Die Poetry Slam-Fibel 2.0 - Aidin Halimi - E-Book

Die Poetry Slam-Fibel 2.0 E-Book

Aidin Halimi

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Beschreibung

100 Texte, knapp 70 Autorinnen und Autoren, darunter über 20 deutschsprachige Poetry- Slam-Champions – eine Sprache. Sie steht im Zentrum dieser Anthologie – das Handwerkszeug aller Poetinnen und Poeten, das in vielen Texten gespiegelt, betrachtet, lustvoll hinterfragt oder spielerisch erweitert wird. Bei allem Unterhaltungsfaktor bietet die Poetry- Slam-Fibel eine Bühne für die Sprache zwischen Sinnhaftigkeit, Rhythmus und Musikalität: Sprache als lyrisches Präzisionswerkzeug, als abschreckendes Beispiel, als klangvolle Schallwelle, als sterbenskranker Patient, als Lustobjekt, als Rhythmusmaschine, als Crash- Test-Dummy. Sprache als Spielzeug und Sprache als Waffe. Seit über fünf Jahren ist dieses Standardwerk sowohl beliebtes Slam-Lesebuch als auch Hilfsmittel in Workshops und Deutschunterricht. Die Herausgeber gehören zu den Mitbegründern der deutschsprachigen Poetry-Slam-Bewegung. Ihre Poetry-Slam-Fibel ist eine Rückbesinnung auf den Poetry Slam als Forum und Werkstatt der Worte und ein Plädoyer für die spielerische und kritische Auseinandersetzung mit Sprache

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BAS BÖTTCHER, WOLF HOGEKAMP (HRSG.)

DIEPOETRY SLAMFIBEL 2.0

25 JAHRE WERKSTATT DER SPRACHE

ERWEITERTE NEUAUFLAGE

Ebook zur erweiterten und überarbeiteten Neuauflage Mai 2020

© für die Orignalausgabe: Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2014

© für die überarbeitete Neuauflage: Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2020

www.satyr-verlag.de

Cover: Sarah Bosetti

Lektorat: Bas Böttcher, Volker Surmann, Jan Freunscht (Korrektorat)

Audio-Redaktion: Bas Böttcher

Audio-Aufnahmen: siehe Datei-Metadaten

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

E-Book-ISBN: 978-3-947106-69-1

VORBEMERKUNG DES VERLAGSZUR E-BOOK-AUSGABE

Lieber Leserin, lieber Leser,

gerne stellen wir die Poetry-Slam-Fibel auch als E-Book zur Verfügung. Vor allem die Struktur mit den Verlinkungen zu Audio-Files im Netz macht den Reiz dieses digitalen Formats aus. Es birgt jedoch auch Nachteile:

Poesie lebt mithin auch von der Anordnung der Sprache auf dem Blatt. Der Poet, die Poetin setzt z. B. Zeilenumbrüche gezielt und bewusst ein. In der Printausgabe dieses Buches haben wir über solche setzerischen Details viel diskutiert.

Die fluide Form des E-Books bricht die Zeilen um, wie sie will – abhängig vom jeweiligen Reader, von der Bildschirmgröße, der von Ihnen gewählten Schriftart und/oder -größe. Das müssen Sie bedenken, wenn Sie dieses Buch lesen und sich, womöglich über manch seltsamen lyrischen Zeilensprung wundern. Ändern Sie dann ruhig mal die Darstellung in Ihrem E-Book-Reader, womöglich öffnen sich damit neue sprachliche und interpretative Horizonte …

Ein Text in diesem Buch (Dalibor Markovic: »my mother was …«) war schon im Print-Buch in seiner Dreispaltigkeit nur durch Querlegen des Layouts darstellbar. Im E-Book verzichten wir auf den Abdruck und verlinken an dieser Stelle auf ein PDF sowie auf ein Audio-File.

Wir wünschen eine angenehme digitale Lektüre!

Verlag und Herausgeber

INHALT

Bas Böttcher, Wolf Hogekamp: Editorial

Stephan Porombka: Vorwort

1. SAGENHÖREN

Sebastian Krämer: Über Mikrophone

Volker Strübing: Das Mädchen mit dem Rohr im Ohr und der Junge mit dem Löffel im Hals

Timo Brunke: Das gesprochene Wort

Nora Gomringer: Sag doch mal was zur Nacht

Jürg Halter: Bitte, ich versuche zu sprechen

Julius Fischer: Die Grenzen der Sprache

Toby Hoffmann: landstalten revisited

2. REDEHANDWERK

Dalibor Markovic: Poesie ist eine Form von Materie

Temye Tesfu: Der Künstler lebt nicht vom Applaus allein

Toby Hoffmann: ich stecke mir die worte in die tasche

Timo Brunke: Verben werben!

Helge Thun: Die schwere Geburt

Noah Klaus: Wenn Philipp von Zesen heute noch am Leben wäre …

3. SPIELWIESENWÖRTERSPRIESSEN

Maik Martschinkowsky: Unter dem Kardamond

Micha Ebeling: Der Gewinner bekommt sie alle

Philipp Scharrenberg: Von dem Verb, das ein Nomen werden wollte

Bas Böttcher: Die verkuppelten Wörter

Philipp Herold: das spiel

Noah Klaus: Das Wunder der Sprache

4. LINGUALIEBELEI

Bas Böttcher: Die Macht der Sprache

Samuel Kramer: Wunderblind

Pierre Jarawan: Von der Schönheit der Sprache

Ilka Haederle: Sommer

Mona Harry: Auf ein Wort

Jean-Philippe Kindler: Der Weg

Valerio Moser: Sprachkokon

5. WELTENBAU

Nora Gomringer: Ursprungsalphabet

Dalibor Markovic: my mother was ungampe-pikane. my father is absoluca. this mixture was not respected

Patrick Salmen: Papierblütenstaub

Theresa Hahl: Appell an den Alltag

Pierre Jarawan: Von Gullideckeln und Nussschalenschiffen: Ein Aufruf an die Phantasie

Laurin Buser: Stellen Sie sich einen Beat vor

6. TEXTWANDELN

Timo Brunke: Wörterzeitreise

Dalibor Markovic: Jüngere Geschichte

Simon Libsig: Bei Oma zu Tee-Tris …

Franziska Holzheimer: #diesdas I – III

7. UNMÖGLICHKEITSBAUSTELLE

Sebastian 23: Gold (2)

Björn Högsdal: Oxymoron-Krimi

Bas Böttcher: Syntax Error

Philipp Scharrenberg: Drama Sutra

Bodo Wartke: Ein Mann sieht grün (Ein Komplementärfarbenkrimi)

8. SELBSTLAUTONALITÄTEN

Jaromir Konecny: Die Frau in Weiß

Bodo Wartke: Lalelilolu

Andi Strauß: O

Wolf Hogekamp: Selbstlaut Bitch

Timo Brunke: Orpheus Downtown

9. L-WORT-VARIATIONEN

Harry Kienzler: An die Poesie

Fabian Navarro: Der eine Satz

Sebastian 23: Grammar of Love

Tobias Gralke: Flaschenpost

10. ANSAGEPROMPTER

Timo Brunke: An die Schrift (rezitativ)

David Friedrich: Mein Opa

Pauline Füg: sprech-akt

Jan »Yaneq« Kage: Ich will nicht mehr!

Xóchil A. Schütz: Ich will meine Sprache erweitern

Sophie Passmann: »Die Zunge einer Dame sollte drei Pförtner haben: Ist es gut? Ist es wahr? Ist es nötig?«

Veronika Rieger: Die Sache mit dem Gendersternchen

11. WECKRUFSERVICE

Toby Hoffmann: kleines manifest

Lars Ruppel: Mach mal ’nen Punkt

Volker Surmann: Punkt

Svenja Gräfen: Sprachlos

12. MULTISPRECH

Mieze Medus & Yasmin Hafedh (Team »MYLF«): Ghettofaust für Vokabelkenntnisse

Henrik Szanto: Finnische Redewendungen

Aidin Halimi: Ich brauche nicht Artikel

Max Golenz: Die Krondomäne ist unveräußerlich

Sebastian 23: Hömma!

13. ANTIKOMMUNIKATION

Alex Burkhard: Von Professoren für Professoren

Nora Gomringer: Shibboleth

Wolf Hogekamp: Wie, was soll das heißen, ich hab keine Sprache? Ich rede doch, hast du Problem?

Toby Hoffmann: der nebel der codes

Björn Högsdal: Hasen

Björn Högsdal: Literaturwissenschaftliche Frage

Suzanne Zahnd: Gnadenlos

Rebecca Heims: Konversation zwischen zwei Fronten

14. VORFORMATIERUNG

Malte Roßkopf: Die Leiden der jungen Wörter. Oder: Sprichwörtlicher Hass

Bas Böttcher: Vorsicht Warnung

Till Reiners: Ich habe keinen Text mehr

Gauner: Meine sehr verkehrten Darminternen

Jason Bartsch: So jung kommen wir nicht mehr zusammen

15. EXPLIZITIZITÄT

Julian Heun: Schläft ein Lied in allen Dingen

Claudia Tothfalussy: Mir fehlen die Worte

Markus Köhle: Sprachlosigkeit …

Bas Böttcher: Das Raster

16. VERBALSCHLACHT

Jakob Nacken: Sprache!

Philipp Scharrenberg: Das Dichterduell

Helge Thun: Der Vormund

Sebastian 23: Sprache beherrschen

17. WÖRTERSCHLUSSVERKAUF

René Sydow: Schreiben Sie! Schreiben Sie!

Bas Böttcher: Fünffacher Wortwert

Marc-Uwe Kling: Wir (100 Worte)

Felix Römer: Dann ist aber Schluss

18. REMIXCYCLING

Frank Klötgen: Kottbusser Tor

Wolf Hogekamp: Dieser Text

Temye Tesfu: Kein Gedicht

Frank Klötgen: Des Lieblings Wort

19. SPRACHHOSPIZ

Sulaiman Masomi: Am Grab der Sprache

Timo Brunke: Schlechtes Gedicht …

Nora Gomringer: <Flüstern>

Paul Weigl: In Memoriam

Die Autorinnen und Autoren

Veröffentlichungsnachweise

BAS BÖTTCHER & WOLF HOGEKAMP

EDITORIAL: DER SPRACHE EINE SPONTANIMPULSDANKSAGUNGSTEXTSAMMLUNG!

Der Sprachwandel macht keine Pause und vollzieht sich in Echtzeit auf Poetry-Slam-Bühnen. Da ist es nur logisch, dass die Poetry-Slam-Fibel den Sprachwandel der letzten fünf Jahre aufgreift und diese Neuauflage um exemplarische Beispiele des Sprachwandels erweitert. Zum fünfundzwanzigsten Geburtstag der deutschsprachigen Poetry-Slam-Bewegung wird die überarbeitete Neuauflage der Poetry-Slam-Fibel durch fünfzehn Beiträge bereichert.

Diese Textsammlung ist dem Arbeitswerkzeug der Bühnendichter – der Sprache – gewidmet. Sprache als Zauberformel, Sprache als Prügelknabe, Sprache als Anschauungsobjekt, als Mittel zum Zweck, als ausgelutschte Phrase, als Crash-Test-Dummy oder Zufluchtsort. Das neue Kapitel »Multisprech« nimmt Aspekte von Slang, Dialekt und Mehrsprachigkeit spielerisch in den Fokus. Als erweiterte Auflage bleibt die Poetry-Slam-Fibel ihrem Anspruch gerecht, das breite Spektrum der zeitgenössischen Spoken-Word-Szene abzubilden.

Die in diesem Buch versammelten Autoren und Autorinnen sind – oder waren in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren – auf Poetry-Slam-Bühnen engagiert. Sprache ist das gemeinsame Thema der hier zusammengestellten Texte. So unterscheidet sich diese Anthologie von anderen Slam-Textsammlungen.

Auf der offenen Poetry-Bühne sind weder Kostüme noch Requisiten erlaubt. Allein der Text und sein Verfasser sollen das Publikum überzeugen. Die Worte stehen im Mittelpunkt, die Vortragenden stellen sich in den Dienst der verbalen Komposition.

Die Kategorien des Buches wurden von den Herausgebern subjektiv aufgestellt und eingeteilt. Einem Anspruch auf Vollständigkeit wird das Buch schon deshalb nicht gerecht werden können, weil das Phänomen Poetry Slam mittlerweile zu groß ist. Das Feld der Akteure und Texte ist stilistisch, thematisch und qualitativ wild gemischt und an seinen Rändern wunderbar ausgefranst. Zur ursprünglichen Idee des Dichterwettstreits auf einer offenen Bühne kamen neue Veranstaltungs- und Medienformate wie Dead-or-Alive-Slams, Poetry-Clips, Textbox oder U20-Meisterschaften. Die vorliegende Sammlung bietet also nur einen kleinen Ausschnitt aus dem sich ständig erweiternden Spoken-Word-Universum.

Bei der Auswahl der Texte sowie der Autorinnen und Autoren sind wir so vorgegangen, wie wir einen Poetry Slam mit Wunschbesetzung organisieren würden. Oberstes Kriterium war, eine abwechslungsreiche Mischung von Ideen, Stilen, Vortragstypen und Aspekten zusammenzustellen. Nicht die Anzahl an gewonnenen Dichterwettkämpfen und auch nicht der höchste Lustigkeitsfaktor waren für die Aufnahme in dieses Buch entscheidend.

Da Slam Poetry neben den Ideen auch den Klang der Worte und das physische Auf-der-Bühne-Stehen beim Präsentieren erfordert, möchten wir die Leserschaft auffordern, diese Fibel laut zu lesen. Besonders in der U-Bahn und im Wartezimmer beim Zahnarzt kann dies zu unerwarteten Effekten führen, aber auch ohne Störung der öffentlichen Ordnung entfalten die meisten der Bühnentexte eine neue rhythmische (*my mother was), verspielte (*Das Mädchen mit dem Rohr im Ohr), zungenbrecherische (*Der Gewinner bekommt sie alle), melodiöse (*Ursprungsalphabet), kranke (*Das Raster) oder beschwörende (*Orpheus Downtown) Dimension, die man in stummer Form verpassen könnte. Auch kann dieses Buch auf Knopfdruck selber sprechen. Wir haben dafür einige der Stücke als Audioversion bereitgestellt, die über QR-Code per Wundertelefon oder einen Internetlink vom Autor gesprochen hörbar gemacht werden können.

Als Herausgeber nehmen wir uns die Freiheit, Widersprüche unaufgelöst zu lassen. Stilistische Parallelen und Überschneidungen stehen ohne Anspruch auf Exklusivität nebeneinander.

Mögen sich jeder Lautleser und jede Texthörerin durch die Beiträge kolumbussen, um dann mit eigenen Statements die nächsten Slam-Bühnen zu bereichern! Dieses Buch enthält den festgehaltenen Stoff von Stimmen auf Bühnen in Bewegung. Einen Besuch beim Poetry Slam kann es an Atmosphäre und Überraschungsmoment sicher nicht ersetzen. Umgekehrt kann aber auch ein Poetry-Slam-Besuch dieses Buch nicht ersetzen, da eine solche Geballtheit unterschiedlicher Auftritte zu einem gemeinsamen Thema logistisch kaum zu bewältigen wäre. Bühnenpoeten sind reisende Dichter. Das Spoken-Word-Netzwerk lebt vom gegenseitigen Austausch. So soll auch dieses Buch dazu beitragen, mit den Poeten in Kontakt zu treten und auch Nichteingeweihten den Blick in die Werkstatt der Slam-Poesie zu ermöglichen.

Für die Unterstützung beim Lektorat möchten wir uns bei Volker Surmann und dem Satyr Verlag bedanken. Für die guten Ideen und die Unterstützung möchten wir auch dem norddeutschen Slam-Master Björn Högsdal sowie allen Dichtern und Dichterinnen danken, die sich mit ihren Bühnenstücken an diesem Projekt beteiligt haben.

Bas Böttcher, Wolf Hogekamp

(Berlin, März 2020)

STEPHAN POROMBKA

VORWORT: DIE ›SCHOOL OF HARD KNOCKS‹ DER DEUTSCHEN LITERATUR

Wer je auf einem Poetry Slam war, der weiß: Am spannendsten ist dieser Moment, wenn der Master of Ceremony den nächsten Sprecher oder die nächste Sprecherin mit der nächsten Nummer angesagt hat.

Der Applaus zieht an, wird laut, er hält sich ein bisschen, ebbt wieder ab, jemand pfeift noch oder johlt, von hinten an der Bar hört man ein paar Leute sprechen, es gibt kleine Ermahnungen, Zischlaute, dann wird es fast ganz still. Und jetzt: Es ist dieser Moment, wenn niemand genau weiß, was passiert.

In solchen Momenten können bis dahin großartige Abende in den Abgrund kippen. Da tritt mitten in der wirklich guten Stimmung, die den ganzen Saal auf einem angenehmen High hält, plötzlich jemand auf, ein Hemdchen nur, ein Stimmchen, und präsentiert ein Textchen, abgelesen, hingestottert, kaum zu hören, irgendwas mit Straßenbahn und letzter Haltestelle, und alle denken: Das kann nicht sein, wo bin ich hier gelandet?!

Und dann gibt es diese Momente, in denen das Publikum schon die Hoffnung aufgegeben hat. Der MC kommt wieder raus, kündigt den Nächsten an, schwacher Applaus, widerwilliges Murmeln, eine kleine Person tritt auf, nimmt das Mikrofon und räuspert sich. Und dann, Bäm!, geht es plötzlich ab, als würde der Stimmblitz mit Sprachwitz, dem dröhnenden Herzbeat und dem Donner einer großen Story in den Saal krachen und alle so elektrisieren, dass jeder denkt: Wow, das isses, dafür bin ich hier!

In welche Richtung es beim Slam geht, ist kaum vorauszusagen. Es gibt schwindelerregende Achterbahnshows. Es gibt Fahrstuhlabende, an denen man dauernd hoch- und runterfährt, ohne zu wissen, durch welche Niveauplateaus der Saal das nächste Mal gejagt wird. Was man aber immer sicher weiß: dass man nicht mit Sicherheit weiß, wie es werden wird.

Dass man nicht weiß, wie es werden wird, ist alles andere als eine Banalität. Denn in der Ungewissheit steckt das eigentliche Erfolgsgeheimnis der Literatur, die auf Bühnen performt wird. Poetry Slams sind Abende aus der Wundertüte. Nicht zu wissen, wie es wird – das auszuhalten und mitzumachen und mitzufiebern und auch selbst dafür mitverantwortlich zu sein, dass es ein guter Abend wird, das macht für das Publikum den Reiz aus.

In der Ungewissheit steckt aber noch mehr. Sie ist zugleich der geheime Mechanismus, der die Kreativität und Produktivität der Wort-Artisten aktiviert. Weil ungewiss ist, was aus einzelnen Auftritten und aus ganzen Abenden wird, nehmen alle Beteiligten billigend in Kauf, dass die Texte auch mal scheitern können. Das entspannt ungemein. Es eröffnet einen Spielraum, den die Buch-Literatur nicht kennt. Denn Bücher zu drucken heißt: Gedruckt ist gedruckt. Gebunden ist gebunden. Und ausgeliefert ist ausgeliefert. Verändert werden kann, was erst einmal in Büchern steht, nur noch mit sehr hohem Aufwand. Alles muss jetzt bleiben, wie es ist.

Ganz anders beim Slam. Hier ist alles im Fluss. Die Texte sind in ständiger Entwicklung. Sie existieren eigentlich nur dann, wenn sie aufgeführt werden. Dabei gilt: Gerade weil sie nicht auf das Glatte und Gelungene festgelegt sind, dürfen Slammer etwas ausprobieren.

Folgerichtig trifft man auf Poetry Slams nicht die perfekten Profis. Hier findet man alle Spielformen des strategischen Umgangs mit dem Unfertigen, dem Halbgaren, dem Scheiternden, dem Belanglosen. Textformate und Performances machen das Nicht-Perfekte ebenso häufig zum Thema wie die Texte selbst. Der Poetry Slam hat damit wie keine andere Bewegung in der Literatur den Dilettantismus als ästhetische Strategie integriert. Aber nicht als Naivität gegenüber den eigenen Möglichkeiten, sondern als Avantgardismus.

Der Dilettantismus hat sich seit dem grandiosen Auftritt der (sich mit Absicht falsch schreibenden) »genialen Dilletanten« zu Beginn der Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts als einer der wichtigsten Treibsätze für künstlerische Innovationen erwiesen. Denn gerade weil die Avantgardisten des »genialen Dilletantismus« nicht bereit sind, sich den spießigen Vorgaben für eine angeblich gute Kunst und Literatur zu unterwerfen, sind sie aufs Experimentieren abonniert. Getestet werden neue Texte, neue Stile, neue Moves. Vorgeführt wird etwas anderes. Etwas Schräges, Überraschendes, Verrücktes, ein Übersprung raus aus den Konventionen.

Ein Spielraum für Experimente öffnet sich beim Poetry Slam aber auch, weil die Slam-Texte so ausgesprochen kurz sind. In der Regel geht es um drei bis fünf Minuten. Manche Auftritte bleiben sogar darunter. Gelegentlich dauern sie sechs Minuten oder sieben, aber länger wird’s bestimmt nicht. Denn Slam-Stücke sind immer nur Songs und keine Symphonien. Es sind Tracks und keine Alben. Slam-Abende sind flotte Revuen und keine Konzerte.

Das fördert die Geschwindigkeit, mit der im Slam produziert wird. Und die erhöhte Geschwindigkeit wiederum fördert die Geschwindigkeit, mit der sich die Texte weiterentwickeln. Weil die Wege zwischen Notizbuch und Bühne so kurz sind und weil die Zeit zwischen den Auftritten wie im Flug vergeht, lernen die Artisten und Artistinnen schnell. Oder sie geben auf. Slammer oder Spoken-Word-Performer sein, heißt: dauernd zu trainieren. Alles geht Schlag auf Schlag.

Das verstärkt den Wirbel, der in den letzten zwanzig Jahren rund um die Wort-Artisten-Szene entstanden ist. Immer schneller sind von ihm die jungen Talente eingesogen und auf die Bühne geworfen worden. Einige von ihnen standen mit fünfzehn das erste Mal am Mikrofon. Viele hat der Slam wie ein starker Durchlauferhitzer auf beeindruckende Temperaturen gebracht. Große Slammer sind ins Comedy-Fach gewechselt. Andere sind Werbetexter geworden. Man hört von Professoren, die einst Slammer waren und jetzt Vorlesungen halten. Es gibt auch Slammer, die sind Songwriter geworden. Oder Lyriker. Oder Romanautoren.

Alles schaut wie gebannt auf die Schreibschulen an den Universitäten, an denen Autoren ausgebildet werden, die als Bachelor oder Master den Literaturbetrieb prägen sollen. Aber hat jemand schon einmal ganz konkret ausgezählt, was der Poetry Slam für die Literatur und ihren Betrieb gebracht hat? Ist man sich eigentlich klar darüber, dass so unglaublich viele Autoren überhaupt erst durch den Slam zum Schreiben gekommen und auf der Bühne ausgebildet worden sind und dort oben ihre inneren und äußeren Stimmen weiterentwickelt haben, immer hin und her zwischen hop oder top, Sieg oder Niederlage?

Der Poetry Slam ist nie eine gemütliche Schreibschule gewesen. Slammer konnten nie ihre Schreibblockaden mit bemühten Selbstreflexionen intellektualisieren. Der Slam kennt keine Dozenten, die vorführen, wie man für den Elfenbeinturm oder den Bahnhofsbuchhandel produziert. Slammer kennen keine wöchentlichen Schreibwerkstätten, in denen sie Creditpoints für ihren Abschluss verdienen. Der Slam ist, was die Amerikaner »the school of hard knocks« nennen. Die Schule der harten Schläge. Das Klassentreffen auf dem Bordstein.

Während sich in den letzten zwei Jahrzehnten in den feinen Etablissements der Literatur alles bis zur Langeweile wiederholt hat, wurde das literarische Schreiben und Sprechen aus dieser Schule der harten Schläge mit völlig neuen Impulsen versorgt. Dass die Literatur heute wieder Frische hat und fasziniert; dass sie als großartiger Event wiederentdeckt worden ist; dass die Säle gefüllt sind, wenn Autoren kommen und lesen und sprechen und mit dem Publikum spielen; dass man zu Lesungen geht, weil man etwas Starkes erleben will – das alles geht auf den Poetry Slam zurück.

Ist das zu dick aufgetragen? Nein! Die Feuilletonchefs, die Kulturredakteure, die Literaturkritiker und die Literaturgeschichtsschreiber mögen die Nase rümpfen. Sie mögen sich darüber mokieren, dass nun ausgerechnet das, was in ihrer Filterblase doch gar nicht als echte Literatur zählt, so viel stärker und einflussreicher als das sein soll, was sie als Qualitätsliteratur einstufen und zur Rezension durchlassen.

Dabei ist das noch gar nicht alles. Slam ist noch viel mehr. Er hat nämlich die Literatur nicht nur mit neuem Leben erfüllt, als sie in ihrer eigenen Langeweile zu ersticken drohte. Der Poetry Slam hat die Literatur auch an riesige Energiereservoirs der Medien- und Popkultur angeschlossen, aus denen sie langfristig schöpfen kann.

Es ist kein Zufall, dass die Performance-Literatur ihren ersten großen Hype erlebt hat, als sich die PCs verbreitet und zum Internet zusammengeschlossen haben. Auf die Krise des gedruckten Wortes hatte der Poetry Slam eine produktive Antwort parat. Mitten in der Krise hat er zwei Sachen ins Spiel geholt, die in der Printkultur nie richtig mitspielen durften: den Körper und die Stimme. Live und unmittelbar. Und zwar so intensiv, dass das Gedruckte mindestens für ein paar Momente völlig vergessen werden konnte.

Damit hat der Poetry Slam vollzogen, was in der Medientheorie schon lange vorher als »sekundäre Oralität« bezeichnet wurde. Die Hochkonjunktur der Mündlichkeit unter den Bedingungen einer neuen Medienkultur. Die elektrifizierte Wiederbelebung des gesprochenen Wortes. Die digitale Transformation der Lautlichkeit. Damit steht der Poetry Slam in der Tradition der Klang-Literatur, die in der deutschen Literaturgeschichte bis in die magischen Sphären der Merseburger Zaubersprüche zurückreicht. Er steht zugleich in der Tradition der avantgardistischen Literaturen, deren Autoren mit dem Radio, den Plattenspielern, den Tonbändern, dem Fernsehen, dem Video und den Computern versucht haben, die Festlegungen der Schrift aufzusprengen und ihr neue Dimensionen zu öffnen.

Diese neuen Dimensionen liegen für den Slam nicht nur im Wechsel von der Buchseite zum Bühnenraum. Sie liegen viel grundsätzlicher im Wechsel vom Sinn zum Sound. Texte und Performances können sich nämlich treiben lassen von Rhythmen und Melodien. Sie können umgekehrt die Rhythmen und die Melodien in ihre Richtungen zwingen. Der Poetry Slam nimmt damit für die Literatur auf, was die Popmusik vorgemacht hat.

Man sollte es nicht vergessen: Allen Vorbehalten gegen die Kulturindustrie zum Trotz sind die atemberaubendsten Fortschritte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Lyrik nicht in den Elfenbeintürmen gemacht worden, sondern in der Popmusik. In Form der Lyrics. Hier sind in rasender Geschwindigkeit unerhörte poetische Kombinationen ausprobiert worden. Und das mit größter Reichweite und intensivsten Wirkungen. Millionen, zuweilen Milliarden von Menschen hören Zeilen derselben Songs und singen sie mit. Popmusik webt dabei die literarischen Texturen in Lebensstile ein. Die werden von den Hörern für individuelle biografische Kontexte adaptiert. Sie werden variiert, weiterentwickelt und wieder in den Pool eingespeist, aus dem sich die Nächsten bedienen.

Ist es denn dann jetzt zu dick aufgetragen, wenn man behauptet, dass der Poetry Slam vom selben produktiven Prinzip wie die Popmusik lebt? Von der Arbeit an den Lyrics, die nicht bestehenden Sinn wiederholen, sondern ihn überhaupt erst machen, herstellen, ausprobieren?

Nein. Dass es nicht zu dick aufgetragen ist, lässt sich an all den Texten ablesen und den dazugehörigen Audio-Files hören, die hier versammelt sind. Es ist die Schwergewichtsschau der Slam-Bewegung. Es ist ein Absolvententreffen der school of the hard knocks der deutschen Literatur.

Sie führen hier nicht nur ihre besten Stücke auf. Sie zeigen auch, in welcher Bandbreite sich der Slam als Ganzes entwickelt hat, welche Stile sich auf der Ebene der Texte, der Sounds und der Performances herausgebildet haben und welches Themenspektrum dabei in den Texten abgedeckt wird.

Für die Literatur ist mit all dem etwas ganz Großartiges passiert. Der Slam hat das Genre Sprechtext für die Literatur up to date gebracht. Der Slam hat für den Sprechtext zugleich neue Maßstäbe gesetzt. Und er hat dabei Werkstücke von einer ganz eigenen, großartigen literarischen Qualität hervorgebracht.

So groß- und eigenartig ist die, dass sie sich längst nicht mehr mit den Qualitätsmaßstäben messen lassen muss, die in den Schubladen der alten Schreibtische der Feuilletonisten und den Aktenschränken der Literaturwissenschaftler liegen. Über hop oder top, Sieg oder Niederlage entscheidet jetzt nämlich das Publikum im Saal, wenn der nächste Wort-Artist angesagt wird.

Der Applaus zieht an, wird laut, er hält sich ein bisschen, ebbt wieder ab, jemand pfeift noch oder johlt, von hinten an der Bar hört man ein paar Leute sprechen, es gibt kleine Ermahnungen, Zischlaute, dann wird es fast ganz still. Und jetzt: Es ist dieser Moment, wenn niemand genau weiß, was passiert.

Das Vorwort anhören:www.slamfibel.de/vorwort.mp3

1.

SAGENHÖREN

SEBASTIAN KRÄMER

ÜBER MIKROPHONE

Reden wir doch mal über Mikrophone!

Reden nicht in sie hinein, nein:

Reden wir mal über Mikrophone,

wie man über Leute lästert, die nicht da sind,

oder über Leute, die zwar da sind,

aber nichts zu melden haben. Mikrophone,

die mich über irgendwelche Boxen schicken wollen,

damit ich euch dann von dort erreiche,

nach dem Motto: Warum einfach, wenn’s auch kompliziert geht.

Danke für den Lieferservice, doch wo ich nun schon mal da bin,

kann ich auch gleich selber zu euch sprechen.

Oder habt ihr hier für Worte Leinenzwang verordnet?

Mikrophone, das sind die, die zwischen uns nicht länger

stehen sollten, die es auszuräumen gilt, wie jedes

andre Mißverständnis auch. Also

reden wir doch mal über Mikrophone,

die, die so oft laut werden,

weil sie so empfindlich sind!

Kollektiv-Hörgeräte,

Kracheintreiber, diese gnadenlosen

»Hier ist vorne, hier spielt die Musik!«-Bestimmer!

Diese Hip-Hop-Ansaugapparate,

(Willst du einen Rapper fangen,

bau im Wald ein Mikro auf,

und grab davor ne Fallgrube,

bißchen Laub drüber, rums, Klappe zu, Affe tot!)

Reden wir doch mal über Mikrophone,

diese akustischen Schluckspechte,

die am lautesten losjaulen,

wenn sie’s mit sich selber treiben!

Kein Pfarrer kann mehr ohne

Mikrophone, kommt nicht ohne Sprechanlage

gegen seine eig’ne Kathedrale an,

und wenn er schreien müßte,

würde er dann unglaubwürdig?

Unglaubwürdiger, als er schon ist? Wohl kaum!

Mich missionierst du nicht, mikrophonierter

Leisetreter! Aber dafür läuft dein

Dat-Recorder mit und sagt zu allem Ja und Amen.

Reden wir doch mal über Mikrophone,

diese eisernen Frequenzgangkommandeure,

denen alle hinterhermarschieren,

diese klirrenden, bei jedem P polternden

Wind-in-weißes-Rauschen-Verwandler

und notorischen Hustenüberbewerter!

Mikro kommt nun mal von kleinlich!

Mikro, Mikro,

merkste was?

Ich rede mit den Leuten, nicht mit dir

und deinen Hintermännern,

die du immer zur Verstärkung um dich hast!

Mikro, Mikro,

du durchlässige Niere,

phurzender Phallus am Phaden,

ich brauch dich nicht samt deinem Ständer,

wärst du noch so drahtlos, noch so fliegenscheißgleich,

noch so unsichtbar. Mikrobe am Revers.

Mikro, Mikro,

ich nenn dich Heiner Lautermach!

Kennste den schon? Mikros sind wie Bräute:

Je weniger abgeht, desto höher die Aussteuer!

Apropos »lauter mach«:

Ich bau aus meinen Händen mir ein Megaphon!

Da kommt dann echt was raus!

Was kommt bei dir raus?

Blöde Ströme!

Ganz schön leise, wenn du mich fragst,

braucht man echt viel Phantasie, um was zu hören,

wenn ich da die PA wär, ich würd’

Urheberrechte verlangen.

Mikro, Mikro,

Kabelgeschwulst,

Was wäre Goebbels ohne dich gewesen,

was die Stasi, IM Unverzichtbar, du Wanze!

Wie bitte, ein Einwand? Ein Protest? Hört! Hört!

Ach, du meinst, man hört mich nicht,

na, sieh mal an, man hört mich nicht,

are you Shure, SM 58? Are you really?

Fragen wir doch mal die Reihe 58,

ob sie mich nicht hört.

Wer mich nicht hört, der soll es sagen!

Oder soll für immer schweigen.

Ich höre! Ich höre!

Ach, übrigens:

Als Mose sprach zum Volke Israel, wo warst’n da?

Ich höre, ich höre!

Als Ali Baba sagte: »Sesam, öffne dich!«

Warst du vonnöten, oder ging die Tür von selber auf?

Ich höre, ich höre!

Okay – dann ändern wir den Anfang der Geschichte:

Bitte schön: Im Anfang war das AKG!

Dann erst kam Gott und sprach: »Ich hör mich nicht.

Bitte mal bißchen mehr auf den Monitor!«

Reden wir doch mal über Mikrophone!

Reden nicht in sie hinein, nein:

Reden wir mal über Mikrophone,

wie man über Leute lästert, die nicht da sind,

oder über Leute, die zwar da sind,

aber nichts zu melden haben.

Weißt du was, Heiner?

Weißt du was, kleiner Mann,

größter Großkotz unter den Gestirnen,

die Gestirne zeig ich dir jetzt mal,

ich nehm dich nämlich mit,

wozu habe ich dich ausgedockt?

Zeig den Leuten deine

blutende Buchse: deinen dreifaltigen Plug,

jetzt hat sich’s ausgestöpselt, Freundchen!

Denn wir geh’n jetzt ins Olympiastadion,

ist bißchen größer als die Bude hier.

Und da sind ganz viele deiner knackigen Kollegen, alle

angeleint, die steh’n in Lohn und Brot, und wenn sie

dich seh’n, ohne Kabel, ohne Sender,

glaub mir, da ham die so richtig was zu tratschen!

Gaffen baß erstaunt mit aufgerissenen Kanälen.

Aber wir geh’n geradeaus nach vorne an die Rampe,

sogar Wolfgang Petry hört zu singen auf,

und ich sag:

»Reden wir doch mal über Mikrophone!«

Und dann gehn wir nach New York, und ich sag:

»Five-six-seven-eight,

let’s talk about microphones!«

Und wenn ich dich dann irgendwann mit Talg beschmiere,

lauter Körner auf die Kapsel klebe,

solche, die die Vögel lieben, Sonnenblumenkerne beispielsweise,

dann hat deine Odyssee ein Ende,

denn dann gehen wir nach Ecuador,

wo irgendwo im Regenwald

die Welt zu Ende geht,

da steht ein Mikrophonstativ.

Das wartet da auf dich.

Dann sage ich: »Gehab dich wohl!«,

und du sitzt in der Klemme,

ohne Popschutz, ohne Trittschallfilter, ohne Spinne,

na, vielleicht mit Spinne schon, wer weiß!

Und während ich beherzt von dannen dance,

nahen schon die ersten Kolibris und Aras,

und dein knurpselndes Gekeuche

unter ihren Schnäbeln, diesen

chronisch krankophonen Krach

wird niemand hören.

Diesen Text anhören:www.slamfibel.de/titel1.mp3

VOLKER STRÜBING

DAS MÄDCHEN MIT DEM ROHR IM OHR UND DER JUNGE MIT DEM LÖFFEL IM HALS

Es war einmal ein Mädchen. Als es noch ganz klein gewesen war, hatte ein doofer Junge so schlimme Ausdrücke zu ihm gesagt, dass es auf der Stelle taub wurde, damit es so etwas nie wieder hören musste. Die Eltern des Mädchens gingen mit ihm zum Ohrenarzt, zum Gehirnarzt und zum Allesmöglichearzt, und die Ärzte arzteten wie verrückt an dem Mädchen herum, doch sie konnten nur einen kleinen Teil seiner Hörfähigkeit wiederherstellen. Mithilfe eines großen Hörrohres, das sich das Mädchen ans Ohr hielt, konnte es gerade einmal jede dritte Silbe hören. Wenn die Mutter des Mädchens zum Beispiel sagte: »Guten Morgen, mein Liebling«, hörte das Mädchen nur: »Gugenling«.

Zum Glück für das Mädchen und seine Mutter hatte es einen so langen Namen, dass es ihn nicht überhören konnte, wenn man es rief. Doof wäre gewesen, wenn es zum Beispiel Ulf geheißen hätte. Doch das Mädchen hieß Karin-Antoinette-Felicitas, und wenn die Mutter den Namen rief, hörte das Mädchen »Kartofeltas« und wusste, dass es gemeint war.

Das Mädchen war oft traurig, denn es war sehr einsam, da in dieser schnelllebigen Zeit niemand die Geduld hatte, alle Silben dreimal zu sagen, damit es etwas verstehen konnte. Manchmal kam es auch zu schrecklichen Missverständnissen. Eines Tages sprach ein an sich netter Junge das Mädchen an. So nett war er, dass er sich vielleicht sogar die Zeit genommen hätte, jede Silbe dreimal zu sprechen, wenn er nur gewusst hätte, welche Bewandtnis es mit dem Mädchen und dem großen Hörrohr hatte. Doch er hielt es für ein ganz gewöhnliches schwerhöriges Mädchen und sprach deshalb extra laut in das Rohr: »Hey, du, hast du Lust, im Bistro mit mir Kuchen zu essen? Eclairs mag ich, aber du suchst aus – Quark, Kirsche, Plunder, Käsekuchen …«, doch das Mädchen verstand: »Hey, du bist mir zu eklig, du Quarkplunse!« Das Mädchen lief entsetzt davon, setzte sich auf einen Stein auf einer Wiese und weinte bitterlich.

Da aber kam ein anderer Junge des Wegs. Diesen Jungen nannten alle nur Loschka – »Löffel« –, weil er, als er noch ganz klein gewesen war, einen Löffel verschluckt hatte, der ihm seither quer im Hals steckte. Ärzte hatten versucht, den Löffel zu entfernen, doch er klemmte so ungünstig, dass man dazu entweder den gesamten Kopf oder den gesamten Körper hätte abschneiden müssen, und das war in jenen Zeiten, in denen unser Märchen spielt, noch mit großen Risiken für den Patienten verbunden. Seit jenem Tag konnte der Junge nur noch in der Löffelsprache oder, wie er selbst gesagt hätte: der »Lölöwöffelewelspralawachelewe« reden. Als er das weinende Mädchen sah, lief er zu ihm und bot ihm etwas von seinem Eis an: »Halawallolowo duluwu! Wiliwillst duluwu elewetwalawas volowon meileiweinelewem Eileiweis halawabelewen?« Für das Mädchen aber klang es beinahe wie: »Hallo du! Willst du etwas von meinem Eis haben?«, und es wunderte sich. »Wahrscheinlich habe ich mich verhört«, dachte es, und statt zu antworten, weinte es einfach weiter.

Doch der Junge gab nicht auf. »Walawaruluwum weileiweinst duluwu?«, fragte er, und das Mädchen verstand: »Warum weinst du?«, und schaute den Jungen erstaunt an. »Weil sich niemand die Zeit nimmt, mit mir zu reden!«

Der Junge nickte. »Dalawas kelewennelewe iliwich! Miliwir wililwill aulauwauch iliwimmelewer nieliewiemalawand zuluwuhölöwörelewen.« Und dann fragte er das Mädchen nach seinem Namen, und das Mädchen wischte sich die Tränen aus den Augen und antwortete: »Karin-Antoinette-Felicitas«, und der Junge wiederholte träumerisch: »Kalawariliwin-Alawantolowonelewettelewe-Feleweliliwiciliwitalawas, welewelch eileiwein schölöwönelewer Nalawamelewe!« Und das Mädchen hörte: »Karin-Antoinette-Felicitas, welch ein schöner Name!«, und seine verheulten Augen strahlten den Jungen an. Der Junge dachte zuerst, es habe Drogen genommen, denn für gewöhnlich wurden die Augen der Zuhörer stumpf und teilnahmslos, wenn er sprach. Doch dann begriff er, dass das Mädchen ihm tatsächlich zugehört hatte. Und da sprang es auch schon auf, ergriff schüchtern seine Hand, und im nächsten Moment gingen die beiden Händchen haltend in den Sonnenuntergang, ihrem Glücke entgegen.

TIMO BRUNKE

DAS GESPROCHENE WORT

ist eine Hyperbewusstheit,

ein entschiedener Daseinszustand,

ein Kokon für sprecherische Schmetterlingstransaktionen,

ein Hochsitz für poetisch reale Phänomene,

ein Passwort für den Zutritt zu einem unzerstörbaren Gehörgarten,

ein sublimer Fetisch, ein kunstmagischer Talisman,

eine Bitte um invasive Imagination,

ein Gesuch um Kalibrierung psychischer Energien

mit sprachlich geformten Schallwellen,

ein Blindflug durch die Wolke,

die den poetischen Augenblick vom Jetztzustand

seines Darstellers trennte,

ein Präsenzmodus, vorbereitbar, aber nicht voraussetzbar,

ein Taubenschlag, ein Ein- und Ausfliegen luftigster Gegebenheiten,

ein akustisch-imaginativer Akt in utopischer Lebendigkeit,

der Anbruch der Poesiezeit für die Dauer genau dieses Poems,

eine Drehorgel, deren Walze nur ein einziges Mal,

nämlich genau jetzt, zum Einsatz kommt,

stofflich spürbare Erfindungswirklichkeit,

eine vierdimensionale Sonnenuhr auf Vollmondbasis,

ein gänzlich aufgezogener Vorhang,

das Wetter hinter dem Wetterleuchten,

eine Qualifikation von Zeit,

die Übergabe eines künstlerischen Vorhabens

an den Moment seiner Bestimmung,

die bestmögliche Aufführung dieses Poems,

der Traum des Performancepoeten

von vollendeter Gegenwart.

NORA GOMRINGER

SAG DOCH MAL WAS ZUR NACHT

Sag doch mal was zur Nacht, dieser Nacht mit den Sternenund Steinen am Boden unter der Decke auf dem Hügel,auf den der Mond sich gelegt hat, mit dem Gesicht in denHänden, du sagst ja gar nichts zu der schönen Nacht,dieser Nacht, mit Näglein besteckt, mit Rosen bedacht, dusagst eh viel zu selten irgendwas, könntest doch jetzt malwas sagen, sagen, zur Nacht was sagen, zu dieser Nachtvor allen anderen, vor allem anderen, könntest doch mal,könntest, könntest mal was sagen zu den Sternen, denSteinen, den Mondstrahlen auf dem Hügel, zum Meer,zum Sturm, DAS IST DOCH NUR WIND, na, siehst du,kannst doch was sagen, was sagen zum Sturm, der keinSturm, SONDERN NUR WIND ist, zum SturmWIND, dermich ganz zerzaust, sagst gar nichts zu mir und meinemzerzaust sein, sagst gar nichts, so zerzaust bin ich vor dir,so zausig, sagst immer nie was zum Zerzaust-Sein, zumvom Sturm zerzaust sein, VOM WIND, ja, hast ja recht,VOM WIND, zerzaust sein, so stürmisch, VOM WIND,zerzaust sein, sagst auch gar nichts Rechtes über dieNacht und die Sterne über den Köpfen und zu den Füßenauf den Steinen, SCHÖN, siehst du, findest du auch,siehst du, findest du auch, das wusste ich, dass ich findestdu auch würde sagen können, weil’s ja SCHÖN ist, wusst’ich gleich, dass du das finden würdest, so SCHÖN, dieseNacht, die du SCHÖN nennst, du bist ein Dichter, einDichter bist du, ein Dichter, findest du nicht, einen Dichterfinde ich dich, einen herrlichen DICHTER, ja, einenDICHTER, sag doch was zur Nacht, was zum Sturm, zumZerzaust-Sein im Sturm, zum SCHÖN-Sein im WIND,diesem Sturm, dieser Nacht im Sturm auf dem Hügel, aufdem das Mondlicht, na, du weißt schon, du weißt schon,ICH WEISS SCHON, siehst du, ich wusste, dass du eswusstest, und ich wusste, dass du es weißt, denn wir sinduns ja einig auf diesem Hügel in der Nacht, der Nacht aufdem Hügel, die so SCHÖN ist.

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JÜRG HALTER

BITTE, ICH VERSUCHE ZU SPRECHEN

Ich halte die Zunge in die Luft, aus der Mundluft

in die Außenluft. Ich spreche mit Zunge, Mund

Kopf, Bauch, mit Körper. Ich phrasiere und frisiere

die Sätze. – Ja, ich spreche.

Bitte, ich versuche, mit dem Sprechen anzufangen.

Ich spreche schon, sehen Sie meine Zunge?

Die Zunge weniger. Aber die Lippen, sehen Sie meine Lippen?

Sie sind ganz anders beim Sprechen, sehen Sie,

wenn ich spreche, hören Sie zu, wenn ich spreche?

Ja, ich spreche: – Und wenn Geist und Körper sich da

zusammentun, kann Sprache entstehen: So. – Ja,

sie spricht, sie, ja, ich kann sprechen.

Aber heute ist der Tag, an dem ich mehr als sprechen will.

Ich will eine mir eigene Sprache sprechen, eine neue, meine

Sprache schaffen, ich will die Sprache dressurreiten

ganz mit meinem Körper. Alles muss

stimmen, auch der Himmel. Da haben wir es.

Die letzten Wolken ziehen ab:

Es stimmt alles.

Ich werde sprechen, so meine Sprache ersprechen,

ich mache alles neu! Ich werde ihr gehalterte Zügel anlegen,

sie exzellent kaputt schlagen, zensieren, sie neu ausrichten

und anstreichen, sie neu fügen: Ich werde die Sprache

dressurreiten nach meinem Gusto und mit meinem Gestus!

Sinn und Klang, ich werde euch schieben, bitte:

Der Klang wird neu, der Sinn ist schon der Klang selbst.

Was los ist, bitte, verstehen Sie?

Bitte, ich werde mein Sprechen der Sprache vorführen,

ich werde die Sprache vorführen. Und bitte, ich werde mit

der Sprache in meiner Sprache sprechen.

Doch das Dressurreiten der Sprache fordert

meine Konzentration, bitte, seien Sie lautlos.

Ich kann doch nicht sprechen in meiner Sprache, wenn

überall noch die Sprache ist! Doch Sie

verstehen mich nicht, Sie schweigen nicht: So.

Doch ich kann auch die Sprache sprechen, ich

kann auch Ihre Sprache sprechen, ich

kann auch unsere Sprache sprechen, aber ich

hätte eine eigene dressurzureiten eigentlich vorgehabt, eine neue zu

schaffen eigentlich vorgehabt, meine Sprache zu

schaffen eigentlich vorgehabt.

Doch ich werde sie noch schaffen!

Bitte, es war nur ein Versuch, ich fange an

zu sprechen, ich fange an zu sprechen mit

der Sprache, jetzt schweigen Sie, verstehen Sie?

Jetzt verstehen Sie, danke.

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JULIUS FISCHER

DIE GRENZEN DER SPRACHE

Enrico sitzt mir gegenüber und streicht gedankenverloren über seinen Schlagring, der seinen Gegnern, mit der nötigen Gewalt auf die Stirn gedrückt, das Emblem seines Lieblingsvereins Dynamo Dresden auf selbige applizieren würde. Er hat seit unserem Besuch der Kapelle der Versöhnung ein erstaunliches Interesse an Geschichte entwickelt, ein Umstand, der mir als ehemaligem Geschichtsstudenten natürlich in die Karten spielt. Ich erzähle ihm von der Magna Charta libertatum, die im 13. Jahrhundert in England entwickelt wurde und so etwas wie die Grundlage der modernen parlamentarischen Demokratie darstellt und darüber hinaus jedem Engländer freistellte, jederzeit sein Land zu verlassen. Ein Recht, das zum Beispiel siebenhundert Jahre später nicht jeder Mensch auf der Welt hatte. Wahnsinn. Leider schläft Enrico dabei fast ein.

»Und dann«, sage ich, »dann haben die Barone gesagt, König Johann, das kannste so nicht machen, wir haben hier folgendes Dokument für dich. Und dann hat er das zum Schein signiert, ist aber dann zum päpstlichen Legaten gegangen und …«

»Moooooment!«, fährt Enrico dazwischen. »Ständig sagst du ›und dann‹, was für mich bedeutet, dass die Geschichte glei vorbei is und ich dir eene off die Fresse hauen kann, aber nee, nach jedem ›und dann‹ kommt noch een ›und dann‹, und dann kommen ungefähr tausend Worte, die ich ni verstehe.«

»Zum Beispiel?«