Das Tomatenkomplott - Renate Pitz - E-Book

Das Tomatenkomplott E-Book

Renate Pitz

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  • Herausgeber: LV Buch
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Elfriede Hempel ist eine Gartenliebhaberin der besonderen Art, mit unerschütterlichem Tatendrang bearbeitet sie den Gemüsegarten auf dem Bauernhof ihres Sohnes Heiner. Der findet die Gartenmachenschaften seiner Mutter ehr anstrengend und nennt ihr Werk zuweilen den "Nationalpark". Doch als Elfriede zur Kur fährt, wird ihm Hauswirtschafterin Nina zugeteilt. Die ist zickig, starrsinnig und sieht zu allem Überfluss auch noch wie eine zu jung geratene Kopie von Heidi Kabel aus. Nach anfänglichen Schwierigkeiten übernimmt Nina jedoch die Arbeit im Gemüsegarten - mit ungeahnten Folgen. Denn plötzlich mutiert das Gemüse zu Riesenfrüchten: Tomaten, Radieschen & Co. Gleichen aufgeblähten Handbällen. Da ist guter Rat verdammt teuer, denn bevor das Amt zwielichtige Praktiken mit verbotenen Substanzen wittern kann, muss das Dream-Team die Sache natürlich selber klären. Al dann noch die Leiche des ortsansässigen Kleinkriminellen in Heiners Maisfeld gefunden wird, überschlagen sich die Ereignisse....

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Ähnliche


Das Tomatenkomplott

Renate Pitz

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Impressum

Alles läuft anders

Heiner Hempel saß am gedeckten Frühstückstisch und wartete seit geschlagenen zwanzig Minuten. Wo war sie bloß? Und weshalb kam sie nicht? Sie hatte doch heute Geburtstag. Und er hatte sich mächtig ins Zeug gelegt. Da könnte sie ruhig pünktlich sein, fand er. Frühstück war um halb sieben. Geburtstagsfrühstück um neun. Das war schon immer so gewesen. Seit er denken konnte. Sein Magen knurrte, und er war versucht, schon mal zuzuschlagen. Schließlich sahen die Hörnchen allzu verführerisch aus. Heiner war hochzufrieden mit seinem Frühstückskunstwerk. Es fehlte an nichts. Vom Drei-Minuten-Ei bis zur Aprikosen-Mango-Marmelade stand alles auf der weißen, mit Spitzen umhäkelten Damasttischdecke. Zur Feier des Tages hatte er sogar ihr allerbestes Kaffeegeschirr aufgestellt. Das mit den Wildpflanzen auf Tellerchen und Kaffeetässchen. Tja, Opfer mussten gebracht werden, dachte Heiner seufzend und nahm eine Tasse in die Hand, auf der sein verhasstestes Ackerunkraut zu sehen war – der Löwenzahn. In sattem Grün mit sonnengelber Blüte prangte er auf dem Porzellan. Ganz zierlich war sein lateinischer Name darunter eingraviert. Taraxacum officinale klingt viel zu schön für das Zeugs, dachte Heiner, während im Hintergrund die Kaffeemaschine grummelte. Wenn sie jetzt nicht bald käme, würde nicht nur die Milch sauer ... Da sah er den unter der Blumenvase abgelegten Zettel. Heiner griff danach und begann zu lesen.

„Ich kaufe mir ein Geburtstagsgeschenk – bin bald zurück!“

Heiner seufzte erneut und ließ den Zettel fallen. Jetzt kam er sich noch blöder vor. Warum lief bei ihm zu Hause immer alles anders? Normalerweise sind erwachsene Söhne doch in der Lage, der Mutter ein Geburtstagsgeschenk zu kaufen! Aber so war das eben mit Mama. Sie wollte sich ihr Geschenk selbst aussuchen. Koste es, was es wolle. Selbst um den Preis eines Geburtstagsfrühstücks.

Aus Erfahrung ließ Heiner seine Mutter gewähren, denn von ihren Spleens war sie nur selten abzubringen. Heute jedoch nervte ihn ihre Eigenwilligkeit entsetzlich. Er hatte sich extra beeilt und die Stallarbeit in Windeseile erledigt. Danach hatte er sich sogar geduscht und sauber angezogen, was er sonst nie tat. Jedenfalls nicht vor dem Frühstück. Wozu auch? Danach würde er sowieso gleich wieder nach Schweinestall riechen. Eigentlich lohnte sich die Duscherei nur abends. Oder wenn man gerade voll in die Matsche gefallen war. Oder ins Altölfass ...

Heiner dachte gerade darüber nach, ob er es noch schaffen würde, sich zu kämmen, bevor seine Mutter wiederkäme. Er verwarf den Gedanken schnell wieder, denn das, was er da als Frisur auf seinem Kopf trug, würde sich dadurch wohl kaum verändern. Diese dicken, braunen, störrischen und nach allen Seiten abstehenden Haare waren einfach nicht zu bändigen. Nicht ein einziger Frisör in der Gegend hatte es jemals so richtig geschafft. Einer hatte sogar vorgeschlagen, die Haarpracht komplett abzurasieren. Nur um zu sehen, ob sie dann vielleicht glatt nachwachsen würde. Darauf hatte Heiner allerdings lieber verzichtet. Und genau das tat er auch jetzt und verzichtete auf das Kämmen. Es war ohnehin zu spät, denn der Dieselmotor eines alten VWs kündigte Elfriede Hempels Rückkehr an. Er sprang auf und lief zur Tür.

„Morgen, Heiner, komm, hilf mir mal!“ Sie mühte sich bereits am Kofferraum ab.

Schnell hastete er die fünf Treppenstufen vor der Eingangstür hinunter. Sie hantierte geschäftig vor sich hin und schien wenig empfänglich für nette Worte. Eher für tatkräftige Hilfe. Heiner versuchte es trotzdem.

„Alles Gute zum Geburtstag, Mama!“

Sie ließ kurz den riesigen Karton los, den sie krampfhaft versuchte aus dem Kofferraum zu hieven. „Danke!“, erwiderte sie kurz und war schon wieder an dem Ding dran.

„Jetzt lass dich erst mal drücken, Mama!“, befahl Heiner. Er hatte die Nase voll und immer noch Hunger. „Ich heb dir das Teil gleich raus!“

Ausnahmsweise hörte sie auf ihn und ließ den Karton los, damit er sie kurz umarmen konnte.

„Was hast du denn überhaupt da drin?“ Heiner wuchtete den schweren Karton ins Haus.

„Stell ihn bitte in die Küche auf den Boden!“, rief seine Mutter, ohne auf seine Frage einzugehen. Damit ließ Heiner sich aber nicht abspeisen.

„Jetzt sag schon!“, verlangte er außer Atem.

„Einen Computer natürlich!“

„Waas?“, fragte Heiner. Er konnte es kaum fassen. Seine Mutter war zwar immer für Überraschungen gut, aber modernste Technik lag jenseits seiner Erwartungen.

„Mit Internetanschluss!“, verkündete Elfriede stolz.

Jetzt hatte Heiner endgültig genug von den Geburtstagsfaxen.

„Wozu brauchst du denn einen eigenen PC? Kannst doch meinen oben im Büro benutzen“, grummelte er ärgerlich. „Hättest du bloß nicht den Computerkurs bei den Landfrauen besucht ...“, fügte er noch kopfschüttelnd hinzu. „Warum bastelt ihr da nicht Strohsterne? So wie früher?!“

„Diese Zeiten sind lange vorbei, mein Sohn“, belehrte ihn Frau Hempel. Und setzte noch eins drauf: „Ich tauche jetzt ab ins WWW!“

„Schön, dann schick mir mal ’ne Ansichtskarte!“, fauchte Heiner und machte sich daran, die frischen Klamotten wieder auszuziehen. Der Stall rief. Mit oder ohne Frühstück.

Am nächsten Abend installierte Ernst, Heiners Kumpel, den PC in der „guten“ Wohnstube. Dieser Raum wurde nur an Ehrentagen und an hohen kirchlichen Feiertagen benutzt. Für den täglichen Gebrauch besaß Elfriede noch ein kleines Wohnzimmerchen mit Fernseher und Telefon. Ernie, wie Ernst allseits gerufen wurde, hatte noch einen Computertisch organisiert, an den Mama Hempel in ihrer Geburtstagseuphorie nicht gedacht hatte.

„Willst’n Bier?“, fragte Heiner, während Ernie sich mit dem Kabel abmühte.

„Klar!“, sagte dieser und grinste. Weshalb, erklärte er ihm später. „Weißt du was, Heiner“, sagte Ernie, als sie bei der dritten Flasche angelangt waren, und prostete seinem Kumpel zu. „All die Häkeldeckchen, Knetbäumchen und die selbst gestrickten Eierwärmer dort hinter der Glastür im Wohnzimmerschrank ...“ Ernst schüttelte erheitert den Kopf. „Der PC passt hier rein wie ein Banker in deinen Schweinestall!“ Die beiden prusteten vor Lachen.

„Gehen wir am Wochenende in die ‚Tenne‘? Heike und Carmen kommen auch mit!“ Ernie zog bedeutungsvoll die Augenbrauen hoch. Die „Tenne“ war eine Musikkneipe in der Stadt.

„Geht nicht. Helen kalbt voraussichtlich. Da muss ich hierbleiben.“

„Ja, ja, der Landwirt und sein liebes Vieh ...“, spöttelte Ernst ein wenig.

Aber Heiner zog nur die Schultern hoch und nahm noch einen kräftigen Schluck aus seiner Flasche.

Heiners Hof hatte die klassische U-Form mit einem stilvoll renovierten Fachwerkhaus vor Kopf. Sein Tag begann um sechs Uhr morgens, am Wochenende auch schon mal um sieben. Als Erstes versorgte er immer seine zweihundertfünfzig Mastschweine. Tür auf, Gummistiefel an, rechtsum, und es konnte losgehen. Noch schnell die Mistgabel von der Wand geklaubt, zweimal ausgeschritten und den Säuen einen guten Morgen gewünscht. Das Futter mischte er aus seinem selbst angebauten, gemahlenen Getreide plus zugekauften Mineralien und Sojaschrot als Eiweißquelle. Die Schweine hatten es gut bei Heiner, denn er streute ihnen täglich frisches Stroh in die Buchten. Den angefallenen Mist schob er dann mit der Gabel aus der Bucht heraus auf einen zentralen Mittelgang. Von dort erledigte die automatische Entmistung die Weiterbeförderung bis zum Misthaufen hinter dem Stall.

So war es auch heute. Nur, dass Mama gleich nach dem Frühstück im „Computerzimmer“ verschwunden war. Heiner mistete gerade die vorletzte Schweinebucht aus, als sie nach ihm rief.

Im nächsten Moment steckte sie ihren Kopf in die offene Stalltür. „Es hat geklappt!“, verkündete sie stolz.

„Was denn?“, fragte Heiner und ließ die Mistgabel sinken. Zwei Schweine in der Bucht hatten sich durch die unverhoffte Ruhestörung dermaßen erschreckt, dass sie sich zitternd in der hintersten Ecke des Stalles zusammendrängten.

„Ich habe meine erste Internetbestellung aufgegeben!“ Elfriede Hempel strahlte über das ganze Gesicht.

„Und was hast du bestellt?“, fragte Heiner, seinen drahtigen Körper auf der Mistgabel abstützend. Innerlich verdrehte er die Augen.

„Na – Pflanzen, was denn sonst? Beim Gartenversand Götschke. Für über dreihundert Euro“, antwortete seine Mutter ungeduldig.

Jetzt verdrehte Heiner die Augen wirklich und schob missbilligend seine Stallkappe zurecht. „Na, die Schweine werden sich freuen, wenn ihnen wieder Tausende Salatköpfe aus deiner grünen Hölle zum Fraß vorgeworfen werden.“

Die dicke Luft begann zu wabern, sodass auch die Schweine ihre Ringelschwänze einzogen.

„Na und? Schaden tut es denen bestimmt nicht!“ Eingeschnappt zog seine Mutter ab.

Nachdem die Schweine versorgt waren, widmete Heiner sich seinen Highlands, den braunen Hochlandrindern. Für deren Offenstall hatte er letztens den Maschinenschuppen geopfert. Dafür fühlte sich seine kleine Herde jetzt pudelwohl, zumal er einen Paddock als Auslaufmöglichkeit angebaut hatte. Neben dem eigentlichen Stall gab es noch einen kleineren zum Abkalben. Darin befand sich jetzt seine junge Kuh Helen, die in den nächsten Tagen ihr erstes Kalb bekommen würde. Sie schnaubte zur Begrüßung, als Heiner ihr einen guten Morgen wünschte. Er dachte kurz an seinen vor gut einem Jahr verstorbenen Vater, der diese „zotteligen Biester“ immer gehasst hatte. Hätte er den Vater in diesem Punkt noch umstimmen können? Die Frage war müßig. Horst Hempel hätte auch niemals Legehennen angeschafft. Die wohnten nun nicht weit weg von den Rindern. Sie wurden in Bodenhaltung mit einem großzügigen Stück Freigehege gehalten. Genau genommen waren es somit Freilandhühner. Das spielte aber keine Rolle, da er die Eier nicht entsprechend deklarieren musste. Binnen kürzester Zeit hatte Heiner einen festen Kundenstamm gefunden, der sich seinen jeweiligen Bedarf wöchentlich abholte. Alles lief prima. Heiner überlegte schon, seine Hühnerhaltung eventuell noch auszudehnen. Sein kleines Freigehege war durch einen hohen Zaun, der das Terrain auch von oben abschloss, festungsmäßig vor Füchsen, Mardern und anderen Räubern geschützt. Aber noch mehr Hühner konnte es kaum aufnehmen.

Heiner schaute hinüber zum Wohnhaus. Seine Mutter stand auf der Terrasse und blickte über den Gemüsegarten. Er hatte die Ausmaße eines Ackers. Am rechten Rand gab es ein riesiges Gewächshaus, das jedem Gartenbaubetrieb zur Ehre gereicht hätte.

Warum hat die Frau damals keinen Gärtner oder Plantagenbesitzer geheiratet?, fragte er sich und merkte, wie seine Wut langsam nachließ. Der Garten war für sie wirklich so eine Art Eldorado. Gut, dass seine Mutter mit ihren gerade achtundfünfzig Jahren noch so fit und munter war.

Heiner ging die paar Schritte zum Haus hinüber. Sein grauer Overall war schon arg abgewetzt, aber sein Rollkragenpullover hielt noch anständig warm. Und das konnte man gut gebrauchen an diesem kalten Märzmorgen. In Hör- und Sichtweite seiner Mutter blieb Heiner vor dem Zaun stehen. Der Garten war geradezu hermetisch abgeriegelt. Wen der hohe Maschendrahtzaun schon nicht abschreckte, der konnte doch die drei Elektrodrähte nicht übersehen. Weder Rind noch Huhn sollte hier eine Chance bekommen, das Heiligtum zu zertrampeln oder zu zerscharren.

„Ich habe etwas Interessantes für dich gefunden, Heiner!“, rief seine Mutter hinüber.

Was kann das jetzt sein?, grübelte Heiner kurz. Sicherlich ein Saatband vom Gärtner Götschke, das man auch für Großflächen anwenden konnte. Bestimmt bestellt sie mir eins mit Hafer, und ich schmeiß es dann in die Sämaschine, um es anschließend irgendwie auf den Acker zu kriegen ...

„Ich hab ’ne tolle Internetadresse für dich!“, löste seine Mutter das Rätsel. Sie schien begeistert. Heiner war das weniger. Immer der olle Computer.

„Toll!“, sagte er gespielt gleichgültig. „Da warten dann bestimmt schon jede Menge Verrückte auf mich.“

„Wie kommst du denn darauf? Das sind alles deinesgleichen“, antwortete seine Mutter verwundert. „Die Adresse ist www.landflirt.de. Ich habe sie dir hier mal auf einen Zettel geschrieben.“ Sie winkte mit einem Blättchen Papier, bevor sie im Haus verschwand.

Na, dann herzlichen Dank, dachte Heiner sarkastisch, sagte aber nichts mehr.

Der Boden war noch hart gefroren und gut befahrbar. Heiner beschloss, seinem Grünland eine Prise Dünger zu verpassen.

Elfriede Hempel befand sich indessen in der Küche. Das Hackfleisch, das sie heute Mittag für einen Nudelauflauf herausgelegt hatte, war schon aufgetaut. Aber es war noch zu früh zum Kochen. Auf dem Küchentisch stapelten sich die unterschiedlichsten Gartenbaufachbücher. Elfriede holte ihre Lesebrille, Stift und Zeichenblock hervor. Neben ihr lag schon aufgeschlagen das akribisch geführte Heft über die Fruchtfolge. Was hatte sie im vorigen Jahr noch mal neben den Tomaten gehabt? Sie überlegte, schaute prüfend in das Buch und nickte. Karotten, richtig! Die mussten diesmal woanders hin. Außerdem wollte sie nicht mehr so viele aussäen. Heiner hatte doch scherzhaft letzten Herbst behauptet, durch die ständige Vitamin-A-Zufuhr hätte sich seine Sehkraft auf fünfhundert Prozent erhöht und er könne nun durch Wände schauen. Das wäre ja an und für sich ganz schön, aber seine vorderen Schneidezähne würden sich permanent verlängern ... Außerdem hatte sich der alte Witzbold über seine langen Ohren und den zunehmend hoppelnden Gang beklagt. Elfriede musste schmunzeln – Heiner mit seinen rehbraunen Augen und dem staubtrockenen Humor!

Aber jetzt widmete sie sich wieder voll und ganz ihrer Gartenplanung. Heiner konnte von ihr aus so viel Dünger auf die Felder ausbringen, wie er wollte. Hier im Garten verwendete sie nur Kompost und Mist. Auch Pflanzenschutzmittel waren tabu. Was hatte sie deswegen schon für Kämpfe mit ihrem verstorbenen Mann ausgetragen! Horst Hempel war ein Verfechter der konventionellen Landwirtschaft gewesen. Er hatte nie verstanden, dass seine Frau noch nicht einmal eine Handvoll Kalkstickstoff auf ihrem Gartenland zuließ, obwohl dieser doch nachgewiesenermaßen gut düngte und den Unkrautbefall minderte. Doch seit Elfriede einst das Buch „Gärtnern ohne Gift“ gelesen hatte, ließ sie sich nicht mehr beirren und verfolgte konsequent ihre Richtung.

Sie hörte ein Motorengeräusch auf dem Hof. Als sie aufstand, um aus dem Fenster zu blicken, erkannte sie das gelbe Postauto. Elfriede verließ ihre Gartengestaltung einen Moment, um die Post hereinzuholen. Ein großer Umschlag der Krankenkasse war dabei – an Elfriede Hempel adressiert. Sie öffnete ihn hastig und überflog das Schreiben. Die Kur war genehmigt! Ein Lächeln huschte über ihr pausbäckiges Gesicht. Das würde das erste große Abenteuer seit Jahren werden. Die Landwirtschaft war immer vorgegangen. Vor allem, als Horst noch gelebt hatte. Nicht mal eine Hochzeitsreise war damals drin gewesen. Denn das Vieh versorgte sich nicht von allein. Elfriede strich gedankenverloren über das Papier. Jetzt würde sie alles nachholen, schwor sie sich. Wann war noch mal der Termin? Ihre Augen durchforschten jede Zeile. Sie hatte sich nicht getäuscht. Am 30. April sollte sie anreisen.

„Niemals!“, entfuhr es Elfriede und sie ließ den Brief sinken. „Da bin ich doch mitten in der Aussaat!“

Ihre Gedanken überschlugen sich. Wenn das Frühjahr besonders trocken sein würde, könnte sie eventuell noch vorher alles in die Erde kriegen. Aber wer würde dann gießen, düngen und Unkraut jäten? Niemandem wollte sie ihren kleinen „Nationalpark“ anvertrauen, niemandem! Das war unmöglich! Sie beschloss, bei der Krankenkasse wegen eines anderen Termins nachzufragen. Das dürfte allerdings schwierig werden, grübelte sie besorgt, da sie schon zwei Termine verworfen hatte …

„Ich hör’ wohl nicht richtig, Mama? Du willst schon wieder absagen?“, schnaubte Heiner, und der köstliche Nudelauflauf blieb ihm beinahe im Halse stecken.

„Nicht absagen, Heiner – verschieben“, sagte Elfriede bestimmt und fuhr energisch mit den Fingern durch die blondierten Haare ihres modischen Kurzhaarschnittes.

Heiner legte demonstrativ Messer und Gabel zur Seite und verschränkte die Arme vor der Brust. Sein bunt kariertes Flanellhemd war am rechten Ärmel total zerfetzt.

„Was hast’n da gemacht?“, fragte seine Mutter, der dies gerade ins Auge gefallen war.

„Jetzt lenk nicht ab, Mama. Du kannst nicht absagen! Die Krankenkasse weist dich in die Psychiatrie ein mit Verdacht auf notorische Terminverschiebesucht. Das kannst du dann nicht mehr verschieben! Außerdem ist diese Krankheit unheilbar, glaube ich.“ Heiner verzog keine Miene, obwohl er sauer war. Elfriede zupfte an ihrem hellblauen Sweatshirt herum. Sie schaute an sich herunter und entdeckte ein paar Pfund Übergewicht, die überall verteilt waren und ihr eigentlich gut standen, wie sie fand.

„Ich würde ja gerne zur Kur fahren. Und auch ein bisschen abnehmen. Aber ich kann meinen Garten nicht allein lassen!“

„Er wird niemals alleine sein“, verkündete Heiner mit heroischer Geste. „Denn ich, Heiner Hempel, werde ihn persönlich beschützen!“

Elfriede musste lachen.

„Heiner, du Spaßvogel, wie willst du das denn machen?“

„Holde Mutter, mit Leib und Leben werde ich diese deine Ländereien gegen alle Widersacher und Unbilden der Natur verteidigen. Bis zum letzten Blutstropfen, wenn’s sein muss. So wahr mir Gott helfe!“ Heiner hob die rechte Hand zum Schwur.

„Heiner …!“ Elfriedes blaue Augen blickten ihn irritiert an.

„Schon gut. Aber bitte sag diesen Termin nicht ab!“, flehte Heiner.

Elfriede grinste. „Kannst du mir das mit der holden Mutter und dem Leib und Leben schriftlich geben?“

Jetzt musste auch Heiner lachen. „Ich bin doch nur ein armer Bauersmann und des Lesens und Schreibens nicht kundig.“

Dann wurde er plötzlich ernst. „Du fährst dahin. Und wenn ich dich persönlich dort abliefern muss“, entschied er mit einer solchen Entschlossenheit, dass Elfriede ihm ausnahmsweise einmal nicht zu widersprechen wagte. Vielleicht kommt er doch nach mir, dachte sie und fügte sich.

Je näher der Kurtermin rückte, umso unruhiger wurde Elfriede. Hätte sie sich nur nicht von Heiner bequatschen lassen! Das Wetter war schlecht. Typisch April. Und der machte in diesem Jahr wirklich, was er wollte. An Aussaat war nicht zu denken. Der Boden triefte vor Nässe. Während vom Wind gepeitschte Regentropfen aggressiv gegen die Fensterscheiben schlugen, ging Elfriede unruhig in der Küche auf und ab. Heiner saß in seinem kleinen Büro an der Buchführung. Seine Mutter klopfte an, bevor sie eintrat.

„Heiner“, sagte sie sorgenvoll. „Wenn du damit fertig bist, müssen wir unbedingt noch einmal über die Gartenplanung reden – bitte!“

Heiner hätte am liebsten laut gestöhnt, aber er riss sich zusammen. Computer und Biodünger konnten ihn wirklich zur Weißglut bringen. Als ob es nichts Wichtigeres im Leben gäbe! Er schaffte das tägliche Arbeitspensum auf dem Hof nur mit Mühe. Wie sollte er da noch den Garten betüddeln? Wenn er das Wort Garten auch nur hörte, krampften sich seine Eingeweide zusammen. Als seine Mutter wieder gegangen war, überlegte er, was wohl wäre, wenn er in ihrer Abwesenheit das „heilige“ Gartenland mit Rasen einsäen würde. Er könnte es dann an einen Fußballverein vermieten. Oder einen Golfplatz anlegen. Vielleicht auch eine Reithalle bauen oder einen Fischteich ausheben. Er seufzte. Ja, ja, es gab so viele schöne Möglichkeiten, sich der Gartenarbeit zu entledigen. Aber er wollte seine Mutter nicht umbringen. Denn genau das würde passieren, wenn ihrem Heiligtum auch nur ein Haar gekrümmt würde, da war Heiner sich sicher. Seiner Mutter gegenüber mimte er den Coolen, der die Sache super im Griff hat. Dabei grübelte er oft bis tief in die Nacht darüber nach.

Eines Nachts war es dann so weit – Heiner konnte nicht einschlafen. Er konnte einfach nicht, obwohl er todmüde war. In seinem hellblauen Schlafanzug mit Gummibündchen tapste er durchs Haus, hinunter in die Küche. Er versuchte sein Glück am Kühlschrank. Pech gehabt – der Kirschjoghurt war alle! Von einer inneren Unruhe getrieben, ging er gedankenlos in die gute Wohnstube, in der Elfriede den Computer angesiedelt hatte. Er benutzte diesen Raum eigentlich nie, denn er bewohnte sein eigenes Reich in der oberen Etage.

Er konnte später gar nicht mehr sagen, was ihn eigentlich geritten hatte. Aber in dieser Nacht warf er den Computer an und ging ins Internet. Oft genug hatte seine Mutter es ihm ja nahegelegt und angepriesen. Dank Kumpel Ernie wusste er ohnehin Bescheid. Manchmal computerten die beiden bei Ernst zu Hause.

Heiner ließ die Suchmaschinen schnurren. Über Gartenbau gab es ungeheuer viel. Er schaute sich verschiedene Seiten über ökologischen Gartenbau an, bevor er weitersurfte. Schließlich landete er bei der Jobbörse einer Arbeitsvermittlung. Einigermaßen beruhigt schaltete er den Rechner wieder aus. In der allergrößten Not würde er sich über die Job-Agentur professionelle Aushilfskräfte für die Gartenarbeit besorgen – koste es, was es wolle!

Mütter …!

Diese Frau war wirklich unglaublich. Fünf Tage vor Kurbeginn war die Erde so weit abgetrocknet, dass gefräst werden konnte – was natürlich Heiners Aufgabe war. Die Sonnenstrahlen knallten einem wie Stacheln auf die Haut. Heiner tropften die Schweißperlen von der Stirn. Jede Richtungsänderung der Gartenfräse, die sich tief durch die Erde wühlte, kostete enorm viel Kraft und Anstrengung. Sein blaues T-Shirt war über seinem breiten, muskulösen Rücken total durchgeschwitzt.

Mit den Worten „Ich schaff das nicht allein“ drückte Elfriede ihrem ausgepowerten Sohn mir nichts, dir nichts Rechen, Saat-schnur, Reihenzieher und Samentütchen in die Hand, als er gerade den laut tuckernden Motor der Gartenfräse abstellte. Heiner wollte zuerst protestieren und eine Auszeit verlangen. Aber dann sah er Elfriedes zu allem entschlossenen Blick. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn und zog mit den Gartengeräten ab. Um siebzehn Uhr warf Heiner den Reihenzieher zur Seite. Was nicht ging, ging nicht! Er musste sein Vieh versorgen. Auch Elfriede legte eine Pause ein. Beim gemeinsamen Abendessen rutschte sie unruhig auf dem hölzernen Küchenstuhl hin und her. Heiner schlief schon fast.

„Horst hatte doch diesen alten Generator oder wie das heißt, mit dem man Strom erzeugen kann ...“

Der Satz traf ihren Sohn wie ein Blitz und er war schlagartig hellwach. Seine mittlerweile lang gewachsenen Haare glichen denen eines Heavy-Metal-Gitarristen. „Ich muss dringend zum Frisör“, murmelte er, als er mit der Hand hindurchfuhr. „Ich hab mich doch jetzt verhört, Mama, oder?“

Elfriede schüttelte streng den Kopf.

„Wir schaffen’s nicht mehr, Heiner!“

„Ich kann nicht mehr, Mama! Gleich sackt mein Kopf auf die Tischplatte und ich schlafe hundert Jahre.“

„Heiner, bitte!“, flehte Elfriede und baute sich in voller Größe vor ihrem Sohn auf.

„Ich mach die Aussaat alleine zu Ende, wenn du in der Kur bist“, bot er an, obwohl er wusste, dass er damit nicht durchkam.

„Nein“, wehrte Elfriede entschieden ab.

Eine Stunde später knatterte ein Stromaggregat mit einem Höllenlärm auf der Terrasse. Der angeschlossene Scheinwerfer warf eine flutlichtähnliche Helligkeit auf den Garten. Hätten sie keinen abseits vom Dorf gelegenen Hof gehabt, wäre diese Aktion ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Heiner kam sich vor, als würde er etwas Verbotenes tun. Mindestens eine Leiche vergraben. Oder gärtnern nach dem Mond. Es gab ja Mondkonstellationen, die für die Aussaat günstig sein sollten ... Elfriede und Heiner ackerten noch zwei Stunden, bevor die Nachtfeuchtigkeit ihrem Treiben endlich ein Ende setzte.

Als Heiner seine Mutter zum Bahnhof fuhr, war er kurz vor dem Zusammenklappen. Am Erholungsbedürfnis von Elfriede Hempel konnten ebenfalls kaum Zweifel aufkommen, so ausgemergelt, wie sie da aus dem Auto kroch. Sie musste dringend wieder aufgepäppelt werden.

Mit letzter Kraft wuchtete Heiner ihren Koffer zuerst aus dem Kofferraum, dann durch den kleinen Bahnhof, über den Bahnsteig bis in den bereits eingefahrenen Zug hinein. Er schaffte es gerade noch, ihr zum Abschied zuzuwinken.

Egal – jedenfalls war der Garten jetzt komplett eingesät. Und die arme Seele hatte ihre Ruhe. Mütter …!, dachte Heiner nur, als er dem abfahrenen Zug hinterherschaute.

Am nächsten Morgen fühlte sich der Jungbauer aber gar nicht mehr müde und kaputt, nur mächtig nervös. Entgegen seiner Gewohnheit duschte er noch vor dem Frühstück. Natürlich nicht ohne Grund. Um zehn Uhr wollte Nina Petrik zu ihm kommen. Nina arbeitete als ländliche Hauswirtschafterin und war ihm von der Berufsgenossenschaft als Vertretung für seine in der Kur befindliche Mutter zugeteilt worden. Ansonsten wusste er nichts über sie. Nur ihren Namen und dass sie „jung“ war. So hatte es der Herr von der Berufsgenossenschaft am Telefon formuliert.

Heiner hatte in dieser Nacht unruhig geschlafen. Vor seinem geistigen Auge stellte er sich Nina Petrik vor. Ihr Name klang bereits frisch, dynamisch und als ob sie gut aussähe. Vielleicht lernte er ja heute seine zukünftige Frau kennen? Er ärgerte sich, dass er keine Zeit gefunden hatte, vorher noch einen Frisör aufzusuchen. Nach dem Duschen fiel ihm nichts Besseres ein, als seine Haare mit einem Gummiband zu einem Minipferdeschwanz zusammenzuziehen. Das tat er sehr selten und ungern, weil er dabei an vegetarische Hyperökologen in selbst gestrickten Schafwollpullis denken musste. Mit denen hatte er nichts am Hut. Heiner sprang in seine fast neuen Jeans und warf sich gerade das blau-braune Sweatshirt über den Kopf, als es an der Tür läutete. Er atmete noch einmal tief durch, bevor er die Treppe hinunterhastete und öffnete.

„Guten Morgen! Ich bin Nina Petrik. Darf ich reinkommen?“

Heiner fiel augenblicklich die Kinnlade herunter. Nur langsam klappte sein Mund wieder zu. Er konnte seine Enttäuschung kaum verbergen. Das fiel auch Nina Petrik auf. Kein Wunder, dass sie nicht besonders freundlich auf seinen Gesichtsausdruck reagierte. Nicht besonders freundlich war sogar noch untertrieben. Heiner musste sie an ihrer empfindlichsten Stelle erwischt haben.

„Was ist? Haben Sie Julia Roberts erwartet?!“, fuhr Nina den noch immer wie angewurzelt dastehenden Heiner an. Er brachte kaum ein Wort heraus. Sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen! Eigentlich hatte er tatsächlich Julia Roberts erwartet. Und eine Begegnung der besonderen Art. Einen Donnerschlag! Na ja, wenigstens etwas, das man später seinen Enkelkindern erzählen konnte. Wie dumm von ihm! Ob er aus dieser Situation jemals mit Würde wieder herauskäme? Der Anfang ihrer Bekanntschaft war jedenfalls ziemlich danebengegangen.

„Nein ...“, log er unsicher. „Kommen Sie rein!“

Irgendwie konnte er heute nicht aus seiner Haut. Er hatte das so freundlich gesagt, als stände ein lästiger Versicherungsvertreter vor der Tür.

„Ich überlege gerade, ob ich nicht vielleicht lieber wieder gehen sollte“, sagte Nina Petrik und schaute ihm dabei fest in die Augen.

„Entschuldigung“, murmelte Heiner, der jetzt völlig durcheinander war. „Bleiben Sie bitte!“

Was blieb ihm auch anderes übrig, als sie zum Bleiben aufzufordern? Julia Roberts war ja nirgendwo in Sicht. Die junge Frau vor ihm war klein und untersetzt. Dazu trug sie etwa fünfzehn Kilo Übergewicht mit sich herum und hatte die Aura von Mutter Beimer. Vielleicht könnte er die Angelegenheit mit fester Nahrung in Ordnung bringen, überlegte Heiner. Das Frühstück war schon vorbereitet. Ähnlich wie beim Geburtstag seiner Mutter neulich war der Tisch hübsch gedeckt. Nur hatte er davon Abstand genommen, das Unkraut-Service hinzustellen. Die weißen Alltagsteller und -tassen gefielen ihm viel besser. Wie gut, dass er auch noch Hefezopf und Nutella gekauft hatte. Diese Nina sah so aus, als ob sie lieber Schokolade als einen Mann wollte …

Die Sterne schienen gut zu stehen, denn die kleine Rundliche machte tatsächlich Anstalten zu bleiben. Sie trat beherzt in den Flur, schälte sich aus ihrer Jacke und streckte sie dem Hausherrn hin. Heiner hängte sie an die Flurgarderobe, bevor beide am Frühstückstisch Platz nahmen. Eine Unterhaltung kam nur sehr zögerlich und schleppend in Gang. Man beschränkte sich auf das Wesentliche. Nina machte es Heiner nicht gerade einfach. Und Heiner bekam prompt ein so schlechtes Gewissen, dass es ihm den Appetit verschlug. Ihr schien es aber auch nicht besser zu gehen. Als sie sich daran machten, den Tisch abzuräumen, hatte Heiner nur ein einziges Marmeladenbrötchen gegessen, Nina gar nur ein halbes. Er zeigte ihr wortlos ihr Zimmer und verabschiedete sich dann dezent. Und er wusste wieso. Es handelte sich um einen leer stehenden Raum in Heiners Wohnung im Obergeschoss, den er einigermaßen hübsch hergerichtet hatte. Warum hatte er nur den Vorschlag seiner Mutter, die Hauswirtschafterin doch im Untergeschoss schlafen zu lassen, ignoriert? Zu spät! Heute war wirklich nicht sein Tag, das fühlte er.

Um nicht in das nächste Fettnäpfchen zu stolpern, bemühte sich Heiner, überfreundlich zu Nina zu sein. Denn während der Abwesenheit seiner Mutter würde er unmöglich auch noch den Haushalt führen können. Überhaupt war er auf diesem Gebiet nicht gerade ein Held. Außerdem war sowieso alles seine Schuld, fand Heiner nach reiflicher Überlegung. Wie konnte er nur so naiv sein und von einer Beziehung träumen, wo ihm doch lediglich eine Haushaltshilfe zugeteilt worden war? Nicht mehr und nicht weniger. Plötzlich schämte er sich fürchterlich. Auf keinen Fall wollte er Nina Petrik nochmals bloßstellen, komme was da wolle. Was konnte sie dafür, wenn er zu viele Hollywood-Filme gesehen hatte?

Kompost und Hühnermist

Zu allem Übel kochte Nina Bohnensuppe zu Mittag. Die hasste Heiner wie die Pest. Nina merkte, wie er in seinem Essen herumstocherte.

„Dir schmeckt’s nicht, stimmt’s?“ Sie ließ ihr Besteck sinken und schaute fragend zu ihm rüber. Bereits heute Morgen hatte er ihr das Du angeboten, um die Wogen wieder zu glätten. Sie hatte auch gleich eingewilligt.

Heiner seufzte tief, bevor er ihr in die blauen Augen schaute, die hinter großen, unmodernen Brillengläsern verschanzt lagen. Dann schweifte sein Blick durch die kleine Küche bis hinauf zur Decke. Und schließlich sagte er es.

„Ich mag einfach keine Bohnensuppe! Tut mir leid, Nina!“

Sie trug es mit Fassung. Jedenfalls spielte sie nicht die beleidigte Leberwurst wie heute Morgen. Im Gegenteil, Nina gab sich wirklich Mühe.

„Soll ich vielleicht dein Hemd nähen?“, fragte sie, als ihr Blick an dem herunterhängenden Ärmel kleben blieb. Heiner war erleichtert. Alles würde gut. Der Haushalt war gerettet.

„Ja, gerne“, grinste er und steckte Nina mit seiner Erleichterung an. Sie verzog die Mundwinkel auch. Mit Anstrengung zwar, aber immerhin.

„Bitte mach mir eine Liste mit den Sachen, die du nicht isst“, sagte sie, um der Essensdiskussion ein Ende zu bereiten. Aber Heiner schüttelte abwehrend den Kopf.

„Nicht nötig. Würde nur Bohnensuppe draufstehen.“

Nina nickte und das Gespräch war erst einmal beendet. Vielleicht könnte man sich aneinander gewöhnen, dachte Heiner, als er sich wieder an die Arbeit machte. Wenn sie nur nicht so grauslich aussähe ...

Als Heiner später auf dem Weg zu seinem Traktor war, dachte er darüber nach, wann es wohl an der Zeit wäre, Nina auf ihre nicht mehr ganz zeitgemäße Dauerwellen-Frisur und das altertümliche Brillengestell anzusprechen. Er verwarf den Gedanken aber schnell wieder. Schließlich glich sein eigenes Haar auch dem von Bon Jovi in seinen wildesten Zeiten. Und Nina schien Bemerkungen über ihr Äußeres gar nicht zu schätzen. Also konnte er auch zu ihrer Heidi-Kabel-Haartracht den Mund halten, heute jedenfalls.

„Gehört zu deinem Aufgabengebiet eigentlich auch Gartenarbeit?“, fragte Heiner Nina am nächsten Morgen. Sie wiegte bedachtsam den Kopf, ehe sie antwortete: „Ja, schon, wenn noch Zeit übrig ist. Je nach Größe des Haushalts. Ein Vier-Personen-Haushalt braucht ja wesentlich mehr Zeit als ein kinderloser Ein-Personen-Haushalt wie bei dir.“

Na, wunderbar, dachte Heiner begeistert. Nun musste sie nur noch anspringen.

„Unseren Garten hinterm Haus habe ich dir ja schon gezeigt“, begann er zögerlich. „Vielleicht könntest du ...“

Aber sie fiel ihm schon ins Wort. „Heißt das etwa, dieser Garten ist nicht verpachtet? Den bearbeitet deine Mutter ganz allein? Und das Riesengewächshaus auch? Das gibt’s doch gar nicht!“ Völlig entgeistert blickte Nina ihn an. Heidi Kabel hätte die Szene nicht besser spielen können.

„Doch!“ Heiner verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich helfe natürlich auch ein wenig mit“, übertrieb er maßlos, denn neunundneunzig Prozent der Arbeit lastete ja auf den Schultern von Elfriede Hempel.

Nina pfiff gedankenvoll.

„Daher also diese riesige Gefriertruhe mit den Gemüsevorräten für ein ganzes Regiment.“

„Vielleicht mache ich mal irgendwann ein vegetarisches Restaurant auf“, witzelte Heiner, wurde aber gleich wieder geschäftsmäßig. „Nee, mal im Ernst – kennst du dich aus mit Gartenarbeit?“

„Ja, kein Problem.“

Ihm fiel ein Stein vom Herzen.

Sein Hemd war frisch gewaschen und genäht. Heiner betrachtete den sorgsam geflickten Ärmel, als er zu den Highlands hinüberschlenderte. Dort erwartete ihn schon die nächste Überraschung. Im Abkalbestall entdeckte er die Kuh Betty neben ihrem frisch geborenen braunen Kälbchen. Es versuchte gerade aufzustehen. Heiner schmunzelte. Nach den ersten beiden unbeholfenen Versuchen kam das Kleine schließlich auf die Beine. Es muhte kläglich, und Betty stupste es sanft mit der Nase an.

„Gut gemacht!“, lobte Heiner und streute den beiden frisches Stroh ein. Betty leckte ihm über die Hand. Jetzt hatten es also seine beiden Jungkühe geschafft, ganz allein ihr Kälbchen auf die Welt zu bringen. Seine jüngste Kuh Helen war bereits vor zwei Wochen Mutter von Klein-Johnny geworden. Das karamelbraune, samtweiche Bullenkälbchen war bisher der Liebling von Heiners Eierkundschaft. Mal sehen, ob ihm Bettys Kalb in Kürze den Rang ablaufen würde. Er würde es Stella nennen, beschloss Heiner, hatte aber nicht länger Zeit zum Verweilen.

Er wollte sein Grünland abschleppen und dabei die Maulwurfshügel platt machen. Dazu hatte Heiner ein Gerät aus einer alten Egge und ausgedienten Schlepperreifen zusammengebaut. Es stand unter dem Vordach hinter dem Schweinestall. Zuerst mussten der Kartoffelroder und der uralte, total verrostete Einscharpflug weggeräumt werden, bevor er an die selbst gebaute Wiesenschleppe herankam.

Heiner hängte sie an den kleinen 60-PS-Schlepper und düste ab. Bei der Aktion riss er allerdings sein frisch genähtes Hemd wieder kaputt, diesmal am anderen Ärmel. Außerdem büßte er auch noch den Knopf ein. Mist, dachte der Jungbauer und krempelte den Ärmel um. Gegen die großen Öl- und Rostflecken, die es noch als Zugabe auf der Brust gegeben hatte, war er im Moment leider machtlos. Arme Nina. Aber immerhin war er ja nur ein Ein-Personen-Haushalt. Da konnte er wenigstens Dreck für zwei produzieren.

Nach dem Wiesenschleppen holte er sein Körnergebläse aus dem Geräteschuppen, stellte es unter das Getreidesilo und baute die dazugehörigen Rohre an. Im Lagerraum oberhalb der Schrotmühle fehlte es an Weizen.

Heiner bereitete das Schrot aus verschiedenen Getreidesorten. Die Lagerkapazität oberhalb der Schrotmühle war allerdings gering, sodass alle paar Wochen Getreide umgeblasen werden musste. Das Körnergebläse machte dabei einen Höllenlärm, an den man sich aber schnell gewöhnte.

„Soll das Gemüse im Garten auch gedüngt werden?“, fragte Nina beim Mittagessen. Sie trug eine weiße Kittelschürze mit Rüschenträgern.

„Ist das ein Erbstück?“, fragte Heiner mit geschocktem Blick auf das blütenweiße Schmuckstück. Er hatte sein zerrissenes Hemd möglichst unauffällig in den Wäschekorb gesteckt und sich ein graues Sweatshirt übergezogen.

„Wie lange willst du denn noch das Geld für den Frisör sparen?“, konterte sie.

Heiner ließ sich nicht anmerken, ob ihn der Gegenangriff getroffen hatte.

„Mit dieser Schürze hast du gute Chancen bei der Kaffeewerbung. Du weißt schon, da, wo die adretten, millimetergenau gescheitelten Damen die Kaffeebohnen mit altertümlichen Waagen abwiegen ...“

Nina verzog keine Miene. Sie aß seelenruhig weiter. Doch dann siegte der Ärger über ihre Beherrschung.

„Sag doch gleich, dass du keine Kartoffelpuffer magst“, giftete sie und knallte ihre Gabel auf den Tisch. Nun hatte Heiner Gewissheit. Wenn es um ihr Äußeres ging, verstand Nina keinen Spaß. Am besten ignorierte er ihren Groll, wenn er nicht einen Riesenstreit vom Zaun brechen wollte. Er nahm sich demonstrativ noch drei Kartoffelpuffer und einen halben Zentner Apfelkompott dazu.

„Wenn ich was zu deinem Outfit sage, heißt das nicht, dass dein Essen schlecht ist, okay? Ich wollte nur mal vorfühlen, wie lange dein Heidi-Kabel-Trip noch dauert. Ich möchte dir wirklich nicht zu nahe treten, Nina. Du kochst nämlich super!“ Heiner lächelte freundschaftlich. Und als Nina nicht auch noch mit dem Messer warf, wurde er wieder mutig und wagte einen neuen Vorstoß.

„Was findest du nur an dieser albernen Schürze?“, fragte er so unschuldig wie möglich.

Nina ließ das Besteck sinken und blickte betreten auf ihren leeren Teller.

„Ja, glaubst du, ich könnte die neueste Mode tragen mit meiner Pummelfigur?“ Aha, da lag also der Hase im Pfeffer.

„Keine Ahnung, wie die neueste Schürzenmode so aussieht ...“, meinte Heiner nur, um sie nicht noch weiter zu bedrängen. Dann kam ihm eine Idee.

„Aber wir könnten mal zusammen zum Frisör gehen, was meinst du?“

„Keine schlechte Idee, Heiner. Du hast es allerdings nötiger, finde ich.“ Nina schaute ihn durchdringend an.

Und du erst, dachte Heiner, sagte aber nichts mehr. Für heute war’s genug.

„Machst du dann einen Termin für uns aus?“, fragte er abschließend.

„Okay.“ Nina nickte.

„Was wolltest du noch mal zum Garten wissen, Nina?“

„Ob ich den düngen soll! Und wenn ja, womit?“

„Mach es, wie du denkst, aber auf keinen Fall mit Kunstdünger. Neben dem Gewächshaus ist der Komposthaufen. Und den Misthaufen kennst du ja auch. Nimm, so viel du willst, Hauptsache, alle Pflanzen überleben.“

Nina war skeptisch.

„Ich weiß nicht, wie viel ich nehmen muss. Können wir das nicht mal zusammen machen?“

Heiner tat so, als würde er überlegen.

„Wir machen es sofort, nachdem du beim Frisör angerufen hast.“

Als der Termin feststand, gingen sie hinaus auf das „heilige“ Gartenland.

„Moment“, murmelte Heiner, „ich muss erst die Bücher holen!“

„Welche Bücher?“ Nina hatte die weiße Rüschenschürze mit einer grünen à la Gärtner Götschke getauscht. Dazu trug sie brandneue, grün karierte Gartenhandschuhe. Selbst als sie sich bückte, um einen Löwenzahn auszurupfen, löste sich nicht eine einzige kleine Haarsträhne aus ihrer Drei-Wetter-Taft-Dauerwelle.

Heiner seufzte.

„Also, ehrlich gesagt, mein Teil der Gartenarbeit besteht eigentlich nur aus Fräsen und gelegentlichem Beetbegradigen, Abrechen und Saatfurchenziehen. Wenn ich mal ganz lieb bin, lässt meine Mama mich auch mal was aussäen. Aber nur mit dem Saatband. Das ist idiotensicher.“

Nina stemmte die behandschuhten Hände in die grün beschürzten, üppigen Hüften.

„Na, bravo! Dann schau doch mal in die schlauen Gartenbücher deiner besorgten Mama hinein!“

Heiner ließ sich auf den Plastikliegestuhl auf der Terrasse fallen. Mit Stoffauflage wäre das Sitzen zwar bequemer gewesen, aber die Dinger lagen noch irgendwo in Elfriedes Abstellkämmerchen. Da die Sonne jetzt am frühen Nachmittag bereits äußerst kraftvoll auf die Terrasse brannte, zog Heiner sein Sweatshirt aus. Dann schob er sich den alten, leicht verzogenen Plastiktisch heran, um die Bücher darauf abzulegen. Das weiße Feinripp-Unterhemd und die leichte, helle Leinenarbeitshose ließen ihn schon einen Hauch von Sommer fühlen. Wohlig gähnend streckte er seine muskulösen Arme der Sonne entgegen.

Nina schaute brüskiert zur Seite. Dicke Tropfen liefen ihr Gesicht herunter. Heiner blieb es nicht verborgen. Oh nein, das Haarspray schmilzt, dachte er und verbarg sein schmunzelndes Gesicht hinter einem der drei Bücher mit den Gartenaufzeichnungen.

„Ich muss noch ein bisschen blättern, glaube ich. Vielleicht willst du dich auch des einen oder anderen Kleidungsstückes entledigen?“ Er schaute sie aufmunternd an.

„Nö“, kam die trotzige Antwort. Zu allem anderen war Nina auch noch verklemmt. Na toll, dachte Heiner. Etwa eine Viertelstunde später fand er die richtige Stelle.

„Hier steht was“, rief er stolz und sprang auf. „Düngung nach Bedarf Doppelpunkt Kompost Schrägstrich Hühnermist – oh Mann, das darf doch nicht wahr sein!“ Stöhnend klappte Heiner das Buch zu. Nina hatte derweil ihren riesigen Strohhut aufgesetzt und wanderte durch die Beete. Sie war gerade hinten am Gewächshaus angelangt. Von hier konnte sie Heiners Stimme nicht mehr hören.

„Frau Götschke!“, rief Heiner ihr zu. Als sie nicht reagierte, winkte er ihr mit beiden Händen zu und bedeutete ihr, zu ihm zu kommen. Völlig verschwitzt und mit hochrotem Kopf machte Nina kehrt und trottete auf ihn zu. Der Wollanteil ihres Pullis war entschieden zu hoch für diesen warmen Tag.

„Im Gewächshaus wimmelt es ja nur so von Tomaten“, stellte sie fest.

„Killertomaten! Sei bloß vorsichtig. Die ganz hinten sind besonders gefräßig!“ Heiner grinste.

„Also, was ist mit der Düngung?“, wechselte Nina das Thema. Zum Scherzen war sie bei dieser Hitze wohl nicht aufgelegt.

„Nach Bedarf, also falls Bedarf – dann Kompost und Hühnermist!“

„Na prima, Sherlock Holmes. Da wäre ich nie drauf gekommen.“

„Keine Ursache“, winkte Heiner ab.

Wahrscheinlich würde Nina erst bei vierzig Grad im Schatten ihre Ärmel zehn Zentimeter hochkrempeln, überlegte er. Nina qualmte fast, als sie sich vor ihm aufbaute.

„Ich glaube, du gehst jetzt zurück zu deinem Ackerbau plus Viehzucht und erteilst mir die Gartenvollmacht, okay?“

„Erteilt!“, freute sich Heiner und erhob sich aus dem Liegesessel. „Und ich entbinde mich selbst jeglicher Rechte und Pflichten an diesem Gemüse-Eldorado. Mögest du den Garten Eden in Ehren halten!“ Er empfahl sich und verschwand in Richtung Schweinestall.

Trotz der Anlaufschwierigkeiten ließ sich die Sache mit Nina ganz gut an, fand Heiner.

Etwa eine Woche nach ihrer Ankunft zauberte Nina ein auf der Zunge zergehendes Cordon bleu auf den Tisch, das Restau-rantqualität besaß. Dazu gab es Pommes und einen herrlichen italienischen Salat. Heiner platzte fast, so viel hatte er verdrückt.

„Fantastisch“, grummelte er zufrieden und legte die Hände auf seinen Bauch.

„Wie fandest du den Salat?“, wollte Nina wissen.

„Fantastisch“, nickte Heiner erneut.

„Hat dir nichts ausgemacht, dass zusätzlich Radieschen drin waren, oder?“ Nina fragte ganz vorsichtig.

„Keineswegs“, kam die Antwort ihres vollgegessenen, leicht müde werdenden Gegenübers.

„Es gibt da etwas, was ich dir sagen muss“, druckste Nina herum. Seit neulich hatte sie nie wieder die weiße Rüschenschürze umgebunden. Heute trug sie ein weites, orangefarbenes T-Shirt in XXL. Es passte eigentlich ganz gut. Nur wenn sie aufstand, bemerkte man die beachtliche Länge des Kleidungsstücks. Wegen Ninas bescheidener Körpergröße von knapp einem Meter fünfundfünfzig hing das Shirt an ihr wie ein Nachthemd. Als sie die Teller abräumte, waren ihr die erheiterten Blicke von Heiner nicht entgangen. An ihrer Empfindlichkeit in Kleiderfragen hatte sich allerdings noch nichts geändert.

„Sag nichts!“, giftete sie. „In meiner Größe etwas wirklich Passendes zu finden, grenzt an ein Wunder!“

„Dein Haarschnitt sieht aber super aus“, lenkte Heiner geschickt ab.

„Deiner ist auch nicht übel. Da muss dich jemand ganz toll beraten haben.“

„Stimmt“, pflichtete Heiner bei. „Aber du bist eben vom Thema abgekommen ...“

„Es geht um den Salat“, fing Nina von Neuem an und fuhr sich mit einer Hand über ihren Kurzhaarschnitt. Letzten Freitag, kurz bevor sie zum Frisör gefahren waren, hatten sie beschlossen, dass jeder den Haarschnitt für den anderen bestimmen durfte. Heiner hatte es heiß und kalt überlaufen, als er den Handel annahm. Er sah sich in Gedanken schon als maskuline Heidi Kabel den Salon verlassen und überlegte fieberhaft, wo sein Vater diese alte, lederne Motorradkappe immer aufbewahrt hatte. Auch Nina hatte beim Betreten des Frisörsalons reichlich nervös gewirkt. Eine felsenfest sitzende Dauerwelle war immerhin besser als überhaupt keine Haare auf dem Kopf! Wer konnte schon ahnen, was Heiner sich für eine Gemeinheit für sie ausdenken würde! Zum Glück war er darauf gar nicht aus gewesen, im Gegenteil. Nach viertelstündigem Rumgucken und Blättern fand Heiner die Frisur für Nina auf Seite vier des „Bella“-Kataloges. Klassischer Bob mit aufgehellten Strähnchen. Nina war anfangs nicht so begeistert, nickte aber schicksalsergeben. Als die ersten Dauerwellen fielen, blätterte sie bereits in der Herrenausgabe von „Frisur aktuell“. Lange Haare schienen bei Männern megaout zu sein. Andererseits wollte sie Heiners wallendes braunes Haar nicht auf Streichholzlänge gekürzt sehen. Nina entschied sich für einen traditionellen Kurzhaarschnitt. Heiner protestierte. Seine Haare seien noch nie so gestutzt worden. Es half ihm nichts – Nina blieb hart. Das Ergebnis konnte sich aber auf beiden Seiten sehen lassen. Ninas straßenköterblonde Haarfarbe wurde mit hellblonden Strähnchen aufgepeppt. Der Rest Dauerwelle und der fransige Schnitt gaben der Frisur Fülle, ohne Ninas Gesicht noch breiter aussehen zu lassen, als es ohnehin schon war. Keine Frage, mit dieser Frisur war sie endgültig weg vom Oma-Image. Auch die Aura von Mutter Beimer verflüchtigte sich auf der Stelle. Als Heiner aufstand, fasste er suchend in seinen Nacken, bevor er auf den Boden blickte. Da lagen sie, die braunen Locken. Vorsichtig wagte er einen Blick in den Spiegel. Sein neuer Schnitt sah gepflegt und männlich aus. Seine nun kurzen Haare bildeten kleine Locken, die sich überall auf seinem Kopf verteilten. Dazu die braunen Augen. Ja, er gefiel sich. Vielleicht mache ich eine Umschulung zum Schauspieler, überlegte er schmunzelnd. Zutiefst zufrieden hatten beide daraufhin den Salon verlassen.

„Was war jetzt mit dem Salat?“, nahm Heiner den Faden wieder auf.

„Die Tomaten“, seufzte Nina.

„Waren zugekauft, okay. Ich habe es geschmeckt, mir aber nichts anmerken lassen.“ Heiner sonnte sich in Feiertagslaune, nicht zuletzt wegen des erstklassigen Menüs, das er gerade verschlungen hatte.

„Eben nicht“, stellte Nina klar.

„Wie?“

„Die sind aus dem Garten Eden. Unglaublich – innerhalb einer Woche gewachsen und gereift!“

„Killertomaten, sag ich doch“, freute sich Heiner und lachte laut los.

„Hör auf mit dem Quatsch! Die werden normalerweise erst im August reif.“

„Im Gewächshaus aber früher.“

„Die waren nicht im Gewächshaus. Ich hatte ein paar Setzlinge der kleinen Strauchtomaten ausgepflanzt und vorschriftsmäßig mit Kompost und Hühnermist gedüngt.“ Nina war sich keiner Schuld bewusst.

„Ich sag’s ja: Kompost und Hühnermist“, witzelte Heiner weiter. „Meine Mutter hatte recht mit ihren Aufzeichnungen.“

„Ach, vergiss es!“ Nina winkte ab. „Vielleicht war es ein Gendefekt.“

„Wir haben keine Gentomaten! Das würde Mama nie zulassen“, widersprach Heiner im Oberlehrerton.

Nina gab sich geschlagen.