Die Physik des Todes - M.M. Weber - E-Book

Die Physik des Todes E-Book

M.M. Weber

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Beschreibung

Am Morgen nach einer durchzechten Nacht in einem Tübinger Verbindungshaus wacht die Physikstudentin Sonja mit einer Reihe von Symptomen auf, die nur einen Schluss zulassen: Sie hat keinen einfachen Kater, sondern ist in der Nacht gestorben und zum Vampir geworden. Aber Vampire gibt es doch nicht, oder? Wie kann etwas gleichzeitig tot und lebendig sein? Wie Schrödingers Katze … Da ihre Vampir-Mutter verschwunden ist, muss sie selbst herausfinden, wie sie ihre nächtliche Unberechenbarkeit und ihre Überempfindlichkeit gegen Sonnenlicht in den Griff bekommt. Sie setzt ihre analytische Denkweise ein, um als magisches Wesen auf dem naturwissenschaftlichen Campus nicht aufzufallen. Doch bald bemerkt sie, dass ihre Professorin Yolanda ihre Forschungsgelder auch nicht nur mit wissenschaftlichen Fakten einwirbt.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis
Die Physik des Todes
Kapitel 1 (Freitag)
Kapitel 2 (Samstag)
Kapitel 3 (Sonntag)
Kapitel 4 (Montag)
Kapitel 5 (Dienstag)
Kapitel 6 (Mittwoch)
Kapitel 7 (Donnerstag)
Kapitel 8 (Freitag)
Kapitel 9 (Wochenende)
Kapitel 10 (Montag)
Kapitel 11 (Dienstag)
Kapitel 12 (Montag)
Kapitel 13 (Dienstag)
Kapitel 14 (später)
Hinweise
Anlaufstellen in Deutschland
Anlaufstellen in Tübingen
Danksagung
Die Physik des Todes
M.M.Weber

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche‚ Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig.

M.M.Weber – Die Physik des Todes

ISBN: 978-3-757991-70-8

Lektorat: Jeanette Limbeck

Korrektorat: Chistina Hein

Coverdesign: Mike Ogden (unter Verwendung mehrerer mit Midjourney AI generierter Bilder)

Satz & Layout: Michelle M. Weber

Druck: Tolino Media GmbH

Alle Rechte vorbehalten

1. Aufl. 2024, Baden

Verlag: Michelle M. Weber, c/o Sissis Autorenlounge, Steig bei der Warte 15, D-67595 Bechtheim

© 2024 Michelle M. Weber. All rights reserved

URL: www.m-m-weber.com

Das vorliegende Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der Übersetzung, des Vortrags, der Reproduktion und der Vervielfältigung.

La rançon

L'homme a, pour payer sa rançon, Deux champs au tuf profond et riche, Qu'il faut qu'il remue et défriche Avec le fer de la raison; Pour obtenir la moindre rose, Pour extorquer quelques épis, Des pleurs salés de son front gris Sans cesse il faut qu'il les arrose. L'un est l'Art, et l'autre l'Amour. - Pour rendre le juge propice, Lorsque de la stricte justice Paraîtra le terrible jour, Il faudra lui montrer des granges Pleines de moissons, et des fleurs Dont les formes et les couleurs Gagnent le suffrage des Anges.1

Charles BAUDELAIRE

Kapitel 1 (Freitag)

Ich stehe vor der Tür des Physik-Baus auf dem Campus Morgenstelle und rauche. Es ist erst zehn Uhr morgens, aber die Hitze hat bereits alles Lebendige in den Schatten vertrieben. Doch selbst dort läuft einem der Schweiß die Poritze hinunter. Ein Knistern liegt in der Luft.

Die rote Glut meiner Zigarette rückt näher, als ich daran ziehe. Ein Blick auf mein Handy offenbart mir die unabwendbare Tatsache: 10:06 Uhr. Ich sollte wirklich nach oben gehen und mich zum zehnten Mal davon überzeugen, dass der Beamer für meinen Vortrag funktioniert. Der ist für 10 Uhr ct 2 geplant. Nicht mehr viel Zeit also.

10:07 Uhr.

Unter dem Baum neben mir liegt eine graue Katze wie plattgefahren und schläft. Ob sie tot oder lebendig ist, lässt sich schwer sagen. Wahrscheinlich muss ich erst hingehen und eine Beobachtung machen, damit sie eindeutig tot oder lebendig ist. Im Moment sieht sie aus, als sei sie beides gleichzeitig3.

Ich beneide sie. Ich beneide sogar den Baum, der ganz ungehemmt seiner Lieblingsbeschäftigung, der Photosynthese, nachgehen kann. Am liebsten würde ich mich zu der Katze legen. Am liebsten wäre ich eine Katze.

10:08 Uhr.

Dabei freue ich mich eigentlich schon total auf den Vortrag. Es ist meine große Chance, vielleicht bin ich deshalb so nervös.

Als ich meine Masterarbeit vor zwei Monaten angefangen habe, lief nichts so, wie es laufen sollte. Ich habe mich in die Literatur meines Projektes eingelesen und drei Luftfrachtkisten durch den Zoll bekommen. Das war eine Menge Arbeit und ich weiß nun bestens Bescheid über die Verschiffung von Forschungsmaterial aus den USA nach Deutschland. Ich habe herausgefunden, was die EORI-Nummer meines Instituts ist und wozu man die braucht.

Die Einzelteile meines Versuchsaufbaus sind von meinem Vorgänger in Harvard in drei Kisten verpackt worden. Diese Kisten sind irgendwo verloren gegangen. Ich habe die letzten paar Wochen mehr am Telefon gehangen als in meinem ganzen Leben davor. Ich hasse Telefonieren. Ich hasse auf Englisch Telefonieren. Aber schließlich habe ich es geschafft. Die Kisten sind letzten Montag hier in Tübingen angekommen und stehen in meinem Labor.

Ich bin extrem stolz auf mich, doch nichts davon werde ich heute bei dem Vortrag erzählen können, denn nichts davon ist von Belang für die Forschung. Für die Forschung zählen nur neue wissenschaftliche Erkenntnisse und die konnte ich dem Inhalt der Kisten noch nicht entlocken.

Ich bekomme sie kaum auf.

Die Mitarbeiter der Logistik-Firma, die sie schließlich in meinem Labor abluden und mir einen Zettel zum Unterschreiben vor die Nase hielten, haben etwas von knapp zwei Tonnen gemurmelt. Ich fragte mich, ob das pro Kiste war oder für alle drei zusammen. So oder so sind sie zu schwer für mich.

Und dann hat Yolanda mir letzte Woche eröffnet, dass ihr Mentor aus Harvard zu Besuch kommt und ich doch mal einen Vortrag mit Zwischenergebnissen vorbereiten soll. Wenn ich eine Stelle bei Professor Smith bekommen könnte, wäre das wie die Geburtstage und Weihnachten von zehn Jahren zusammen. Mein Durchbruch, meine Zielgerade zur Welt der internationalen Spitzenforschung. Irgendwo ganz weit weg am Horizont sehe ich mich in Stockholm stehen und den Nobelpreis entgegennehmen. Ich weiß selbst, wie bescheuert dieser Traum ist.

10:09 Uhr.

Denk an etwas Gutes, sage ich mir. Der Sommer. Ich liebe den Sommer. Ich kann mit der Hitze deutlich besser umgehen, als andere Menschen und was kann man am Rest nicht lieben? Es ist lange hell, man kann im See baden, der Neckar ist abends voller Stocherkähne, die träge ihre Runden ziehen und der Biergarten hat geöffnet. Die Grillen zirpen auf der Wiese und die Ähren auf den Feldern knistern. Alles ist grün und voller Leben.

Vor mir sehe ich einen gigantischen Betonklotz mit großen, von der Decke bis zum Boden reichenden Fenstern: das Hörsaalzentrum. Hinter den Fenstern, wie Fische in einem Aquarium, sitzen Studenten an kleinen Tischen und stecken ihre Nasen in Bücher. Sie wedeln sich mit selbst gebastelten Fächern Luft zu und starren mit einer wilden Entschlossenheit Formeln an.

10:10 Uhr.

Die Glut meiner Zigarette kommt meinen Fingern bedrohlich nahe und ich muss los. Wenn ich schon nichts zu präsentieren habe, will ich wenigstens nicht auch noch zu spät sein.

Yolanda hat mir letzte Woche gezeigt, wie man einen Vortrag hält, für den man nicht besonders viele Daten hat. Sie hat sich eine ganze Stunde Zeit genommen, obwohl sie einen wirklich verrückt vollen Terminkalender hat. Am Ende sah mein Vortrag viel professioneller aus als vorher. Dann habe ich ihr noch ein paar Fragen zu den ganzen Publikationen gestellt, die ich gelesen habe. Insbesondere der Doktorarbeit meines Vorgängers. Sie wusste auch nicht alles, aber sie hat sich ehrlich Mühe gegeben, es mir zu erklären. Ich bin so froh, dass ich eine Betreuerin wie Yolanda habe.

Ich will so werden wie Yolanda. Sie ist erst Anfang dreißig und hat schon eine Professur an einer Uni. Keine befristete Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin, sondern eine W3-Professur. Wenn sie vorne im Hörsaal steht, merkt man, warum sie dort steht. Sie ist einfach phantastisch. So professionell, so souverän. Sie hat einen unglaublichen Artikel in Advanced Materials4 veröffentlicht, den jeder am Institut gelesen hat. Yolanda wird es noch weit bringen, so viel ist gewiss. Vielleicht gewinnt sie mal den Nobelpreis. Und wenn ich ihn schon nicht gewinne, will ich wenigstens mal von mir sagen können, dass ich im Arbeitskreis von Yolanda Jimenez gearbeitet habe.

10:11 Uhr.

Ich sehe zwischen der Brandschutztür, die das Treppenhaus abschließt und den Aufzügen hin und her. Heute ist definitiv nicht der Tag, an dem ich anfange, die Treppe in den 6. Stock zu benutzen. Ich brauche meine Puste noch zum Sprechen. Das Dröhnen und Scheppern des kleinen Metallkäfigs kommt von allen Seiten näher.

Du musst endlich mal die Treppe benutzen, sage ich mir. Dieses Teil wird bestimmt irgendwann abstürzen und dann stirbst du.

10:12 Uhr.

Bing.

Mit einem Rucken kommt der Aufzug zum Stehen und spuckt mich aus. Ob die Architekten das Gebäude mit Absicht so konstruiert haben, dass man direkt auf die Tür des Treppenhauses sieht, wenn man den Aufzug verlässt?

Guck dir an, wo du eigentlich herkommen solltest, du Faulpelz!

Ich biege nach rechts ab und betrete den Seminarraum, der fast voll besetzt ist. Wenigstens wartet die Titelfolie meiner PowerPoint-Präsentation schon auf der Leinwand. Ein stummer Zeuge, der allen Anwesenden sagt: Sonja ist nicht zu spät zu ihrem eigenen Vortrag. Sie war schon mal hier und hat alles vorbereitet.

Das ist professionell. Genauso wie ich sein will.

Yolanda sitzt in der dritten Reihe, in ein Gespräch mit einem kleinen, grauhaarigen Mann vertieft. Sie trägt ihre langen dunklen Haare heute offen. Ihr Lippenstift passt perfekt zu der rot gemusterten Bluse mit den Rüschen an den Armen. Ihre Pumps passen zu ihrer Handtasche. Obwohl sie deutlich molliger ist, als ich, sieht sie immer aus, wie ein Star. Das ist das, woran ich als Nächstes arbeite, nehme ich mir vor.

Ich sehe an mir herunter. Vielleicht hätte ich mir wenigstens zu meinem Vortrag etwas Besseres anziehen sollen. Ich trage die gleiche, kurz über den Knien abgeschnittene Jeans wie schon die letzten drei Wochen. Immerhin das T-Shirt mit dem Bild von Schrödingers Katze habe ich heute Morgen frisch aus einem Berg gewaschener, aber nicht gebügelter Wäsche gezogen. Eine Sohle meiner Chucks löst sich vorne rechts schon ein bisschen ab und an den Wirrwarr ungekämmter, straßenköterblonder Haare will ich gar nicht denken.

»Da ist sie ja!«, ruft Yolanda freudestrahlend und steht auf.

Der Mann dreht sich zu mir herum. Seine Bewegungen sind die eines Zwanzigjährigen. Aber die Halbglatze, die grauen Haare und die vielen Falten in seinem schmalen Gesicht verraten sein wahres Alter. Er steht auch auf. Der braune Anzug ist ihm viel zu groß, besonders die Hose.

»Guten Tag, Professor Smith.« Ich strecke ihm höflich die Hand hin. Seine Hand fühlt sich fest, aber ein bisschen feucht an. Ich ringe mir ein Grinsen ab, denn zum Lächeln bin ich eigentlich zu nervös.

Wenn du jetzt einen Fehler machst, ist es aus mit deinem Traum.

»Ich habe viel von Ihnen gehört, Frau Wäckerle.«

»Ich hoffe, nur Gutes«, sage ich und lache laut. Vielleicht ein bisschen zu hysterisch? Ich halte den Mund.

»Nein, natürlich nur Gutes! Yolanda ist ein großer Fan von Ihnen, stimmts?« Er dreht sich zu Yolanda um.

Seine extrovertierte Art ist genauso, wie ich mir einen Amerikaner vorstelle. Yolanda strahlt die gleiche Energie aus. Sie ist schließlich auch dort drüben aufgewachsen.

»Absolut«, sagt sie, »Ich habe Ron schon erzählt, dass es Schwierigkeiten mit dem Transport der Kisten gab. Er freut sich trotzdem auf deinen Vortrag.«

»Ja, das mit den Kisten tut mir leid für dich. So was passiert in der Forschung. Aber jetzt kanns ja losgehen, was?«

»Ja, jetzt gehts hoffentlich bald los.« Ich lächle wieder und zermartere mein Gehirn nach etwas Geistreichem, was ich vielleicht noch anfügen könnte.

»Apropos losgehen … Es ist Zeit.« Yolanda wirft einen Blick in den Raum.

Die Tür geht auf und ein letzter Zuhörer stürzt hinein. Ein Blick durch den Raum sagt ihm, dass die begehrten Plätze im hinteren Teil des Raumes schon vergeben sind. Es scheint ein unausgesprochenes Gesetz zu sein, dass man bei Vorträgen zunächst die ersten beiden Reihen frei lässt. Man kann es sich in etwa so vorstellen wie die Besetzung der Orbitale in einem Atom.

Die dritte Reihe entspricht dabei dem 1s Orbital. Man lässt für gewöhnlich einen Platz Abstand zum Nachbarn. Nicht nur im Sommer, wenn der Körpergeruch sich exponentiell mit den Stunden nach der morgendlichen Dusche steigert, sondern eigentlich immer. Das ist wie der Spin des Elektrons. Jedes Orbital wird auch zunächst nur mit der Hälfte der Elektronen besetzt.

Erst wenn alle Reihen hinter der dritten Reihe besetzt sind, sehen sich die Wissenschaftler gezwungen, auch die zweite Reihe zu benutzen. Die Art, wie sie sich in die erste Reihe setzen und dabei mehr als einen Blick über die Schulter werfen, als ob sie es nicht ertragen können, Menschen in ihrem Rücken sitzen zu haben, muss dem Gefühl gleichkommen, dass ein Elektron im 4f Orbital hat.

10:16 Uhr.

»Willkommen zu meinem Seminarvortrag. Ich heiße Sonja Wäckerle und möchte Ihnen heute erzählen, was ich für die nächsten Monate plane in meiner Masterarbeit zu tun.«

Atmen. Scheiß auf die Grammatik. Jeder weiß, dass Englisch nicht deine Muttersprache ist. Atme einfach.

Ich hole tief Luft und springe zur nächsten Folie.

»Zuerst möchte ich Ihnen einen kurzen Abriss über die theoretischen Grundlagen meiner Arbeit geben.

Die Arbeitsgruppe um Michael Grätzel erreichte 2013 mit Solarzellen aus Perovskit-Materialien Wirkungsgrade um die 15 %5, was die nächste Revolution in der Energiewende darstellen könnte, wenn diese Materialien stabiler unter Umgebungsbedingungen wären.«

Ab jetzt konzentriere ich mich auf das, was ich am besten kann: Wissenschaftliche Fakten. Das hilft mir, alles andere auszublenden. Yolanda, die die Stirn runzelt; Wu, der sich eine Notiz macht; Natascha, die eine Publikation unter dem Tisch liest; Alwin, der mit seinem Handy beschäftigt ist; Peter und Mirco, die in der letzten Reihe tuscheln.

Ein Blick auf meine Karteikarten zeigt mir, wo ich weitermachen muss. Der Ausblick auf das, was ich in den nächsten vier Monaten vorhabe.

Noch vier Monate. Mein Magen krampft sich beim bloßen Gedanken daran zusammen. Ich habe nicht mal angefangen und in vier Monaten muss ich fertig sein. Alle anderen werden vor mir fertig werden und sich in die Faust lachen, weil die Streberin als letzte durch die Ziellinie humpelt.

»Und das war es auch schon«, höre ich mich selbst zehn Minuten später sagen. Ich fege das dümmliche Grinsen von meinem Gesicht und wechsle auf die nächste Folie. »Danke für Ihre Aufmerksamkeit! Fragen?«

Damit habe ich den Ring eröffnet. Doch zunächst kommt das obligatorische Klopfen auf die Tische. Früher war es üblich, auf den Tisch zu klopfen, wenn einem die Vorlesung gefallen hat und zu zischen, wenn sie einem nicht gefallen hat. Heute ist man höflicher. Das Zischen hört man nie. Die Leute wachen nur irgendwann davon auf, dass alle anderen auf den Tisch klopfen, wischen sich den Sabber aus den Mundwinkeln, setzen ein unverbindliches Lächeln auf und klopfen auch auf den Tisch. Aber es stört mich nicht weiter. Von mir aus können sie alle schlafen und dann gehen.

Nur bitte keine Fragen stellen! Ich habe doch noch keine Ahnung von dem Thema! Ich habe nur die letzten zwei Monate jeden Tag acht Stunden lang Publikationen darüber gelesen!

»Herr Wu, bitte sehr!«, eröffnet Yolanda die Runde, indem sie einem Doktoranden aus unserer Gruppe das Wort erteilt.

Wu hat schon während des Vortrags eifrig mitgeschrieben und stellt mir nun fünf Fragen hintereinander. Die meisten davon kann ich beantworten, bei einer hilft Yolanda mir aus.

Gott, bin ich froh, dass ich Yolanda habe.

»Können Sie bitte auf Folie 9 zurückgehen?« Professor Smith deutet auf meine Präsentation.

Ich drücke den Zurück-Knopf auf meiner Tastatur schneller als die Präsentation reagieren kann, und klicke prompt zu weit. Schließlich lande ich auf einer Folie mit einem komplizierten, dreidimensionalen Graphen. Ich habe keine Ahnung, was dieses Monster genau bedeuten soll, aber Yolanda wollte unbedingt, dass ich es in die Präsentation mit aufnehme. Ich habe sie letzte Woche gefragt, was der Graph genau aussagt, aber ihre Antwort war mehr als konfus.

Sie hat mir versichert, dass das Teil der Forschung ist. Manchmal misst man etwas, das man nicht erklären kann. Ich bin jedenfalls froh, dass nicht nur ich planlos bin.

»Frau Wäckerle«, höre ich Yolanda sagen, »wollen Sie ihm bitte erklären, woher die Artefakte6 kommen?«

Yolanda sieht mich an. Ich starre zurück. Dann starre ich wieder auf die seltsamen Ausschläge in der Messkurve, die ich mir nicht erklären kann. Hat sie mir nicht letzte Woche gesagt, dass sie selbst nicht genau weiß, was diese Artefakte verursacht hat? Ich muss das wohl verwechselt haben.

War ich mal wieder mit den Gedanken wo anders, als sie mir etwas erklärt hat? Ich muss echt damit aufhören.

Ich muss zugeben, dass ich an dem Tag ein bisschen abgelenkt war. Aber zu abgelenkt, um mir zu behalten, dass Yolanda diese Frage beantwortet hat? Ich hatte seit ein paar Nächten nicht gut geschlafen, weil mein WG-Zimmer in einem schlecht isolierten Dachgeschoss liegt und ich jede Nacht in der Hitze zerfließe.

Das muss es gewesen sein. Ich war abgedriftet, hatte nicht aufgepasst, als ich eigentlich hätte aufpassen sollen und jetzt habe ich mich vor der ganzen Mannschaft blamiert. Vor Professor Smith. Na toll.

»Die … ähm … Ich weiß nicht, woher die kommen.«

Yolanda kneift die Augen zusammen.

»Bryan hatte Schwierigkeiten mit der Abschirmung seines Versuchsaufbaus«, sagt sie an Prof Smith gewandt, »Irgendwie hat der Motor des Detektors die Messdaten beeinflusst. Wir konnten den Effekt noch nicht beseitigen.«

Ich starre sie an. So eine einfache Erklärung hätte ich mir behalten. Da bin ich mir sicher.

Die nächsten Minuten laufe ich auf Autopilot. Als keiner mehr eine Frage hat und Yolanda den Vortrag für beendet erklärt, stürzen alle nach draußen und reden über das Mittagessen. Nur ich frage mich, was ich verpasst habe. Ich erinnere mich ganz genau, dass Yolanda letzte Woche sagte, das seien Artefakte, aber sie wisse nicht, woher sie kommen.

Hat sie es in der Zwischenzeit erfahren? Aber woher? Hat sie vergessen, es mir zu sagen?

Ich glaube nicht, dass Yolanda einfach so was vergisst. Das ist eher mein Ding.

»Guter Vortrag«, sagt Professor Smith, in meine Richtung gewandt, doch aus seiner Stimme ist aller Enthusiasmus gewichen. Er verlässt den Raum zusammen mit Yolanda. Sie ist schon zur Tür hinaus.

Scheiße, ich brauche eine Zigarette.

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Neben mir höre ich das vertraute Knipsen eines Feuerzeugs. Bastian nickt mir zu und zieht konzentriert an seiner Zigarette. Aus seinen blond gefärbten Haaren hat sich die knallbunte Tönung schon fast herausgelöst.

»Hallo Bastian«, sage ich mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

Die Raucherpause markiert in meinem Hirn immer einen neuen Sinnabschnitt. Eine Chance, sich mental von einem verpatzten Vortrag zu lösen und an etwas Neues zu denken, wie zum Beispiel die Luftfrachtkisten in meinem Labor. Bastian scheint meine Gedanken gelesen zu haben. Vielleicht bin ich aber auch seit drei Wochen immer wegen der gleichen Sache zu ihm gekommen.

»Hey Sonja, ich habe nächste Woche keine Zeit, deine Kisten auszuräumen und meine Männer sind im A-Bau beschäftigt.«

Super, die Chemiker sind also wichtiger, was?

Ich seufze. Bastian sieht an mir vorbei in die Ferne, als ob er über etwas viel Wichtigeres nachdenkt.

Eigentlich mag ich ihn ganz gerne. Er war mal mit meiner Ex-Mitbewohnerin Merle zusammen, und wir haben viele Abende am Hirschauer Baggersee gesessen, Gras geraucht und philosophiert. Ich frage mich, warum die beiden nicht mehr zusammen sind. Sie haben so verdammt gut zueinander gepasst, sind immer barfuß in der Stadt herumgelaufen und haben alles und jeden als kapitalistisch und neofaschistisch bezeichnet. Vielleicht ist er einfach zu alt für sie gewesen. Merle ist immerhin ein Jahr jünger als ich. Ich war erstaunt, als Mirco mir mal erzählte, dass Bastian erst Mitte dreißig ist. Er sieht aus wie vierzig mit seinem faltigen Gesicht.

So siehst du auch in zehn Jahren aus, wenn du nicht bald die Finger von den scheiß Zigaretten lässt!

Ich überlege kurz, meine Zigarette auszudrücken, doch dann kommt meine schwäbische Ader durch und ich rauche sie weiter. Wäre auch eine sinnlose Verschwendung. Von einer halben Zigarette werde ich nicht alt.

Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und frage: »Kannst du schon ungefähr abschätzen, wann jemand vorbeikommen und mir mit den Kisten helfen kann?«

Bastian sieht mich direkt an. Schweigend bläst er seinen Rauch aus.

»Nicht nächste Woche.«

Ich verdrehe die Augen.

»Sonja, du musst echt noch lernen, wie das Leben läuft. Man bekommt nicht alles immer sofort, wenn man es haben will. Entschleunige mal ein bisschen. Deine Forschung läuft dir nicht weg.«

Die Forschung nicht, mein Vertrag schon.

»Ich dachte, du bist nicht eine von denen, die hier nur schnell durchhuschen und dann in der Industrie Geld verdienen will.«

»Bin ich auch nicht.« Was für ein Affront!

»Dann zeig es.«

Er drückt seine Zigarette aus und läuft zum H-Bau hinüber.

Als er aus meinem Gesichtsfeld verschwindet, kommen all die Gedanken an meinen Vortrag zurück, vor denen ich eigentlich nach draußen fliehen wollte.

Verdammt, was sollte das eben eigentlich mit diesen dummen Artefakten in meinem Vortrag? Warum hat Yolanda mich gebeten, diese dumme Folie in meiner Präsentation zu lassen, wenn sie doch eigentlich hätte wissen müssen, dass ich nicht erklären kann, woher die Artefakte kommen?

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Meine Schritte tragen mich zu meinem Schreibtisch zurück, auf den ich meinen Tabak so schwungvoll werfe, dass ein Stapel Papier auf den Boden fällt. Kurz überlege ich, ob ich ihn aufheben soll, dann entscheide ich mich dagegen. Ich nehme Bryans zweites Laborbuch in die Hand, aber es kotzt mich schon jetzt nur noch an. Also feuere ich auch das Laborbuch auf meinen Schreibtisch und klappe etwas zu schwungvoll meinen Laptop zu.

»Hast du Stress?«, fragt Wu und lacht laut.

Ich beiße mir auf die Zunge. Die Mitarbeiter meines Arbeitskreises haben nicht mal ein richtiges Büro. Wir sitzen alle in einem riesigen Labor an Tischen, die man gegen die Wand unter den Fenstern geschoben hat. Ich sitze eingequetscht zwischen der steinernen Laborbank mit dem Waschbecken zu meiner rechten und Wus überquellendem Schreibtisch zu meiner linken Seite. Wann immer jemand am Waschbecken arbeitet, kommen wir uns so nahe, dass es sich schon zu nah für mich anfühlt und das lenkt mich vom Arbeiten ab.

Zugegeben, ich habe einen eher großen Privat-Zone-Radius. Der von Wu ist gefühlte zehn Zentimeter groß und ich frage mich gelegentlich, ob ich ihn nicht bitten soll, den Platz mit mir zu tauschen.

Ich lehne mich mit dem Hintern gegen meinen Schreibtisch und sehe ins Innere des Labors. Die Sonne scheint mir durch das geöffnete Fenster wohlig auf den Rücken und taucht den ganzen Raum in ein optimistisches Licht, das sich über meine Lebensrealität lustig zu machen scheint. Die beiden Hochvakuumkammern mit ihren silbernen Heizelementen glänzen wie Teile, die man im Maschinenraum eines Raumschiffs finden würde. Eine Kammer, von der ich keine Ahnung habe, was das eigentlich ist, steht halb fertig zwischen ihnen. Neben ihr soll ich auch mein Experiment aufbauen.

Der Versuchsaufbau besteht aus einem Tisch mit Vibrationsdämpfern und einem lichtundurchlässigen Zelt, das um den Tisch herum montiert wird. So vom Umgebungslicht abgeschirmt kann man im Inneren noch die kleinsten Intensitätsveränderungen in dem Laserstrahl detektieren, der auf dem Tisch durch eine Reihe von Spiegeln und Linsen fallen soll.

Im Moment wird der Platz von drei Luftfrachtkisten eingenommen, Maße 1,5 × 1,5 × 1 m.

Mit fünf großen Schritten habe ich die Kisten erreicht. Wenn Bastian schon nicht die Absicht hat, sie auszupacken, kann ich wenigstens hineinsehen. Sie sind mit einem Riegel verschlossen. Mit der Hand bekomme ich den nicht auf, aber schon die Hebelwirkung einer einfachen Zange, die ich bei der großen Vakuumkammer finde, reicht aus. Der Riegel knirscht und klingelt, als er sich löst.

Plötzlich rieche ich einen herben Duft neben mir: Mann mit Knoblauch. Ich mag Knoblauch. Ich mag es nur nicht, wenn andere Leute ihn gegessen haben und ich nicht.

»Warte, ich helfe.«

Wus Finger berühren meine, als er nun auch an dem Riegel zu ziehen beginnt. Ich zucke zurück, mache einen Schritt nach hinten und sehe ungläubig dabei zu, wie er den Riegel zurückschiebt. Er hebt den Deckel ein kleines Stück an. Sein Kopf wird rot dabei.

»Ganz schön schwer«, meint er und lacht.

Wu lacht immer. Es macht mich furchtbar aggressiv, aber ich zwinge mich, es zu ignorieren.

Also mache ich einen Schritt nach vorn, greife auch in den Deckel und hoffe, dass Wu nicht plötzlich loslässt und der Deckel auf meine Finger knallt. Durch den kleinen Spalt werfe ich einen Blick ins Innere der Kiste. So nah bin ich dem Inhalt bis jetzt noch nicht gekommen. Einen Moment lang überlege ich, ob es wirklich so schwer sein kann, die Kisten einfach zu öffnen. Wu ist nicht viel größer als ich und sieht nicht aus, als ob er mehr Sport macht. Aber ein paar der anderen Doktoranden sind stämmiger. Wenn ich zwei oder drei davon zusammentrommele, mit etwas Bier besteche und sie bitte, das ein oder andere aus den Kisten zu holen …

Die Kiste ist voll mit Verpackungsmaterial. Berge von Styroporkugeln türmen sich über etwas, das in Noppenfolie eingewickelt ist. Ein Teil von mir freut sich schon darauf, diese Noppenfolie in die Hand zu bekommen. Bestimmt werden die anderen neidisch auf mich sein, weil ich so viel Noppenfolie habe. Vielleicht kann ich einen Teil davon gegen einen Kaffee oder ein Eis eintauschen. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht.

»Super schwer. Lass mich machen, sollte eine Frau nicht so schwer heben. Hat Frau Professor gesagt, dass du das ausräumen sollst?« Wus Englisch ist fast noch schlimmer als meins. Er streckt eine Hand durch den Spalt in die Kiste und wühlt in dem Verpackungsmaterial herum.

Hey, das ist meine Noppenfolie, schießt es mir durch den Kopf. Außerdem … Was für eine chauvinistische Sichtweise!

Ich sehe ihn an und versuche, nicht unfreundlich zu wirken. Ich hasse es, wenn Leute mir ungefragt helfen. Es gibt mir das Gefühl, inkompetent zu sein.

»Nein, aber ich muss in vier Monaten hiermit ein paar fundamental neue Daten generiert haben und ich würde gerne bald damit anfangen«, sage ich und lasse den Deckel vorsichtig los.

Wu senkt den Deckel langsam ab und schließt den Riegel.

»Du solltest sie vielleicht fragen, ob sie dir jemanden vorbeischickt, der dir helfen kann.«

»Danke, Wu«, sage ich und unterdrücke mühsam meinen Frust. Als ob ich das nicht schon gemacht hätte. Mehrmals.

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Ich kehre an meinen Arbeitsplatz zurück. Neben meinem Laptop und ein paar dreckigen Kaffeetassen liegen ein halbes Dutzend ausgedruckte und mit Klammern zusammengeheftete Artikel aus wissenschaftlichen Fachzeitschriften. In Ermangelung eines kurzen und treffenden deutschen Namens werden die überall ›Paper‹ genannt.

Man hört gelegentlich Sätze wie: »Für deine Doktorarbeit brauchst du drei Paper.«

Soll heißen: Du sitzt hier so lange fest, bis du die Messergebnisse hast, um drei Artikel zu schreiben und drei Journale dazu zu bringen, sie zu drucken.

Oder auch: »Hast du schon von XY gehört? Die mussten ihr Paper retracten. Autsch!«

Soll heißen: XY haben irgendwas veröffentlicht, nur um etwas zu veröffentlichen, und dann kam heraus, dass es Bullshit war, und sie sind zu unfreiwilligem Ruhm gelangt, weil sie den Artikel widerrufen mussten.

Die Paper auf meinem Schreibtisch sind nicht von mir. Ich habe noch nie etwas veröffentlicht. Die Meisten sind von Yolanda und von Leuten, mit denen sie zusammengearbeitet hat. Von Professor Smith und ihrem ehemaligen Doktoranden Bryan.

Yolanda spricht über Bryan immer in den höchsten Tönen. Er ist knapp an summa cum laude7 vorbeigeschrammt und arbeitet jetzt für die Boston Consulting Group, was Yolanda für die schlimmste Verschwendung wissenschaftlichen Genies, seit der Zerstörung der Bibliothek von Alexandria hält. Ich will, dass sie eines Tages von mir spricht als ihre Doktorandin, die etwas aus ihrem großartigen Genie gemacht hat.

Bryan halte ich durchaus nicht für ein Genie. Zumindest kann er sein Genie nicht darin zeigen, seine Forschung vernünftig zu dokumentieren.

Am hinteren Ende meines Schreibtischs liegen drei Laborbücher. Sie sind schwarz eingebunden mit abgestoßenen Ecken. Im Moment steht eine meiner alten Kaffeetassen darauf. Sie drohen von dem restlichen Kram auf meinem Schreibtisch über die Kante geschoben zu werden und hinter die Heizung zu fallen. Ich nehme die Kaffeetasse herunter und stelle sie irgendwo anders auf meinem Schreibtisch ab. Dann schlage ich das erste Laborbuch auf.

Es ist nicht das erste Mal, dass ich versuche, es zu lesen, und ich weiß, dass es nicht das letzte Mal sein wird. Ich habe auch schon mehr als einmal eine E-Mail an Bryan geschrieben. Ich habe auch schon einmal ernsthaft in Erwägung gezogen, ihn anzurufen, aber es ist verdammt teuer, von meinem Handy aus in die USA zu telefonieren und mein Instituts-Telefon verbindet mich nicht aus Deutschland heraus.

Wenigstens scheint die Sonne und ich sitze an einem offenen Fenster, aus dem sich das Licht über mich und mein Chaos ergießt. Entschlossen, das Gute an meiner Masterarbeit zu sehen, lege ich die Füße auf den Tisch und beginne in dem Laborbuch zu blättern.

Auf den ersten zwanzig Seiten sind noch Seitenzahlen und jeweils das Datum vermerkt. Jeder Versuch hat eine Überschrift, manche haben eine Zeichnung. Darunter stehen ein paar Gedanken, Schlussfolgerungen und Ideen für weitere Versuche. So weit so gut.

Danach hört er auf, das Datum hinzuschreiben. Dann fehlen die Überschriften. In der Hälfte des Buchs verliert man den Überblick, was er eigentlich genau macht. Ideen für weitere Versuche sind chaotischen To-do-Listen gewichen, die zunehmend Einträge enthalten wie:

• Schreibtisch endlich aufräumen

• Scheiß Formular für scheiß Verwaltung ausfüllen

• Ticket für Patriots kaufen

 

Gegen Ende des ersten Laborbuchs fangen die Akronyme an:

• POS fertig schreiben

• MFC OOO 4/10 – 4/20 2G2BT!

• 404 420

 

An mehreren Experimenten steht einfach 404. Vielleicht die Durchwahl von irgendjemandem? Oder mehr so etwas wie »Page not found«? Irgendwo im zweiten Buch kommen dann kryptische Zeichnungen dazu, gespickt mit … noch mehr Akronymen.

Das Laborbuch fällt mir fast aus der Hand, als Yolanda plötzlich neben mir steht.

Ich weiß nicht, wie sie sich immer so anschleichen kann – mit den Schuhen. Sie trägt grundsätzlich High Heels und stolpert doch weniger als ich. Vielleicht ist sie eine Hexe, fährt es mir durch den Kopf und ich unterdrücke ein Schmunzeln.

»Oh, hallo, Frau Jimenez, ich habe Sie gar nicht kommen gehört.«

Eilig nehme ich meine Füße vom Schreibtisch.

Yolanda lächelt zurück. Sie sieht aus, als ob sie es eilig hat. Yolanda hat es immer eilig. Sie ist wichtig.

»Wie geht es Ihnen, Frau Wäckerle?«

Sie scheint aber gut gelaunt zu sein. Das ist gut. Ich entspanne mich ein wenig.

»Gut, danke, haben Sie etwas von der Werkstatt geh…«

»Nein … Ich will, dass Sie einen Abstract über Ihre Forschungsarbeit schreiben und bis heute Nachmittag um drei bei mir abgeben.«

»Ähm … ok«, murmele ich.

Ein ›Abstract‹ ist genauso ein Wort wie ›Paper‹, das auch unter deutschsprachigen Forschern nur auf Englisch verwendet wird. Es ist ein deutlich kürzerer Text, meist nur eine halbe DIN A4 Seite lang. Es geht darum, in nur wenigen Sätzen zu beschreiben, was man eigentlich den ganzen Tag über tut und was das bringen soll.

»Frau Professor …«, meldet sich Wu vom Schreibtisch neben mir, »Sonja hat gerade versucht, die Kisten ganz allein auszuräumen. Ich habe ihr gesagt, sie soll sich besser Hilfe holen.«

Ganz langsam wendet sich Yolanda erst Wu, dann wieder mir zu.

»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass sich jemand von der Werkstatt darum kümmert.« Ihr schönes Gesicht verrät Fassungslosigkeit über meine Dummheit.

»Ah so, danke Frau Professor«, sagt Wu mit seinem dämlichen unechten Grinsen.

»Warum?«, fragt sie und ich weiß, dass sie mich meint, obwohl sie Wu ansieht.

Wu zuckt die Achseln.

»Neugierde«, sage ich.

»Den Abstract bis um drei, Frau Wäckerle. Und kommen Sie am Montagmorgen bitte in mein Büro. Da ist etwas, was ich mit Ihnen besprechen möchte.«

Hat Professor Smith etwas über mich gesagt? Über die Bewerbung auf die Doktorandenstelle ab November in Harvard, die ich ihm geschickt habe?

Haben sie über mich geredet?

»Wenn Sie wollen, können wir auch heute noch sprechen.«

»Ich habe leider eine Menge Termine. Montag. Und falls wir uns heute nicht mehr sehen – ein schönes Wochenende.« Sie nickt mir zu und verlässt den Raum.

»Danke, Ihnen auch ein schönes Wochenende, Frau Jimenez!«, rufe ich ihr hinterher.

Wu dreht sich zu mir herum. »Sie sagt, dass jemand von der Werkstatt kommt und dir mit den Kisten hilft«, wiederholt er, als ob ich nicht einen halben Meter von Yolanda entfernt gesessen hätte, als sie das sagte.

Am liebsten würde ich ihm einen Eimer Wasser über den Kopf schütten. Dabei bin ich mir ziemlich sicher, dass er das nicht mal böse gemeint hat. Er ist nur so … aaarrrgghh. Aber haben wir nicht alle unsere Macken?

»Danke, Wu«, sage ich und stehe auf.

Meine Finger kramen in meiner Tasche nach der Mappe mit dem Tabak. Ich kann nicht schon wieder rauchen gehen. Wu ist nicht das Problem, denke ich mir und atme bewusst tief ein. Es macht keinen Sinn, sich über ihn aufzuregen.

Zuerst dachte ich, Chinesen sind eben so. Aber dann habe ich mich mal mit einem chinesischen Doktoranden aus einem anderen Arbeitskreis unterhalten und der hat auch die Augen verdreht, als Wu den Raum betrat.

Anfangs schob ich die schlechte Kommunikation zwischen Wu und mir auf unsere gleichermaßen schlechten Englischkenntnisse. Aber Han sagte mir, dass er ihm auch manchmal Rätsel aufgibt.

Mit Bastian habe ich keine Sprachbarriere. Wir kommen beide aus Süddeutschland und kommunizieren in unserer Muttersprache. Bastian weiß seit über vier Wochen, dass die Kisten ausgeräumt werden müssen, sobald sie in mein Labor kommen. Nur Bastian ist das wahrscheinlich egal. Er hat ja einen unbefristeten Vertrag, im Gegensatz zu mir. Ich muss fertig werden, bevor meiner ausläuft.

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An der Bushaltestelle stehen ein paar Leute, aber keiner von ihnen beachtet mich. Laut Anzeige kommt der Bus in vier Minuten und ich beschließe spontan, noch eine zu rauchen. Meine Finger arbeiten präzise, jeder Handgriff sitzt. Ich zünde mir die Zigarette an: Noch drei Minuten. Genau in dem Moment, in dem ich sie fertig geraucht habe, biegt der Bus um die Ecke. Lächelnd drücke ich sie an der Seite des Mülleimers aus und werfe sie hinein.

Ich liebe es, wenn so etwas passiert, denke ich mir, blase genüsslich den Rauch des letzten Zuges aus und steige in den Bus. Dieses Timing. Ich weiß, es ist eine vollkommen nutzlose Fähigkeit, das Rauchen einer Zigarette genau auf die Ankunft eines Linienbusses abpassen zu können, aber trotzdem erfüllt es mich mit Stolz. Wenigstens in etwas bin ich kompetent.

Im Bus herrscht Chaos. Offenbar habe ich genau den Bus erwischt, der auch die Kinder von der Schule nach Hause bringt. Das hat man davon, wenn man schon um zwei Uhr nachmittags Feierabend macht.

Ich habe meinen Abstract geschrieben, abgeschickt und danach beschlossen, dass es keinen Sinn macht, noch länger Bryans kryptische Laborbücher oder meine verschlossenen Kisten anzustarren. Genauso gut kann ich jetzt schon nach Hause gehen. Wenn die Kisten erst mal ausgepackt sind, werde ich wahrscheinlich Tag- und Nachtschichten hier schieben.

Mein Wochenende beginnt damit, dass ich inmitten einer Horde zankender Sechstklässler stehe. Die Kinder schreien sich über drei Sitzreihen hinweg an. Ich ziehe meine Kopfhörer aus der Tasche.

Irgendwann muss ich mal mein ganzes Geld zusammenkratzen und mir diese Active-Noise-Cancellation Dinger holen, von denen ich im Internet gelesen habe.

Vielleicht wenn ich ein Doktorandengehalt bekomme. 1.300 Euro im Monat, da kann ich mir das locker leisten.

Wenn ich eine Superkraft wählen könnte, dann würde ich auf Fliegen, Unsichtbarkeit und überlegene Stärke verzichten, wenn ich nur in der Lage wäre, Leuten meinen Willen aufzuzwingen. Ich wünschte, ich könnte die Kinder einfach ansehen und ihnen sagen, dass sie die Fresse halten sollen. Das wäre unglaublich geil. Busfahren wäre so viel angenehmer. Man könnte sich auch in der Bibliothek endlich mal wirklich konzentrieren.

Der Bus hat die Innenstadt erreicht und der frische Fahrtwind, der durch die gekippten Fenster kam, hat aufgehört. Die Luft wandelt sich schnell in eine Mischung aus Abgasen und Schweiß, vermischt mit dem eklig-süßlichen Geruch von Energy-Drinks.

Ich versuche, mich davon abzulenken, wie der Schweiß die Haare in meinem Nacken durchnässt, sehe mir den alten Botanischen Garten und schließlich die imposanten, altehrwürdigen Universitätsgebäude in der Innenstadt an. Natürlich sind die Naturwissenschaften mal wieder, wie an praktisch allen Universitäten, in einem funktionalen 70er Jahre Betonbau am Stadtrand untergebracht.

Ab dem Hauptbahnhof wird es leerer und ich bekomme sogar einen Sitzplatz. Das Fenster vor mir ist gekippt und ich lasse mir den Fahrtwind ins Gesicht blasen, als der Bus auf der Landstraße Richtung Hirschau beschleunigt.

Statt nach rechts zu mir nach Hause zu gehen, biege ich nach links zum Baggersee ab. Dort herrscht auch Gedränge. Es gibt fast keine freien Plätze mehr und jede Gruppe spielt ihre eigene Musik. Das ist nicht unbedingt meine Idee von einem gemütlichen Nachmittag, aber ich weiß, dass es hier den ganzen Sommer über so aussehen wird. Schön ist es trotzdem. Ich finde eine freie Stelle und schäle mich schnell aus meinen Klamotten.

Einer der Vorteile des Hirschauer Sees ist es, dass es niemanden stört, wenn man einfach nackt hineinspringt. So spart man sich den mühsamen Weg nach Hause, um Badesachen zu holen.

Das Ufer ist ein wenig rutschig und das Wasser so warm wie eine Badewanne. Die Wasseroberfläche glitzert in der Sonne und plötzlich macht mir der Lärm der anderen Menschen nichts mehr aus. Das hier ist Feierabend.

Die ausgelassene Atmosphäre ist ansteckend. Ich brauche mir keine Gedanken mehr über meine Forschung zu machen. Zumindest nicht für die nächsten zwei Tage. Das Wochenende hat begonnen.

Vorsichtig taste ich mich ein wenig nach vorn, um nicht auszurutschen. Dann stoße ich mich ab und tauche mit einer flüssigen Bewegung in den See ab. Für einen kurzen Moment berühre ich einen Meter unter der Wasseroberfläche eine kühlere Schicht, die sich wunderbar erfrischend anfühlt.

Ich schwimme auf den See hinaus. Meine Hände durchteilen die Wasseroberfläche wie der Bug eines Segelbootes. Auf dem Wasser spiegeln sich das wolkenlose Blau des Himmels und die Bäume der gegenüberliegenden Seite des Sees. Ein Gefühl von Schwerelosigkeit umgibt mich.

Habe ich schon erwähnt, dass ich den Sommer liebe? Ich liebe Eis am Stiel, ich liebe Wärme und Licht und ich liebe es, nach der Uni einfach in diesen See zu springen und eine Runde zu schwimmen, bevor ich nach Hause gehe. Noch einmal tauche ich hinunter zu der kalten Wasserschicht. Meine Haare umwehen meinen Kopf wie bei einer Meerjungfrau. An der Wasseroberfläche nehme ich einen tiefen Zug klarer, unverbrauchter Luft und lasse mich auf dem Rücken liegend treiben. Die Sonne scheint auf meinen nackten Körper. Das Wasser kühlt ihn von unten auf die perfekte Temperatur.

Was Yolanda am Montag wohl mit mir besprechen will? Sie und Professor Smith waren nach meinem Vortrag nicht mehr so enthusiastisch wie vorher. Aber ich habe alles genauso gemacht, wie sie es mir beigebracht hat. Was soll also schief gehen? Vielleicht waren sie wegen einer anderen Sache angespannt. Ich habe gehört, dass Yolanda sich auf einen Grant von der EU beworben hat. Forschungsgelder in Höhe von 1,5 Millionen Euro. Das ist eine Menge Geld. Wenn ich die Chance hätte, das zu bekommen, wäre ich wahrscheinlich auch angespannt.

Hoffentlich kann ich ab November nach Harvard gehen. Ich habe zwar gehört, dass das Wetter in Boston im Winter scheiße sein soll, aber viel besser ist es hier ja auch nicht. Ob es in Neuengland auch solche Seen gibt, wie diesen? Wahrscheinlich nicht. Der Hirschauer See ist besonders. Die Amerikaner werden es außerdem wahrscheinlich nicht gern sehen, wenn man nackt baden geht. Trotzdem will ich die Stelle unbedingt.

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Zu Hause in der WG-Küche öffne ich eine Tupperdose und rieche am Inhalt. Noch gut, entscheide ich und schließe die Kühlschranktür mit der Hüfte. Ich wärme mir die Nudeln, die ich vor zwei Tagen gekocht habe, in der Mikrowelle auf, nehme mir ein Glas, das zum Trocknen neben der Spüle steht, und fülle es mit Leitungswasser. Obwohl das Fenster offen steht, ist es fast unerträglich heiß in unserer Wohnung. Wir wohnen im Dachgeschoss eines vierstöckigen Mehrfamilienhauses aus den 50ern und die Dämmung war damals noch nicht so gut wie heute. Im Winter zieht es unter den Fensterrahmen durch und im Sommer gibt es nichts, was die Hitze draußen hält. Dazwischen wechseln sich Plagen von Ameisen und Fruchtfliegen ab.

Na gut, Letztere kommen auch davon, dass die Frage, wer den Kompost rausbringt, oft ein wenig nachlässig verhandelt wird.

»Hey Sonja, hast du Lust, heute Abend feiern zu gehen?« Meine Mitbewohnerin Priti kommt mit einer leeren Kaffeetasse in die Küche.

Sie war wohl heute noch nicht vor der Tür. Das sieht man Priti immer sehr deutlich an. Wenn sie zu Hause ist, trägt sie eine schlabbrige, graue Jersey-Hose und ein T-Shirt mit irgendwelchen kitschigen Schriftzügen drauf. Ihre langen, schwarzen Haare hat sie zu einem chaotischen Knoten auf ihrem Kopf aufgetürmt. Sie hat gerade ihre Doktorarbeit in Psychologie oder so was Ähnlichem angefangen und schreibt einen Versuchsplan. Ich glaube, sie hat diese Wohnung seit einer Woche nicht mehr verlassen.

»Feiern? Du meinst … in einen Club oder so?« Ich glaube, mein Gesichtsausdruck spricht Bände darüber, was ich von Clubs halte. Priti lacht und spült ihre Kaffeetasse unter fließendem Wasser aus.

»Schon gut. Ich hab mir schon gedacht, dass du nicht so gern feiern gehst.«

»Wie kommst du denn auf die Idee?«

Sie stellt die Tasse geschickt auf den einzigen freien Platz der Abtropffläche und zuckt die Schultern.

»Weiß nicht. Wollte dich nur fragen.«

Ein eindringliches ›Bing‹ erinnert mich an meine Nudeln. Ich hole sie mit spitzen Fingern aus der Mikrowelle und bugsiere sie schnell auf den Tisch. Priti setzt sich gegenüber von mir und schlägt ein Bein unter.

Wir wohnen seit zwei Monaten zusammen, aber wirklich gut kennen wir uns noch nicht. Ich bin sowieso kein Mensch, der besonders leicht neue Leute kennenlernt und Priti schüchtert mich ein bisschen ein.

Sie hat schon so viel mehr von der Welt gesehen. Außerdem ist sie schon mit ihrer Masterarbeit fertig. Sie ist so viel schlauer als ich und viel besser aussehen tut sie auch. Zumindest wenn sie vorhat, nach draußen zu gehen. Dann sieht sie immer aus, wie eine Göttin.

»So ein Typ hat mir gesagt, dass heute eine Party auf seinem Haus stattfindet. Bestimmt sind seine Eltern nicht zu Hause und er will das ausnutzen.« Sie macht eine kurze Pause. »Er ist echt süß, aber weißt du … ich bin mir nicht sicher, ob es so eine gute Idee ist, da allein hinzugehen.«

Ich schaufle mir eine große Gabel voll Nudeln in den Mund.

»Wiefo? Haft du kein gutef Gefühl bei ihm?«

»Doch, bei ihm schon, aber … na ja, vielleicht guck ich auch einfach zu viele Filme.«

Ich schlucke und trinke einen Schluck Wasser.

»Jedenfalls wohnt er in so einer Villa unten am Neckar in der Nähe vom Biergarten und …«, fährt sie fort.

»Bei der Saxonia?«

»Was ist das?«

»Eine Studentenverbindung.«

»Oh!« Priti verzieht das Gesicht und spielt mit einer Strähne, die es aus ihrem Haarknoten geschafft hat. »Meinst du, ich sollte hingehen? Man hört ja immer eine ganze Menge über Verbindungen.«

»Was hast du denn gehört?« Ich verkneife mir ein Lachen.

Mein bester Kumpel Martin gehört zur Saxonia Verbindung und immer, wenn er genug getrunken hat, regt er sich stundenlang wortgewaltig darüber auf, dass Verbindungen pauschal in die politisch rechte Ecke gestellt werden.

Sie zuckt die Schultern. »Dass die … ein bisschen rechts sind. Dass die … ich weiß nicht … sind bestimmt Vorurteile, aber im Fernsehen sind die Verbindungs-Typen immer richtige Arschlöcher.«

»Aber der Typ, den du zufällig getroffen hast, war wohl kein Arschloch und trägt keinen Seitenscheitel, oder?«

Und er gräbt eine Inderin an. Wenn er rechts wäre, würde er das ja nicht tun, oder?

Ein versautes Grinsen fliegt über ihr Gesicht und ich weiß, worum es hier eigentlich geht. Priti will sehen, was mit diesem Typen noch so alles möglich ist und sie will es nicht zu offensichtlich tun. Also fragt sie eine Freundin, ob sie mit ihr zusammen auf die Party geht. Ich habe von der Taktik gehört, sie klingt anstrengend. Warum können Leute nicht einfach offen darüber reden, dass sie sich toll finden? Aber was habe ich schon für eine Ahnung von diesen Dingen? Meine bisherigen Erfolge mit Männern sind nicht gerade beachtlich.

»Nein, er war eigentlich total nett«, sagt sie.

Ich sehe sie an. Sie sieht auf die Tischplatte und grinst weiter. »Er hat einen richtig heißen Sixpack.«

Ich grinse auch.

»Klar komme ich mit.«

Auf ihrem Gesicht geht das Licht an.

Vielleicht fragt sie mich, weil ich nicht wie ernsthafte Konkurrenz aussehe …

Egal, ich habe Lust, ein bisschen Bier zu trinken und bescheuerte Gespräche zu führen. Die Saxonia ist schließlich kein Club, in dem man von den ›coolen‹ Leuten abschätzig gemustert wird.

»Wunderbar!« Sie sieht mich an. »Was ziehst du denn an?«

Ich zucke die Schultern und mache eine ausladende Geste, die meine derzeitige Erscheinung einschließt.

»Was? Auf eine Party?«

Es würde zu lange dauern, Priti im Detail zu erklären, warum ich nicht aufgedonnert bei der Saxonia erscheinen will.

Martin hat mich vor etwas über einem Jahr mal mit so einem schrecklichen Hundeblick angesehen und mich gefragt, ob ich seine Freundin werden will. Ich war überrumpelt und wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen, weil er ein echt netter Kerl ist. Also haben wir uns geküsst. Es war grässlich. Sein Mund war genauso schwabbelig wie der Rest von ihm. Ich habe mich mit einer Ausrede aus dem Staub gemacht und ihm am nächsten Tag versucht zu erklären, dass ich betrunken war und nicht genau wusste, was ich tat und dann habe ihn gefragt, ob wir nicht Freunde bleiben wollen.

Er wollte natürlich wissen, warum ich nicht mit ihm zusammen sein will und ich habe mich irgendwie um die Tatsache herum gewunden, dass ich ihn einfach körperlich unattraktiv finde. Ich fühlte mich schlecht dabei. Ich fühle mich immer noch schlecht deswegen. Schließlich ist es oberflächlich, jemanden zurückzuweisen, nur weil man ihn hässlich findet. Oder nicht?

Er hat wochenlang nicht mit mir geredet. Es ist ja auch nicht so, als ob ich ein Topmodel wäre und die Kerle bei mir Schlange stehen würden.

Ein bisschen befürchte ich, dass er sauer sein könnte, wenn ich zu sehr zurechtgemacht auf der Party auftauche, weil er dann denkt, ich spiele mit ihm. Oder ich will einen seiner Bundesbrüder abschleppen.

Priti beugt sich über den Tisch in meine Richtung und greift nach etwas in meinen Haaren. Es ziept ein bisschen, dann gibt es nach. Sie setzt sich wieder hin und legt ein Stück von einer Wasserpflanze auf den Tisch zwischen uns. Ich verstehe den Hinweis: Ok, Wasserpflanzen aus den Haaren waschen wird wohl noch in Ordnung sein.

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Drei Stunden später steigen wir an der Neckarbrücke aus einem überhitzten Bus der Linie 18 und holen uns einen Döner. Ich hätte niemals im Leben so lange gebraucht, um mich für eine Party fertigzumachen, aber Priti hat darauf bestanden, dass ich ›was mit meinen Haaren mache‹ und ein wenig Make-up ausprobiere. Am Ende fand ich sogar, dass ich richtig gut damit aussehe.

Priti trägt jetzt ein bunt gemustertes Kleid mit Spaghetti-Trägern. Es ist aus einer Art Seidenstoff und schmiegt sich leicht an ihren Körper. Die Farben passen perfekt zu ihrem dunklen Teint. An ihrem Körper ist kein Gramm zu viel Fett.

Ich habe mich für ein frisches T-Shirt mit einem Insiderwitz aus Star Wars entschieden. Nachdem ich die Wasserpflanzen aus meinen Haaren gewaschen hatte, habe ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Glätteisen benutzt.

Wir stellen uns auf die Neckarbrücke, um unseren Döner zu essen. Die Temperatur ist gerade erträglich geworden und die Stadt füllt sich mit Menschen. Ein paar SUP-Fahrer bringen ihre Bretter zum Bootsverleih am gegenüberliegenden Ufer zurück. Ein großer grauer Hund begrüßt die Rückkehrer schwanzwedelnd und balanciert über die vertäuten Ruderboote. Unter uns zieht träge ein Floß vorbei, auf dem jemand einen Grill aufgebaut hat. Das brutzelnde Fleisch duftet herrlich. Der Neckarmüller Biergarten ist vollbesetzt und eine Männergruppe stimmt einen schiefen Gesang an.

Wir überqueren die Straße, laufen ein paar Meter parallel zum Neckar und stehen vor einer hohen Mauer, in die eine vergitterte Tür eingelassen ist. Ich habe Martin schon oft damit aufgezogen, dass die Tür wie Gitterstäbe im Gefängnis aussieht. Er fand das nie lustig. Wir werden hereingelassen und steigen eine Außentreppe hinauf. An der schweren Holztür sind drei Studenten versammelt. Alle tragen Hemden und ein buntes Band, das quer über ihre Brust verläuft. An diesem Band kann man die Studenten eindeutig einer Verbindung zuordnen. Martin hat sich mal einen ganzen Abend lang darüber ausgelassen, was die einzelnen Farben bedeuten und welche Farben zu welcher Verbindung gehören. Ich habe mir höchstens die Hälfte davon gemerkt.

»Hey!«, ruft ein hochgewachsener Mann von etwa Mitte zwanzig. Er trägt seine Haare in dem typischen 1 cm-Deutsche-Männer-Standardschnitt, sieht aber ansonsten ziemlich gut aus. Ich glaube, er wurde mir mal als Adi vorgestellt, hat aber nie ein Wort mit mir gewechselt. Unter seinem Hemd kann man einen athletischen Körper mit stahlharten Muskeln erahnen. Als er Priti sieht, breitet sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, das ihn sympathisch wirken lässt. Er umarmt Priti zur Begrüßung. Mir drängt sich der Verdacht auf, dass er ihren Namen vergessen hat und deshalb nur »Hey« sagte. Er umarmt mich auch, nur kürzer, aus reiner Höflichkeit.

Normalerweise fallen mir die Leute nicht spontan um den Hals. Aber ich habe nichts dagegen und begrüße auch die anderen beiden Studenten lächelnd.

»Willkommen in unserem Haus, Ladies! Bedient euch einfach, fühlt euch ganz wie zu Hause!«

Wir laufen eine Treppe nach oben, auf der ein roter Teppich ausgelegt ist. An den Wänden hängen gerahmte Bilder ehemaliger Bundesbrüder, die aussehen, als seien sie in der Anfangszeit der Photographie entstanden. Ich habe noch nie die Gelegenheit gehabt, mir die Bilder näher anzusehen.

In dem Haus ist es erstaunlich kühl. Die dicken Steinmauern halten die Hitze draußen und die hohen Decken sorgen dafür, dass der Mief an einen Ort hochsteigt, wo man ihn nicht riechen kann.

Mir fällt sofort der große Tisch in der Mitte des Wohnzimmers auf, der voll mit Knabberzeug und hartem Alkohol beladen ist. Auf der Terrasse sind Ketten mit bunten Laternen aufgehängt. Jemand hat ein Sofa und zwei Sessel nach draußen gestellt. Ich sehe mich nach Priti um. Sie ist verschwunden. Ich lächle. Es schien ihr ja wirklich schwergefallen sein, sich hier zu integrieren.

»Trink, trink, trink, trink«, höre ich Rufe aus der Bar. Sebastian steht hinter dem Tresen und zapft Bier. Martin und ein Student einer anderen Verbindung sitzen auf Barhockern und trinken einen halben Liter Bier, so schnell sie können. Martin stellt sein Bier geräuschvoll auf dem Tresen ab, atmet auf und leckt sich den Mund. Die Männer um ihn herum brechen in Jubel aus.

Er hat mir mal gesagt, dass sich die Studenten in den alten Zeiten mit Floretten duelliert haben. Ich habe ihn gefragt, warum, aber hatte keine wirklich sinnvolle Antwort. Ist das Studium nicht schon Wettkampf genug? Man kämpft jeden Tag gegen die Professoren und gegen das Wissen, das sich sträubt, einem in den Kopf zu gehen. Muss man dann am Wochenende noch gegen andere Studenten kämpfen? Mit scharfen Waffen? Ich glaube, es ist so eine Art Männerding – Männer sind so wahnsinnig kompetitiv. Immer müssen sie wissen, wer der bessere, größere, schnellere, stärkere ist. Manchmal wünschte ich mir, sie würden einfach ein Maßband nehmen und nachmessen.

Heute ist es out, sich in einem Wettkampf zu messen, bei dem es Tote und Verletzte geben kann. Deshalb stellen sie fest, wer der Trinkfestere ist und wer ein Bier möglichst schnell austrinken kann. Ich habe gehört, dass Martin ein echter Champion in dieser Disziplin ist. So wie er aussieht, ist es die einzige sportliche Disziplin, in der er je erfolgreich war.

»Hey, Sonja!« Martin steht plötzlich vor mir und grinst. Wir umarmen uns. Obwohl die Mittagshitze sich langsam verzogen hat, schwitzt er stark. Ich versuche, mir die Hände nicht zu offensichtlich an der Hose abzuwischen. Der Schweiß hat seine feinen, rötlich blonden Haare an den Kopf geklebt und sammelt sich in allen Hautfalten. Von denen hat Martin mehr, als ich wissen will. Er wiegt ungefähr das Doppelte von mir.

»Hast du noch jemanden mitgebracht?«

»Ja, meine Mitbewohnerin.«

»Echt? Wo ist sie denn?«

Er sieht sich um.

»Keine Ahnung, aber vermutlich da, wo Adi auch ist.«

Martin verdreht die Augen und sieht schweigend in sein Bier.

»Gibt es was, das ich wissen sollte?«, frage ich, bekomme aber keine Antwort.

»Was?« Ich knuffe ihn in die Schulter.

»Ich rede nicht schlecht über meine Bundesbrüder.« Er nimmt einen Schluck.

»Was?« Ich knuffe ihn wieder. Die ersten Männer drehen sich um und sehen in unsere Richtung.

Martin seufzt. »Ja, der ist neu und wenn du mich fragst, sollte deine Mitbewohnerin vorsichtig mit ihm sein. Er ist eine männliche Schlampe.«

»Interessant. Als was stellt man sich denn eine Schlampe vor, der nicht das Attribut ›männlich‹ vorausstellt wird?« Ich verschränke die Arme vor der Brust.

Martin schüttelt den Kopf. »Sorry, ich hatte schon fast vergessen, dass ich mit einer so unverbesserlichen Feministin wie dir rede.«

Er hebt seinen Bierkrug. »Prost!« Unser Zeichen, das Thema zu wechseln.

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Eine halbe Stunde später sitze ich mit Martin und drei seiner Kumpels auf dem Sofa draußen auf der Terrasse. Von hier aus kann man in Richtung des Neckars sehen, wo sich der Himmel langsam golden zu verfärben beginnt.

Das Fenster hinter dem Sofa ist geöffnet. In dem Raum dahinter steht ein Tischkicker. Priti spielt mit voller Konzentration. Sie reißt die Arme in die Luft und jubelt. Adi jubelt auch. Sie geben sich ein High Five und ein Küsschen.

Jemand hat sein Handy an einen Lautsprecher angeschlossen und spielt irgendein grässliches Party-Lied, zu dem drei weitere Studenten mitgrölen. Offenbar ist das ein Insiderwitz, den niemand versteht. Martin steht auf, entschuldigt sich und geht ins Haus. Fünf Minuten und eine hitzige Debatte später hört man einen angenehmen Mix aus 80er-Jahre-Pop. Martin lässt sich auf einen schweren Sessel aus abgewetztem braunem Leder fallen.

»Wo waren wir stehen geblieben?«, fragt er und nimmt seine Bierflasche vom Tisch.

»Ich denke, man sollte nicht zu lange warten, bis man eine Berufsunfähigkeitsversicherung abschließt«, sagt Jens ernst.

Er ist schlaksig und trägt ein weißes T-Shirt von der Freiwilligen Feuerwehr irgendeines Kaffs auf der schwäbischen Alp.

»Ich habe mir das letztens mal erklären lassen und es ist echt besser, wenn man möglichst früh damit anfängt. Am besten, sobald man sein erstes Geld verdient.«

Sören nickt ernst und dreht seine Bierflasche in der Hand herum. Ich glaube, dass der Name auf seinem T-Shirt zu irgendeiner Metal-Band gehört, aber sicher weiß ich es nicht, weil man das beim besten Willen nicht entziffern kann. Er versucht sich – mehr schlecht als recht – einen Bart wachsen zu lassen.

»Ja, das ist ja auch deine Rente. Ansonsten gibts vom Staat bald nichts mehr«, sagt ein anderer Student, den mir Martin erst heute Abend als Micha vorgestellt hat.

Er hat als einziger der Gruppe einen Haarschnitt, der aussieht, als habe er dafür einen Friseur und keinen Schäfer aufgesucht. Die Farben auf seinem Band sind andere als die von Martin. Eine Narbe, die quer über seine linke Wange verläuft, verleiht ihm ein zwielichtiges Aussehen.

Priti jubelt wieder. »Ich hab dir doch gesagt, dass du im Tischkicker keine Chance gegen mich hast!«, ruft sie und bedeutet Adi, dass sie gerne noch einen Drink hätte.

»Also machst du jetzt deine Doktorarbeit, oder nicht?«, fragt Sören an Martin gewandt. Offenbar geht ihm das Gequatsche über Versicherungen genauso auf den Keks wie mir.

»Ich denke schon. Der Arbeitskreis macht interessante Forschung und mit einem Doktortitel steige ich in der Industrie gleich als Laborleiter ein.«

Jens runzelt die Stirn. »Meinst du, dass sich das rechnet? Ich meine, wie viel verdienst du während deiner Doktorarbeit? 1.500 im Monat? Das dauert dann wie lange? Drei bis vier Jahre? Wenn du jetzt 40.000 im Jahr verdienen würdest und du fünf Jahre lang nur knapp 20.000 verdienst, dann brauchst du bei einem Einstiegsgehalt von sagen wir 60.000 bestimmt fünf Jahre, bis du das wieder drin hast.«

Vier. Ich komme auf vier, aber egal.

Martin überlegt kurz. Auch meine Gedanken driften ab. Meine Schwester, die eine Lehre als Friseurin gemacht hat, verdient seit Jahren mehr als ich. Und bis ich anfange, wirklich Geld zu verdienen, fließt noch mehr Wasser den Neckar runter. Aber geht es wirklich immer nur um Geld?

Ich meine, ich gehöre nicht zu den Menschen wie Merle und Bastian, die alles ablehnen, was auch nur den Anschein von Profitabilität hat. Aber sich an einem schönen Sommerabend wie diesem den Kopf darüber zu zerbrechen, wie viel man in fünf Jahren verdient, finde auch ich nicht gut.

»Ich denke schon, dass es sich auf lange Sicht rechnen wird«, antwortet Martin, bevor ich mich dazu durchringen kann, etwas zu sagen. »Wenn ich einen guten Job bei einem Top-Unternehmen wie BASF oder Bosch bekomme, dann lohnt es sich auf jeden Fall. Bei den Sozialleistungen, die die einem bezahlen …«

Ich sehe über die Köpfe von Sören und Jens durch das offene Fenster, um herauszufinden, wo Priti steckt. Aber sie ist nirgends zu entdecken.

»Oja, die Sozialleistungen sollen der Hammer sein bei Bosch«, fügt Martin hinzu, »Ich habe gehört, die bekommen so viele Weiterbildungen bezahlt, wie sie machen wollen.«

»Und die betriebliche Altersvorsorge ist so gut, dass man sich in der Rente um nichts mehr zu sorgen braucht. Ich kenne jemanden, der hat nach dreißig Jahren bei Bosch ein Jahr auf einem Luxus-Kreuzfahrtschiff gelebt und die ganze Welt gesehen.« Jens’ Augen glänzen.

»Ja, und seit Neuestem gibt es dort auch Vaterschaftsurlaub«, fügt Sören hinzu.

»Aha, gibt es was, was wir wissen sollten?«, fragt Jens mit einem schiefen Grinsen.

Sören läuft rot an.

Eine Horde halbnackter Studenten kommt aus dem Inneren des Hauses gelaufen. Sie spritzen sich gegenseitig mit Spritzpistolen nass. Sehnsucht überkommt mich. Ein Teil von mir will auch halbnackt mit Spritzpistolen durch das Haus laufen und Leute nass spritzen. Aber ich weiß nicht, ob man mich so einfach mitmachen lassen würde. Wahrscheinlich blamiere ich mich, wenn ich jetzt aufstehe und jemanden frage, ob ich mitmachen kann. Irgendeiner wird irgendwas sagen, was ich nicht verstehe, und alle werden lachen und dann stehe ich dumm da. Also bleibe ich sitzen.

»Ich finde, für uns Männer ist es schon schwer genug, mit über dreißig das erste Mal gescheit zu verdienen«, sinniert Micha, »Aber wann sollen Frauen denn eine Familie gründen, wenn sie erst mit dreißig anfangen zu arbeiten? Uns läuft wenigstens nicht die Zeit weg.«

Jemand aus dem Stockwerk über uns wirft eine Wasserbombe auf die Terrasse. Ich wünsche mir, sie hätte Micha getroffen oder Jens. Ich hasse es, wenn Leute ›eine Familie gründen‹ sagen statt ›Kinder bekommen‹. Es ist so unpräzise und auch sachlich falsch. Eine Familie kann so viel mehr sein, als biologische Nachkommen.

»Noch eins?«, fragt Micha und streckt die Hand nach meiner leeren Bierflasche aus.

»Ja, gerne. Ich gehe welches holen.« Damit stehe ich auf und sammle die leeren Bierflaschen ein. Ich merke selbst, dass ich damit exakt die Arbeit mache, die Leute wie Micha von einer Frau erwarten, aber ich muss weg von hier. Ein ganzer Wortschwall steigt in mir auf und der Alkohol weicht die Mauer auf, die ihn zurückhält.

In der Küche sortiere ich die Flaschen in aller Ruhe in die Kästen ein und lasse mir Zeit damit, neue aus dem Kühlschrank zu nehmen. Die Musik hier drinnen ist ohrenbetäubend laut.

Eine Tussi in einem gelben Minirock sitzt auf der Arbeitsplatte und knutscht mit einem Bundesbruder herum. Ich halte die vier Bierflaschen an den Hälsen fest und schlendere gemütlich zur Terrasse zurück. Eigentlich würde ich jetzt auch lieber auf der Arbeitsplatte sitzen und mit irgendeinem gutaussehenden Kerl Zungengymnastik üben.

Priti hat sich mit ein paar braun gebrannten Studenten in einer Ecke des Wohnzimmers versammelt und spielt Bierpong. Sie scheint sich köstlich zu amüsieren und schon eine Menge neue Freunde gefunden zu haben. Einen kurzen Moment lang stehe ich unschlüssig herum. Soll ich einfach zu ihr gehen und mitspielen? Dann denke ich an die Flaschen in meiner Hand und daran, dass ich die wenigstens vorher an ihren Bestimmungsort bringen muss.

Also gehe ich wieder hinaus auf die Terrasse.

Martin redet weiter über Berufsunfähigkeitsversicherungen. Ich öffne die Bierflaschen und proste den Jungs zu. Auf der einen Seite genieße ich es, einfach irgendwo sitzen und zuhören zu können, ohne dass man mich unter Druck setzt, irgendetwas Originelles beitragen zu müssen. Auf der anderen Seite überlege ich mir, wie es denn wäre, wenn ich jemand anderes wäre. Wenn ich jemand wäre, der so einfach neue Freunde findet, wie Priti. Wenn ich so ausgelassen feiern könnte, wie die Wasserschlacht-Jungs.

»Ich finde, in unserer heutigen Gesellschaft wird der Hausarbeit nicht mehr genug Beachtung geschenkt. Wenn diese Arbeit wieder mehr wertgeschätzt würde, würden sich vielleicht auch wieder mehr Frauen einer Berufung als Hausfrau und Mutter zuwenden«, sagt Martin.

Ich werfe ihm einen irritierten Blick zu.

»Ja, die deutschen Frauen sind sich alle zu gut dafür und deshalb schrumpft unsere Bevölkerung. Alle werden immer älter und dann bricht das Rentensystem zusammen«, fügt Micha hinzu. Martin wiegt den Kopf, Jens nickt, Sören trinkt Bier. Mir fällt die Kinnlade herunter. Ich hole tief Luft. Bevor ich etwas sagen kann, führt Micha weiter aus:

»Und deshalb müssen sie Ausländer reinholen und die vermehren sich wie die Karnickel und verbreiten hier ihre Drecks-Scharia.«