur um die Frau. Nein!“, er hob die Hand, als Miena protestieren wollte. „Keine Widerrede, Miss Griffin-Smythe.“ Er benutze die offizielle Anrede, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen.

„Tun Sie bitte genau, was ich Ihnen sage.“ Sein Blick, fest auf sie gerichtet, war so ernst wie seine Worte.

Miena nickte gehorsam und überraschte sich selbst damit am meisten. Millford hatte eindeutig eine neue Autorität gewonnen, der sie sich nicht entziehen konnte.

Ihr Begleiter drehte sich noch einmal um und winkte einem der Jungen, die sich mit dem Tragen von Einkäufen ihren Lebensunterhalt verdienten. Dann fischte er einen Shilling aus dem Beutel und hielt ihn dem Jungen hin: „Willst du dir eine Münze verdienen?“

„Klar, Sir“, strahlte der Junge eifrig. „Was soll ich dafür tun, Sir?“

Millford beugte sich zu ihm herunter und flüsterte mit ihm. Der Junge nickte, steckte die Münze ein, zog die Mütze und sauste los, als sei der Leibhaftige hinter ihm her.

Miena hatte inzwischen dem Treiben weiter zugesehen und fragte nun: „Haben Sie ein Messer?“

„Wie bitte?“, stutzte Millford.

„Nun, wenn ich die Fesseln lösen soll, brauche ich ein Messer, meinen Sie nicht?“

„Ausgezeichneter Gedanke, Miss Minetta. Gut mitgedacht.“

Damit griff er in seine Rocktasche und holte dort einen Gegenstand heraus, der wie ein Federhalter aussah. Millford zeigte ihr, wie man die Kappe entfernte, und ein kleines Messer kam zum Vorschein.

„Man benutzt es, um die Deckblätter von den Ledereinbänden zu trennen, damit sie frisch verleimt werden können“, erklärte er. „Seien Sie unbedingt vorsichtig damit, Miss Minetta, es ist sehr scharf.“

Miena nickte und steckte das Messerchen in die Manteltasche.

„Sind Sie soweit?“, fragte Millford. Miena nickte erneut.

„Dann los.“ Und schon drängte er sich durch die Menge, bis er vor dem kleinen Schotten stand. Der hatte sich breitbeinig vor der Pferdebox postiert und ging gleich zum Angriff über: „Ah, endlich ein Gentleman, der mein Angebot zu würdigen weiß“, feixte er.

„Bist du der Ehemann dieser Frau?“, knurrte Millford.

„Wer will das wissen?“, fragte der Schotte zurück. Es sollte frech klingen, doch Millfords fordernde Haltung machte Eindruck auf den Mann. Sein Blick begann zu flackern.

„Das ist doch klar, ein ernsthafter Interessent muss wissen, ob du überhaupt berechtigt bist, die Frau zu verkaufen“, meinte Millford gleichmütig.

Die umstehenden Männer waren verstummt, um sich nur ja kein Wort entgehen zu lassen. Die Frauen zischten empört, dass sich doch tatsächlich ein Mann gefunden hatte, noch dazu ein Gentleman, der sich für den Frauenkauf zu interessieren schien. Miena schob sich derweil etwas näher heran und trat dann einen kleinen Schritt zur Seite, um sich langsam zwischen den Mann und seine unglückliche Frau zu schieben.

„’türlich bin ich berechtigt. Sie is meine Frau, das is meine Grace. Acht Jahre sind wir jetzt verheiratet. So wahr ich Ian Mackenzie heiße.“ Der Mann klang nach Besitzerstolz, jedoch nicht wehmütig.

„Und schlau is se, Sir“, fuhr er fort. „Kann lesen und schreiben. Wär bestimmt auch was als Zofe für die Frau Gemahlin.“ Damit deutete er anzüglich grinsend auf Miena, die nun zwischen Ian Mackenzie und der Gefangenen stand und sich schnell zu den beiden Sprechern umdrehte.

„Aber“, lächelte sie strahlend, „wenn Ihre Grace meine Zofe sein soll, werde ich sie mir wohl besser etwas näher ansehen.“

Miena drehte sich um und ging rasch zu der Frau am Boden hinüber. Die Marktfrauen zischten wieder, wie eine Schar wilder Gänse. Nicht mehr lange und sie würden zum Angriff übergehen. Sie mussten sich beeilen.

Miena schob sich noch etwas näher an Grace heran und berührte ihre Schulter. Langsam hob die junge Frau den Kopf und einen Moment lang begegneten sich ihre Blicke. Dann senkte Grace ihren schönen Kopf und versank erneut in völlige Teilnahmslosigkeit.

Millford sprach derweil auf Mackenzie ein und ging dazu ein paar Schritte nach links, damit der Kerl sich von Grace und Miena wegdrehte. Miena zog die Kappe des Federmessers ab, wie Millford es ihr gezeigt hatte, und begann vorsichtig an Graces Fesseln zu schneiden. Die Leine war dick, aus Hanf gedreht und neu. Mühsam musste Miena mit sägenden Bewegungen Faser für Faser durchtrennen.

„Aber wenn du sie verkaufst, musst du dich endgültig von deiner Grace trennen. Ich will nicht zwei von euch im Hause haben“, hörte Miena Millford sagen.

„Kein Problem, Sir“, meinte der Mann eifrig und drehte sich noch einmal zu Grace um. Miena hörte sofort auf, an dem Seil zu zerren und legte Grace eine Hand auf die Schulter, als ob sie ihre Muskeln prüfte.

Mackenzie sagte feierlich: „Höre, Frau, du und ich, wir sind geschieden, von nun an und für alle Zeiten. Wir sind geschieden. Wir sind geschieden. Wir sind geschieden. So spreche ich vor Zeugen, so sei es.“

Er drehte sich wieder zu Millford um und grinste anzüglich:

„Das war ’ne Scheidung auf schottisch, Sir. Absolut rechtsgültig und einwandfrei. Jetzt zufrieden, Sir?“

Millford nickte. In diesem Moment hörte er aus der Ferne Trillerpfeifen und ein Trupp Constabler stürmte über den Marktplatz, um die Ansammlung zu zerstreuen.

Mackenzies Kopf fuhr herum und suchte nach der Ursache für den Tumult. Miena schnitt hektisch an Graces Fesseln. Endlich gaben sie ein wenig nach. Nur noch ein wenig weiter.

Millford zog die Aufmerksamkeit Mackenzies wieder auf sich. Er lächelte maliziös: „Ja, ich bin zufrieden. Vor allem, da du Wicht nach deinen eigenen niederträchtigen Maßstäben nun kein Recht mehr hast, die Frau zu verkaufen. Einem angeblich geliebten Menschen so etwas anzutun, ihn zu binden und verkaufen zu wollen wie ein Stück Vieh.“ Millford spuckte aus und packte Mackenzie fest im Genick, wie einen räudigen Hund:

„Nicht, dass du dieses Recht je gehabt hättest, als sie noch deine Frau war“, presste er durch zusammengebissene Zähne hervor.

„Aber da kommt die Polizei. Gerade rechtzeitig, wie ich finde. Und wenn du jetzt nicht verschwindest, sorge ich dafür, dass die Constables dich ins Gefängnis stecken.“

Ian Mackenzie schluckte schwer. Er versuchte sich loszumachen, aber Millford hielt ihn mit eisernem Griff.

Miena arbeitete indessen fieberhaft. Sie musste es schaffen, die Leine zu durchtrennen, bevor die Polizisten hier waren. Grace sollte nicht auch noch ein Polizeiverhör über sich ergehen lassen müssen.

„Sie haben mich reingelegt“, greinte der Schotte und zerrte an Millfords Fäusten. „Sie wollen mich bestehlen. Das werd ich nich zulass’n.“

„Ja, ich habe dich reingelegt“, zischte Millford und schüttelte Mackenzie wieder, „und du weißt nicht einmal, wie sehr, denn ich war es, der die Polizisten rufen ließ. Merk dir eins, du Kanaille: so etwas einem Menschen anzutun, den man angeblich liebt, ist empörend.“

Millford grinste anzüglich: „Aber was deine Grace betrifft: Die hatte gerade eine Scheidung auf schottisch, die sie ein für alle Mal von dir befreit.“

„Lassen Se mich los, Sir. Lassen Se mich gehen.“ Mackenzie winselte und wand sich in Millfords Griff, bis er Grace im Blickfeld hatte. Die war inzwischen, von den Fesseln befreit, von Miena auf die Füße gezogen worden. Erst stand sie, leicht schwankend, an Miena gelehnt, die sie dann Schritt für Schritt vom Platz führte.

Der Mann heulte und jammerte, als er dies hilflos mit ansehen musste, dass sein widerwärtiger Handel gescheitert war. Noch immer hielt ihn Millford unbeirrt mit eisernem Griff.

„Ja, pack dich, du Widerling, aber vorher hörst du mir noch einmal genau zu. Hier ist mein Angebot. Wenn die Polizisten hier sind, werde ich denen erklären, dass alles ein Missverständnis war – ein schlechter Scherz. Ich habe hier heute eine Zofe abgeholt. Mehr nicht. Ich gebe dir den Zwanziger hier, den kannst du dann in Ruhe versaufen, du übler Patron. Du wirst nie wieder nach Grace suchen und falls du sie durch Zufall irgendwo siehst, wirst du sie nicht kennen. Du wirst auf die andere Straßenseite wechseln. Du wirst sie nicht ansehen. Du wirst sie nicht verfolgen. Du wirst nicht wissen, wo sie wohnt oder was sie tut. Du wirst für immer aus ihrem Leben verschwinden. Hast du das verstanden?“

Bei den letzten Worten schüttelte Millford den Mann mit jeder Silbe so unbarmherzig, dass Miena seine Zähne noch aus der Entfernung klappern hörte. Beinahe hätte sie den Kerl bedauert. Aber wie auch immer, sie hatte genug gehört.

Resolut griff sie Grace am Arm und zog die Unglückliche mit sich zwischen die Marktstände. Langsam und mit vielen Richtungswechseln führte sie Grace durch die Gassen zwischen den Marktbuden, rempelte hier einen Herrn im grauen Anzug an, quetschte sich dort zwischen zwei Frauen hindurch, erreichte schließlich den Droschkenplatz und setzte sich mit der jungen Frau in die erstbeste Kutsche.

Die Droschke fuhr an und brachte Distanz zwischen die jüngsten Ereignisse und Mienas aufgewühlte Gedanken. Sie legte den Arm um Grace, die nun haltlos zu zittern begann.

Armes Geschöpf, dachte sie, als Grace scheu ihre Hand berührte und leise sagte: „Danke, Miss.“

In diesem Moment sprang ein Mann in dunkelblauem Gehrock elegant hinter ihnen auf die Kutsche auf. Ein lächelnder Millford lüpfte seinen Hut und meinte launig: „Meine Damen, auf nach Hause.“

III

Miena sah auf die mit Rosen bemalte Porzellanuhr auf dem Kaminsims.

Zeit zu gehen, dachte sie und erhob sich aus dem zierlichen Stühlchen am Fenster. Wenn sie ihren Plan in die Tat umsetzen wollte, dann wäre dies der richtige Zeitpunkt. Der Vater würde sich noch zu seinem Mittagsschläfchen in seinem Zimmer aufhalten. Dem Vernehmen nach, um zu lesen und sich auf seine nachmittägliche Arbeitsrunde vorzubereiten. Tatsächlich würde er vermutlich in seinem Lieblingssessel am Fenster eingenickt sein, die Brille schief auf der Nase und das Buch aufgeklappt über der Lehne liegend. Nicht mehr lange und Jarvis würde ihn dezent wecken. Wenn sie also ihren Plan ausführen wollte, dann jetzt.

Entschlossen huschte Miena die Treppe hinunter.

Das Vestibül wirkte freundlich und einladend, wie es sich für eine Eingangshalle gehörte. Das Holz der Türen schimmerte anheimelnd wie dunkler Honig und verbreitete eine warme, beinahe gemütliche Atmosphäre. In der Mitte der Halle befand sich der achteckige Tisch aus dem gleichen dunklen Holz, auf ihm hielt eine schlichte Kristallvase den üppigen Blumenschmuck aus dem eigenen Garten. Heute waren es die ersten roten Rosen, die das Hausmädchen zusammen mit ein paar Zweigen von weißem Flieder und blauem Rittersporn als Farbfeuerwerk dort arrangiert hatte. Die leuchtenden Farben der Blumen wetteiferten mit dem warmen Rot des Orientteppichs unter dem Tisch um die Aufmerksamkeit des Betrachters. Unter der Treppe befand sich ein eingebauter Garderobenschrank, in dem sich Miena als Kind gern versteckt hatte. Ob sie auch jetzt dort Zuflucht suchen sollte, falls jemand überraschend käme, überlegte sie für einen Moment und lächelte bei der Vorstellung.

Besser wäre es wohl, auf der gegenüberliegenden Seite in den kleinen Salon zu flüchten, der früher ihrer Mutter als Empfangszimmer gedient hatte. Mienas Mutter, Lady Alexandra, war eine praktisch veranlagte Frau gewesen und hatte den Raum wohnlich und zweckdienlich eingerichtet, und nicht etwa, wie es der Mode entsprach, verspielt, blumig und überladen. Nein, sollte sie überrascht werden, wäre es wohl überzeugender, wenn sie so tat, als sei sie dorthin unterwegs gewesen.

Sie lauschte noch einmal in alle Richtungen, doch das Haus war in seiner frühnachmittäglichen Stille erstarrt.

Sie huschte zu der klassisch verzierten Flügeltür gegenüber dem Eingang, die in die Bibliothek führte.

Miena klopfte leise und als niemand öffnete, griff sie entschlossen nach der Klinke. Überraschenderweise fand sie die Tür unverschlossen. Mit einem letzten forschenden Blick durch die Halle versicherte sie sich, dass niemand sie beobachtete. Dann trat sie ein und sah sich um.

Wie merkwürdig, dachte sie, einen Raum im eigenen Hause zu betreten, den man selbst nicht kennt.

Die Bibliothek nahm nahezu die gesamte rückwärtige Breite des Hauses ein. Gegenüber der Flügeltür ließen zwei Fenster zum Garten das durch die Fliederbüsche gedämpfte Licht der Nachmittagssonne ein. Es fiel auf die Schreibtische und warf dort bewegliche Schatten der Blätter auf die ledernen Schreibunterlagen. Der größere der beiden Tische stand an die hintere Wand gerückt mit Blick auf den Garten, während der kleinere, der Tür gegenüber, leicht schräg gestellt war. Dies war zweifellos Millfords Arbeitsplatz. Miena entdeckte das Federmesser, das er ihr am Morgen geliehen hatte, auf einem Stapel Briefe liegend.

Millfords Jackett hing ein wenig unordentlich über der Rückenlehne des Stuhls. Miena schaute sich um. Der langgestreckte Raum war seinerzeit, als die Eltern zu Beginn ihrer Ehe das Haus bezogen hatten, rundherum mit wandhohen Regalen ausgestattet worden. Doch irgendwann waren sie lückenlos angefüllt mit Büchern, unter deren Last sich die Regalbretter leicht durchbogen. Und so hatte es die Sammelleidenschaft des Vaters erfordert, links und rechts der Schreibtische Regale quer im Raum aufzustellen, die, getrennt durch Gänge, Abteilungen bildeten, in denen die Werke nach Themengebieten geordnet standen. Das Holz der Regale schimmerte in demselben warmen, dunklen Farbton wie Tür und Boden. Liebevoll strich Miena über die ledernen Buchrücken. Ihre Finger ertasteten die Vertiefungen der Goldprägungen. Sie bemerkte eine niedrige Leiter mit fünf Stufen und einem zierlich geschwungenen Geländer, die sich auf Rädern zu jedem beliebigen Regal schieben ließ. Oberhalb des Geländers hatte man eine leicht schräggestellte Platte angebracht, damit der Leser dort ein Buch ablegen und auf seinen Inhalt prüfen konnte, ohne erst wieder hinabsteigen zu müssen.

Miena blickte sich neugierig um und entdeckte hinter der nächsten Regalreihe am Kamin eine bequeme Sitzgarnitur, deren cognacfarbenes Leder im Laufe der Jahre abgewetzt worden war und glänzte. Vor dem Kamin stand ein mit dem gleichen Leder bezogener Kaminschild aus Messing. Mehrere Gasleuchten mit matt geschliffenen Kristallglaszylindern sorgten für gutes Licht bis spät in die Nacht.

Hier hatte der Vater wohl immer viel Zeit verbracht. Wie gern hätte sie ihm dabei Gesellschaft geleistet. Zwischen all diesen Schätzen gemütlich dort am Kamin zu sitzen und zu lesen. Miena seufzte leise. Ein Traum.

Ihr Blick fiel auf einen Sessel, der zweifelsohne zu Sir Winstons Lieblingsplätzen gehörte, denn die Federn wirkten durchgesessen. An der Wand gegenüber war in den Regalreihen eine Nische ausgespart worden. Hier hing das Porträt einer Frau. Miena schluckte, als sie es erkannte, und ihre Mundwinkel zogen sich beinahe unmerklich nach unten.

Ihre Mutter musste noch sehr jung gewesen sein, als sie für dieses Porträt Modell saß. Lady Alexandras Haar fiel in zwei schweren Zöpfen seitlich an dem porzellanweißen Gesicht vorbei, um hinter ihrem Rücken zu verschwinden und sich dann auf dem Scheitel wieder zu treffen. Es sah aus wie einer dieser keltischen Knoten ohne erkennbaren Anfang und Ende.

Weiße Blüten jungen Jasmins steckten im geflochtenen Haar, leuchtend wie Sterne. In lebhaftem Kontrast dazu standen die liebevoll auf den Betrachter gerichteten veilchenblauen Augen. Miena kannte diesen Blick nur zu gut. So hatte die Mutter sie häufig angesehen. Das feinsinnige Lächeln hätte einen oberflächlichen Betrachter vielleicht dazu verleitet, in dem Bild nur eine süßliche Verklärung zu sehen, wie sie den meisten Porträts eigen ist. Doch der Maler hatte es verstanden, dem Blick etwas Wissendes zu geben und so Lady Alexandras überragende Bildung und Menschenkenntnis zum Ausdruck zu bringen. Und der kleine Schwung ihrer Augenbraue erinnerte an ihren Witz und den Humor, mit der sie der Welt und ihren Widrigkeiten begegnet war. Mienas Augen wollten feucht werden, als sie daran dachte, wie elegant ihre Mutter Sir Winstons Verbote zu umgehen gewusst hatte.

So hatte sie sich bei ihm ausbedungen, sich selbst jederzeit Bücher aus der Bibliothek entnehmen zu dürfen. Der Vater hatte zugestimmt, aber darauf bestanden, dass die Mutter jede Leihgabe in ein Buch eintrug.

Dabei hatte Lady Alexandra stets auch das eine oder andere Buch mitgenommen, von dem sie annahm, es könne für Miena von Interesse oder ihrer Bildung förderlich sein.

Als Miena alt genug war, um selbst zu lesen, hatte die Mutter sie jeden Tag nach dem Essen für eine Stunde in den kleinen Salon gerufen, um sich von ihr vorlesen zu lassen. Byron. Keats. Die deutschen Dichter: Goethe, Schiller, Lessing. Und die Philosophen, die im Original zu lesen für die Tochter kein Hindernis darstellte, ebenso wenig wie die Franzosen: Baudelaire, Voltaire oder Rousseau.

Mienas Lächeln wurde breiter. Die Mutter hatte geschickt die Bildung und Ausbildung ihrer Tochter gesteuert. Ob der Vater das eigentlich wusste? Mienas Kindermädchen Greta aus Hamburg hatte sie das Lesen und Schreiben gelehrt und ihr beinahe nebenbei die deutsche Sprache in Form von Märchen und Geschichten nahegebracht. Im Anschluss hatte Mademoiselle Francine Mienas Ausbildung um die französische Sprache, Musik- und Zeichenunterricht sowie die Mathematik erweitert. Als erste französische Lektüre hatte die Mutter die Fabeln von Jean de La Fontaine aus der Bibliothek mitgebracht. Natürlich heimlich, ohne Sir Winstons Wissen, denn in Bezug auf seine geliebten Bücher war ihr Vater unerbittlich gewesen. Mienas Lächeln bekam einen traurigen Zug.

Schade, dass ihre Mutter die weiteren Ausbildungspläne für Miena nicht mehr verwirklichen konnte. Ob sie wusste, wie sehr ihre Tochter weitere Studien begrüßt hätte?

Beinahe mit Gewalt riss sich Miena vom liebevollen Blick ihrer Mutter los.

Wo war eigentlich Millford? Da die Tür nicht verschlossen war, konnte er nicht weit sein.

Sie ging zurück zu den Schreibsekretären. Auf dem Tisch des Vaters lag noch die heutige Ausgabe der Zeitung. Anscheinend war er am Morgen eilig ins Ministerium aufgebrochen und nicht dazu gekommen, sie zu lesen.

Noch einmal blickte sich Miena um. In der Bibliothek war es noch immer ruhig. Leise tickte eine Standuhr und das Pendel schwang träge hin und her. Aufmerksam lauschte Miena, doch außer dem gelegentlichen Knacken der Holzdielen oder dem Ächzen eines der Regalborde war nichts zu hören. Wo steckte Millford nur?

Der würde etwas zu hören bekommen, wenn Sir Winston erführe, dass der neue Sekretär sein Heiligtum unbeaufsichtigt offenstehen ließ. Miena grinste ein wenig schief. Dann würde aus dem umgänglichen Sir Winston schnell ein ungemütlicher Mensch werden. Aber egal, von ihr würde der Vater es nicht erfahren. Schließlich war das nicht ihre Angelegenheit. Und nach dem, was Millford heute für sie getan hatte, hatte er sich zumindest ein wenig Diskretion von ihrer Seite verdient.

Flink huschte Miena zum Schreibtisch des Vaters und griff nach der Zeitung. Wie jeden Morgen hatte Jarvis die Blätter in der Halle auf dem Tisch ausgelegt, damit ihr Vater sie von dort zum Frühstück mitnehmen konnte. Ließ Sir Winston sie dort liegen, würde Millford sie später in die Bibliothek mitnehmen. Um die Druckerschwärze zu trocknen, hatte Jarvis wohl einem der Hausmädchen den Auftrag erteilt, die Blätter zu bügeln. Daher lag das Papier nun makellos glatt vor ihr. Mit geübtem Griff nahm sie die Zeitung auf und überflog die Schlagzeilen.

Die Kunst bestand darin, die dünnen Blätter nachher so zurückzulegen, dass niemand merkte, dass jemand sie geöffnet hatte.