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Jungbauer Karsten hat Probleme. Der Milchpreis ist im Keller, sein Vater sträubt sich gegen Neuerungen im Betrieb und seine Mutter liegt ihm ständig mit ihrem Wunsch nach einer Schwiegertochter und Enkelkindern in den Ohren. Als seine Kühe zu allem Überfluss in den Milchstreik treten, ist guter Rat teuer. Wird Karsten seinen Milchviehbetrieb vor dem Ruin retten können? Gelingt es ihm, seine neuen Ideen trotz aller Schwierigkeiten in die Tat umzusetzen und noch dazu das Herz der Marketing-Assistentin Emily zu erobern? Welche Rolle Kylie, Britney, Madonna und die Kuh Elsa dabei spielen und wie der neue Lehrling Frederik ungeahnte Talente im Umgang mit dem störrischen Milchvieh entwickelt, lesen Sie in diesem heiteren, mit viel Situationskomik und vergnüglichen Einblicken in den Alltag eines Familienbetriebes gewürzten Roman.
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Seitenzahl: 353
Veröffentlichungsjahr: 2013
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Renate Pitz
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
„Wir brauchen neue Ideen, Innovationen und den nötigen Optimismus dafür“, versuchte Karsten seinem Vater unter Zuhilfenahme beider Hände klarzumachen. Dabei rückte er sich die Stallkappe zurecht und bohrte den rechten Gummistiefel tief in die Maissilage hinein. Nicht gerade wie der geborene Unternehmensberater, dafür aber mit Schwung und Begeisterung. Der Motor der Melkmaschine lief bereits brummend und gut siebzig Milchkühe muhten gegen das Motorengeräusch an. Hermann Kuhn wischte die Worte seines Sohnes mit einer unwirschen Handbewegung beiseite, so, als wolle er eine lästige Schmeißfliege verjagen, und zeigte mit dem rechten Arm hinüber zum Melkstand.
„Ich mach jetzt auf. Die Kühe wollen gemolken werden, und wir müssen anfangen“, rief er gegen den steigenden Geräuschpegel im Stall an. Das Protestgemuhe wurde lauter. Die Schwarzbunten wollten endlich ihre Milch loswerden. Als Hermann Kuhn seinem Sohn ohne weiteren Kommentar den Rücken zuwandte, schüttelte dieser nur erbost den Kopf und trat wütend in einen Haufen Maissilage hinein, dass die Fetzen bis auf seine Stallkappe hinaufflogen. Typisch Papa, dachte er, geht jeder Diskussion dezent aus dem Weg. Dann machte sich Karsten widerwillig an die Arbeit.
Beim gemeinsamen Abendbrot wagte er aber einen erneuten Vorstoß, obwohl seine Mutter jetzt auch anwesend war und ihm bestimmt in den Rücken fallen würde. Damit rechnete er jedenfalls, weil es eigentlich immer so war. Elisabeth Kuhn war genauso konservativ wie ihr Mann – insbesondere was die Landwirtschaft anbelangte. Inzwischen machte es Karsten überhaupt keinen Spaß mehr, mit den beiden über Probleme zu reden. Ein Gedankenaustausch wurde sowieso immer im Keim erstickt. Das hatte er nun wirklich oft genug erlebt. Aber egal. Heute Abend musste Karsten es sich einfach wieder geben. Seine Laune war ohnehin schon auf dem Tiefpunkt. Viel schlimmer konnte es also gar nicht mehr kommen. Nach dem Duschen hatte er sich in seinen grauen Jogginganzug geworfen und auf der hölzernen Eckbank Platz genommen. Hermann Kuhn saß schon am Tisch, seinem Sohn gegenüber. Während Elisabeth den beiden Männern Tee eingoss, räusperte sich ihr längst erwachsener Sohn und blickte dabei von einem Elternteil zum anderen. Innerlich seufzte er bereits schicksalsergeben. Aber es half nichts. Er musste jetzt einfach loslegen.
„Ich muss mal mit euch über die Zukunft reden“, begann er zielstrebig. Dabei blickte er seiner Mutter tief in die Augen, was sich als riesengroßer Fehler herausstellte. „Hast du eine Freundin?“, fragte Frau Kuhn verblüfft. Beim Thema „Zukunft“ dachte sie immer um die Ecke und auf alle Fälle ans Standesamt. Na bravo, dachte Karsten genervt und ließ seinen Kopf kurz auf die Tischplatte sinken, bevor er ihn zurück in die Ausgangsstellung brachte.
„Das ist ein gutes Thema, Elisabeth“, brachte es sein Vater wurstbrotkauend auf den Punkt. Schwups, ehe er sich versah, hatten seine Eltern sich schon wieder gegen ihn solidarisiert. Papa hätte auch sagen können: „Junge, eine Frau muss her, egal wie! Und wenn wir dir eine backen müssen!“ Karsten sah schon alle seine Felle davonschwimmen. Passend zur Stimmung steckte er sich eins der sauren Gürkchen in den Mund, um es frustriert und ohne weitere Kautätigkeit hinunterzuschlingen. „Ob mit oder ohne Frau“, begann er und gestikulierte mit beiden Armen. Das tat er immer, wenn er aufgeregt war. „Das ist doch erst mal egal!“
„Egal ist ein Handkäs’! Eine Bäuerin ist von herausragender Bedeutung für die Zukunft unserer Landwirtschaft“, sagte Hermann Kuhn mit bedächtiger Miene und wackelte mit dem Kopf. Und Karstens Mutter nickte zustimmend. Bis vor einem halben Jahr noch hatte sie täglich bei der Stallarbeit mit anpacken können. Doch nun war sie an Diabetes erkrankt und der Arzt hatte sie in Rente geschickt. Ihr Sohn seufzte, ließ sich aber nicht unterkriegen. Er beschloss spontan, auf sein Singledasein nicht näher einzugehen, auch wenn er damit wohl kaum durchkommen würde. Einen Versuch war es immerhin wert. Denn auch er dachte an die Zukunft. Seit sie den Milchviehstall und die Maschinenhalle ausgelagert und gut eineinhalb Kilometer vom Hof entfernt neu gebaut hatten, drückte ihn die Schuldenlast.
„Wir brauchen Geld, um die Kredite für den Stallneubau möglichst bald tilgen zu können“, setzte Karsten ernst an. „Aber leider ist der Milchpreis immer noch viel zu niedrig. So schaffen wir’s nicht. Wir brauchen zusätzliche Einnahmequellen.“ Karsten redete wie ein Politiker. Um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, klopfte er mit der flachen Hand auf den Küchentisch. Sein Vater Hermann hatte mittlerweile das ganze Wurstbrot verdrückt. Jetzt spülte er einen Schluck Kamillentee hinterher. „Lernt man das an der Uni?“, fragte er spöttisch. „Hast du Landwirtschaft studiert, um dich anschließend nach anderen Einnahmequellen umzusehen?“ Hermann Kuhn lachte zynisch. „Ich dachte, an der Universität lernt man etwas anderes. Ich kann’s ja nicht wissen, weil ich nie dort war.“ Seine blauen Augen blitzten ärgerlich. Er strich sich über die lichter werdenden graublonden Haare. Karsten blies die Wangen auf und blickte Hilfe suchend zur Decke. Er wollte nicht klein beigeben. Aber er wollte auch seinen Vater nicht verletzen. Er wollte nur Dinge aussprechen, die ihm im Kopf herumgingen. So versuchte er, seine Gedanken zu bündeln und die Worte mit Bedacht zu wählen.
„Papa“, begann er versöhnlich. „Du bist Landwirtschaftsmeister und weißt aus jahrzehntelanger Erfahrung, wie ein Hof geführt wird. Das ist ja auch gut so. Aber die Zeiten ändern sich und neue Ideen tun jedem Betrieb gut.“ Grummelnd horchte sein Vater auf. „Dann sag schon!“, raunzte er und schmierte sich noch ein Leberwurstbrot. Also nutzte Karsten die Gunst der Stunde. Er lehnte sich zurück und schüttelte seine dichten blonden Haare. Dann ließ er die Bombe platzen. Und die Detonation hallte noch am nächsten Morgen nach: Hermann Kuhn fluchte bereits beim Morgenkaffee, was die Zunge hergab.
Elsa war eine hübsche schwarzbunte Kuh von zehn Jahren. Sie war der Stolz der Familie – leistungsstark und gutmütig. Wenn sie weiterhin auf der Überholspur bleiben würde, hätte sie gute Chancen, die erste 100.000-Liter-Kuh des Betriebes zu werden. In diesem Fall würde sie samt ihrem beneidenswerten Besitzer in Großaufnahme im „Landwirtschaftlichen Wochenblatt“ abgelichtet werden. Aber darum scherte sich Elsa herzlich wenig. Sie scherte sich überhaupt um herzlich wenig. Ja, sie war bekannt für ihre Nervenstärke. Nicht ohne Grund hatte Hermann Kuhn sie ausgewählt, um kürzlich vor einem großen Discounter zu demonstrieren. Dort wurden gerade sämtliche Molkereiprodukte verramscht. Völlig unbeeindruckt hatte sie die Demo angeführt und hätte auch nichts dagegen gehabt, den Laden mal von innen zu besichtigen. Sie konnte zu diesem Zeitpunkt ja nicht ahnen, dass diese Aktion nichts war im Gegensatz zu den Plänen, die Karsten für die Zukunft mit ihr im Sinn hatte. Das sah nach einem gewaltigen Karrieresprung für die Kuh Elsa aus. Aber vorher galt es noch ein paar klitzekleine Unstimmigkeiten mit dem Seniorchef beizulegen ...
„Wir sind doch hier kein Zirkus!“, wetterte Hermann Kuhn aufgebracht vom Schlepper herunter, als Karsten das Thema neuerlich anschnitt. „Was denkst du dir eigentlich dabei?“, rief er noch hinterher, bevor er mit Schmackes den langen Eisensporn rückwärts in den Rundballen stieß. Der Senior unterstrich seinen Gemütszustand dadurch, dass er anschließend mit viel zu viel Gas zum Stall hinüberbrauste. In dem Moment wusste Karsten, dass ein langer, steiniger Weg vor ihm lag, falls es ihm gelingen sollte, den Vater auf seinen neuen Kurs einzuschwenken. Äußerlich unbeeindruckt schlenderte der Jungbauer zum Maissilo hinüber, um es abzudecken. Es herrschte schlimmer Frost – mehr als minus zehn Grad. Und hier oben blies ein eisiges Lüftchen. Aber Karsten trug wie sein Vater eine Lammfellmütze, deren hochklappbare Seitenteile er jetzt unterm Kinn mit einem Klettverschluss festgezurrt hatte. Mit den gepolsterten Arbeitshandschuhen zog Karsten die schützende Folie über die Silage und beschwerte das Ganze mit einem alten Autoreifen. Falko, der Hofhund, kam angelaufen, um ihm Gesellschaft zu leisten. Er bellte und wedelte dabei mit dem Schwanz. Karsten nahm es als Aufforderung, mit ihm um die Wette zu laufen. Das konnte bei dieser Witterung nicht schaden. Er spürte bereits, wie die Kälte an seinen Beinen hochkroch. „Na, dann los!“, rief er dem altdeutschen Schäferhund zu und rannte auf und davon, so gut es in den dicken Klamotten ging. Natürlich hatte er gegen Falko nicht den Hauch einer Chance. Aber es tat trotzdem gut, mal übermütig loszupreschen. Nicht zuletzt deshalb, weil sich der Hund so freute und immer noch dankbar an ihm hochsprang, als sie schon längst wieder bei den Rindviechern angekommen waren. In der Milchkammer traf Karsten unverhofft auf seinen Vater. Er stand vor dem riesigen Milchsammelbehälter und kontrollierte die Temperatur.
„Du wirst uns blamieren!“, fuhr Hermann Kuhn auch sofort seinen Sohn an, als er ihn kommen sah. „Aber wieso?“, entgegnete dieser barsch. Warum nur musste sein Vater schon im Vorfeld alles miesmachen, nur weil es ihm nicht in den Kram passte? „Ich möchte nur mal neue Wege gehen. Einfach mal etwas Neues probieren, was noch dazu gar nichts kostet. Außer Zeit und Geduld vielleicht.“ Karsten baute sich vor ihm auf und klettete seine warmen Ohrenschützer nach oben. Hermann schlug ärgerlich mit der flachen Hand gegen den Milchbehälter aus Edelstahl. Dann schaute er seinen Sohn an und klappte die fellbesetzten Ohrenschützer seiner eigenen Kappe ebenfalls hoch. Karsten grinste. Papa sah aus wie ein Außerirdischer, der gerade mit seiner hochgeklappten Antenne versuchte, mit dem Raumschiff Kontakt aufzunehmen. Dabei war sein Vater immer noch ziemlich sauer. Und daraus machte er auch kein Hehl.
„Wieso zum Teufel versuchst du es nicht mit Mehrarbeit im Stall? Du könntest das Computerprogramm optimieren oder die Herde noch besser beobachten, damit wir auftretende Krankheiten schneller in den Griff kriegen. Es gibt immer Dinge, die man noch verbessern kann, Karsten. Schließlich bist du nicht nur Landwirtschaftsmeister, sondern hast auch studiert. Ich kann einfach nicht glauben, dass du plötzlich solche Hirngespinste anbringst.“ Hermann Kuhn war von kleinen Dampfwölkchen umgeben, die sein warmer Atem in der kalten Luft hinterließ. Karsten rieb sich die behandschuhten Hände. Schließlich warf er die Handschuhe ab und rieb sich seine Hände erneut. Er hauchte sie an, um wieder Wärme in die steifen Finger zu bekommen. Es war wirklich lausig kalt heute.
„Du warst doch auch mal jung, Papa. Auch du hattest doch damals neue Ideen, mit denen Opa nicht immer gleich einverstanden war. Das hast du oft genug erzählt. Damals hat Opa dich doch schließlich machen lassen, oder nicht?“ Karsten ließ nicht locker. Er wollte die Sache jetzt ein für allemal ausfechten. Seufzend suchte Hermann Kuhn nach Worten. „Sicher. Aber ich hatte auch nicht so abgehobene Ideen wie du. Dann hätte mich mein Vater gar nicht mehr für voll genommen. Außerdem hatte ich in deinem Alter schon eine Familie zu versorgen und stand mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Aber du ...?“ Er schüttelte den Kopf. Karsten verzog sein Gesicht und war kurz davor, aufzugeben. Da setzte sein Vater noch eins drauf: „Deine Mutter meint auch, dass ...“
Jetzt fiel ihm Karsten mit einer abbrechenden Handbewegung ins Wort: „Sie meint genau das, was du meinst, nicht wahr? Sie ist nämlich dein Echo in diesen Dingen. Das brauchst du jetzt gar nicht weiter auszuführen.“ Wie zur Warnung schaute Karsten seinen Vater mit zusammengekniffenen Augen an. „Ja, schon gut“, lenkte dieser wieder ein. Und das war Karstens letzte Chance. „Könntest du mich nicht ausnahmsweise mal unterstützen, obwohl du meine Ideen total durchgedreht findest?“, fragte er fast sanftmütig. „Du hast mir den Hof zwar überschrieben, aber ohne deine Unterstützung komme ich sicherlich nicht weit. Und wenn wir uns jeden Tag streiten, hilft das auch keinem. Bitte, Papa!“ Einen Moment lang schwiegen sie sich an. Hermann Kuhn erinnerte sich wohl gerade an seine eigene Jugend und sein Blick wurde zusehends gutmütiger. Schließlich gab er nach. „Aber nur bis zum nächsten Frühjahr!“, gestand er seinem Sohn schließlich zu. „Wenn auf dem Feld die Arbeit wieder losgeht, muss alles andere in den Hintergrund treten!“ Karsten war einverstanden. Und reichte seinem Vater zufrieden die Hand. Der schüttelte seinen rechten Arbeitshandschuh ab und schlug ein.
Als am nächsten Morgen die Stallarbeit erledigt war, hockte sich Karsten vor den Computer. Er ging die Bestandsdatei seiner Herde durch. Der Tierarzt, der allein schon wegen der künstlichen Befruchtung der Tiere Dauergast im Betrieb war, konnte schon nach ein paar Tagen feststellen, ob eine besamte Kuh wieder aufgenommen hatte und ein Kälbchen austragen würde. Dies war von gro-ßer Bedeutung für den Milchviehbetrieb. Karsten gab täglich die neuesten Daten in den Rechner ein. Der befand sich in einem geheizten Nebenraum gleich hinter der Milchkammer. Dort hatte sich Karsten auch eine Art Feldbett hergerichtet, um jederzeit in unmittelbarer Nähe zu seiner Herde übernachten zu können. Und das kam öfter vor. Manchmal kalbten mehrere Kühe gleichzeitig oder es gab Komplikationen. Im Sommer, wenn wegen der Ernte oft bis tief in die Nacht gearbeitet wurde, war Karsten zu müde, um noch nach Hause zu fahren. Um wenigstens ein bisschen Schlaf zu bekommen, übernachtete er dann hier. Nebenan in einer Nische, die sich an die Milchkammer anschloss, hatten sie noch eine kleine, nicht gerade sehr feudale Dusche und eine Toilette eingerichtet. Im Büro, wie Karsten großspurig die Computerkammer nannte, befand sich neben dem großen Schreibtisch und dem weniger großen Feldbett auch ein Schränkchen mit Lebensmitteln, einer Kaffeemaschine und einem Wasserkocher. Überleben war also kein Problem – außerdem gab es nebenan Frischmilch zur Genüge ...
Karsten klickte auf dem Bildschirm von einer Kuh zur nächsten. Die Nummern ihrer Ohrmarken waren in seinem Verwaltungsprogramm abgespeichert. Jenseits der Zahlen und Statistiken hatte jede Milchkuh aber noch einen Namen. Das fand Karsten persönlicher. Und sie hatten nicht nur irgendeinen Namen, seine Kühe. Nein, er nannte sie nach prominenten Damen – meistens Schauspielerinnen oder Sängerinnen. Karsten hatte neben Altrockerin Tina Turner auch Madonna und Britney Spears im Stall. Es gab allerdings auch Kühe, die ihren Namen schon hatten, ehe die Bestandsdatei eingeführt worden war. Diese Tiere zählten gewissermaßen zum Inventar. Dazu gehörte die Kuh Elsa. Karsten schaute nach, ob Elsa wieder guter Hoffnung war. Natürlich – diese Kuh funktionierte wie ein Uhrwerk und war so fruchtbar wie eine Feldmaus. Elsa war seit drei Wochen wieder tragend. Das passt, dachte Karsten zufrieden und schaltete das Gerät aus. Sein Vater war zum Frühstücken nach Hause gefahren, aber er selbst wollte lieber hier oben am Stall seinen Kaffee trinken und anschließend mit Elsa reden.
Elsa verstand später wohl nicht so ganz, was er ihr sagte. Sie schaute ihn nur mit großen Augen an, muhte und leckte sich über die Nase. Dann wollte sie ihn schon stehen lassen und ihrer Wege gehen, aber Karsten rief sie noch einmal zurück. Elsa wandte den Kopf und ehe sie sich versah, hatte der Junglandwirt ihr ein Halfter übergestreift. Auch gut, dachte Elsa wohl, dann gehen wir halt mal wieder demonstrieren! Wie ein Hündchen folgte sie Karsten, der sie am langen Strick nach draußen führte. Aber zu demonstrieren brauchte die Vorzeigekuh heute Gott sei Dank nicht. Karsten band sie an einem Eisenträger des Maschinenschuppens fest und tätschelte ihr Hals und Wamme. Dann holte er Kardätsche und Striegel hervor und bürstete ihr Fell, bis es glänzte. Elsa schien diese Art Massage sehr zu genießen. Sie stand nur da und bewegte sich keinen Zentimeter. Als auch das letzte Staubkorn aus ihrem Fell herausgeputzt war, ging Karsten ein Stück mit ihr spazieren. Dabei umrundeten die beiden großzügig das ganze Areal. Sie spazierten auch an dem kleinen Teich vorbei, den Karsten und seine Eltern unterhalb des Stalles als Biotop angelegt hatten. Elsa erschreckte sich ein wenig, als dort plötzlich eine Ente hochflog. Aber cool wie sie war, trottete sie gleich darauf seelenruhig weiter. Wieder beim Stall angekommen, zeigte sich der Jungbauer sehr zufrieden mit dem gemeinsamen Ausflug. Er streichelte die Kuh Elsa noch einmal am Kopf, bevor er sie wieder zu ihren Freundinnen in den Boxenlaufstall entließ. Was für eine Kuh, dachte Karsten lächelnd. Mit ihrem ausgeglichenen Temperament macht die doch alles mit. Fröhlich hängte er das Halfter wieder an den Haken in der Maschinenhalle und fuhr mit seinem Mountainbike heim. Es könnte klappen ...
Sooft Karsten ein bisschen Zeit abzwacken konnte, verbrachte er diese mit der Kuh Elsa. Ein anderes weibliches Wesen gab es bei Karsten ohnehin nicht. Nach der Meisterschule hatte sich sofort sein Studium angeschlossen. Gut, man hätte noch einen Auslands-aufenthalt dranhängen können, irgendwie hätte er es den Eltern schon verkauft – kurz und schmerzlos. Acht Semester pauken hatte sein Vater ohnehin schon für eine halbe Ewigkeit gehalten. Und nur Karsten wusste, was er da geleistet hatte. Aber dann kam der Stallneubau und Karsten war vollauf beschäftigt gewesen. Das fand er auch ganz okay so – jedenfalls besser, als nach dem Studium keine Anstellung oder schlimmer noch: keine Perspektive zu haben. Das sollte ja bei anderen Studiengängen des Öfteren vorkommen, hatte er gehört.
Elsa war einfach klasse. Sie schien die gemeinsamen Spaziergänge mit Karsten sehr zu genießen und ließ sich willig auch unbekannte Wege entlangführen. Der Junglandwirt machte sie mit Dingen vertraut, die im Stall nicht existierten. Mal legte er ihr eine Decke auf, mal band er Luftballons an ihre Beine. Er gewöhnte sie auch behutsam an das Geräusch eines platzenden Luftballons. Elsa nickte nur, als Karsten ihr erklärte, dass sie sich vor dem Knall nicht zu fürchten brauchte. Anfang Dezember waren die Feldwege zwar nicht voller Spaziergänger, aber ab und zu stieß man hier dennoch auf Menschen. Einmal hatte Elsa eine Nikolausmütze auf und zog mit einem von Karsten selbst zurechtgebastelten Geschirr einen kleinen Baumstamm hinter sich her. Ein älteres Ehepaar glaubte auf der Stelle wieder an den Weihnachtsmann, als es Elsa und Karsten an sich vorüberziehen sah.
Hermann Kuhn hatte sich bisher immer bemüht, seinen Sohn mit Elsa allein zu lassen. Ihm kam es auch nicht in den Sinn, heimlich zu spionieren, was er da so mit der Kuh trieb. Wenn Karsten die Hilfe seines Vaters brauchte, würde er sich schon melden. Ansonsten wollte Hermann Kuhn mit der ganzen Sache so wenig wie möglich zu tun haben. Eines Morgens staunte er aber nicht schlecht, als er den Milchviehstall betrat. Die Kuh Elsa trug ein mit Glöckchen besetztes Elchgeweih und ein kleines, rot-weißes Weihnachtsmützchen. Elsa wiederkäute in einer mit frischem Stroh ausgelegten Liegebox. Sie tat so, als sei es das Natürlichste überhaupt für eine Kuh von Welt, ein klingelndes Elchgeweih samt Mützchen zu tragen. Karsten kam vom Kälberstall herüber und entdeckte seinen Vater, der wie vom Donner gerührt in der Stalltür stand und zu Elsa hinüberstarrte.
„Papa!“, rief Karsten und ließ die beiden leer getrunkenen Kälber-eimer mit den roten Saugnuckeln sinken. „Komm doch mal her! Ich muss dir was sagen!“ Es dauerte noch einen Moment, ehe sich Hermann Kuhn rührte und an den kleinen, weißen Kälberiglus mit dem neugeborenen Nachwuchs vorbeiging, um kopfschüttelnd seinen Sohn zu treffen. „Sag nichts, Karsten. Ich habe den Elch im Stall schon gesehen“, gestand er seufzend. „Schön“, nickte der Junior. „Wenn du zu ihm hingehst, kann man dich auch sehen.“
„Hä?“, fragte Hermann irritiert und zog dabei automatisch die Schultern hoch. Was hatte Karsten denn jetzt wieder ausgeheckt? Steigerte etwa ein Elchgeweih kombiniert mit einer rot-weißen Mütze die Milchleistung? Vielleicht waren das die allerneuesten Erkenntnisse der Wissenschaft? Und von wem sollte man hier im Stall gesehen werden? „Komm doch mal mit ins Büro, Papa!“, forderte sein gut gelaunter Sohn ihn auf. Fellkappe und Arbeitshandschuhe waren heute überflüssig geworden, da das Außenthermometer plus fünf Grad anzeigte. Dafür hing ein dichter Nebel wie eine milchige Suppe über dem Gelände. Leicht widerstrebend folgte der Vater seinem Sohn, auch wenn man das kleine Kämmerchen mit dem Computer kaum Büro nennen konnte, wie er fand. Aber bei Karsten war jeder Raum, in dem ein PC stand, in gewisser Weise ein Büro. „Ich muss dir mal was zeigen“, sagte Karsten geheimnisvoll und setzte sich auf den stark abgewetzten Bürostuhl vor dem Computer. „Ich habe im Stall eine Webcam montiert.“ Sein Vater verstand überhaupt nichts und zog perplex die Augenbrauen hoch. Karstens lebhafter Blick wanderte von seinem Vater zum Bildschirm und wieder zurück. „Internet!“, rief er vergnügt. War ja wieder mal klar, dass der gute Hermann keine Ahnung hatte. Ihm kam es so vor, als müsse er seinem Vater immer wieder aufs Neue die Sache mit dem globalen Dorf erklären. Karsten hatte jedesmal das Gefühl, dass sein Vater nur mit einem halben Ohr hinhörte. Ganz nach dem Motto: „Das kapier ich sowieso nicht mehr!“ Was völliger Unsinn war. Aber man musste sich natürlich erst mal auf die Sache einlassen, wenn man etwas lernen wollte. Das tat Hermann Kuhn aber nie so richtig.
„Eine Webcam ist eine Kamera, mit der man Bilder ins Internet stellen kann. Jeder, der meine Internetadresse anklickt, kann diese Bilder dann anschauen.“ Hermann Kuhn glaubte seinen Ohren nicht zu trauen.
„Jeder kann in unseren Kuhstall schauen?“ Aber Karsten machte nur eine Halbdrehung auf seinem Stuhl und nickte zustimmend. Sein Vater schien etwas zu überdenken. Grübelnd zog er die Stirn kraus. „Sieht man mich dann auch, wenn ich durch den Stall laufe?“ Karsten nickte. „Sicher, wenn du gerade an der Kamera vorbeiläufst.“ Hermann schaute nicht gerade erfreut, als er entgegnete, dass er bei der Stallarbeit aber gar nicht gesehen werden wollte. „Ich kann das Ding jederzeit abschalten“, erklärte sein Sohn. „Ich bitte darum!“, meinte der Vater forsch. „Und zwar auf der Stelle!“ Es klang wie ein militärischer Befehl, der keinen Widerspruch zuließ. Karsten hatte zwar nicht erwartet, dass sein Vater vor lauter Begeisterung nun täglich vor der Webcam einen Tanz mit der Mistgabel aufführen würde, aber dass sein alter Herr dermaßen mürrisch reagierte, ärgerte ihn doch. Er beschloss, die Kamera während der Fütterungs- und Melkzeiten auszuschalten. Aber Moment mal – ihm fiel da gerade etwas ein. Wie wäre es, wenn er die Kamera demnächst über dem Melkstand platzieren würde? Dort kam sein Vater selten hin, weil Karsten immer molk. Sobald Hermann Kuhn auf den Schlepper klettern würde, um ein paar Rundballen Stroh herüberzukarren, wollte er zur Tat schreiten.
Im Boxenlaufstall war Elsa bereits die Attraktion. Aber es gab viele Neiderinnen. Britney versuchte, ihr das rote Mützchen abzujagen. Und Madonna hatte es auf das Elchgeweih abgesehen und biss gerade hinein. Karsten hechtete dazwischen und Madonna bekam eins auf die Schnute. Zickig wie sie war, klemmte sie ihren Schwanz ein und zog eingeschnappt davon. Britney rammte Elsa noch mal böse an der Hinterhand, bevor sie hinter Madonna hertrottete. Das Plüschgeweih war ziemlich vollgesabbert und das rote Mützchen wies Löcher auf. Seufzend nahm Karsten die Sachen wieder an sich, steckte sie in einen alten Kartoffelsack und verstaute sie im Büro unter seinem Feldbett. Ob es nicht doch zu schwierig war, Elsa an derlei Schnickschnack zu gewöhnen? Plötzlich verlangte es ihn nach einem Bier. Hier mussten doch irgendwo noch ein paar Flaschen zu finden sein, überlegte er und suchte jeden Winkel des Büros ab. Hinter dem Schreibtisch wurde er fündig. Ein halber Kasten Bier stand noch dort. Ein Überbleibsel vom Maishäckseln. Im Herbst hatte er mitsamt seinen Helfern nach getaner Arbeit etliche Bierchen gezischt. Warum soll ich nicht auch einmal Glück haben?, dachte Karsten erfreut und nahm sich eine Flasche heraus. Der Gerstensaft verbesserte seine Laune augenblicklich. Mit jeder Flasche wuchs sein Abstand zum Alltag und zu seinen Problemen. Gegen Mitternacht hatte Karsten sein Ziel erreicht. Das Bier war alle.
Am nächsten Morgen brummte dem Junglandwirt gewaltig der Schädel. Auch konnte er sich an Einzelheiten des vergangenen Abends nicht mehr so recht erinnern. Dafür registrierte er entsetzt, dass er verpennt hatte. Erst jetzt nahm er das Motorengeräusch der Melkmaschine nebenan so richtig wahr. Verdammt, wie spät war es eigentlich? Karsten suchte nach seiner Armbanduhr und entdeckte sie unter seinem Feldbett. So ein Mist! Sofort sprang der Jungbauer aus dem Schlafsack in die Stallklamotten. Das Motorengeräusch der Melkmaschine verstummte augenblicklich, als er seinen Kopf zum Kuhstall hineinsteckte. Hermann hatte soeben die letzte Kuh gemolken und die Maschine abgeschaltet. Oh nein, durchfuhr es den jungen Landwirt. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal so lange geschlafen hatte. Hermann Kuhn grinste nur, als er seinen verkaterten Sohn erblickte.
„Morgen, Papa. Ich habe verschlafen“, gestand Karsten bleich und zerknautscht. „Soll ich Maissilage holen?“, fragte er kleinlaut. Sein Vater winkte ab. Er wusste, wie man sich mit einem dicken Kopf fühlt. „Fahr lieber heim, Karsten!“ Karsten gehorchte auch sofort und ohne Widerrede. Er schwang sich auf den dunkelgrünen 120-PS-Schlepper und fuhr über den geteerten Feldweg die eineinhalb Kilometer bis nach Hause. Seine Mutter Elisabeth hatte sich schon Sorgen gemacht und tat das auch gleich ihrem verlorenen Sohn kund, noch ehe dieser über die Schwelle getreten war. „Aber Mama“, seufzte Karsten. „Es ist alles in Ordnung. Ich habe ein paar Bierchen getrunken und dann beim Stall übernachtet. Ist doch nichts dabei! Außer, dass ich verschlafen habe und Papa heute Morgen die ganze Arbeit alleine machen musste. Das war keine Absicht, ehrlich.“
„Na ja, Junge, ich habe mir halt Sorgen gemacht, als du heute Morgen nicht daheim warst“, erklärte seine Mutter und gab endlich die Eingangstür frei, in deren Rahmen sie sich aufgebaut hatte. Karsten huschte an ihr vorbei ins Haus. „Außerdem bin ich zweiunddreißig Jahre alt, Mama. Ich glaube, in diesem gesetzten Alter kann man auch mal eine Nacht unentschuldigt wegbleiben.“ Karsten wandte seiner Mutter den Rücken zu und sprang die ersten fünf Stufen der Treppe in die obere Etage auf einmal hoch. Dann fehlte ihm der Schwung und er musste die nächsten fünf Stufen einzeln nehmen. „Zweiunddreißig Jahre ist er schon“, murmelte Elisabeth Kuhn auf dem Weg zur Küche, „aber weder Schwiegertochter noch Enkelkinder in Sicht.“ Diese Bemerkung hörte Karsten, dessen Ohren im Gegensatz zu denen seines Vaters noch tadellos funktionierten, als er gerade bei Treppenstufe Nummer neun angelangt war. Wahrscheinlich sollte er den Satz auch hören. Wie immer, wenn sie stichelte. Karsten fühlte sich heute aber viel zu schwach zum Streiten. Er beschloss, einfach so zu tun, als hätte er die letzten Worte seiner soeben in die Küche entschwundenen Mutter nicht vernommen. Er holte sich seufzend eine neue Arbeitshose und einen dicken Pulli aus dem Schrank und zog sich um. Ohne weitere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, wollte er anschließend durch den Seitenausgang aus dem Haus verschwinden, was aber leider misslang. Obwohl er, die ausgezogenen Schuhe in der Hand, völlig lautlos mit seinen Stricksocken durch den Flur geschlichen war, riss seine Mutter die Küchentür auf, noch ehe er den rettenden Ausgang erreicht hatte. Mist! Mit rollenden Augen gab Karsten sich geschlagen. Jetzt würde er aller Voraussicht nach noch einmal ganz offiziell auf die fehlende Schwiegertochter und die sehnsüchtig herbeigewünschten Enkelkinder angesprochen werden. Er schloss die Augen, um sich zu besinnen und sich innerlich gegen die Worte zu wappnen, die ihn im nächsten Augenblick treffen würden.
„Es hat gerade eine Frau angerufen, die dich sprechen wollte.“ Elisabeth konnte ihre Neugier kaum verhehlen und blickte Karsten gespannt an. Die Worte trafen ihn tatsächlich, aber anders, als er erwartet hatte. Er öffnete die Augen und sah fragend auf seine Mutter.
„Was für eine Frau denn?“, wollte der Ahnungslose wissen. „Ich kenne keine Frau, Mama. Jedenfalls nicht so, wie du dir das jetzt denkst.“ Karsten wurde langsam ungehalten. Warum verknüpfte seine Mutter nur jede weibliche Stimme am Telefon gleich mit der einer potenziellen Schwiegertochter? Das musste er ihr schleunigst und ein für allemal austreiben, denn das Thema nervte ihn.
„Sie sagte, du hättest etwas übers Internet angeboten. Deshalb würde sie anrufen. Ich dachte, du wärst schon wieder weg, deshalb habe ich ihr gesagt, dass du nicht da bist. Ich wusste ja nicht ...“ Jetzt blickte sie doch ein wenig schuldbewusst in das Gesicht ihres Sohnes. Sofort wurden auch Karstens Züge weicher. Seine Wut verpuffte. Trotzdem musste er es jetzt einmal aussprechen. Sofort. „Ich habe gehört, was du vorhin noch gesagt hast, als ich nach oben ging. Ich meine den Satz mit der nicht vorhandenen Schwiegertochter und den Enkelkindern. Ich verstehe dich ja, aber so etwas kann ich nicht mehr hören, schon gar nicht hinter meinem Rücken. Die Sache ist nun mal so wie sie ist. Das müsst ihr beide akzeptieren, damit diese Sticheleien endlich ein Ende haben. Ich bin das leid. Außerdem habe ich gar nicht vor, ein Leben lang allein zu bleiben – aber alles zu seiner Zeit, denke ich. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?!“ Karsten hatte sich wie so oft mehr in Rage geredet, als er eigentlich wollte. Die Mundwinkel seine Mutter glitten merklich nach unten. Sie machte auf dem Absatz kehrt, um sich zurück in die vertraute Küche zu flüchten. Dabei murmelte sie noch etwas vor sich hin, was ihr Sohn aber nicht verstand. Instinktiv ging Karsten einige Schritte hinter ihr her. Als sie schon vor dem Küchentisch stand, drehte Elisabeth sich noch einmal um und blaffte nur eingeschnappt: „Ich sag jetzt gar nichts mehr!“ Umso besser, dachte Karsten, aber das konnte er unmöglich aussprechen, sonst wäre sie zutiefst verletzt gewesen.
Sich am Küchentisch abstützend, fasste sich Elisabeth wieder und ihr Tonfall verlor seine emotionale Aufgebrachtheit. „Die Frau wollte dir ein Mahl schicken“, sagte sie achselzuckend, da sie sich das selbst nicht so recht erklären konnte. „Was zu essen?“ Karsten schaute sie irritiert an. „Arbeitet diese Frau vielleicht beim Pizza-Service?“ Aber Elisabeth Kuhn schüttelte entschieden den Kopf. „Es muss etwas mit dem Computer zu tun haben. Da wollte sie das hinschicken.“ Seine Mutter hatte mit Computern absolut nichts am Hut, so viel war klar. Karsten kratzte sich am Hinterkopf. Da fiel es ihm ein. „Wollte sie mir vielleicht eine Mail schicken?“, fragte er noch mal nach. Und Elisabeth Kuhn sah ihre Worte bestätigt. „Ja, das sage ich doch“, nickte sie. „Ist gut, Mama“, seufzte Karsten, gedachte aber die ohnehin gedrückte Stimmung nicht weiter zu belasten. Er musste jetzt schleunigst hoch zum Stall und wollte zum Abschied noch etwas Versöhnliches sagen. „Was gibt’s denn heute zum Mittagessen?“, fragte er mit seiner ganz normalen Karsten-Stimme.
„Weiß ich noch nicht!“, antwortete sie schnippisch, wandte ihm den Rücken zu und trollte sich augenblicklich zum Herd hinüber. Okay, okay, dachte Karsten, am besten verschwinde ich jetzt sofort. Er quetschte sich noch ein „Tschüss dann“ heraus und schwang sich draußen auf den Schlepper. Es half nichts, zunächst einmal musste die Maissilage herbeigeholt werden. Vielleicht hat Papa ja schon die Kälber getränkt, überlegte er. Wenn alles gut lief, konnte er in einer Stunde seinen Computer anwerfen, um die Mail zu lesen. Und darauf war er schon sehr gespannt. Er beeilte sich, seine Arbeit noch einen Tick schneller als sonst zu erledigen.
Nachdem Vater Kuhn zum Frühstücken heimgefahren war, klemmte sich der Jungbauer endlich ungestört an seinen PC. Oh ja, er hatte Post bekommen. Aber nicht nur eine einzige Mail – nein! Da steckten über zehn in seinem elektronischen Briefkasten. Wie sollte er jetzt herausfinden, welche von der Dame war, die bei seiner Mutter angerufen hatte? Na ja, dachte er, ist ja eigentlich auch egal. Neugierig öffnete er den ersten Brief und seine Mundwinkel zogen sich schlagartig zu einem Lächeln nach oben. Mit jeder Mail, die er las, stieg seine Stimmung. Sein Internetangebot „Rent a Cow!“ bekam, wie es schien, ein gutes Echo. Bei der neunten Mail brach er in ein Jubelgeschrei aus. Da klingelte das Telefon.
„Einen wunderschönen guten Tag. Hier spricht Karsten Kuhn“, meldete sich der Jungbauer in Sonntagslaune. „Was ist denn mit dir los, mein Junge? Stör’ ich?“ Seine Mutter war etwas verwirrt von so viel Freundlichkeit. „Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass ich Papa überredet habe, heute mit mir in der Stadt Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Er hatte zwar keine Lust, aber ...“
„Ja, ja“, fiel ihr Karsten ins Wort und konnte sich gut vorstellen, wie das zu Hause abgelaufen war. Seine Mutter hatte bestimmt wieder so lange herumgemeckert, bis es sein Vater nicht mehr hören konnte. Hermann Kuhn hasste einkaufen. Und wenn er mal neue Klamotten brauchte, durfte die Einkaufsaktion nie länger als eine Viertelstunde dauern. Modische Aspekte waren ihm dabei egal – Hauptsache, die Sachen passten und waren möglichst schnell zu bekommen. Am besten alle unter einem Dach. Und wenn er mit seiner Frau in die Stadt musste, wünschte er sich immer klammheimlich, auch sie würde sich beeilen, damit sie beide möglichst bald wieder zu Hause wären. Da konnte er einfach nicht aus seiner Haut. Zu jedem Teil, das seine Frau anprobierte, sagte er grundsätzlich Ja und blickte dabei demonstrativ auf seine Armbanduhr. Fehlte nur noch der erhobene Zeigefinger. Einen richtigen Einkaufsbummel hatte Elisabeth mit Hermann noch nie hingekriegt. Das Wort „Bummel“ im Zusammenhang mit „Einkaufen“ verbot sich für Hermann Kuhn von selbst. Als Landwirt bummelte man nun mal nicht. Selbst wenn die beiden einmal zusammen im Urlaub waren und jede Menge Zeit zur Verfügung hatten, konnte sich Hermann fürs Shoppen nicht begeistern.
„Ist gut“, erwiderte Karsten nur. „Kauft alles, was der Markt hergibt!“ Da machte es auch schon „klick“ und seine Mutter hatte aufgelegt. Gegen ein paar schokoladige Lebkuchen hätte auch er nichts gehabt, aber seine Mutter hatte wohl nicht vor, ihm etwas mitzubringen. Sie hätte ja mal fragen können, dachte Karsten und überlegte, ob sie vielleicht noch sauer auf ihn war. Aber er nahm es ihr nicht übel. Bestimmt hatte sie genug damit zu tun, ihren Ehemann wenigstens ein Stündchen bei Laune zu halten, damit er sie nicht ständig daran erinnerte, dass schon wieder so viel Zeit nutzlos und fern des heimischen Wirkungsfeldes verstrichen war. So sah Hermann die Sache jedenfalls.
Jetzt aber zurück zu den lieblichen Mails, die ich bekommen habe, sagte sich Karsten und druckte sie alle aus. Phänomenal! Alle wollten die Kuh Elsa mieten! Das Telefon klingelte erneut. Aha, dachte Karsten erfreut. Mamas schlechtes Gewissen meldet sich jetzt doch noch. „Schokoladige Lebkuchen!“, sagte er voller Genugtuung in den Hörer. Da der alte Handapparat hier oben kein Display hatte, musste man eben auf telepathische Fähigkeiten bauen. Leider ließen diese Karsten heute im Stich, denn seine Mutter war nicht am Apparat. Die Rufumleitung hatte das Gespräch hierher gestellt, da die Herrschaften zu Hause wohl schon in den Weihnachtstrubel aufgebrochen waren.
„Klingt gut“, meinte die weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung in Karstens Gedankengänge hinein. „Verkaufen Sie die auch auf Ihrem Hof?“
„Noch nicht“, antwortete er knapp. Und dachte: Wenn die jetzt noch nach selbst gemachtem Camembert und Bio-Äpfeln fragt, dreh ich durch.
„Ich rufe wegen Ihrem Rent-a-Cow-Angebot an“, kam die nette Dame erheitert zur Sache. „Mein Name ist Emily Enders, von der Molkerei Milchsee. Sie sind doch ein Lieferant von uns, Herr Kuhn, nicht wahr?“
„Ja, sicher“, bestätigte Karsten, dem die nette, gut gelaunte Stimme der Frau gefiel. „Sie wollen also Elsa mieten?!“, fragte er zur Sicherheit noch einmal nach und war spätestens jetzt ganz Ohr.
„Ja“, bestätigte sie. „Das wäre ein toller Gag für unsere Weihnachtsfeier! Ich bin mehr durch Zufall auf Ihre Internetseite gestoßen und dachte sofort: Das ist es!“
Karsten lehnte sich auf seinem durchgesessenen Bürostuhl zurück. Ja, genau das war es. Genauso hatte er es sich auch vorgestellt. Die Leute gehen auf seine Internetseite und denken: Das ist es! Und dann melden sie sich bei ihm und buchen die Kuh. Perfekt.
„Soll sich Elsa als Nikolaus verkleiden?“, fragte Karsten sachlich und ganz der geborene Geschäftsmann. Schließlich wollte er wissen, was da auf der Weihnachtsfeier auf seine Kuh zukam. Bei dieser Frage lachte Karstens Gesprächspartnerin auf.
„Nun, diese Elchmütze, die sie da neulich in ihrer Box aufhatte, war nicht übel. Aber ansonsten muss sie nur sich selbst mitbringen. Ein Cowboy – ich meine eine kompetente Begleitperson – wird ja ohnehin dabei sein, für die Anfahrt und so“, Emily kicherte schon wieder. Die Kuh sollte der Überraschungsknaller der Betriebsweihnachtsfeier werden. Und deren Organisation lag in diesem Jahr erstmalig in ihren Händen.
„Geplant ist ein Melkwettbewerb“, eröffnete Emily ihrem Milchlieferanten enthusiastisch. Die Elsa wird das Kind schon schaukeln, davon war Karsten fest überzeugt.
„Superidee“, stimmte er denn auch der netten Dame zu und sie besprachen den Termin, an dem Karsten die Kuh Elsa zu dem bekannten Ausflugslokal „Schnitzelranch“ bringen sollte. Ob Ponderosa oder Schnitzelranch – Karsten würde seine Kuh zur Not auch im Hula-Kostüm nach Hawaii fliegen. Gebucht ist gebucht. König Kunde regiert. Voller Genugtuung legte Karsten den Hörer zurück auf die Gabel. Seine selbst erdachten alternativen Verdienstmöglichkeiten rund um die Landwirtschaft begannen gerade ins Rollen zu kommen. Das musste er sofort Elsa erzählen.
Loona und Sandy spitzten die Ohren, als sie von Elsas Engagement erfuhren. Sie klimperten mit ihren langen Wimpern und schauten Karsten mit vernichtenden Blicken an. Dann machten sie auf dem Absatz kehrt und trollten sich, nicht ohne vorher ihre Stallkollegin Elsa noch einmal im Vorbeigehen wie zufällig in die Seite zu knuffen.
„Lasst doch das neidische Herumzicken“, winkte Karsten ab. Er hatte Elsas Halfter aus der Scheune geholt. „Komm, wir gehen ein Stück.“ Vor dem Stall lagen ein paar Zentimeter Schnee und Elsa konnte nicht widerstehen, ihre Nase dort hineinzubohren. Aber dann schüttelte sie die kalte Pracht schnell wieder ab. „Also, Elsa, wie ich schon sagte, du bist bei deinem Arbeitgeber zur Weihnachtsfeier eingeladen worden. Molkerei Milchsee, du weißt schon.“ Aber Elsa drehte nur fragend ihren Kopf zu ihm. „Heb dir für diese Gelegenheit ein bisschen Milch auf, damit die Leute dort auch Spaß beim Melken haben“, versuchte Karsten ihr gut zuzureden und sie auf ihren Sondereinsatz mental bestmöglich vorzubereiten. Elsa hingegen ging nicht länger darauf ein und wandte ihren Blick ab. Sie muhte schwach – ob ignorierend oder zustimmend, war schwer zu sagen. Karsten klopfte ihren Hals und ließ sie noch ein wenig durch den Schnee stapfen, der auf den Weiden hinter dem Stall liegen geblieben war. Dabei überlegte er, wie er seinem Vater am geschicktesten von der offenbar gut angekommenen Rent-a-Cow-Aktion berichten könnte. Aber egal wie er es auch anstellen würde, sein Vater würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn er erführe, dass Elsa zum „Weihnachtsfeier-Gag“ degradiert werden sollte. Nee, nee, dachte Karsten. Erfolge mussten her. Einnahmen in beeindruckender Zahl. Dankesbriefe zufriedener Kunden. Erst dann würde er bei seinem Vater einen Stein im Brett haben.
Am 12. Dezember stieg Elsa dann auch top gestylt und gut gelaunt in den Viehanhänger. Sie ließ sich gerne spazieren fahren. Außerdem gab es dabei immer noch eine Portion Heu extra. Das konnte man sich schon gefallen lassen. Zuvor hatte der Juniorchef die Diva auf Hochglanz poliert. Den Kuhschwanz hatte er mit warmem Wasser und Haarshampoo gewaschen und sofort danach trocken geföhnt, damit sich das Glamourgirl auch ja keine Erkältung einfing. Dann hatte er mit dem stibitzten Lockenstab seiner Mutter noch ein paar Korkenzieherlocken hineingedreht. Die gelockten Schwanzhaare waren ein echter Hingucker. Schnell noch die lustige Elchmütze auf und ab ging’s zur Schnitzelranch, wo die Partykuh schon sehnsüchtig erwartet wurde.
Emily Enders stand in ihrem schneeweißen Felljäckchen, das leider nur bis zur Taille reichte, frierend vor dem Lokal. Sie hatte für Karsten einen Parkplatz in Eingangsnähe frei gehalten und wartete nun auf seine Ankunft. Ihre leicht gewellten, brünetten Haare fielen bis auf ihre Schultern und wärmten sie sogar ein wenig. Das war auch bitter nötig bei Temperaturen unterhalb des Gefrierpunktes. Emilys untere Extremitäten froren entsetzlich. Seiden-strümpfe besaßen keinerlei Abwehrkraft gegen die Kälte, wie sie leidvoll lernte. Riemchensandalen erst recht nicht. Emilys Füße wurden binnen Sekunden zu Eisklötzen. Wenn sie hier nicht festfrieren wollte, musste sie in Bewegung bleiben, beschloss sie an sich herabblickend und freute sich, dass wenigstens ihr Gehirn noch einwandfrei funktionierte im Gegensatz zu ihren Zehen. Sie trat von einem Bein auf das andere, was jedoch nicht zur Wärmegewinnung beitrug. Da entdeckte sie einen Geländewagen samt Viehanhänger, der gerade den Blinker setzte, um in die Einfahrt abzubiegen. Freudig winkend sprang Emily mit einem mächtigen Satz vor das Auto. Karsten musste scharf bremsen. Auf dem glatten Untergrund kam das Fahrzeug gerade noch rechtzeitig vor ihren schlanken Beinen zum Stehen.
Karsten blies die Backen auf und atmete erleichtert durch. Das war aber knapp! Den freien Parkplatz hatte er doch längst gesehen. Da hätte sie doch nicht direkt vor seine Räder springen müssen! Karsten konnte ja nicht ahnen, dass Emilys Füße gerade dabei waren, am Boden festzufrieren, als er einbog. Der kühne Sprung vors Auto war gewissermaßen ihre letzte Chance gewesen, einer Dauerschädigung durch Erfrieren zu entgehen. Aber jetzt, nur wenige Zentimeter von der riesig wirkenden Motorhaube des Landrovers entfernt, fingen ihre Knie doch zu zittern an. Ihr war schlecht. Karsten stieg aus und begrüßte die ganz verdatterte Emily, die ihn mit angsterfüllten Augen anstarrte und sich nicht von der Stelle bewegte.
„Ist ja nichts passiert“, versuchte er ihren Schock abzumildern, indem er ganz langsam und ruhig sprach. „Der Allradantrieb hat mir selbst auch schon manchmal das Leben gerettet.“ Der Scherz kam wohl nicht so gut an. Vielleicht auch gar nicht. Jedenfalls zeigte die junge Frau vor ihm keinerlei Reaktion. Was soll ich tun?, fragte sich Karsten. In Sekundenbruchteilen entschied er, sich erst einmal vorzustellen. Er sagte sein Sätzchen und ergriff dazu die lose herabhängende Hand der kreidebleichen Emily Enders. Die Hand war eiskalt. Karsten hielt sie länger als notwendig und wartete auf ein Lebenszeichen. Doch Mütterchen Frost bewegte sich nicht. Noch nicht. Aber seine unverminderte Handwärme setzte sich schließlich durch. Ihre Lebensfunktionen kehrten allmählich zurück. Und plötzlich stieß sie ein „Hallo“ hervor. Freudig überrascht zuckte Karsten zusammen. Instinktiv hielt er ihre Hand weiter in seiner Hand fest. Nur keinen Rückfall heraufbeschwören, sagte er sich. Und siehe da, es kam wieder Leben in diese quirlige junge Frau mit den braunen Augen. Sie schüttelte entschuldigend den Kopf. „War ja meine Schuld. Ich bin Ihnen vors Auto gehüpft.“ Karsten war erleichtert. Jetzt schien sie wieder ganz sie selbst zu sein. Er glaubte es wagen zu können, ihre Hand loszulassen. Aber wieso eigentlich? Sie zog ihre doch auch nicht zurück. Also hielt er die Hand fest und wartete ab. „Ihre warmen Hände tun mir wirklich gut“, sagte sie lächelnd, fast etwas verlegen. Diese Stimme und diese Augen – ihre ganze Erscheinung gefiel ihm, jetzt, wo sie ins Leben zurückgekehrt war. Karsten wollte etwas erwidern, aber er wusste nicht, was. Mensch, jetzt denk nach, du Landei. Sag etwas Nettes, Schönes, Cooles, Supertolles! Sofort!!, peitschte er sein plötzlich vollständig entleertes Gehirn an. Da machte Elsa mit einem empörten Muhen auf sich aufmerksam. „Oh“, entfuhr es Karsten, und er ließ Emilys Hand los, ehe es ihm bewusst wurde. „Elsa.“
„Ach ja“, nickte Emily Enders verstehend und wurde auch gleich geschäftsmäßig. „Kann ich den Abendknüller jetzt da drin ansagen?“ Ihr Kinn zeigte zum Eingang des Lokals. Karsten spitzte die Lippen, nickte zustimmend und machte mit einer Hand ein Okay-Zeichen. Während Emily in der Schnitzelranch verschwand, um die Kuh-Show anzukündigen, öffnete Karsten die Heckklappe des Viehtransporters. Elsa hatte das ganze Heu aufgefressen und ihr war gerade langweilig geworden. Nun kam die unternehmungs-lustige Milchkuh satt und gestärkt heraus und blickte sich neugierig nach allen Seiten um. Ihr warmer Atem bildete weiße Wölkchen in der kalten Abendluft.