Die Schatten von Montelupo - Valerio Varesi - E-Book

Die Schatten von Montelupo E-Book

Valerio Varesi

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Beschreibung

Über die Abgründe ländlicher Idyllen Eigentlich ist Commissario Soneri in sein Heimatdorf gereist, um sich zu erholen. Er möchte im Wald Pilze sammeln, die Seele baumeln lassen und in Erinnerungen schwelgen. Doch schon bald hört er Gerüchte über das angebliche Verschwinden des Besitzers der örtlichen Wurstwarenfabrik. Was soll die Geheimniskrämerei um den mächtigsten Mann des Ortes? Als kurze Zeit später eine Leiche gefunden wird, kann Soneri seine Urlaubspläne endgültig begraben … «Hypnotisierend.» (Der Standard) «Ideale Lektüre für kalte Wintertage.» (Financial Times Deutschland) «Spannender kann kein Autor einen Krimi ersinnen.» (Westfälische Rundschau)

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Seitenzahl: 362

Veröffentlichungsjahr: 2010

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Valerio Varesi

Die Schatten von Montelupo

Commissario Soneri kommt ins Grübeln

Deutsch von Karin Rother

Für meinen Vater Aldo, genannt Fabio, der mich die Namen der Bäume gelehrt hat.

Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden.

Alle Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten, Orten und lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Ich danke der Polizeiassistentin Simona Mammano für die ermittlungstechnischen Hinweise sowie dem gesamten Verlagsteam von Frassinelli für die wertvollen Anregungen und die großartige Professionalität.

Die Anschläge bezüglich Paride Rodolfi tauchten am Martinstag im Dorf auf. Darauf war zu lesen, dass er keineswegs verschwunden sei, sondern am Leben und bei guter Gesundheit. Den letzten mussten sie angebracht haben, kurz bevor der Commissario eintraf, als er davorstand, triefte das Papier noch vom Leim. Der Hinweis, der nach Ärger und Geheimniskrämerei roch, gefiel ihm nicht. Dabei wusste er noch nicht einmal von dem Gerücht, demzufolge die Rodolfis in Schwierigkeiten steckten. Neidisches Getuschel, nur gebremst von dem Respekt, den die eindrucksvolle Villa am Hang und die riesige Wurstwarenfabrik der Rodolfis einflößten. Ihr Name erinnerte Soneri an ein bekanntes Markenzeichen, das einen dicken Schlachter mit Schnauzbart neben einem gemästeten Schwein zeigte. Das Bild in dem bunten Oval hatte seine Phantasie von klein auf beschäftigt, seit er es zum ersten Mal auf den Banderolen der Schinken entdeckt hatte, die in den nach Schweineschmalz duftenden Metzgereien am Haken hingen. Mit der Zweideutigkeit dieser Anschläge hatte das allerdings nichts zu tun: Obwohl sie eine gute Nachricht verkündeten, konnten sie doch nicht verbergen, dass hier etwas ziemlich Nebulöses vor sich ging.

Die Neugier, die in ihm aufstieg, empfand er als lästig. Er richtete seinen Blick nach oben, auf die Bergkette, die aussah, als sei sie in zwei Hälften zerteilt worden von den tiefhängenden, mausgrauen Wolken. Er stellte sich vor, wie die zerklüfteten Gipfel in diesen Schoß aus Wasserdampf hineinragten wie ein altes Gebiss. Weiter unten wurden die Kastanienwälder im nassen Tau langsam kahl, erst mit dem Frost würden sie trocknen. Der Gedanke an die Feuchtigkeit hob seine Stimmung: Sie würde dafür sorgen, dass die Pilze wuchsen, deretwegen er hergekommen war, in das Tal, das er von Kindheit an kannte. Er hatte sich darauf gefreut, wieder einmal den kehligen Dialekt der Bergbewohner zu hören und zu wandern, getrieben allein von der Lust an der Bewegung. Der Sommer in der Stadt, den er schwitzend verbracht hatte, in der schwülen Hitze, die er so verabscheute, war anstrengend gewesen. Dann hatten ihm der Herbst und der neue Polizeipräsident mit Stapeln voller neuer Anordnungen, Rundschreiben und Richtlinien kaum Luft zum Atmen gelassen. Nach all den Jahren im Polizeipräsidium spürte er, wie er von Tag zu Tag unduldsamer wurde. Irgendwann hatte ihm Angela, seine Lebensgefährtin, beinahe befohlen, endlich einmal auszuspannen, und statt zwei Wochen an der Cote d’Azur zu verbringen, hatte er beschlossen, in die Pilze zu gehen.

Es wäre seine Chance gewesen, dem Nebel von Parma zu entkommen, doch stattdessen hatte er sich in dieses Tal im Apennin verkrochen, in das die tiefstehende Sonne in der kalten Jahreszeit so gut wie nie vordrang.

«Ich brauche einfach Ruhe», hatte er Angela erklärt, «ich habe genug von den ständigen Scherereien im Büro.»

«Fahr, wohin du willst», hatte sie skeptisch erwidert, «momentan kann ich dich sowieso nirgendwohin begleiten, ich ersticke in Arbeit.»

So war er gut gelaunt und ohne Schuldgefühle aufgebrochen. Doch kaum setzte er seinen Fuß ins Dorf, stand ihm diese fiebrige Erregung im Wege, stieß er auf das laute Stimmengewirr in der scheinbaren Stille, als wäre hinter der ruhigen Fassade kalter Schweiß ausgebrochen.

Auch auf der Piazza gab es einen Aushang, auf der Informationstafel des Rathauses, und Soneri las den Text noch einmal aufmerksam durch, während er sich eine Toscano anzündete: «Wir möchten alle Einwohner davon in Kenntnis setzen, dass sich Doktor Paride Rodolfi bester Gesundheit erfreut und in der Lage ist, seinen beruflichen Pflichten uneingeschränkt nachzukommen. Wir danken allen Einwohnern für die zum Ausdruck gebrachte Besorgnis.»

Er versuchte, an die Pilze und die Baumstümpfe der Buchen zu denken, die in dem durchnässten Unterholz ausgetrieben haben mussten. Er konnte es kaum erwarten, hinaufzusteigen, sobald es ein bisschen aufklarte, und die prächtigen Steinpilze zu pflücken. Er wollte einfach nur alles weit hinter sich lassen, alles außer den Wäldern und den Pilzen.

Er dachte nicht mehr an die Anschläge, bis Maini, sein alter Freund aus Kindertagen, zu dem er noch immer Kontakt hatte, ihn wieder daran erinnerte.

«Einen besseren Moment hättest du dir für deinen Besuch gar nicht aussuchen können», rief er, «einen Commissario können wir hier gerade gut gebrauchen.»

«Ich möchte mit Ermittlungen welcher Art auch immer nichts zu tun haben», stellte Soneri sofort klar.

Sie saßen in der Bar Rivara und sahen auf die Piazza, auf der die Stände für den Markt am Sonntagvormittag aufgebaut waren. An den Verkaufstischen wurde ununterbrochen gemurmelt, die Stimmen verbreiteten Unruhe.

«Was hast du dir bloß dabei gedacht, ausgerechnet im November hier herauf zu kommen?», fragte ihn Maini.

«Du weißt doch, dass ich gerne in die Pilze gehe», erwiderte der Commissario und deutete vage in Richtung der nebelverhangenen Berge.

«Dieses Jahr hast du’s aber schlecht erwischt: Der Sommer war zu heiß, und sie sind schon beim Austreiben vertrocknet.»

«Das sagt ihr jedes Mal», sagte Soneri achselzuckend, «entweder war es zu trocken, oder es gab zu viel Regen oder irgendeine Krankheit… Davon lasse ich mich nicht abschrecken.»

Maini lachte, betrachtete die Tische, an denen die Alten saßen, und wechselte das Thema: «Was sagst du zu den Anschlägen?»

«Es handelt sich wohl um einen Streich», seufzte Soneri. «Heute ist doch Kirchweih, oder?»

In diesem Moment kamen auch Volpi, der Jagdaufseher, und der Vigile Delrio, der Polizist des Dorfes, herein. Wortlos nickten die beiden ihnen zu und setzten sich neben sie.

«Tatsache ist, dass niemand hier Rodolfi gesehen hat», insistierte Maini.

«Doch, gestern Abend schon», mischte sich Volpi ein. «Jedenfalls stand ein Auto, das aussah wie seins, vor der Apotheke.»

«Wer hat das gesagt?»

«Das wurde heute Morgen erzählt», antwortete der Mann ausweichend.

«Angeblich hat er vor einer Woche angekündigt, dass er wegfährt», erklärte Delrio. «Auf Geschäftsreise. Eine seiner Angestellten, die Tochter der Biavardis, hat das gehört.»

«Aber die Jäger der Case Bottini haben am Freitag seine Hündin erkannt: Sie hat sich oben an der Costa Pelata herumgetrieben», widersprach ihm Volpi.

«Vielleicht ist jemand anderes mit ihr dagewesen», beschwichtigte Delrio.

«Er wird wieder mit seiner Frau aneinandergeraten sein», lachte Maini, «das weiß doch jeder, dass sie sich nicht mehr verstehen und dass er immer wieder mal hinaufgeht und in den Wäldern bei den Wildschweinen bleibt.»

«Und bei jemandem, der nachts auf sie schießt», bekräftigte Volpi ernst. «Man hat dort oben Schüsse gehört, und es hörte sich an wie eine Franchi-Doppelflinte.»

«Man hört so viele Schüsse», ergriff Delrio wieder das Wort, «und weiß nicht, wer da schießt. Aber es sind jedes Mal vereinzelte Schüsse aus dem Hinterhalt.»

«In diesen Bergen wimmelt es nur so von Wilderern», räumte der Jagdaufseher ein. «Um sie zu erwischen, bräuchte man eine ganze Armee.»

«Wenn einer geschickt ist, kriegst du ihn nicht. Dort oben haben nicht einmal die Deutschen die Partisanen erwischt», erinnerte Maini. «Aber sind es wirklich Wilderer?»

Die Frage stand im Raum und löste Schweigen aus. Soneri, der das Gespräch etwas widerwillig verfolgt hatte, hörte, wie die Stimmen in der Bar lauter wurden, während der Gestank von abgestandenem Rauch und Feuchtigkeit zu ihm herüberzog. Nach ein paar Sekunden hob Volpi eine Hand und ließ sie schwer auf den Tisch fallen. Die Geste einer stummen Beredtheit, die der Commissario nur allzu gut kannte. Auch die anderen verstanden und lächelten. Dann fuhr Maini fort: «Sieht so aus, als ob Rodolfi in letzter Zeit nicht mehr ganz…», und zeigte mit den Handflächen nach oben. «Erschöpfung.»

«Tja, einer, der Anschläge aufhängt…»

Rivara kam mit dem Malvasia. Er stellte die Gläser auf den Tisch und öffnete die Flasche. Seine großen Hände mit der ledernen Haut bewegten sich ruhig und routiniert. Dann verkündete er überraschend: «Man hat ihn heute Morgen gesehen.»

«Wo?», fragte Maini.

«Bei ihm zu Hause», erwiderte Rivara und deutete mit dem Kinn in Richtung Berge. «Er lief im Hof herum und schien sich Sorgen zu machen.»

«Wer hat ihn gesehen?», wollte Volpi wissen.

«Mendogni. Er fuhr auf dem Weg nach Campogrande mit seinem Traktor dort vorbei.»

«Jeder behauptet etwas anderes», stellte Soneri grinsend fest.

«Mir geben eher die Schüsse zu denken», fuhr Delrio fort. «Schüsse zu jeder Tages- und Nachtzeit, dabei ist die Wildschweinsaison schon lange zu Ende… Vielleicht macht da jemand Dummheiten.»

«Sagt es den Carabinieri», unterbrach ihn der Commissario.

«Die wissen davon. Außerdem hören sie es ja selbst», erwiderte Delrio.

Sie hoben ihre Gläser und stießen an.

«Ich gehe davon aus, dass ihr schon eine Runde gedreht habt», spielte Soneri lächelnd auf die Pilze an.

«Kaum welche da», untertrieb Volpi, «reine Glückssache.»

Die Wolken hingen jetzt nicht mehr so tief, und vor ihnen erkannte man den Passo della Duca und die dunklen Flecken der Kiefern.

«Ich wollte vielleicht am Nachmittag mal hinaufgehen», ließ der Commissario wissen.

Volpi sah ihn missbilligend an. «Um vier ist es bereits dunkel. Geh besser morgens und komm zum Mittagessen wieder ins Dorf.»

Seine Stimme klang irgendwie beunruhigt, doch Soneri achtete nicht weiter darauf, da Volpi hinzufügte: «Die Pilze treiben nachts, wenn es feucht ist. Entweder findest du sie am Morgen oder gar nicht.»

«Ich meine, wenn er alle davon in Kenntnis setzen wollte, dass nichts passiert ist, hätte es gereicht, mal kurz ins Dorf zu kommen. Warum hängt er diese Anschläge auf?», fing Delrio wieder an, dem die Geschichte einfach nicht aus dem Kopf wollte.

«Wann ist der denn schon mal ins Dorf gekommen?», gab Volpi zurück. «Es kommt doch nur sein Vater Palmiro, der seine Schweine auf dem Markt verkauft hat und hier geboren ist.»

«Rivara hat doch gerade gesagt, dass Mendogni ihn in seinem Hof gesehen hat…», gab Maini zurück.

Delrio sah ihn unschlüssig an: «Die Leute sehen ständig alle möglichen Dinge, die es gar nicht gibt… Und der Feldweg nach Campogrande verläuft weit ab von der Villa.»

«Sein Mercedes stand gestern Abend vor der Apotheke.»

«Das kann auch seine Frau gewesen sein, die die nächste offene Apotheke suchte. Sie soll sich ja quasi von Medikamenten ernähren», meinte Delrio.

Soneri zwang sich, an etwas anderes zu denken. Vor allem an die Waldwege. Und beobachtete in der Zwischenzeit die fahrenden Händler auf der Piazza, die begonnen hatten, ihre Stände abzubauen, während der Himmel nun seinerseits auch den letzten Blick auf die Berge versperrte. Einer der Händler, in dicken Stiefeln, kam in die Bar, um sich aufzuwärmen.

«Schon wieder am Aufbrechen?», fragte ihn Rivara.

«Was sollen wir denn hier noch? Wir verkaufen ja doch nichts. Die Leute scheinen ganz aus dem Häuschen zu sein.»

«Es ist Martinstag», rechtfertigte der Wirt.

Der Händler sah ihn wenig überzeugt an. «Die verschwenden doch keinen Gedanken an Sankt Martin», spottete er. «Die haben nur Rodolfi im Kopf. Was ist denn eigentlich passiert?»

«Sah so aus, als sei er verschwunden, aber dann wurde er gesehen. Und heute hat man Anschläge aufgehängt, um das Dorf darüber zu informieren, dass er gesund und munter ist», erklärte Rivara.

«Die hab ich gesehen», nickte der Händler und trank seinen Grappa in einem Zug. «Ich glaube, da ist was faul.»

Delrio wandte sich an die anderen: «Seht ihr? Selbst einer von auswärts kapiert sofort, dass hier etwas nicht stimmt.»

«Der Commissario ist extra deswegen hier raufgekommen», schaltete sich Rivara wieder ein und zeigte scherzhaft auf Soneri.

Der Händler starrte ihn ungläubig und verständnislos an. «Ist die Angelegenheit wirklich so ernst?», fragte er.

«Könnte durchaus sein…», warf Volpi zweideutig ein.

«Wir werden sehen, wie es ausgeht», ergänzte Delrio.

«Jedenfalls», sagte der Commissario kurz angebunden, «bin ich nur hier, um Pilze zu sammeln.»

Der Händler lachte, zahlte und ging.

Dabei stimmte das nicht ganz. Während er aufstand und zusah, wie die Piazza sich leerte, wurde ihm bewusst, dass auch ihn die Geschichte nicht mehr losließ, und diese Tatsache empfand er als so lästig wie einen Schnupfen.

«Sehen wir dich heute zur Torta Fritta?», fragte Maini.

Soneri sah in den immer finsterer werdenden Himmel, bevor er antwortete: «Ich denke schon.»

«Mach dir keine Hoffnungen», sagte der andere mit Blick auf das Wetter, «heute ändert es sich nicht mehr.»

Der Commissario breitete die Arme aus, grüßte und machte sich auf den Weg zur Pension Scoiattolo, wo er ein Zimmer reserviert hatte. Als er eintrat, duftete es nach mit Maronen gefüllten Tortelli und Steinpilzsoße, was Kindheitserinnerungen in ihm wachrief, die unter dem faden Geschmack allzu vieler Schnellimbisse verschüttet gewesen waren.

Sante Righelli, der Inhaber, empfing ihn mit jener spröden Zurückhaltung der Bergbewohner, die an Unhöflichkeit grenzt. Soneri musterte ihn und fand, dass er dem Metzger von Rodolfis Markenzeichen ziemlich ähnlich sah.

«Sie haben sich ja nicht gerade gutes Wetter ausgesucht», bemerkte der Mann.

«Es ist eben November…», verteidigte sich der Commissario. «Wenigstens wachsen die Steinpilze bei der Feuchtigkeit gut.»

Der andere schüttelte den Kopf. «Auch dafür haben Sie sich nicht den richtigen Zeitpunkt ausgesucht.»

«Im schlimmsten Fall ruhe ich mich eben einfach aus.»

Sante ging voran und machte ihm ein Zeichen, ihm in die Gaststube zu folgen, in der bereits viele Leute zu Mittag aßen, blieb dann aber auf der Schwelle stehen.

«Ich hoffe, Sie können sich tatsächlich erholen», murmelte er zweideutig.

«Meinen Sie, dass ich nicht gut schlafen werde?»

«Nein, nein», erklärte Sante, «ums Schlafen geht’s nicht, Sie werden wunderbar schlafen, aber hier im Dorf herrscht ziemliche Aufregung.»

«Ich weiß, die Anschläge…»

«Nun», bestätigte der Wirt mit einem etwas besorgten Gesichtsausdruck, «hoffen wir, dass es dabei bleibt.»

Hinter seinen Andeutungen schien sich noch etwas anderes zu verbergen, doch Soneri hatte sich geschworen, sich nicht in die Sache hineinziehen zu lassen, und wandte seine Aufmerksamkeit Ida, der Frau seines Wirts, zu, einer Veteranin am Kochtopf, korpulent und verschwitzt. Eine Frau aus den Bergen mit breiten Hüften, die so unverwüstlich wirkte wie ein Bahnwärterhaus.

«Ihren Düften kann man einfach nicht widerstehen», lobte der Commissario.

«Schön wär’s…», erwiderte die Frau. «Die Zeiten sind vorbei!» Und warf einen enttäuschten Blick auf ihren Mann, der dazu nichts sagte.

«Sie verführen eben die Gaumen», scherzte Soneri.

«Mir bleibt ja nichts anderes übrig», stellte sie fest. «Aber ich habe den Eindruck, dass ich damit Erfolg habe. Die Leute kommen in Scharen, sogar von der Bundesstraße, Reisende, die unterwegs sind, LKW-Fahrer auf dem Weg zur Autobahn. Meine zahlreichen Verehrer kommen von überall her», kicherte sie.

«Und heute ist ja auch noch Feiertag.»

«Heutzutage ist jeder Tag ein Feiertag. Ob Sonntag oder Montag, das Menü geht immer gut. Abwechslung finden Sie da draußen…», bemerkte die Frau.

«Beim Essen liebe ich alte Gewohnheiten», lenkte Soneri ab und ging auf einen freien Platz zu.

«Sie wollen also nicht das Menü?», fragte Sante.

«Das würde ich gerne der Köchin überlassen.»

Es war beileibe kein Fehler, Ida freie Hand zu lassen: dreierlei Tortelli, gefüllt mit Maronen, Kartoffeln und Kräutern, dreierlei Fleisch, Kaninchen, Wildschwein und Kapaun, als Beilage Polenta, als Finale Zabaionecreme und dazu ein rubinroter Bonarda. Nach dem Essen war der Commissario vom üppigen Mahl, dem Wein und den plätschernden Unterhaltungen im Restaurant so schläfrig, dass er sein Handy erst nach langem Klingeln hörte.

«Bist du gut angekommen?», fragte Angela, deren Stimme wegen der schlechten Verbindung mal lauter und mal leiser klang.

«Der Empfang ist hier ganz schlecht», sagte er und ging nach draußen.

«Bist du im Scoiattolo?»

«Ja.»

«Das hätte ich mir denken können.»

«Was soll ich sagen? Hier fühle ich mich eben heimisch, ich kenne die Wirtsleute…»

Er hörte am anderen Ende ein Seufzen. «Stell dir nur einmal vor, wie viele schönere Orte es wohl gibt, die du gar nicht kennst.»

«Aber warum sollte ich woanders hingehen, wenn ich mich hier wohl fühle?»

«Ich komme das in den nächsten Tagen mal kontrollieren», drohte sie scherzend. «Aber was ist los mit dir? Du kommst mir genervt vor.»

«Nein, ich bin nicht genervt…», brummte Soneri, nicht sonderlich überzeugend. «Die erzählen mir nur ständig von einem, der angeblich verschwunden, dann wieder aufgetaucht ist… Keiner versteht, was eigentlich passiert ist, und daher gibt es jede Menge Gerüchte. Und wegen meines Berufs wenden sie sich alle an mich.»

«Könnte es vielleicht sein, dass du einfach neugierig bist?»

«Na ja, ein bisschen schon», gab der Commissario zu. «Ich würde mich gerne über die Pilze unterhalten, aber alle, denen ich über den Weg laufe, wollen immer nur über dieses eine Thema sprechen.»

«Wer ist denn überhaupt verschwunden? Jemand Wichtiges?»

«Paride Rodolfi, der Besitzer der Wurstwarenfabrik.»

«Donnerwetter!», kommentierte Angela. «Das ist ja nicht irgendwer. Ich kenne den Rechtsanwalt seiner Firma: einen Zivilrechtler. Das glaube ich gern, dass darüber geredet wird. Die haben doch alle irgendwie mit den Rodolfis zu tun, entweder weil sie dort arbeiten oder weil sie mit ihnen Geschäfte machen.»

«Ich weiß, es ist nun aber so, dass…» Der Commissario unterbrach sich, weil er plötzlich seinen Faden verloren hatte. Dann wurde ihm bewusst, dass auch er nicht sagen konnte, warum ihm die Geschichte so seltsam vorkam.

«Dass was?», drängte Angela.

Also erzählte Soneri die Fakten der Reihe nach, um sie auch für sich selbst zu ordnen: «Überall hängen Anschläge, auf denen mitgeteilt wird, dass Rodolfi am Leben und gesund ist. Dabei hatte ihn überhaupt niemand für tot gehalten, alle hatten angenommen, dass er eine Zeitlang verreist wäre.»

«Wenn einer verschwindet, kommt immer der Verdacht auf, dass er tot sein könnte», versuchte Angela zu erklären.

«Sicher. Aber auch jetzt, wo es diese Anschläge gibt, sind sie sich nicht sicher, dass er lebt. Einige behaupten, ihn gesehen zu haben, doch keiner kann es beschwören.»

«O Gott, Commissario», murmelte Angela, «so konfus habe ich dich noch nie erlebt. Ich hoffe, das liegt an dem schweren Essen. Mach einen Spaziergang, um den Kopf wieder frei zu kriegen, und ruh dich aus.»

«Ich habe den Eindruck, dass alle viel mehr wissen, als sie sagen, aber da ich keine anderen Anhaltspunkte habe, komme ich selbst ganz durcheinander, ich kann nicht logisch darüber nachdenken», erklärte der Commissario.

«Willst du einen Rat? Misch dich nicht ein. Geh auf deine Berge, und lass sie allein nach Rodolfi suchen, falls er sich tatsächlich verlaufen hat», schloss Angela.

Um halb drei hing noch immer der Dampf von Fleischbrühe in der Luft, und das Dorf döste vor sich hin. Soneri ging auf sein Zimmer, zog Gummistiefel an und schlüpfte aus dem Haus, ohne dass Sante ihn sah. Hin und wieder befolgte er Angelas Ratschläge. Und außerdem waren ihm diese Wälder vertraut, er kannte sich darin aus wie in seiner Westentasche. Er schlug den Weg zum Montelupo ein, um erst ein paar Kilometer der Straße nach oben zu folgen und dann durch den Buchenwald zu streifen. Er würde sich die Füße vertreten, um seine Lungen zu testen. Mit gleichmäßigem Schritt lief er los und sah sich von Zeit zu Zeit nach dem kleiner werdenden Dorf um. Erst beim Trinkwasserspeicher, wo es eine Quelle gab, richtete er den Blick nach oben zum Berg. Der Nebel befand sich nun nur noch knapp oberhalb von ihm: zehn Minuten Fußmarsch. Die erste Dunstschwade erreichte ihn in Boldara, wo der asphaltierte Weg endete. Dann wurde es abwechselnd hell und wieder dunkel, willkürlich trieb der Wind die Wolken vor sich her. Erst als er auf dem Weg in den Buchenwald war, zog es sich vollständig zu. Die Bäume und das Gehölz, der dichte Nebel, der von oben herabdrückte, und die schwarze Erde unter seinen Füßen ließen ihn frösteln. Mit leichtem Unbehagen ging er weiter und drang immer tiefer in diesen dunklen Tunnel ein. Er spürte, dass er nicht allein war. Vogelgezwitscher und das Rascheln der Kastanienschalen wechselten sich ab mit dem Getrappel eines großen Tieres, das sich irgendwo im Wald herumtrieb. Nebel und Wind lenkten die Geräusche trügerisch in unbestimmte Richtungen.

Er war ein ganzes Stück aufgestiegen, als ihm heiß wurde. Sein Herz raste, und er atmete keuchend. Das war die Quittung für die Zigarren. Dann fiel sein Blick auf seine Stiefel, die voller Schlamm waren, und er begriff: Er schleppte mindestens zwei Kilo Erde mit sich herum. Er streifte sie am Moos ab. Ihm wurde bewusst, dass es in weniger als einer Stunde dunkel sein würde. Daher kehrte er um und blieb erst nach einer Weile stehen, als er das Knacken brechender Zweige hörte. Er vermutete ein Wildschwein auf der Flucht, und einen Moment lang hatte er Angst, dass es hinter ihm her war. Doch das Tier kürzte durch eine Rinne ab, die als schräger Einschnitt am Hang verlief, es setzte sich nicht ungeschützt dem Weg aus, sondern suchte die Deckung des Waldes.

Er war gerade wieder losgelaufen, als ein Schuss durch die Luft fuhr und durch das Echo im Tal widerhallte, als hätte es gedonnert. Die Kugel war keine zehn Meter an ihm vorbeigeflogen, er hatte das Pfeifen gehört und das Splittern der Zweige, die sie gestreift hatte. Sofort duckte er sich in das feuchte Gras und wartete auf einen zweiten Schuss, der nicht kam. Während er eine Zeitlang in dieser Haltung verharrte, fragte er sich, ob der Schuss dem Wildschwein oder ihm gegolten hatte, bis er beschloss, dass es unsinnig war, darüber nachzudenken. Zwanzig Minuten später erreichte er die asphaltierte Straße, und noch bevor er aus dem Nebel trat, hörte er die Musikkapelle auf der Piazza spielen.

2

Hinter der Kirche, in einer unbelebten Straße, lagen all die Gegenstände aufeinandergestapelt, die man in der Nacht zuvor hatte verschwinden lassen. Es war ein alter Brauch, sich am Kirchweihtag den Scherz zu erlauben, etwas aus den Häusern zu stibitzen, um es im Dorf wieder auftauchen zu lassen. Da fanden sich landwirtschaftliche Geräte, Fahrräder, Hüte, Autos und sogar ein Pony, das den Hafer kaute, der ihm in einem Sack um den Hals hing. Ein Mann fluchte bei dem Versuch, ein altes Motorrad aus einem Haufen Hausrat zu ziehen. Als es ihm endlich gelang und er sich gerade wieder auf den Weg machen wollte, tauchte die Kapelle auf und versperrte ihm den Weg.

Soneri wartete, bis die Mädchen in den Uniformen und dann die Musiker mit ihren Livreen, Mützen und Pailletten vorbeigezogen waren. Er wusste selbst nicht, warum die feierlichen Trommeln und Trompeten ihn immer so sehr zum Lachen reizten. Noch während er darüber nachdachte, löste sich Maini aus der ungeordneten Menge, die hinter dem Spektakel herzog, hakte ihn unter und zog ihn in die Prozession hinein.

«He, du bist ja doch losgezogen!», rief er aus, als er die erdverkrusteten Stiefel sah.

Er hatte vergessen, sich umzuziehen, aber daran würde im Dorf keiner Anstoß nehmen.

«Ein kleiner Fußmarsch, um zu sehen, wie weit mein Atem reicht», rechtfertigte er sich.

«Bis wohin?»

«Oberhalb von Boldara, Richtung Montelupo.»

«Alle Achtung!», rief Maini anerkennend. «Du bist ja gut in Form.»

«Wer schießt eigentlich hier in den Bergen herum?», fragte der Commissario geradeheraus.

Während die Kapelle lärmte, ließ Maini sich Zeit. «Hast du etwas gehört?», fragte er nach einer Weile.

Soneri nickte, ohne ihn anzusehen.

«Wo?»

«Da oben, wo ich dir gesagt habe.»

«Weißt du, von wo aus der Schuss abgegeben wurde?»

«Er ging zehn Meter an mir vorbei. In einer Rinne muss ein Wildschwein gewesen sein, jedenfalls dem Lärm nach, den es machte», erklärte Soneri.

«Die Berge sind gefährlich geworden», erklärte Maini, «ich weiß nicht, was da in letzter Zeit vor sich geht.»

«Wilderer hat es immer gegeben», versuchte der Commissario zu verharmlosen, ohne sonderlich überzeugt zu klingen.

«Am helllichten Tag? Bei diesem Nebel und mitten im Schutzgebiet?», wunderte sich der andere.

«Der Nebel schützt dich immer, da kannst du alles machen.»

«Sicher, sogar einen Mord begehen», räumte Maini ein. «Niemand kann dich sehen.»

Soneri bekam eine Gänsehaut unterhalb des Nackens, schwieg aber. Nach einer Runde durch die Gassen, wo die alten Leute an den Fenstern standen und sich die Kapelle anschauten, waren sie wieder auf der Piazza angekommen. An einem großen Stand wurde Torta Fritta und Wurst an die hungrige Menge verteilt, die sich davor drängte. Auf der anderen Seite der Piazza rösteten die Mitglieder des Ortsvereins Kastanien. In diesem Moment kam Delrio mit finsterer Miene auf sie zu. Er trug Uniform und war im Dienst.

«Sogar heute musst du arbeiten», stellte Maini fest. Delrio zuckte mit den Achseln. «Ärger gibt es immer.»

«Was ist passiert?»

«Wieder eine von diesen Geschichten…», er unterbrach sich und machte eine genervte Geste. «Dinge, die man nicht versteht», sagte er schließlich.

«Davon gibt es viele», kommentierte Soneri.

Der Vigile warf ihm einen kurzen Blick zu, als hätte er nicht schlecht Lust, ihn um Hilfe zu bitten. «Heute Nacht haben sie ein eigenartiges Sankt Martin veranstaltet», erklärte er lediglich.

Unter «Sankt Martin» verstand man einen Umzug oder eine jener Stibitzereien.

«Die jungen Leute tragen Dinge weg, die wir nie angerührt hätten», brummte Maini.

«Allerdings, ein Sarg war noch nie dabei», sagte Delrio. Und fügte dann hinzu: «Das Beste ist, dass es niemand gemerkt hat, weil er von der Markise der Ghirardis verdeckt war. Erst als das Pony angefangen hat, an ihr herumzuzerren, kam er zum Vorschein.»

«Wo habt ihr ihn hingebracht?», wollte der Commissario wissen.

Der Vigile zuckte mit den Achseln. «Wo sollen wir ihn schon hinbringen? In die Friedhofskapelle.»

«Gibt es hier in der Nähe ein Bestattungsunternehmen?», fragte Soneri weiter.

«Nein», antwortete Maini, «es ist zwanzig Kilometer weiter talabwärts.»

«Einen Sarg hat noch nie jemand gestohlen», bekräftigte der Vigile. «In diesem Dorf wohnen fröhliche Leute.»

Soneri zuckte seinerseits mit den Achseln und schwieg.

«So etwas muss man vorher planen», überlegte Maini. «Das kann man nicht einfach so in einer Nacht improvisieren.»

Auf der Piazza vermischte sich der Rauch der Röstkastanien mit dem der Frittura. Sie gingen an den Ständen vorbei, an denen die Menschen anstanden, um Kastanienpolenta und Glühwein zu kaufen. Gerade nahm die Kapelle wieder Aufstellung und begann ein neues Stück zu spielen.

«Siehst du das?», fragte der Commissario. «Die Fröhlichkeit ist geblieben.»

Der Polizist sah ihn finster an, als fühlte er sich auf den Arm genommen, dann ging er zu den Musikern hinüber, genau in dem Augenblick, in dem die Straßenbeleuchtung anging und erkennen ließ, wie tief der Nebel inzwischen gesunken war.

«Er macht sich Sorgen», sagte Maini und zeigte mit dem Kinn auf Delrio, während dieser von der Menge verschluckt wurde. «Und ein bisschen geht das eigentlich allen hier im Dorf so, auch wenn es nicht so aussieht», fügte er nach einer kurzen Pause hinzu.

«Ich weiß, wegen der Rodolfis», bekräftigte Soneri.

«Wir leben hier alle von ihnen, und trotz aller Fehler…» Etwas verlegen brach er ab.

«Wurde denn schlecht über sie geredet?», fragte der Commissario.

«Nein… Nein… Alles nur Gerüchte», wiegelte Maini ab. «Es wird viel getratscht… wegen irgendwelcher Geschäfte… Aber da steckt auch viel Neid dahinter. Wer kann schon sagen, wie reich sie wirklich sind? Die spielen mit dem Geld herum…»

«Sie drehen und wenden es und lassen es aufgehen wie eine Torta Fritta», meinte der Commissario, während er beobachtete, wie die quadratischen Teigstücke sich aufblähten, sobald sie ins kochende Öl kamen. Auch Maini sah es und lächelte, dann wurde er wieder ernst. «Aber dieser Sarg… Was meinst du dazu?»

«Dass ein leerer Sarg immer auf jemanden wartet, der hineingelegt wird.»

Der andere sah zu Boden und wechselte das Thema. «Wenn du morgen früh in die Wälder hinaufwillst, solltest du losgehen, sobald es hell wird, wir haben jetzt die kürzesten Tage des Jahres.»

«Und die Pilze verstecken sich», stellte Soneri fest, «zumindest vor dem, der nicht genau weiß, wo er sie findet.»

«Im Wald weiß man überhaupt nichts genau: Man trifft immer ganz zufällig auf eine Stelle, wie beim Pinkeln.»

Soneri musterte ihn ein paar Sekunden lang und stellte fest, dass Mainis Gesicht Besorgnis verriet. Der Commissario war erst ein paar Stunden im Dorf, aber die überall spürbare Unruhe hatte ihn bereits angesteckt. Sein Wunsch nach einem entspannten Urlaub schien sich in dieser Atmosphäre voller Ungereimtheiten wohl kaum verwirklichen lassen. Vielleicht hatte Angela recht, wenn sie behauptete, dass Ängste ihren Grund nicht außerhalb von uns, sondern in uns haben, einfach weil wir nicht undurchlässig genug sind. Und er wusste, dass es bei ihm viel zu viele Lecks gab.

Zum Glück lenkte ihn der Priester ab, der eine Prozession anführte, die sich mitten durch die Menschenmenge auf der Piazza ihren Weg bahnte. Ausschließlich alte Frauen folgten ihm, während die Ministranten an seiner Seite ein Gesicht zogen, als wären sie gerade zum Militärdienst eingezogen worden.

«Sieht aus wie eine Beerdigung», brummte Volpi verstimmt, nachdem er es aufgegeben hatte, nach Kastanien anzustehen.

«Es wird doch nicht auch noch der Priester abhanden kommen!», alberte ein alter Herr, indem er einen alten Witz über die Umzüge am Martinstag aufwärmte. Kaum war die Prozession vorbeigezogen, tauchte der Bürgermeister vor dem Commissario auf.

«Herzlich willkommen», begrüßte er ihn. «Sind Sie hier, weil…» Er unterbrach sich mitten im Satz.

Soneri bemerkte, wie verlegen er war, und um ihn zu beruhigen, sagte er: «Ich bin wegen der Pilze hier.»

Der Bürgermeister lächelte: «Wissen Sie, bei all den rätselhaften Ereignissen…»

«Ich würde gerne zehn Tage lang nichts mit solchen Dingen zu tun haben», unterstrich der Commissario.

«Irgendwer hat diese Gerüchte in Umlauf gebracht, Vermutungen. Völlig aus der Luft gegriffen… Ich versichere Ihnen, dass gar nichts passiert ist. Lediglich ein Missverständnis, an dem sich alle aufgehängt haben.»

«Man sieht, dass euch wirklich viel an Rodolfi liegt», sagte Soneri ironisch, «ihr macht euch schnell Sorgen um ihn.»

Aufmerksam musterte der Bürgermeister Soneris Gesichtsausdruck, um herauszufinden, ob er sich über ihn lustig machte. «Es war ein Fehler von ihm, diese Anschläge aufzuhängen», fuhr er fort, «es ist schon öfter vorgekommen, dass er mal weg war.»

«In der Tat, diese Anschläge aufzuhängen…», stimmte Soneri zu.

«Sehen Sie? Weil es so eigenartig ist, nährt es die Spekulationen. Er hätte einfach alles laufenlassen sollen.»

«Besser wäre es, wenn er sich mal blicken ließe», schlug der Commissario vor.

«Sicher, sicher. Aber er war nie besonders gesellig. Verstehen Sie, all diese Verpflichtungen…»

«Was gedenken Sie denn zu tun?», fragte der Commissario. «Vielleicht wäre es gut, die Gemüter ein wenig zu beruhigen.»

«Was glauben Sie denn, was ich tue? Ich gehe herum, rede mit allen, aber die Leute hier in den Bergen sind misstrauisch. Das sollten Sie doch eigentlich wissen, oder nicht?»

«Angeblich hat jemand Rodolfi heute Morgen oder gestern Abend gesehen.»

«Mendogni», erwiderte der Bürgermeister. «Aber jetzt ist er sich da nicht mehr so sicher. Er hat einen Mann gesehen, den er für Paride Rodolfi hielt, aber beschwören würde er es nicht.»

Soneri breitete die Arme aus: «Schicken Sie die Carabinieri hin.»

«Und auf welcher Grundlage? Nur weil jemand nicht nach Hause gekommen ist? Da fange ich mir am Ende womöglich noch eine Anzeige wegen falschen Alarms ein.»

«Mir scheint, was den Alarm anbelangt…», stellte der Commissario fest und sah auf die Piazza, auf der ausgerechnet Mendogni aufgetaucht war, umringt von einer Schar Neugieriger.

Der Bürgermeister ging auf ihn zu und begann, ihn auszufragen, wobei seine Stimme die der anderen übertönte. Er hatte Soneri zu dieser Art Verhör mitgeschleppt.

«Ich habe gesagt, dass du dir nicht sicher bist, dass er es war», rief der Bürgermeister. «Als ich ihn gesehen habe, war ich mir ziemlich sicher», nuschelte der Mann, etwas gereizt, weil er seinen Bericht schon so viele Male wiederholt hatte, «aber wenn man mich fragen würde, ob ich hundertprozentig sicher bin, würde ich nein sagen. Ihr kennt doch den Weg nach Campogrande? Er verläuft gar nicht so nah an der Greppo-Villa.»

«Aber wer kann das gewesen sein, wenn es nicht Paride war?», fragte einer.

«Was weiß denn ich», erwiderte Mendogni. «Da gehen so viele Leute ein und aus. Ständig fahren vor dem Haus teure Autos vor, ohne dass man weiß, wer drin sitzt.»

Der Bürgermeister wirkte verärgert, weil Mendognis Worte die Leute nicht beruhigten, sondern vielmehr den Verdacht weiter schürten.

«Die Tochter von Biavardi sagt, dass er nicht zurückgekommen ist», warf einer ein, «und dass man seit einer Woche nichts von ihm gehört hat.»

«Aus irgendeinem Grund müssen sie die Anschläge aber doch aufgehängt haben!», entgegnete ein anderer.

Soneri lauschte dem Stimmengewirr, und durch seinen Kopf schossen Bilder, die er schon tausendmal gesehen hatte. Am Anfang war immer alles so konfus, so widersprüchlich… was nicht bedeutete, dass am Ende eines Falles unbedingt alles klar war. Aber er wollte nicht, dass das hier zu einem «seiner» Fälle wurde, daher nutzte er die Auseinandersetzung, um sich unauffällig zu entfernen: Er hatte sich fest vorgenommen, diesmal nur Zuschauer zu sein.

Die Dunkelheit, die mit dem Nebel ins Tal herabgezogen war, hatte sich mittlerweile über das Dorf gelegt. So lief er bis zur Osteria von Rivara, wo er sich ein Glas Malvasia genehmigen wollte, doch als er sah, wie voll es dort war, ging er geradeaus weiter auf den alten Dorfkern zu. Als er an der Bar Olmo vorbeikam, warf er einen Blick hinein und stellte fest, dass dort die Ruhe eines Feiertagsabends herrschte, was ihn beruhigte. Es war das Lokal, in dem die Alten verkehrten, und es schien mit ihnen in die Jahre gekommen zu sein.

Er ging hinein, lehnte sich an den Tresen und zündete sich eine Toscano an. Am Tisch vor ihm spielten vier Männer schweigend Karten.

«Heute Abend gibt es ein Feuerwerk», murmelte einer von ihnen.

Die anderen zuckten mit den Achseln, ohne von ihren Karten aufzusehen.

«Für wen ist wohl der Sarg bestimmt?», fragte ein anderer.

«Hoffentlich nicht für einen von uns.»

Während Soneri die unerschütterliche Gleichgültigkeit der Spieler beobachtete, merkte er, dass er seinerseits beobachtet wurde.

Er drehte sich um und erkannte Magnani, den Wirt des Olmo.

«Wenn einer von deiner Sorte anfängt, sich hier herumzutreiben, heißt das, dass tatsächlich etwas faul ist», begrüßte der Wirt ihn.

«Falsch gedacht», erwiderte der Commissario, «meine Ermittlungen werden sich auf das Unterholz beschränken.»

«Dann hast du ja genug zu tun», sagte Magnani und füllte zwei Gläser mit Weißwein, ohne abzuwarten, dass Soneri etwas bestellte. Dann hob er seines: «Auf die Gesundheit und auf die Ermittlung.»

«Wegen meiner Gesundheit werde ich einer Ermittlung aus dem Weg gehen», erwiderte der Commissario und prostete ihm zu.

Der Wirt machte eine gleichgültige Geste, indem er die offenen Handflächen zeigte: «Ich meinte die Suche nach den Pilzen.»

«Hast du Tipps für mich?»

«Ich konnte mich noch nie dafür begeistern. Aber man sagte mir, dass es schlecht aussieht, der Sommer war zu trocken. Du solltest es möglichst weit oben versuchen, wo es kühler ist. Falls sie welche übrig gelassen haben.»

«Haben sie denn schon viele gesammelt?»

Magnani machte eine beredte Handbewegung: «Manche gehen jeden Tag rauf.»

«Haben sie keine Angst vor den Schüssen?»

Der Wirt sah ihn an, und im Bruchteil einer Sekunde waren sie sich einig. «Die Berge sind groß, da gibt es genug Platz für alle.»

«Wo bekommt man den Sammlerausweis?»

«Im Rathaus, wie immer», informierte ihn Magnani, dann fügte er hinzu: «Du siehst gut aus, wie eh und je.»

«Hier ist auch alles wie immer», erwiderte Soneri und betrachtete die Bar mit ihrer altmodischen Einrichtung und den von den Rückenlehnen der Stühle verschrammten Wänden.

«Ach was, hier werden alle alt. Ab einem bestimmten Alter vergehen die Jahre wie im Flug.»

«Du bist eine Institution.»

«Ja, wie der Dom. Und inzwischen fühle ich mich auch genauso alt.»

Die vier spielten immer noch und unterbrachen ihr Schweigen nur, um die Partie zu kommentieren.

«Der einzige Vorteil des Älterwerdens ist, dass man alles, was passiert, mit einer gewissen Gelassenheit beobachtet. Ich würde wirklich gerne wissen, wie das alles noch endet», erklärte Magnani.

«Du meinst hier im Dorf?»

«Richtig.»

«Denkst du, dass er tatsächlich verschwunden ist?»

«Ich denke, dass irgendjemand falsch spielt und dass das Spiel schlecht ausgehen könnte», bekräftigte der Wirt, während er zusah, welche Karten in der Mitte des Tisches ausgespielt wurden. «Es kommt mir vor, als würden wir auf einem Ameisenhaufen sitzen.»

Soneri lauschte den Worten des Alten und erinnerte sich an seine Verwirrung, als er Angela erklären wollte, was passiert war. Er war schon wieder genauso konfus. Aber bei jedem Versuch, eine Erklärung zu bekommen, wurden alle ausweichend. So beschränkte sich auch Magnani darauf zu sagen: «Da steckt so vieles dahinter… Schwer zu verstehen, wenn man nicht im Dorf lebt…»

Dann ging die Tür auf, ließ einen Schwall Feuchtigkeit herein, und ein alter Mann, ein wenig außer Atem, erschien, hob seinen Stock vor sich in die Höhe und verkündete: «Jetzt finden sie auch Palmiro nicht mehr.»

Das Quartett drehte sich ruckartig um und ließ die Karten fallen: Der alte Rodolfi war offensichtlich wesentlich beliebter als sein Sohn.

«Was ist das? Eine Seuche?», knurrte Magnani.

«Er ist heute Nachmittag aufgebrochen, um mit seinem Hund spazieren zu gehen. Als es dunkel wurde, war er immer noch nicht wieder da. Und dann kam der Hund zurück, aber ohne sein Herrchen», erzählte der Alte.

«Suchen sie schon nach ihm?», fragte der Commissario.

Der Mann nickte. «Die Carabinieri und Freiwilligentrupps aus dem Dorf.»

Magnani stand stocksteif da, gedankenverloren, ohne etwas zu sagen. Auch von den anderen sagte keiner ein Wort, und es war, als schreie dieses Schweigen ihre Verwunderung und Bestürzung geradezu heraus. Soneri ging nach draußen und fand sich in einem Nebel wieder, der so schnell durch die Straßen des Dorfes zog wie die Wolken über die Kämme der Berge. Er wandte sich zur Piazza und sah im flirrenden Licht der Straßenlaternen aufgeregtes Hin und Her. Selbst das Rathaus war geöffnet, und unter den schmalen Arkaden am Eingang herrschte ständiges Kommen und Gehen. Ein Rettungswagen fuhr langsam, aber mit eingeschaltetem Blaulicht vorbei.

«Entweder ist keiner drin, oder es ist jemand, für den es sich nicht mehr lohnt, sich zu beeilen», brummte Rivara, der ebenfalls auf die Straße herausgekommen war.

«Vor einer Stunde haben sie gemeldet, dass sie einen Schuss gehört haben», informierte sie Maini.

«Woher kam er?»

«Von der Gambetta, nicht weit vom Weg nach La Croce. Aber wer weiß, ob es stimmt: Viele haben gar nichts gehört.»

«Du meinst, dass es ein Gewehrschuss…», fragte Rivara so beunruhigt, dass er seinen Satz nicht beendete.

«So, wie’s inzwischen aussieht, ist alles möglich.»

Ein Mann im Rollstuhl, der in eine Decke gewickelt war, wiederholte immer wieder, dass man ihn fragen müsste, weil er Palmiros Wege kannte. «Wir sind zusammen auf die Jagd gegangen», nuschelte er, wurde aber von niemandem beachtet.

«Haben sie es mit dem Hund versucht? Er könnte sie zu ihm führen», fragte Rivara.

«Ich glaube schon, aber das Tier ist alt und scheint völlig erschöpft zu sein.»

«Er wird sich in diesem Nebel verlaufen haben», schloss der Wirt.

Ein Gefühl der Ohnmacht machte sich unter den wartenden Menschen breit, die hier im Nebel standen. Ein Wagen der Carabinieri fuhr vorbei und hielt vor dem Rathaus. Dann durchbrach ein weiteres Scheinwerferpaar die Dunkelheit und fuhr auf die Osteria von Rivara zu. Vier junge Männer aus dem Dorf stiegen aus.

«Wollten sie eure Hilfe nicht?», fragte der Wirt.

«Es sind schon so viele…», antwortete der Fahrer. «Die brauchen Leute, die sich in den Wäldern auskennen: Mir sind sie völlig fremd.»

«Wie sieht’s aus?»

«Bei diesem Nebel und in der Dunkelheit finden sie ihn nie… Sie sind verrückt. Am Ende verläuft sich auch noch einer von ihnen.»

«Sie können ihn da draußen doch nicht erfrieren lassen.»

«Der spürt die Kälte doch mittlerweile gar nicht mehr», meinte altklug ein anderer Jugendlicher, der aus dem Auto gestiegen war.

«Da oben ist der Nebel noch dichter», fuhr der erste fort, «sogar den asphaltierten Weg findet man kaum, wenn man ihn nicht kennt.»

«Haben sie Trupps gebildet?»

«Ein Einsatzwagen der Carabinieri hat oben am Trinkwasserreservoir Stellung bezogen. Die anderen haben Funkgeräte.»

Maini schüttelte den Kopf: «Heute Nacht werden sie ihn nicht finden.»

«Das ist nicht gesagt», widersprach Rivara, «da sind Leute dabei, die kennen den Wald in- und auswendig. Auch Palmiro, falls er noch laufen kann…»

«Die Carabinieri haben Ulisse bei sich, der sich seit vierzig Jahren am Montelupo rumtreibt.»

«Hatte er denn kein Handy?», fragte Soneri.

«Palmiro?», platzte Rivara heraus, verwundert über die Frage. «Der wollte von solchen Dingen nie etwas wissen. Der machte die Buchhaltung noch mit dem Bleistift! Nein, Palmiro ist ein Mann vom alten Schlag. Einer, der die Schweine eigenhändig an den Ohren packte und umdrehte wie einen Sack.»

«Und wenn es ihm gerade passte, beschiss er beim Gewicht», unterstellte boshaft ein kleiner Mann mit nikotingelben Zähnen, der Ghidini hieß und sich seine Zigaretten selbst drehte.

Plötzlich wurde es still, und Soneri hatte den Eindruck, dass der Mann eine heikle Sache angesprochen hatte. Als ob seine Bemerkung etwas heraufbeschwor, was man lieber vergessen wollte.

«Wir sollten hinauf», warf Rivara ein.

«Wir könnten dort nichts ausrichten», erwiderte Maini. «Entweder kommt Palmiro von alleine wieder nach Hause, oder er bleibt im Wald.»

«Vielleicht hat er etwas gefunden, wo er die Nacht verbringen kann», überlegte Ghidini. «In einer der vielen Hütten am Montelupo oder in den Trockenhäuschen für die Kastanien…»

«Da sind die Albaner drin», kicherte Rivara.

«Das sind doch nur Lügenmärchen», sagte Maini kurz angebunden.

«Sie werden schon da sein, wenn es stimmt, dass alles voller Dosen und Flaschen ist. Und außerdem wird da oft Feuer gemacht.»

«Nun, Palmiro ist zuzutrauen, dass er seine Doppelflinte mitgenommen hat», warf Ghidini ein.

«Umso besser», brummte der Wirt. «Auf diesen Bergen treiben sich so viele Gestalten rum… Und die sind nicht alle in Ordnung.»

Soneri blickte angestrengt zum Montelupo hinauf, konnte aber nichts erkennen. Nicht einmal den eindrucksvollen Umriss des Bergmassivs, das über dem Dorf aufragte.

In diesem Moment fuhr noch ein Auto vor, und der Bürgermeister stieg aus. Sie erkannten ihn aus zehn Meter Entfernung und bemerkten sofort seinen finsteren Blick.

«Und?», rief Rivara ihm zu.

Der Bürgermeister blieb stehen. «Nichts. Er ist nicht zu finden.»

Der Mann im Rollstuhl beteuerte erneut, dass sie ihn hinaufbringen müssten, doch niemand achtete auf ihn.

«Hat Ulisse nichts gefunden?»

«Der Montelupo ist groß», antwortete der Bürgermeister und nahm kurz die Mütze ab, um sich die Haare glatt zu streichen. Er schwitzte trotz der Kälte.

«Und dieser Gewehrschuss…», warf Ghidini ein.

Der Bürgermeister starrte ihn mit einem Anflug von Groll an. «Davon weiß ich nichts. Aber es wäre nicht das erste Mal», erwiderte er ärgerlich.

«Man hat einen Schuss gehört, bevor es dunkel wurde, und zu der Zeit war Palmiro…»

Wie üblich blieb der Satz unvollendet. Wieder sah der Bürgermeister den Wirt verärgert an, doch dann entspannte sich seine Miene, und unerwartet lenkte er ein: «Es ist alles möglich, wenn du das meinst.»

«Sie haben ihn auf der Seite der Gambetta gehört, in Richtung La Croce», klärte ihn Maini auf.

«Sieht aus, als will da jemand absichtlich Gerüchte in die Welt setzen», erwiderte der Bürgermeister.

«Aber warum sollte man Vermutungen nicht nachgehen?», insistierte Maini.

Mit einer brüsken Kopfbewegung gab ihm der Bürgermeister zu verstehen, dass er es gut sein lassen sollte. Dann sah er Soneri an, der die ganze Zeit über still zugehört hatte.

«Vielleicht könnten Sie uns helfen…», raunte er ihm schließlich zu.

«Es sind doch schon die Carabinieri im Einsatz… Außerhalb der Stadt fällt das in ihre Zuständigkeit», erwiderte der Commissario.

Diesmal sah ihn der Bürgermeister entmutigt an. «Dieser Fall ist äußerst seltsam, und der Maresciallo…» Aber auch er beendete seinen Satz nicht.

«Was soll Crisafulli schon herausfinden!», kicherte Ghidini und sprach aus, was der Bürgermeister nicht offen zugeben wollte.

«Sie sollten jemanden kommen lassen, der besser qualifiziert ist.»

«Im Ernstfall wird auch jemand kommen», stellte der Commissario klar.

Der Bürgermeister musterte ihn erneut, mit niedergeschlagener Miene. Er wusste nicht, was er unternehmen sollte, und suchte Hilfe. Wieder breitete sich Schweigen aus, während der Nebel sich an allem festzusetzen schien. Ein Nebel, der anders war als der in der Stadt: heftiger, schwerer, undurchsichtiger.