Die Pension in der Via Saffi - Valerio Varesi - E-Book

Die Pension in der Via Saffi E-Book

Valerio Varesi

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Beschreibung

Ein Mord zwischen Schein und Sein Die Pension in der Via Saffi ist ein Ort, mit dem Commissario Soneri teure Erinnerungen verbindet. Hier wurde er vor langer Zeit von dem Lächeln eines Mädchens wie vom Blitz getroffen. Die Nachricht, dass die betagte Besitzerin der Pension, Ghitta Tagliavini, ermordet wurde, erfüllt Soneri mit Schwermut. Stück für Stück enthüllen sich ihm die Schattenseiten Ghitta Tagliavinis. Und die seiner eigenen Vergangenheit. «Valerio Varesi ist ein erstklassiger Krimiautor.» (La Repubblica) «Valerio Varesi schickt Commissario Soneri in Parma wieder auf Täterhatz. Und zwar sehr gelungen. Nur her mit den weiteren Fällen, Signor Varesi!» (Westdeutsche Allgemeine) «Poetisch und ungewöhnlich.» (Wiener Journal) «Ein nachdenklicher Krimi, der sich vom üblichen Schema wohltuend unterscheidet.» (NRZ)

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Seitenzahl: 344

Veröffentlichungsjahr: 2011

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Valerio Varesi

Die Pension in der Via Saffi

Commissario Soneri blickt zurück

Deutsch von Karin Rother

Für Ivana zur Erinnerung an jene Wette vor so vielen Jahren auf dem Domplatz

Ich danke der Polizeiassistentin Simona Mammano für die ermittlungstechnischen Hinweise sowie Ilde Buratti für ihre Unterstützung und die wertvollen Anregungen.

1

Der Nachmittag verstrich langsam in einer heimtückischen Stille. Keine Meldung von den Polizeistreifen, nichts als Gähnen in der Einsatzzentrale und keine Menschenseele im Ausländerbüro. Während Commissario Soneri durch die ausgestorbenen Flure lief, genoss er diese Mußestunden vor den Festtagen, in denen er sich endlich ganz den Gedanken überlassen konnte, die ihn seit Wochen beschäftigten. Unbezahlbare Momente in der Hektik der Vorweihnachtstage.

Er hörte, wie die Telefone in den Büros seiner Kollegen vergeblich klingelten, während im Stockwerk über ihm jemand tuschelte. Dort befand sich die Rauschgiftfahndung, doch um diese Jahreszeit waren selbst die Dealer in Urlaub gefahren. Von seinem Büro aus konnte man den Hof des Polizeipräsidiums sehen und dahinter das große Eingangsportal, das wie der Sucher einer Kamera einen Ausschnitt der Via Repubblica einfing, wo Frauen in Pelzmänteln die letzten Weihnachtseinkäufe tätigten. Er selbst brachte mit Weihnachten ein gemütliches Ofenfeuer und das Geräusch seines Löffels auf einem Teller mit Anolini in brodo in Verbindung. Doch er wollte sich nicht in melancholischen Gedanken verlieren und konzentrierte sich auf die reglosen, vom Nebel eingehüllten Tannen, unter denen jetzt eine alte Frau auftauchte. Sie ging gebeugt, stützte sich auf einen Stock und trug einen grünlichen Mantel, der ihr bis zu den Knöcheln reichte. Am Arm hatte sie eine große Tasche. Er hatte das Gefühl, sie von irgendwoher zu kennen. Als sie die Mitte des Hofes erreicht hatte, blieb sie stehen und sah sich um. Doch es war nicht klar, ob sie den Kreuzgang betrachten wollte, an dem sie offensichtlich noch nie gewesen war, oder ob sie überlegte, in welcher Richtung sie weitergehen sollte. Soneri beobachtete diese einsame Frau, ihre Unbeholfenheit, ihren mühsamen Gang. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr.

Ein paar Minuten später klingelte das Telefon.

«Dottore, hier ist eine Frau, die mit Ihnen sprechen möchte», teilte der Pförtner ihm mit.

«Hat sie dir gesagt, was sie will?», fragte Soneri und dachte an die Alte.

Er hörte, wie der Polizist tuschelte.

«Es geht um eine Freundin. Sie sagt, ihr sei etwas Verdächtiges aufgefallen.»

«Und was ist ihr aufgefallen?», gab der Commissario ungeduldig zurück.

«Sie hat an ihrer Tür geklingelt, doch niemand hat aufgemacht. Auch ans Telefon…»

«Schick sie zu Juvara», unterbrach er ihn.

Es würde sich um einen der üblichen Todesfälle handeln. Eine alte, allein stehende Frau, ein plötzlicher Anfall von Übelkeit… «Einsam gestorben», hieß es dann immer in den Zeitungen. Soneri war nicht nur verärgert, sondern irgendwie auch ein wenig enttäuscht. Die Alte hatte bei ihm eine Neugier geweckt, die sich jetzt im Gewöhnlichen aufgelöst hatte. Und als er sich wieder hinsetzte, schien ihm die friedliche Stimmung dieses Nachmittags endgültig verdorben. Daher beschloss er, endlich die Protokolle fertig zu machen, die schon seit zwei Wochen auf seinem Schreibtisch lagen. Er hatte noch nicht damit begonnen, als er die Stimme der Alten aus Juvaras Büro hörte, das direkt neben seinem lag.

«Ich sage Ihnen doch, dass ich x-mal geklingelt habe, gestern Abend habe ich es auch versucht…»

Die Fragen des Inspektors kamen etwas gedämpfter bei ihm an, doch die Worte der Alten konnte er durch die Wand deutlich verstehen. «Nein, das ist völlig ausgeschlossen. Sie fährt nie in Urlaub, und außerdem führt sie ja schließlich eine Pension… Ich weiß nicht, ob Sie den Namen schon einmal gehört haben… Die Pension Tagliavini. Sie heißt Giuditta Tagliavini und ist sehr bekannt in der Stadt: Alle nennen sie Ghitta, die Ghitta…»

Und jetzt war Soneri wieder bei seinen Gedanken von vorhin, kurz bevor er melancholisch zu werden drohte. Unglaublich, dass er eben noch an sie gedacht hatte. Wer kannte Ghitta nicht? Die halbe Universität hatte irgendwann mal eins ihrer möblierten Zimmer bewohnt. Viele waren inzwischen Lehrer, Ärzte, Rechtsanwälte oder Ingenieure. Und auch so manches Mädchen aus der Schwesternschule oder den Sekretärinnenkursen hatte sich bei ihr einquartiert.

«Nun, sehen Sie, normalerweise geht Ghitta am Tag mehrmals aus dem Haus, und wenn sie weggefahren wäre, hätte sie mir Bescheid gesagt…»

Er hörte den Bericht der Alten, immer wieder unterbrochen von Juvaras Stimme, und ihn überfiel die Erinnerung an jene Zeit vor dreißig Jahren, als er direkt vor der Pension Tagliavini von dem Lächeln eines Mädchens, das einen weißen, zusammengefalteten Kittel über dem Arm trug, wie vom Blitz getroffen wurde. Es war der Beginn einer wunderbaren Liebesgeschichte. Und viele Jahre später, als sie bereits verheiratet waren, hatte er ihr gesagt, dass es im Grunde das Verdienst dieser Pension gewesen sei, dass sie sich gefunden hätten, denn ihr regelmäßiges Kommen und Gehen hatte den jungen, ehrgeizigen Polizeiassistenten magisch angezogen.

«Dottore, glauben Sie mir doch, sie verlässt sonntags nie das Haus. Ghitta geht immer am Donnerstag…»

Ada, Soneris Frau, war vor fünfzehn Jahren gegangen und hatte ihn allein gelassen mit der Vorstellung, wie es hätte sein können, zusammen alt zu werden und ihren Sohn großzuziehen, bei dessen Geburt sie gestorben war. Nicht einmal das Kind war ihm geblieben, es war tot zur Welt gekommen, ohne einen Schrei. Die Erinnerung an Ada war lebendig, doch von dem Kleinen hatte er kein Bild. Manchmal geisterte er unsichtbar um ihn herum, dann versuchte er, sich seine Gesichtszüge vorzustellen, die Farbe seiner Augen, sein Haar. Aber sein Schmerz hatte kein Gesicht, das man beweinen konnte.

«Nicht nur ich habe geklingelt, auch andere, müssen Sie wissen. Doch kein Mucks, absolute Stille…»

Stille: die gleiche unwiderrufliche Antwort, die auch er bekam, wenn ihn das Unterbewusstsein in seinen Träumen dazu brachte, nach der Frau und dem Sohn zu suchen, die er verloren hatte. Er hatte sich daran gewöhnt: Diese Stille war die einzige Stimme, beredt, klar und erbarmungslos.

Juvara war offenbar gerade dabei, die Anzeige aufzunehmen, denn die Alte diktierte ihre Adresse. Soneri verstand nur «Fernanda» und dann «Via Saffi». Genau dort befand sich die Pension Tagliavini, auch wenn sie von der Straße aus als solche nicht erkennbar war. Es gab lediglich ein Schild an der Klingel, unten neben der Eingangstür. Plötzlich kamen ihm auch die Spottreime wieder in den Sinn, die sich die Studenten ausgedacht hatten und die dann irgendein abgewiesener Liebhaber aus Rache unter den Fenstern der Pension gegrölt hatte: «Von allen Puffs in dieser Stadt, die Tagliavini den größten hat…»

Soneri erhob sich mit einem Ruck und begab sich ins Büro nebenan. Juvara und die Alte standen vor dem Schreibtisch und drehten sich wortlos um, als er das Zimmer betrat. Die Frau hatte ein weißes, weiches Gesicht, das aufgedunsen wirkte, doch er erkannte ihre Gesichtszüge: Fernanda Schianchi, Ghittas Nachbarin, die gelegentlich einen Untermieter bei sich aufnahm, wenn in der Pension kein Zimmer mehr frei war. Die Alte betrachtete ihn ihrerseits, ließ sich aber nichts anmerken, bis auf ein unmerkliches Zwinkern, wie man es manchmal bei Menschen sieht, die sich einmal geliebt haben. Dann hängte sie die Tasche über den Arm, griff nach ihrem Stock, den sie gegen den Schreibtisch gelehnt hatte, und ging langsam hinaus.

Der Commissario sagte zunächst nichts. Er trat ans Fenster und beobachtete, wie die Alte durch den Hof auf das hintere Portal zulief, wo sie bald in der Menge der vorbeihastenden Passanten verschwinden würde. Die Via Saffi war nicht weit entfernt, doch warum war sie persönlich gekommen und hatte den Weg auf sich genommen, warum hatte sie nicht angerufen? Weil sie genau wusste, wer er war, und sich trotzdem noch einmal persönlich davon überzeugen wollte? Immerhin hatte sie ja nach ihm verlangt.

Er hob den Hörer ab und rief den Pförtner an. «Hat diese Alte dir wirklich meinen Namen genannt?»

«Dottore, sie hat mir gesagt, sie wolle mit Commissario Soneri sprechen. Sonst hätte ich Sie doch nicht gestört.»

Er sah sie unter dem Torbogen, ein schwarzer, langsamer Schatten. Dann bog sie um die Ecke, nachdem sie kurz neben der Portiersloge stehen geblieben war. Erst jetzt drehte sich Soneri mit einer fragenden Kopfbewegung zu Juvara um.

«Sie macht sich Sorgen um ihre Nachbarin: Sie macht die Tür nicht auf, obwohl sie ganz sicher nicht weggefahren ist. Sie heißt…»

«Ghitta Tagliavini», unterbrach ihn Soneri.

«Kennen Sie sie?»

Der Commissario deutete ihm mit einer Geste an, dass er sie sehr wohl kannte.

«Was hat sie dir sonst noch erzählt?»

«Dass sie geklingelt hat, geklopft…»

«Warum, glaubst du, ist sie persönlich gekommen?», unterbrach ihn Soneri erneut.

Juvara streckte das Kinn vor, er wusste nicht, was er antworten sollte.

«Kommt dir das nicht seltsam vor? Sie hätte doch auch einfach anrufen können.»

«Ich hatte den Eindruck…», begann der Inspektor und unterbrach sich dann, um nach den richtigen Worten zu suchen.

Der Commissario stand jetzt wieder vor dem Fenster, dann wandte er sich um. Durch eine Bewegung mit der Hand, in der er die erloschene Zigarre hielt, forderte er Juvara auf fortzufahren.

«Nun, das Erste, was sie zu mir sagte, als sie hereinkam, war: ‹Sie sind nicht der Commissario!›»

Soneri drehte sich um, machte ein paar Schritte auf Juvaras Schreibtisch zu und huschte dann ohne ein Wort zur Tür hinaus. Mit großen Schritten lief er über den Hof, unter dem Torbogen hindurch und verschwand jenseits des Portals.

Während er sich einen Weg durch die Menschenmenge bahnte, dachte der Commissario über die eigenartige Koinzidenz zwischen den Gedanken, die ihm an diesem trägen Nachmittag im Kopf herumschwirrten, und der Realität, mit der er sich nun konfrontiert sah, nach. Die Vergangenheit, die glücklichen Jahre, in denen er seine Frau kennen gelernt hatte, die Pension Tagliavini… Und plötzlich, als wäre es eine logische Folge, hatte er Fernanda Schianchi im Hof entdeckt. Als wäre sie direkt seinen Gedanken entsprungen. Sie war seinetwegen gekommen. Sie war gekommen, um mit ihm zu sprechen. Und er war sich ganz sicher, dass sie ihn wiedererkannt hatte, obwohl ihr in den Jahren, in denen die Pension auf Hochtouren lief, jede Menge junger Männer unter die Augen gekommen waren.

Er beschleunigte den Schritt, doch das Gedränge machte es ihm unmöglich, rasch vorwärts zu kommen. Im Geiste ging er den Weg zur Via Saffi, überlegte, wie weit die Alte mit ihrem schleppenden Gang wohl gekommen sein mochte, und erneut holten ihn die Bilder der Vergangenheit ein, die vereinzelt auftauchten, stumm wie Blitze in einem Sommergewitter. Als er die Via Repubblica verließ und den Weg zur Piazzale dei Servi einschlug, starrte er lange auf die Menschen vor sich, doch nirgendwo konnte er die Gestalt der Alten ausmachen. Auch in den Gassen, die von der Straße abzweigten, war keine Spur von ihr zu sehen. So gelangte er bis zum Eingang der Pension Tagliavini, wo er an der Sprechanlage das Schild mit dem Namen «Schianchi» entdeckte. Er drückte auf die Klingel, aber es meldete sich niemand. Er versuchte es noch einmal, dann gab er auf. Er ging auf die andere Straßenseite, um dort auf sie zu warten, während schlechte Laune in ihm hochstieg. Wie der Nebel, der sich unten in der Straße zu verdichten begann und von der Barriera Saffi heraufzog, um die Fialen des Baptisteriums zu verhüllen.

Als Fernanda nach einer halben Stunde noch immer nicht zurückgekommen war, griff er nach seinem Handy und rief Juvara an: «Hat die Schianchi dir eine Adresse hinterlassen?»

«Via Saffi 35», erwiderte der Inspektor.

Der Commissario beendete per Knopfdruck das Gespräch, ohne sich zu verabschieden. Er war wütend auf sich selbst und ließ es an seinem Inspektor aus. Der stellte nie genug Fragen, er besaß einfach nicht die Neugier, die für ihren Beruf erforderlich war. Doch im Grunde war es Soneris eigene Schuld: Er war abgelenkt gewesen und hatte nicht aufgepasst. Ein Commissario musste wissen, dass jeder Mensch eine Geschichte zu erzählen hat. Auch wenn neunundneunzig von hundert völlig belanglos waren: Man wusste erst, welche von ihnen interessant war, wenn man sie alle angehört hatte.

Er kehrte zurück und klingelte erneut. Dann versuchte er es bei den anderen Nachbarn, und schließlich öffnete sich die Tür. Soneri befand sich in einer Eingangshalle voller Fahrräder. Er fühlte sich benommen. Nichts hatte sich verändert, seit er damals in diesem Hausflur nach seinen Verabredungen mit Ada ein letztes bisschen Intimität ergatterte. Verwundert nahm er den muffigen Geruch der schattigen Mauern wahr. Eine Frau in einem Trainingsanzug, die sich ein Stockwerk höher über das Geländer beugte, riss ihn aus seinen Gedanken.

«Ich suche Fernanda Schianchi», sagte Soneri.

«Sie gegangen», antwortete die Frau in kümmerlichem Italienisch.

Der Commissario stieg die Treppen hinauf bis zu der offenen Galerie, von der drei Türen abgingen. «Wo ist sie hingegangen?», fragte er.

«Ich nicht weiß», entgegnete die Frau bedauernd. «Gestern gesagt, dass weggeht», fügte sie hinzu und hob die Schultern. Sie hatte blaue Augen und kurze blonde Haare. Sie musste Slawin sein.

Soneri rührte sich nicht. Er steckte sich die kalte Zigarre in den Mund, blieb nachdenklich stehen und betrachtete die Tür der Pension, auf der sich ein Messingschild mit dem Namenszug in schnörkeliger Kursivschrift befand. Ohne ein Wort zu sagen, zog sich die Frau zurück, dann hörte Soneri, wie die Tür ins Schloss fiel. Plötzlich kam es ihm vor, als ob Fernanda ebenso verschwunden war wie Ghitta. Während er sich an Ghittas Tür lehnte, hörte er, dass unten am Eingang geläutet wurde. Also rannte er die Treppe hinunter, genau in dem Moment, als das Licht ausging. Er musste umkehren, um es wieder einzuschalten, und stolperte in der Dunkelheit. Als er es geschafft hatte, klingelte es von neuem. Er stürzte nach unten, doch diesmal verlor er Zeit damit, den Türöffner zu finden, und in dem Moment, als er die Pforte aufstieß, sah er nur noch ein Mofa. Es verschwand im Nebel, der die Via Saffi nun gänzlich einhüllte.

Er stieg die Treppen wieder hinauf bis zum Absatz, und während er keuchend nach oben lief, wurde ihm plötzlich klar, dass Eile geboten war. Schlagartig wurde aus dem Verdacht eine Gewissheit. Wieder ging er zu Ghittas Tür und versuchte diesmal, sie aufzubrechen, indem er fest an den beiden Türgriffen rüttelte. Einer der Flügel vibrierte im Schloss, ein Zeichen dafür, dass die Tür nur eingeschnappt war, nicht abgeschlossen. Also zog er eine Telefonkarte hervor und schob sie in Höhe des Schlüssellochs in den Türspalt – das hatte er vor vielen Jahren einmal von einem Einbrecher gelernt. Beim fünften Versuch gab das Schloss nach.

In der Pension empfing ihn die Wärme eines Gasofens, in dem eine blaue Flamme tanzte. Auch hier hatte sich nicht viel verändert. Er erinnerte sich an den langen Flur, von dem auf beiden Seiten die Zimmer abgingen. Jetzt befand sich hier ein Wandtelefon, darunter eine Ablage für Notizen, das Telefonbuch und der Zähler. Neben der Garderobe hingen Bilder mit Darstellungen des alten Parma und ein hoher Spiegel, in dem man noch einmal sein Aussehen kontrollieren konnte, bevor man die Wohnung verließ. Alles war still und wirkte gleichzeitig so, als seien die Bewohner nur kurz weggegangen. Durch die Fenster fiel der Widerschein einer Straßenlaterne auf die gläsernen Tropfen einer Lampe, die das matte Licht widerspiegelten. Hier war Soneri unzählige Male gewesen, um auf das Mädchen zu warten, das dann seine Frau geworden war. Doch jetzt kam er sich vor wie ein Einbrecher. Er machte kein Licht, und eine unerträgliche Anspannung trieb ihn dazu, weiter durch den Flur zu gehen, bis die angelehnte Tür eines der Zimmer seine Aufmerksamkeit auf sich zog.

Es war das Zimmer, in dem Ghitta schlief, das einzige, das immer abgeschlossen gewesen war. Mit dem Handrücken stieß er die Tür auf und wickelte sich kurz ein Taschentuch um die Fingerspitzen, bevor er auf den Lichtschalter drückte. Noch als er die Bewegung ausführte, wurde ihm bewusst, dass er dem Geschehen bereits einen Sinn gegeben hatte. Tatsächlich fiel das Licht auf ein Doppelbett, auf dem der Inhalt einer Schublade ausgeleert worden war. Er wusste, was das zu bedeuten hatte. Er starrte auf die Ansammlung von Erinnerungen: billiger Schmuck, Ansichtskarten, Fotos, Heiligenbildchen, ein eingetrockneter Füllfederhalter und ein kleines Notizbuch mit kariertem Papier und einem mostfarbenen Einband. Dann kehrte er in den Flur zurück, um nach Ghitta zu suchen. Er fand sie in der Küche, zwischen dem Tisch und der Spüle; in dem spärlichen Licht erkannte er ihre kleine Gestalt, die auf dem Boden lag. Noch im Halbdunkel war sie für ihn die Frau, an die er sich lebhaft erinnerte, doch als er schließlich das Neonlicht einschaltete, das grell war wie in der Gerichtsmedizin, war sie nur noch eine Leiche. Steif lag sie auf dem eiskalten Marmorfußboden. Doch schien ihm der Körper, als er ihn mit geschultem Blick genau musterte, unversehrt, ohne Wunden oder Verletzungen. Auf der Ablage der Spüle standen noch zwei Tassen, auf dem Tisch zwei Fläschchen und eine Dose mit Medikamenten. Er fasste die Alte an den Schultern und hob sie ein wenig an, ihr Körper war ganz leicht, wie vertrocknet. Nirgends war Blut zu entdecken. Er konnte sich keinen Reim auf das machen, was er bis jetzt gesehen hatte, es gab eine ganze Reihe von Widersprüchen: die Tür, die lediglich eingeschnappt war, ohne jedes Anzeichen von Gewaltanwendung. Die Leiche, die auf einen einsamen Tod hindeutete, die ausgeleerte Schublade, die an Diebstahl denken ließ. Und die beiden Tassen, in denen sich noch ein Rest von Kaffee befand und die auf eine Verabredung mit einer guten Bekannten hinwiesen.

Er griff zum Handy, wählte die Nummer der Einsatzzentrale und verlangte nach Nanetti, dem Chef der Spurensicherung. Nach ein paar Sekunden war der Kollege am Apparat. Der Commissario gab ihm die Adresse durch, und Nanetti fragte: «Dort, wo die Pension Tagliavini ist?»

Alle kannten diesen Ort. Im Vergleich zu den neuen Hotels mit Fähnchen, Drehtüren und Teppichböden mit falschen Persermustern wirkte diese alte Pension wie ein archäologischer Ausgrabungsort. Und darin würde Soneri nun lange herumgraben müssen. Er verließ die Küche und ging zurück ins Schlafzimmer. Vorher öffnete er jedoch die Türen zu den übrigen vier Zimmern. Alle wirkten ordentlich, es machte allerdings den Eindruck, als seien sie unvermietet. Nur in einem entdeckte er einen Rollkoffer. Er versuchte, ihn anzuheben: Er musste voll sein. In Ghittas Zimmer bemerkte er, dass die Kommode, aus der die Schublade herausgezogen worden war, von der Wand gerückt war. Es handelte sich um ein einfaches Möbelstück, nussbaumfurniert, mit einem Kern aus Weichholz, Tanne oder Pappel. Die Rückwand war aus Sperrholz. Soneri warf einen Blick dahinter und entdeckte, dass die Alte einen Nagel eingeschlagen hatte, an dem eine Schnur befestigt war, eine von der Art, wie man sie zum Aufhängen von Bondiolawürsten benutzt. Als er daran zog, kam ein kleiner Stoffbeutel zum Vorschein, kaum größer als eine Handfläche. Er öffnete ihn und fand darin Ghittas bescheidene Schätze: einige Goldringe, ein Kettchen mit einer Jesusmedaille, Ohrringe, ein Armband, eine Uhr und, in einem kleinen Etui, einen Weißgoldring, in den Lapislazuli gefasst war. Es war offenkundig, dass dies die einzigen Wertgegenstände in der Wohnung waren. Doch selbst wenn es weitere gegeben hätte: Derjenige, der hier eingedrungen war, hatte nicht danach gesucht, er hatte ja sogar diese hier gelassen.

Ein paar Minuten später stand Soneri Nanetti gegenüber. Sie begrüßten sich nicht einmal, Soneri wies lediglich mit einer Kopfbewegung auf die Küche, wo das Licht noch brannte, und ging hinter seinem Kollegen her. Dieser führte die gleichen Handgriffe aus wie vorher der Commissario, dem plötzlich bewusst wurde, wie rigoros doch die alte Polizeischule gewesen war, die sie beide durchlaufen hatten.

«Sieht nach einem natürlichen Tod aus», schloss Nanetti nach diesem kurzen Vorspiel, während sich um sie herum schon die Beamten zu schaffen machten, von denen einer fotografierte.

Soneri schaute ihn prüfend an und kaute auf seiner kalten Zigarre herum. «Scheint so, ist es aber nicht.»

Der andere rührte sich ein paar Sekunden lang nicht, verwundert über die Behauptung. Dann streifte er sich, ohne ein Wort zu sagen, die Gummihandschuhe über. Die beiden kauerten nebeneinander auf den Fersen. Erst jetzt, aus dieser kurzen Distanz, bemerkten sie in dem Kleid der Alten einen kleinen Riss, genau zwischen den Brüsten. Eine präzise Öffnung, die man für ein Knopfloch hätte halten können. Sie knöpften das Kleid auf, schoben das Hemd hoch und entblößten den Busen. Mitten zwischen den beiden schlaffen Brüsten zeigte sich ein Schnitt, nicht länger als zwei Zentimeter, mit violetten, leicht ausgefransten Rändern. Nur die Klinge musste beim Kontakt mit der verletzten Haut etwas blutig geworden sein.

«Eine gut ausgeführte Laparoskopie», stellte Nanetti fest.

«Von wegen Laparoskopie», gab der Commissario zurück, «die haben sie abgestochen wie ein Schwein.»

2

Das knackende Geräusch, mit dem sich sein Kollege über die Tote beugte, brachte Soneri für einen Moment aus dem Konzept. Ihre hellen Augen, die Haare zerzaust vom letzten Versuch, dem Angreifer zu entkommen, der leicht geöffnete Mund, der eine Art Erstaunen ausdrückte. Wenn dies ihr letzter Ausdruck gewesen war, musste sie den Mörder so gut gekannt haben, dass sie über das, was geschah, verwundert war.

«Der Mörder wusste, was er tat», kommentierte Nanetti, als er wieder stand. «Er hat sie so hingelegt, dass kein Blut austreten konnte.»

Der Commissario nickte, etwas missmutig darüber, dass er nicht gleich daran gedacht hatte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Ghittas Hände knapp unterhalb der Taille zu Fäusten geballt waren und noch immer einen Zipfel ihrer Schürze umklammerten. Die Oberarme, die eng am Brustkorb anlagen, ließen erahnen, dass sie versucht hatte, die Schultern in einer letzten, nutzlosen Verteidigung anzuspannen. Während sich die Spurensicherung ans Werk machte, lief Soneri nervös zwischen Schlafzimmer und Küche hin und her und erntete damit die unmutigen Blicke der Beamten. Dann betrat er eines der Zimmer und blieb dort lange, ohne sich zu rühren, stehen. Er erinnerte sich an die Sonntagnachmittage, an denen er hier mit seiner Verlobten Pläne geschmiedet oder sich lautlos und halb bekleidet der Liebe hingegeben hatte.

Er konnte es nicht fassen, dass sich an ein und demselben Ort so unterschiedliche Szenen abspielen konnten. Doch es war inzwischen viel Zeit vergangen, und das, was am Anfang so heil erschienen war, war längst entzwei. Sein Beruf hatte ihn an einen Schauplatz seiner Jugend zurückgeführt – dabei wusste er nur zu gut, dass man nie an Orte zurückkehren sollte, wo man einst glücklich gewesen war.

Die Kollegen von der Spurensicherung arbeiteten langsam und genau. Sie nahmen Fingerabdrücke, untersuchten pedantisch jede Schublade… Der Commissario langweilte sich und wäre am liebsten gegangen. Aber etwas in seinem Hinterkopf ließ ihm keine Ruhe. Und erst als die Sanitäter kamen, um die Leiche abzutransportieren, fiel ihm die Schianchi wieder ein. Wo war sie abgeblieben? War sie auch ermordet worden? Ihm wurde bewusst, dass er sich gerade mehr für Fernandas Verschwinden als für den Mord an Ghitta interessierte. Vielleicht, weil er dachte, dass eine Klärung des ersten Falles mit der Lösung des zweiten zusammenhing. Oder weil die Schianchi gekommen war, um ihn aufzusuchen, und er sie zu Juvara abgeschoben hatte. Wieder spürte er ein Schuldgefühl in sich aufsteigen. Sie war seinetwegen ins Präsidium gekommen. Hatte sie nur deshalb mit ihm persönlich sprechen wollen, weil sie ihn aus der Zeit kannte, als er in der Pension verkehrte?

Er trat hinaus auf die offene Galerie, zog gereizt das Handy heraus, und während er die Nummer wählte, bemerkte er, dass seine Hände zitterten. Kurz darauf befahl er Juvara, Nachforschungen über Fernanda Schianchi anzustellen.

«Es muss doch irgendeinen Verwandten geben, einen Sohn, einen Neffen, zu dem sie gefahren ist», sagte der Commissario kurz angebunden und verärgert über die Einwände des Inspektors.

Als er den Kopf zur Seite drehte, stand Nanetti neben ihm und deutete auf Fernandas Tür. «Macht niemand auf?»

«Da wohnt eine andere Alte, die spurlos verschwunden ist.»

Nanetti drehte seinen Schnurrbart und ließ ein leises Brummen hören, mit dem er andeuten wollte, dass dies ein großes Problem bedeuten könnte.

«Denkst du, es ist wichtig, jetzt da hineinzukommen?», fragte er dann.

Soneri dachte nach. «Ich fürchte, es ist tatsächlich nötig, aber wir sollten noch abwarten. Vielleicht ist sie nur über Weihnachten zu ihren Kindern gefahren. Juvara ist dabei, das zu überprüfen.»

«Ja, vielleicht ist es besser abzuwarten», räumte der Kollege ein, «und vorher den Richter zu verständigen, dann hat alles seine Ordnung.»

«Wer hat Dienst?»

«Saltapico.»

«Auch das noch!», kommentierte der Commissario entgeistert.

«Wir haben nicht die große Auswahl», erwiderte Nanetti ironisch.

Die dicken Mauern des Hauses dämpften alle Geräusche, es war ganz still. Man hörte nur, wie die Beamten der Spurensicherung von Zeit zu Zeit etwas in der Wohnung bewegten.

«Das Verschwinden dieser anderen Frau ist eigenartig…», begann Nanetti, unterbrach sich dann mitten im Satz und lehnte sich mit dem Rücken an das Geländer.

In diesem Augenblick klingelte Soneris Handy. Es war Juvara: «Commissario, die hat niemanden. Sie ist seit zwanzig Jahren Witwe, keine Kinder. Lediglich ein Neffe, der in Mailand lebt.»

«Hast du ihn angerufen?»

«Ja. Seine Frau sagt, dass sie sie schon ein paar Jahre nicht mehr gesehen haben. Von Zeit zu Zeit telefonieren sie. Ausgerechnet gestern hat Fernanda sie angerufen, um ihnen frohe Weihnachten zu wünschen.»

Der Commissario beendete das Gespräch abrupt. Er hätte die Alte selbst empfangen müssen.

«Glaubst du, dass die beiden Frauen Streit miteinander hatten?», fragte Nanetti und riss ihn damit aus seiner missmutigen Stimmung. Soneri verstand nicht, worauf er hinauswollte. Er konnte mit solchen Andeutungen nicht viel anfangen.

«Aber nein, sie hatten viel Kontakt. Auch die Schianchi vermietete Zimmer.»

«Und denkst du nicht, dass sie dann einen Schlüssel für die Wohnung hatte?»

Wieder fühlte er sich wie ein Idiot. Warum hatte er nicht daran gedacht? Nanetti sagte nichts weiter, er ließ Soneri allein seine Schlüsse ziehen: Es war durchaus wahrscheinlich, dass die Schianchi, als sie ins Präsidium kam, das, was der Commissario kurz darauf entdeckt hatte, bereits gesehen hatte.

«Gut möglich, dass du Recht hast», brummte der Commissario, «und deshalb ist es umso wichtiger, dass wir in Fernandas Wohnung kommen.»

«Warte auf den Durchsuchungsbefehl», riet ihm sein Kollege. «So eilig ist es nicht. Ich habe den Eindruck, dass es sich hier um einen ruhigen Fall handelt.» Dann verabschiedete er sich und ließ seine Beamten weiterarbeiten. Der Commissario blieb in Ghittas Wohnung zurück und fragte sich, ob Fernanda tatsächlich gesehen hatte, wie Ghitta ausgestreckt auf dem Küchenboden gelegen hatte, dort, wo jetzt der Umriss eingezeichnet war, der aussah wie ein Vieleck. Und wenn sie sie gesehen hatte, warum hatte sie dann niemanden verständigt?

Er kam zu keiner Schlussfolgerung, weil das Telefon im Flur zu klingeln begann. Soneri lief an den Beamten vorbei, hob ab und sagte mit entschiedener Stimme: «Pronto!»

Am anderen Ende hörte er eine Art Seufzer und unmittelbar darauf ein Klicken: Der Hörer war aufgelegt worden. Ein paar Sekunden vergingen, und der Apparat klingelte von neuem. Er nahm ab und wiederholte, diesmal ziemlich müde: «Pronto.» Wieder antwortete ihm das Klicken, so schnell, dass es ihm vorkam, als hätte jemand von vornherein den Finger auf den Knopf gelegt. Jemand, der, als er Ghittas Stimme nicht gehört hatte, sich nicht zu erkennen geben wollte. Beim ersten Mal konnte er noch gedacht haben, dass er sich verwählt hatte, beim zweiten Mal nicht. Und jetzt wusste er, dass in der Pension Tagliavini etwas passiert war. Das wäre ihm auch klar geworden, wenn Soneri das Telefon hätte klingeln lassen. Der Commissario überlegte, wie viel Zeit ihm blieb, bevor der Fall an die Presse gelangen würde. Sieben oder acht Stunden. So lange würde sich irgendjemand vielleicht genau so verhalten wie immer. Vielleicht würde er an der Tür klingeln, und Soneri würde ihm öffnen…

Er setzte sich kurz neben den Ofen und zündete sich eine Zigarre an. Die Kollegen von der Spurensicherung waren bereits gegangen, endlich konnte er sich ein bisschen genauer umsehen. Er öffnete die Hängeschränke in der Küche und war versucht, sich einen Kaffee zu machen. Durch die Küchentür sah er den langen Flur, der an einen Schlafsaal erinnerte. Ghitta hatte ihn im Blick gehabt, von genau der Position aus, wo Soneri sich jetzt befand. So war ihr nie etwas entgangen: wer kam, wer ging, wer am häufigsten auf die Toilette musste. An einige Mieter von damals erinnerte sich Soneri. Neben dem Zimmer seiner zukünftigen Frau hatte der Jurastudent Selvatici gewohnt. Tagsüber, auch am Sonntagnachmittag, hörte man, wie er Plädoyers hielt und dabei im Zimmer auf und ab schlurfte. In der Nacht dagegen vernahm man ein leises, aber ununterbrochenes Rumoren von nebenan. Soneri erinnerte sich auch an die Flötistin Robertelli, die damals das Konservatorium besuchte. Und an Nelli, der Ingenieurswesen studierte. Einer, dem Ghitta einen Nachlass gewährte, weil er vieles in der Wohnung reparierte. Vor allem erinnerte er sich aber an die Schwesternschülerinnen, die in ihren weißen Kitteln immer so adrett aussahen. Es war kein Zufall, dass er eine von ihnen geheiratet hatte. Wenn Ghitta nicht in der Küche war, nachmittags oder abends, setzte sie sich ins Wohnzimmer, das unmittelbar links neben dem Eingang lag. Kaum größer als eine Kammer, die man fast nicht bemerkte, hatte es das einzige Fenster, das zur Via Saffi hinausging. Von hier aus konnte sie die Passanten beobachten.

Soneri beschloss, sich genau dorthin zu setzen. Er musterte eine Gruppe von Journalisten auf der gegenüberliegenden Straßenseite und eine pakistanische Bar, in der eine Art Fremdenlegion ein und aus ging. Die Gegend um die Via Saffi hatte sich verändert. Die Häuser waren von ihren früheren Bewohnern, die es zu einem gewissen Wohlstand gebracht hatten, verlassen worden. Stattdessen waren viele Migranten zugezogen.

Eine Polizeistreife kontrollierte das Haus Nummer 35, vor dem jetzt der ein oder andere Passant stehen blieb. Ein Polizist befragte die Journalisten, was geschehen war. Soneri rauchte hinter vorgehaltener Hand, um nicht entdeckt zu werden, und spähte weiter verstohlen nach draußen. Er hatte das dumpfe Gefühl, dass man in der Via Saffi längst Bescheid wusste über das, was vorgefallen war.

Wieder riss ihn das Telefon aus seinen Gedanken. Ohne Eile erhob er sich und ging durch den Flur. Als er den Hörer abnahm, gab er lediglich ein Brummen von sich.

«Ghitta?», fragte eine ziemlich tiefe Männerstimme.

«Einen Augenblick, wer ist am Apparat?»

Ein paar Momente vergingen, in denen der andere zu zögern schien. «Wer spricht da?», fragte er dann mit entschlossener, nicht sonderlich freundlicher Stimme.

«Die Signora ist im Moment beschäftigt…», erwiderte Soneri und vernahm am anderen Ende einen Fluch, der sich offensichtlich gegen jemand anderen richtete, bevor die Verbindung unterbrochen wurde.

Der Commissario legte den Hörer auf. Er ging zurück ins Wohnzimmer, nahm sein Handy und rief Juvara an.

«Ich brauche dich», rief er. «Ich möchte, dass du ein bisschen Unruhe inszenierst, damit hier die Gaffer und Journalisten von der Bildfläche verschwinden.»

«Ist gut», erwiderte der andere, «aber verlangen Sie nicht, dass ich mit ihnen rede. Ich weiß nie, was ich auf ihre Fragen antworten soll.»

«Genau das sollst du auch nicht. Berufe dich einfach auf das Ermittlungsgeheimnis.»

«Was also soll ich machen?»

«Nimm einen Wagen und komm zur Via Saffi 35.Lass dich von einer Streife eskortieren. Wenn du hier ankommst, mach ich dir die Tür auf, und du kommst mit zwei Polizisten herauf. Dann gehst du wieder nach unten, und die Journalisten werden dir eine Menge Fragen stellen, doch du erklärst, dass die Wohnung versiegelt ist und die Ermittlungen erst morgen früh wieder aufgenommen werden. Sie werden schnell darüber berichten wollen und so die Belagerung aufgeben.»

«Und wenn sie jemanden als Wache dalassen?»

«Immer mit der Ruhe», sagte der Commissario kurz angebunden, «das ist ein Risiko, das wir eingehen müssen.»

Er lehnte sich bequem zurück: Schon immer hatte es ihm gefallen, die Stadt in den winterlichen Nächten zu beobachten, wenn alles im Schlaf versinkt. Wenn jeder, der die Straße betritt, dafür einen Grund hat. Und es reizte ihn, sich diesen Grund vorzustellen.

Es schien, als würde Angela die Momente ahnen, in denen der Commissario sich in seinen Gedanken verlor, und ihn daraus herausreißen wollen, bevor er sich noch tiefer darin verstrickte. Vielleicht war sie eifersüchtig auf seine eigene Welt, in die er niemanden hineinließ.

«Was tust du gerade?», fragte sie, noch bevor der Commissario «Pronto» sagen konnte.

«Ich beobachte…»

«Einen Hang zum Voyeurismus hattest du ja immer schon», zog sie ihn auf.

Soneri nahm das Handy in die andere Hand, um freier rauchen zu können.

«Wenn dem nicht so wäre, könnte ich diese Arbeit nicht machen.»

«Wo bist du?»

«Pension Tagliavini, sagt dir das was?»

«An diesem trostlosen Ort?»

«Warum trostlos? Ich verbinde damit wundervolle Erinnerungen.»

«Ich wundere mich über dich, Commissario. Als wüsstest du nicht, dass die Alte in den letzten Jahren nicht mehr an Studenten vermietet hat…»

Er hatte tatsächlich jeglichen Kontakt zu diesem Teil der Stadt verloren, er war ein schwarzes Loch in seinem Leben. Vielleicht lag es an den fünfzehn Jahren, die er in der Einsatzzentrale in Mailand verbracht hatte: Dieses Viertel hatte sich völlig verändert, ohne dass er davon Notiz genommen hatte.

«Ich hatte mit diesem Teil der Stadt schon lange nichts mehr zu tun», rechtfertigte sich Soneri. «Wenn man einfach nur durchfährt, fallen einem die Veränderungen nicht auf… An wen hat Ghitta denn vermietet?»

«Kommst du da nicht von selbst drauf? Weißt du, was für eine Absteige das ist? Man geht dorthin, um zu vögeln», platzte Angela schließlich heraus.

«Das macht man auch in Fünfsternehäusern.»

«Das weiß ich, aber das ist ja langweilig. Was würdest du davon halten, wenn ich kurz zu dir käme…»

«Nein, das ist unmöglich», erwiderte Soneri eilig. Der Gedanke machte ihm Angst.

«Es ist äußerst schmeichelhaft für eine Frau, wenn sie ein Abenteuer vorschlägt und hört, dass der Mann in Panik ausbricht», kommentierte Angela ironisch.

«Unten sind noch die Journalisten. Und außerdem habe ich mich hier immer mit Ada getroffen…»

«Siehst du, dass ich Recht hatte: Sie vermieten die Zimmer stundenweise», schloss sie pikiert, ohne sich zu verabschieden.

Er rief sie nicht zurück. Er seufzte und wartete darauf, dass Juvara kam. Als der auftauchte, befolgte er stur die Anweisungen des Commissario. Eskortiert von zwei Beamten, stand der Inspektor vor ihm auf der Treppengalerie. Sie wurde von einer Lampe beleuchtet, die ein kamillenfarbenes Licht verströmte.

«Saltapico hat die Autopsie für morgen angesetzt», teilte er ihm mit.

«Der funktioniert ja wie ein Uhrwerk.»

«Und was denken Sie?», fragte der Inspektor, als er eintrat.

«Nichts. Ich versuche zu verstehen, was in dieser Wohnung vor sich ging. Was hat Ghitta den ganzen Tag über gemacht? Jemand hat angerufen und wollte sie sprechen. Als er kapiert hat, dass etwas vorgefallen ist, hat er wieder aufgelegt. Ich hatte den Eindruck, dass es sich um einen vereinbarten Anruf handelte: immer zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Tag… Warum hätte er sonst wieder aufgelegt?»

«Nanetti sagt, der Mörder wusste, was er tat.»

«Ja, er hat genau darauf geachtet, in welcher Position sie war, damit kein Blut fließt. So hat er keine Spuren hinterlassen und sich vor allem selbst nicht schmutzig gemacht. Das könnte darauf hindeuten, dass er die Pension regelmäßig aufsuchte und nicht riskieren konnte aufzufallen. Aber vielleicht ist er auch nur ein sehr gewissenhafter Killer.»

«Das werden wir morgen sehen, wenn der Gerichtsmediziner uns darüber aufklärt, wie sie gestorben ist», brummte Juvara. «Sie könnte zuerst betäubt worden sein. Oder vielleicht vergiftet und dann…»

«Alles ist möglich. Die Wirklichkeit hält immer Überraschungen bereit», unterbrach Soneri seinen Mitarbeiter und dachte daran, wie sich die Altstadt verändert hatte, ohne dass er es bemerkt hatte. «Gut», sagte er dann, «und jetzt setzt du in Szene, was ich dir gesagt habe.»

Vom Fenster aus kontrollierte er, ob alles nach seinen Anweisungen ablief. Die Journalisten umringten Juvara, und der Commissario konnte die Verlegenheit auf seinem Gesicht erkennen, als er versuchte, sich einen Weg durch sie hindurch zu bahnen. Dann fuhren die Autos davon, und zurück blieben die Reporter, die ihre leeren Notizbücher anstarrten. Später würden sie mehr erfahren, nach einer Reihe von Telefonaten mit Beamten und Polizisten.

Die Straße leerte sich schnell. Mit einem Mal waren nur noch die letzten Gäste aus der Bar des Pakistani, ein paar Radfahrer und vereinzelte Autos zu sehen. Später wurde auch das Eisengitter des Lokals heruntergelassen, und alles versank in der nebligen Winternacht. Gegen elf erhob sich Soneri und wanderte ein wenig durch den Flur, ohne das Licht anzumachen. Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, die nur durch die matten Lichter der Stadt erhellt wurde. Er dachte an Angelas Worte, dass die Pension zu einem Stundenhotel für heimliche Liebespaare geworden war, als das Telefon ihn von neuem überraschte. Er hob den Hörer ab, sagte nichts und lauschte.

Die Stimme einer alten Frau sagte Ghittas Namen, unterbrach sich jedoch. Es folgte eine Art Stöhnen, gefolgt von einem schweren Keuchen, das schließlich in ein leicht zischendes Atmen überging. Der Commissario bekam den Mund nicht auf. Er fühlte sich ohnmächtig, wie beim Anblick eines Verrückten, der auf einem Dachsims herumspaziert. Es dauerte nicht lange, dann vernahm er ein Atmen, das nun aus größerer Entfernung zu kommen schien, und eine schwache, beinahe unhörbare Stimme, die sagte: «Ich kann nicht mehr…», bevor die Verbindung unterbrochen wurde. Soneri blieb neben dem Apparat stehen, während der Spiegel über ihm sein Bild zurückwarf, undeutlich und fast zitternd. Vor diesem Spiegel hatte Ada gestanden, wenn er sich sonntags flüsternd von ihr verabschiedete, um von Ghitta nicht gehört zu werden, und ihm eingeschärft, nie nach zehn Uhr abends anzurufen – eine unverrückbare Regel in der Pension Tagliavini.

Er ging zurück ins Wohnzimmer und blickte nach draußen. Gegen Mitternacht hatte er eine ganze Toscano geraucht, deren kalter Stummel, nicht länger als ein Streichholz, nun in seinem Mund steckte. Unten auf der Straße ging ein auffallend elegant gekleideter Mann an der Nummer 35 vorbei. Es war nicht das erste Mal, da war Soneri sich sicher, denn die glänzenden Lederschuhe waren ihm schon vorher aufgefallen. Der Unbekannte trug einen offenen dunklen Mantel mit einem Rückengurt, ein weißes Hemd und eine purpurfarbene Fliege, dazu eine anthrazitfarbene Hose mit Nadelstreifen und einen Hut, der einer Melone ähnelte. Seine exzentrische Eleganz war ungewöhnlich für diese Gegend. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm.

Er konnte den Mann noch genauer betrachten, als er zum dritten Mal vorbeiging: Sein Auf und Ab konnte kein Zufall mehr sein. Der Mann blieb auf der anderen Straßenseite stehen und blickte mehrmals zum Fenster des Wohnzimmers hinauf, sodass der Commissario hinter den Vorhang trat, aus Angst, der andere könne seinen Schatten ausmachen. Dann sah er, wie er weiterging und in sein Handy sprach. Er schien sich davon überzeugen zu wollen, dass es in der Pension Tagliavini dunkel blieb, denn er kontrollierte das Haus mit der Präzision eines Nachtwächters. Eine halbe Stunde später hörte Soneri, wie ein Auto vor der Eingangstür hielt. Er öffnete langsam den Fensterladen und streckte den Kopf etwas vor. Ein schwarzer Mercedes stand mit laufendem Motor vor dem Eingang, doch keiner der Insassen stieg aus. Dann fuhr das Auto wieder davon.

Um diese Wohnung herum herrschte eine Betriebsamkeit, deren Grund Soneri schleierhaft war. Und so begann er nach einem Indiz zu suchen, das die rätselhaften Vorgänge – das Klingeln des Telefons, die undeutlichen Gesichter im Nebel und hinter den Fenstern des Autos – erklären würde. Doch die Spurensicherung hatte minutiöse Arbeit geleistet und nahezu alles mitgenommen. Nur das kleine Notizbuch auf dem Bett zwischen Ghittas Schmuck war noch da. Er nahm es und ging zurück ins Wohnzimmer. Hier, wo das spärliche Licht der Straße hereinfiel, würde es ihm vielleicht helfen zu verstehen, was vor sich ging. Doch kaum hatte er sich hingesetzt, hörte er das Klappern von Absätzen auf dem Straßenpflaster. Ein resolutes Klappern, von jemandem, der genau weiß, wo er hin will. Eine junge Frau mit einer großen Tasche lief durch die Via Saffi, und die ganze Straße schien erfüllt vom rhythmischen Klang ihrer Schritte. Kurz vor der Nummer 35 überquerte sie die Straße und ging auf den Hauseingang der Pension zu.

Der Commissario öffnete die Wohnungstür, bis er hörte, wie unten die Tür aufging und das Licht eingeschaltet wurde. Die Frau kam schnell herauf, und Soneri schloss die Tür, bevor sie den Treppenabsatz erreichte. Erst war er sich nicht sicher, wohin sie gehen würde, aber dann hörte er das Geräusch der Absätze auf den Eingang der Pension zukommen. Die Frau hantierte mit einem Schlüssel, und er öffnete ihr, noch bevor sie Gelegenheit hatte, ihn ins Schloss zu stecken.

Sie fuhr zusammen und trat einen Schritt zurück.

«Kommen Sie herein», forderte der Commissario sie mit ruhiger Stimme auf. «Ich bin von der Polizei.»

Ein paar Sekunden lang schien die Frau unentschlossen, doch Soneri fasste sie am Arm und zog sie in die Wohnung.

«Was ist passiert?», stammelte sie.

«Das müsste ich eigentlich Sie fragen», erwiderte er. «Finden Sie, das ist die richtige Uhrzeit, um Freunde zu besuchen?»

«Ich bin nicht gekommen, um jemanden zu besuchen», gab sie plötzlich sehr selbstsicher zurück. «Ich wohne hier. Haben Sie nicht gesehen, ich habe einen Schlüssel.»

«Es gab eine Zeit, da war es in der Pension Tagliavini verboten, nach Mitternacht zu kommen.»

«Woher wissen Sie das?»

Soneri antwortete mit einem wehmütigen Gesichtsausdruck. «Welches ist Ihr Zimmer?», fragte er in sachlichem Tonfall.

Die Frau deutete auf die Tür neben dem Zimmer, in dem Ada früher gewohnt hatte.

«Die Schränke sind leer.»

«Ich bleibe nie lange hier: ab und zu mal eine Nacht, wenn es spät geworden ist. Wo ist Ghitta?» Sie drehte den Kopf zur Seite und versuchte, an Soneri vorbei einen Blick zu erhaschen.

«Sind Sie mit ihr verwandt?»

«Nein, eigentlich nicht.»

«Was soll das heißen?»

«Das heißt, dass wir aus dem gleichen Dorf stammen, und dort sind alle irgendwie miteinander verwandt.»

«Aus welchem?»

«Rigoso.»

Rigoso war eine der letzten Ortschaften vor dem Gebirgskamm, der auf jenen Zipfel der Toskana zeigte, welcher zwischen die Emilia und Ligurien hineinragte und an den Griff einer Pfanne erinnerte. Die Frau hatte das Äußere der Bergbewohner: weiße Haut, helle Augen und rotbraunes Haar mit blondem Schimmer, wie die Kastanien der Apenninen.