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Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts: Der kinderlos gebliebene Witwer Graf Ferdinand von Hardenstein sieht dem Untergang seines Adelsgeschlechts entgegen – und damit seines Guts Hohensandau und der dazugehörenden Porzellanmanufaktur. Währenddessen sucht in Berlin die kleinadelige Elisabetha von Flatow nach einer guten Partie und wird schließlich vom Kaiser höchstselbst Graf Hardenstein vorgestellt. Die Ehe mit Elisabetha könnte alle Probleme des Grafen lösen. Zur selben Zeit kommt jedoch ein Pferdeknecht von Gut Hohensandau einem großen Geheimnis auf die Spur: Die auf einer Reise verunglückte Gräfin von Hohensandau hatte vor ihrem Tod eine Tochter geboren. Doch der Graf weiß nichts von seinem Kind, der Porzellan-Erbin …
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts: Der kinderlos gebliebene Witwer Graf Ferdinand von Hardenstein sieht dem Untergang seines Adelsgeschlechts entgegen – und damit seines Guts Hohensandau und der dazugehörenden Porzellanmanufaktur. Währenddessen sucht in Berlin die kleinadelige Elisabetha von Flatow nach einer guten Partie und wird schließlich vom Kaiser höchstselbst Graf Hardenstein vorgestellt. Die Ehe mit Elisabetha könnte alle Probleme des Grafen lösen. Zur selben Zeit kommt jedoch ein Pferdeknecht von Gut Hohensandau einem großen Geheimnis auf die Spur: Die auf einer Reise verunglückte Gräfin von Hohensandau hatte vor ihrem Tod eine Tochter geboren. Doch der Graf weiß nichts von seinem Kind, der Porzellan-Erbin …
Florian Busch
Gefährliche Jahre
Roman
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Originalausgabe April 2024
Copyright © 2024 by Stephan Rother
Copyright © der Originalausgabe 2024 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotive: Joanna Czogala/Trevillion Images, Drunaa/Trevillion Images, Lee Avison/Trevillion Images
Redaktion: Johanna Schwering
BH · Herstellung: ik
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-24729-4V001
www.goldmann-verlag.de
»Intentio vero nostra est manifestare ea, quae sunt, sicut sunt.«
Friedrich II. von Hohenstaufen
Frühjahr 1883W
»Die Alte Straße?«
Die Stimme war ein raues Raspeln, dem Knacken der Zweige nicht unähnlich in der Glut der Feuerstelle.
Der Abend hatte sich über Altwasser gesenkt, die Stadt zu Füßen der Berge. Die Stunde, zu der man in den mächtigen Erzhütten die Werkzeuge niederlegte, die Männer der Tagesschicht die müden Schritte ihren Verschlägen und Baracken entgegenlenkten für eine Nacht des traumlosen Schlafs, bevor das schweißtreibende Werk mit dem Morgen von Neuem begann.
Nicht so im Goldenen Hirschen, dem ältesten und besten Haus am Platze, bekannt für seinen Streuselkuchen und für den schäumenden Kaffee am Nachmittag, für seine edlen Tropfen am Abend. Die Wirtsstube war zum Bersten gefüllt zu dieser Stunde, wenn der Becher kreiste und laute Stimmen sich erhoben im lebhaften Geplauder der Reisenden aus sämtlichen Provinzen des Königreichs und über dessen Grenzen hinaus. Im hellen Licht der Öllampen. Mit großem Hallo, wenn eines der Schankmädchen das Bier, den Wein und den sauren Braten auftrug.
Der Alten am Feuer dagegen schenkten die wenigsten Besucher einen zweiten Blick. Wenn sie die Frau denn überhaupt zur Kenntnis nahmen, eine Küchenmagd des Hauses, die heute ihren freien Abend hatte. Fast reglos saß sie auf einem hochlehnigen Stuhl vor dem Kamin in einem Winkel der Wirtsstube. Ein Becher mit gewärmtem Apfelpunsch stand vor ihr auf dem niedrigen Tisch, ein fein gestaltetes Gefäß mit einem Dekor verschlungener Formen, denen die faltigen Finger jetzt für einen Atemzug in nachdenklichem Sinnen folgten.
Ein einziger Gast, noch tiefer in den Schatten und der Alten gegenüber, schien wie im Bann an ihren Lippen zu hängen. Schweigend.
»Die Alte Straße«, murmelte die alte Magd. »Es muss ein halbes Leben zurückliegen, dass sich das letzte Mal ein Mensch nach ihr erkundigt hat. Doch heute nun, wer weiß …«
Ein Moment, in dem sie ihren Zuhörer genauer in den Blick nahm. Und einem zufälligen Beobachter hätte es erscheinen mögen, als ob er unter dieser Musterung noch etwas weiter zurückwich in die Schatten, ja, sich bemühte, mit diesen Schatten zu verschmelzen, die das blakende Feuer in den Winkel der Wirtsstube warf. Einer abscheulichen Bestie gleich, einem grausam Versehrten, der sich bemüht, seine entstellte Erscheinung an lichtlosen Orten vor allen Blicken zu verbergen. Wobei ein bloßes Spiel der Funken am Ende doch naheliegender schien, die nach den dürren Zweigen haschten in der Feuerstelle.
»Wer weiß …« Als ob die Alte nunmehr zu sich selbst sprach. »Wer will schon sagen, ob es sich nicht um einen Wink des Schicksals handelt, dass Ihr Euch unter all den Menschen, an die Ihr heute Abend Eure Frage hättet richten können, ausgerechnet an mich gewandt habt? Die Frage nach der Alten Straße. Denn wo sie abzweigt von der königlichen Chaussee, das hätten Euch vermutlich viele Leute sagen können. Doch ob sie Euch die ganze Wahrheit nicht verschwiegen hätten? So wie die Leute eben sind. An jedem Ort der Welt vermutlich, nicht nur hier in Altwasser. Wenn sie doch nichts als ihren eigenen Vorteil im Blick haben.«
Mit einem Neigen des Hauptes. Einen Ausdruck der Trauer auf dem Gesicht über den Eigennutz einer so großen Zahl von Menschen. Während sie einen tiefen Schluck aus dem Becher nahm, den der Zuhörer ihr hatte kredenzen lassen zum Dank für ihre Bereitschaft, ihm Auskunft zu geben.
Sorgfältig setzte sie das Trinkgefäß ab, in dem ein bloßer Rest der dampfenden Flüssigkeit zurückgeblieben war. Dann hielt sie inne, bevor sie sich misstrauisch in sämtliche Richtungen umblickte. Als wollte sie sichergehen, dass wirklich niemand sonst die folgenden Worte mitbekam.
»Die Stelle selbst …« Ein Kopfschütteln. »Sie ist nicht schwer zu finden. Es gibt dort eine Schnitzerei. Ein Abbild des Heiligen Christophorus nicht weit von jenem Punkt, an dem die Chaussee in die Wildnis der Berge eintritt. Des frommen Riesen, der unseren Herrgott auf den Schultern durch den Fluss trug, wie die Legende berichtet. Der über die Reisenden wacht, wenn sie an seinem Bilde ein Gebet verrichten und eine Gabe zurücklassen in seinem Opferstock. Ein Abbild, wie Ihr es an vielen Orten finden könnt, an Passstraßen und Flussübergängen, an Abschnitten des Weges, die räuberisches Gesindel bedroht. Ein Beistand auf dem Weg zum Ziel der Reise.« Ein neues, kurzes Innehalten, bevor sie mit leiserer Stimme fortfuhr. »Und wo wäre ein solcher Beistand notwendiger als ausgerechnet an diesem Ort. Am Ort, wo jene Straße beginnt.« Ein letztes Zögern. Dann die Stimme zu einem Flüstern gesenkt: »Die Straße, die in einen Landstrich führt, der den Toten gehört.«
Möglich, dass sie an dieser Stelle lediglich ihre Haltung um eine Idee veränderte. Dass es der Luftzug war, der die Funken des Feuers in diesem Moment mit einem Zischen aufstieben ließ.
Doch ließ sich damit die Kälte erklären? Die Kälte, die in ihrem Zuhörer aufstieg, während die Alte fortfuhr?
»Die Alte Straße«, erklärte sie. »Und in der Tat ist sie alt. Uralt ist jener Weg, der einzige Weg einstmals auf die andere Seite, die andere Seite des Gebirges. Bis in die Tage des Großvaters unserer gegenwärtigen Majestät jedenfalls, der seine neue Chaussee anlegen ließ, die die Klamm des Gebirgsstroms vermeidet und stattdessen über die Passhöhe führt. Während die Alte Straße sich selbst überlassen wurde, die über Jahrhunderte hinweg so vieles gesehen hatte. Menschen, die glücklich das Ziel ihrer Reise erreichten, und andere, die …« Eine winzige Pause. »Die Opfer wurden. Opfer der Alten Straße über eine so lange Zeit. Und doch niemals so viele zugleich wie in jener Nacht, der Nacht des Unheils im Jahr des Großen Krieges, an die sich selbst die Menschen hier in Altwasser bis heute mit Schrecken erinnern. Einer Nacht, die überall in den Bergen ihre Opfer gefordert hat. Und doch nirgendwo in einem solchen Ausmaß wie dort: in Schönfels und in Bittertal, in Erzberg und in Teufelsjoch, in den Dörfern entlang der uralten, in die Knochen der Berge selbst gehauenen Route. Ja, auf der Alten Straße selbst, wie es heißt, so selten es auch geschah, dass Reisende den Fuß auf die verfallende Piste setzten, nachdem es doch die bequeme Chaussee des Königs gab. – Hinweggenommen.« Ein Flüstern jetzt. »Zu Dutzenden in Fluten und Geröll in den eisigen Tod. Urplötzlich aus dem Leben gerissen. Ohne jemanden an ihrer Seite, der ihnen die Sakramente der Heiligen Kirche spendete. – Tot. Und doch nicht auf der anderen Seite angelangt, sondern dort … dort draußen …«
Und an dieser Stelle erneut, dass sie unvermittelt verstummte, einen Schluck aus ihrem Becher nahm. Den sie absetzte, hineinblickte – und feststellte, dass das zierliche Gefäß nunmehr leer war.
Ein stummer Wink ihres Zuhörers, ein Wink nach dem Serviermädchen. Die Anspannung des Mannes – denn so viel war zu erkennen: dass es sich um einen Mann handeln musste – selbst in der knappen Bewegung erkennbar. Erkennbar zugleich auch sein Bemühen, sich nichts anzumerken lassen von jener Anspannung, von dem Erschauern, das ihn überkommen hatte.
Nicht einen Moment ließ er die Augen von der alten Frau, die einen neuen Becher entgegennahm, langsam einen weiteren Schluck Punsch trank, ein weiteres Mal in sämtliche Winkel der Wirtsstube spähte.
»Wer immer eine andere Wahl hat in diesen Tagen …«, setzte sie wispernd an. »Wer immer eine andere Möglichkeit hat, der meidet die Alte Straße. Gewiss nach Einbruch der Dunkelheit. Aber auch zu jeder anderen Zeit. Weil es dort nicht geheuer ist. Weil sie keine Ruhe finden: die Menschen, die damals eines jähen Todes gestorben sind. Menschen, die dennoch nicht fort sind, wie es heißt, sondern zuweilen die Pfade der Lebenden kreuzen.«
Ein Kopfschütteln, eine knappe Bewegung, als ihre Finger unauffällig ein Zeichen vor ihrer Brust schlugen. Ein Schutzzeichen gegen den Spuk auf jenen Pfaden.
»Hier in der Stadt will man von solchen Dingen nichts wissen«, erklärte sie. Leise. Der unbehagliche Tonfall aber war zu vernehmen, selbst wenn die Worte das Knistern der Flammen kaum übertönten. »Niemand, zu dem ich recht von ihnen sprechen kann, die ich doch selbst aus jenen Bergen stamme und aus dem Tal der Klamm. Wo ich bis heute Verwandtschaft habe. Wo meine Base lebt, und früher … Früher, da habe ich sie fast regelmäßig aufgesucht um der familiären Bande willen. Weil sie sich auf die Heilkunst versteht und auf solche Dinge. Aber heute?«
Ein Kopfschütteln, bevor sie erneut ihren Becher an die Lippen setzte.
»Nein, nicht mehr heute. Nicht, wenn ich höre, was sie zu erzählen weiß, wenn ihr Weg sie in den Goldenen Hirschen führt.« Kaum mehr als ein Hauchen jetzt: »Dass es umgeht. Auf der Alten Straße. Dass sie dort sind. Und dass sie warten, die Geister derer, die der Hagel des Gesteins erschlagen hat in den Stunden der Vernichtung. Dass man sie dort wohl zuweilen erblickt, ihre Umrisse und Schatten wie ein Flimmern in der Luft am Tage, in der Nacht aber ferne Lichter Wanderer in die Irre locken im gefährlichen Gelände. Dass es Reisenden unvermittelt erscheint, als wenn ein kalter Hauch sie anweht. Dass sie ein Flüstern zu vernehmen glauben oder was auch immer es sein mag.« Ein Kopfschütteln. »So unklar es erscheinen muss, was die Geister überhaupt mit ihnen zu schaffen hätten. Vielleicht, dass sie den Lebenden neiden, wie sie weiterhin auf Erden wandeln in der sich wandelnden Welt. Während sie selbst verdammt sind, zu warten in ruhelosem Schlaf. Einzig worauf sie warten, das vermag niemand zu sagen.«
Eine veränderte Haltung nun von Neuem? Eine Veränderung, die auch für einen unbeteiligten Beobachter wahrzunehmen war? Für jenen Mann in den Schatten nur allein? Der sich nun gar nicht mehr regte. Und den die Alte, eine Spur deutlicher noch als zuvor, in den Blick nahm, als ihre Worte selbst sich zu einem Knistern und Rascheln zu wandeln schienen, nicht länger zu unterscheiden vom eilenden Spiel der Flammen.
»Wenn es doch niemanden gibt, den sie erwarten könnten. Dem sie die Schuld anlasten könnten an ihrem Tod, wenn er zurückkehrt an jenen Ort, an dem sich die Alte Straße ihren Weg durch die Wildnis der Felsen sucht hoch oben am Hang über den tobenden Wassern der Klamm. Wenn da doch niemand ist, an dem sie Vergeltung üben könnten, wie es das Wesen von Geistern ist. Wenn es doch nichts als das Wüten der Gewalten der Natur gewesen ist, das sie jählings aus dem Leben gerissen hat.«
Die Alte hob die Schultern. Und es war eine Geste, die so eindeutig dieser Welt angehörte, der Wirtsstube, in der soeben lautes Gelächter aufstieg, als einer der Gäste rücklings von seinem Schemel kippte, beduselt vom gewürzten Wein: Der Bann war gebrochen. Jetzt, als der Lichtschein deutlicher auf die alte Frau fiel, war sie nichts mehr als eben eine alte Frau. In einem Kittel, der bessere Tage gesehen hatte. Eine Frau, die sich am Hals kratzte, ehe sie fortfuhr.
»Nun, was mich selbst anbetrifft, werde ich jedenfalls mein Lebtag keinen Fuß mehr in die Berge setzen. Und ganz gewiss nicht auf die Alte Straße. Wer ihr denn heute folgt …« Ein neues Schulterzucken. »Der hat schlicht keine andere Wahl. Den Bergleuten mit ihren Erzkarren bleibt einfach nichts anderes übrig. Zur Verhüttung muss das Gestein hierher bis nach Altwasser gelangen mit seinen mächtigen Öfen. Das reinste und kostbarste Erz überhaupt, das dort in den Tiefen des Bergstocks schlummert. An dessen Hängen sich die Bergleute angesiedelt haben, in den Dörfern am Oberlauf des Gebirgsstroms, hoch über der Klamm. Und dort in der Wildnis endet die Straße seit dem Sturz des Vaters Berg in jener schrecklichen Nacht.« Die Stimme ein letztes Mal gesenkt: »Wo die Alte Straße beginnt, das könnte Euch jedermann sagen: am Heiligen Christophorus. An der königlichen Chaussee. Doch wo sie endet: Sie endet im Nichts.«
Schweigen, das sich über den Winkel der Wirtsstube senkte. Während es an den Tischen ringsum unvermindert hoch herging. Der letzte Schluck aus ihrem zweiten Becher, den die alte Magd sich mit genießerischer Miene zu Gemüte führte.
Auf dem Gesicht ihres Zuhörers war kein vergleichbarer Ausdruck zu erkennen. Den eigenen Becher hatte er überhaupt nicht angerührt.
Sein Name war Wilhelm Leuschenthal. Und wenn da Bewegung war in seinen Zügen, dann konnte es nichts sein als Täuschung und Schatten. Als das Flackern der nimmermüden Flammen, welche die aufgeschichteten Scheite verzehrten und einen bloßen Anschein von Leben erweckten.
Tot. Und doch nicht auf der anderen Seite angelangt.
Seelen, die keine Ruhe fanden.
Frühjahr 1883W
Das Schicksal ist kein müder Wanderer, dachte Theresa Leuschenthal. Kein schattenhafter Fremdling, der sich auf leisen Sohlen ins Zimmer stiehlt.
Das Schicksal ist ein Gespann mit schäumenden Rossen, deren Hufschlag geisterhaft zu vernehmen ist in den schweigenden Nächten, die dem Ereignis vorausgehen.
Für den, der ihn zu hören vermag.
»Frau Theresa?« Eine Stimme. »Leuschenthalerin?«
Theresa antwortete nicht. Die Finger ihrer Rechten hielten ein Kärtchen mit wenigen Zeilen Text. In ihrer Linken, vergessen, das zugehörige Kuvert mit dem Stempel des Telegrafenamtes zu Großendamm.
Ein schwerer Atemzug, und endlich, stockend, dass sie einige Worte hervorbrachte. Die doch die dürren Worte einer Allerweltsnachricht waren. Einer Nachricht, wie die Telegrafenämter sie mit jedem Tag zu Hunderten übermittelten im preußischen Königreich.
Graf Ferdinand von Hardenstein sei in der Hauptstadt noch unabkömmlich. Theresa möge dennoch alles bereit machen im Herrenhaus auf Gut Hohensandau – für die Ankunft seiner Gemahlin.
Ihr gegenüber saß die alte Vera, auf den elfenbeinglänzenden Knauf ihres Gehstocks gestützt. Die alte Frau Vera selbstverständlich, als einstige Zofe der lange verblichenen Mutter des Grafen seit eh und je in hohem Maße auf die ehrende Anrede bedacht. Frau Vera, auf deren Wünsche es Rücksicht zu nehmen galt, als wäre sie ihre einstige Dienstherrin selbst. Und sei es, dass sie es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, Theresa an den Vormittagen Gesellschaft zu leisten, während diese in dem kleinen Raum im Zwischengeschoss all die Arbeiten versah, die ihr als gräflicher Hausdame auferlegt waren. Oder sich zumindest darum bemühte, die Übersichten über die Dienstzeiten des Hauspersonals auf den Stand des Tages zu bringen, eine Order für mehrere Laibe aromatischen Ziegenkäses auf den Weg zu bringen von einem Gut in der angrenzenden Provinz … wenn ihre betagte Besucherin doch vom Bedürfnis zu plaudern überfallen wurde.
Für mehrere Atemzüge stumm hatte Theresa die Ältere bei ihren Besuchen selten erlebt.
Bis schließlich: »Ihr macht einen Scherz.« Ein meckerndes Lachen. Das unvermittelt abbrach. »Wie ich ihn durchaus zu schätzen weiß.« In einem Tonfall, der vom exakten Gegenteil sprach. Präzisierend: »Zur richtigen Zeit, am richtigen Ort und über den richtigen Gegenstand. – Die gräfliche Gemahlin: Ihr werdet kaum behaupten wollen, dass ein Gegenstand existiert, der weniger für einen Scherz geeignet wäre auf Gut Hohensandau.«
Theresa presste die Lippen aufeinander. Nein. Mit einem Widerspruch hatte die alte Frau hier gewiss nicht zu rechnen. Ein derartiger Scherz verbot sich von selbst in der Heimstatt eines Mannes, der die Liebe seines Lebens jäh verloren hatte mitsamt ihrem ungeborenen Kind. Vor siebzehn Jahren, dachte sie. Was keinen rechten Unterschied bedeutete für Ferdinand von Hardenstein, der sich von Stund an in den prachtvollen Kerker seiner Gemächer eingeschlossen hatte, wo in den Räumen der Gräfin Thyra nicht das geringste Detail verändert wurde. Kein Fingerhut aus kostbarem Weißen Gold, den die Dienstmädchen an eine andere Stelle setzen durften. Aus Porzellan, wie man es in der Familie der Gräfin seit Generationen schuf.
Hätte er die Wahl gehabt an jenem Tag vor siebzehn Jahren: Vermutlich hätte er Anweisung gegeben, den Schlüssel der herrschaftlichen Gemächer in den Brunnen zu werfen. Und zwar, nachdem er die Tür hinter sich verriegelt hatte. Was allerdings ausgeschlossen war für einen Mann wie Ferdinand von Hardenstein, erfüllt vom eisernen Bewusstsein für all die am Ende ungeliebten Pflichten, die das Schicksal auf seine Schultern geladen hatte. Die Verantwortung für all die Menschen auf dem Gutshof bis hin zur letzten Melkerin, zum letzten Küchenjungen. Deren Schicksal mit dem seinen verknüpft war, der er nun ohne Erben war. Die Menschen, die ihre Heimat verlieren würden, wenn er die Augen schloss und Hohensandau an die Krone fiel.
Wenn es daneben denn überhaupt noch Dinge gab in seinem Leben, so waren es andere Pflichten. Wie eine Anweisung des kaiserlichen Thronfolgers, der seine Ratgeber nach Berlin rief zu einer Stunde, da Wolken eines drohenden Krieges den Horizont verfinsterten. Eine Anweisung, die den Grafen aus seinem geisterhaften Gefängnis riss, ihn nunmehr in der Hauptstadt festhielt. Anders als seine Gemahlin.
Seine Gemahlin!
»So hätte ich nicht von Euch gedacht, Leuschenthalerin.« Frau Vera. Die offenbar festgestellt hatte, dass Theresa keine Antwort gab. »Dass Ihr Euer Spiel treibt mit der Trauer seiner Herrschaft, der …«
»Ich treibe kein Spiel!« Theresa, nun mit einer Spur Schärfe. Eine Idee nur, als sie das Kärtchen anhob. »Lest selbst! – Seine Gemahlin. Für deren Ankunft ich das Herrenhaus rüsten soll. Und kein Wort mehr dazu. – Die Nachricht stammt vom Telegrafenamt am Pariser Platz in der Hauptstadt, aus dem er für gewöhnlich seine Depeschen versendet. Und sie trägt seine Kennung, die ihn als Absender ausweist. Sie stammt eindeutig von seiner Herrschaft. Wenn Ihr nicht behaupten wollt, dass er selbst sich einen Scherz erlaubt hat …«
Ein rügendes Zischen. Frau Vera, die ein altertümliches Monokel aus ihrem Kostüm fingerte und unter ihr Augenlid klemmte, ehe sie Theresa das Papier aus der Hand rupfte.
»Seine Gemahlin.« Gemurmelt. Ungläubig. – Ein längeres Schweigen. Ein Kopfschütteln. »Und wenn die Illustrirte Zeitung meldete, dass der Heilige Vater der Papisten sich vermählt hätte in Rom: Es klänge nicht weniger …« Nach einem Wort suchend.
»Undenkbar?«, schlug Theresa mit matter Stimme vor.
Sie stellte fest, dass sie ihrerseits wiederholt den Kopf schüttelte. In einem Versuch, ihn klarzubekommen? Sich aufzuwecken aus dem Traum, in den sie gefallen sein musste?
Der Graf, seine Herrschaft, der wenige Monate zuvor die siebzig erreicht hatte: ein solcher Mann von Neuem vermählt? Ein Mann, der selbst gestorben war am Tag, an dem er vom Tod seiner Gemahlin erfahren hatte. In jeder Hinsicht, die auf Erden Bedeutung besaß.
Es war jener Tag, an dem auch Theresas eigene Familie zerbrochen war. An dem sie Wilhelm verloren hatte, ihren Ehemann, den Vater ihrer Kinder. Ihn auf andere Weise verloren hatte als Ferdinand von Hardenstein seine Gemahlin. Wilhelm, der zur Stunde in Altwasser weilte im Auftrag der Neuen Provinciellen Eisenbahn-Societät, bei der er in Lohn und Brot stand. Wilhelm, für den die neue Entwicklung ebenfalls eine unerhörte Bedeutung haben musste.
»Für so viele Menschen«, murmelte sie. »Für jede Einzelne, jeden Einzelnen auf dem Gutshof muss diese Vermählung eine Bedeutung haben, die wir uns …«
Ruckartig hob die alte Kammerzofe den Kopf. »Ihr wollt den Leuten doch nicht etwa davon erzählen?«
Theresa kniff die Lider zusammen. »Es dürfte schwierig werden, sie anzuweisen, alles für die Ankunft der neuen Herrin vorzubereiten, ohne ihnen zu verraten, dass es eine neue Herrin gibt.«
»Wenn Ihr Euch zutraut, sie überhaupt noch zum Arbeiten zu bewegen, sobald diese Nachricht die Runde macht?« Die Alte, die Augenbrauen gehoben. »Ich wünsche Euch allen Erfolg der Welt dabei. Denn in der Tat: Was diese Nachricht für die Menschen auf dem Gut bedeuten muss …«
Für einen Moment presste Theresa die Lippen aufeinander. »Nachdem es immer ohne Hoffnung war«, flüsterte sie. »So lange beinahe, wie die Jüngeren unter ihnen auch nur zurückdenken können. Wir haben es uns niemals eingestanden, und doch stand die Zukunft fest. Die Zukunft war, dass es keine Zukunft geben kann auf Hohensandau. Seine Herrschaft ist der Letzte seines Geschlechts. Die Nebenlinien der Hardensteins sind lange erloschen, und ohne einen Erben wird der Hof an die Krone fallen. Mitsamt dem Gestüt. Mitsamt dem Grund und Boden, auf dem sich die Fabrik des Weißen Goldes erhebt. Mit allem, was nur dazugehört. Der königliche Amtmann wird eine solche Zahl von Menschen kaum benötigen auf einem weiteren der unzähligen Güter, die er für die Krone verwaltet.«
Theresa verstummte, schüttelte den Kopf, versuchte zu begreifen. Immer noch für sich selbst zu begreifen, was diese kurze Nachricht bedeuten konnte. »So hat es ausgesehen«, murmelte sie, den Blick zu Boden gerichtet, zum geometrischen Muster glasierter Kachelfliesen, das einfach da war, schon kaum mehr wahrgenommen. Ein Teil der Wirklichkeit, wie es von Wand zu Wand lief in der beengten Kammer, sich im Rapport wiederholte, dem Auge vertraut und gefällig, dort drüben in den Schatten des Sekretärs verschwand, in dessen Schubladen sie die Korrespondenz des Haushalts verwahrte. Es war kein sonderlich hübsches Muster. In Wahrheit war es nicht einmal ein sonderlich hübscher Raum. Mit seinem einzigen Fenster weit oben nahe der Decke mochte er ebenso gut einmal als Besenkammer gedient haben, ehe Theresas Vorgängerin in der Position der Hausdame dort ihre Wirkungsstätte eingerichtet hatte. Und doch war all das Wirklichkeit. Dass sie sich jemals verändern konnte … »So hat es immer ausgesehen«, wisperte Theresa.
»Und nun könnte es anders kommen.«
Sie blickte auf.
»Völlig anders.« Die einstige Zofe: mit einer halb triumphierenden, halb trotzigen Geste, dass sie das untere Ende ihres Stocks auf den Boden stieß. »Wenn das nur meine selige alte Herrin noch hätte erleben dürfen: dass es nun dennoch eine Zukunft geben könnte. Kinderlachen, das durch die Flure schallt! Wenn auch nicht in störender Lautstärke. Neue, kräftige, junge Hardensteins, die ihr Vermächtnis bewahren.«
Theresa biss sich auf die Lippen. Die deutlichsten Spuren von Veras einstiger Dienstherrin, die sich auf Hohensandau noch finden ließen, waren vermutlich die großformatigen Stickereien, die Theresa eher aus Gründen der Pietät niemals in den schweren Truhen unter dem Dach des Herrenhauses hatte verschwinden lassen. Seit einigen Jahren schmückten sie das Quartier des gräflichen Kammerdieners. Sie hatte schon länger den Verdacht, dass sie einer der Gründe sein mochten, aus denen diese Position so häufig von Neuem zu besetzen war.
Und trotzdem: Hatte die alte Frau nicht recht mit jedem ihrer Worte? Eine Zukunft. Wenn sich der Mann, der erloschen war an jenem Tag vor siebzehn Jahren, denn wahrhaftig mit denselben Gedanken getragen hatte wie die einstige Zofe seiner Mutter. Wenn die Frau, die er erwählt hatte, die Frau, von der sie nichts wussten … Wenn diese Frau eine junge Frau war. Eine Frau, die in der Lage war, ihm Kinder zu schenken.
Doch wollte das passen zu Ferdinand von Hardenstein?
Was sonst sollte einen Sinn ergeben?
Wer ist sie, dachte Theresa. Wer ist diese Frau?
Frühjahr 1883W
Es ist eine Reise in die Vergangenheit.
In welchem Maße das zutrifft, wird Elisabetha bewusst, als der Kutscher eilig vom Bock des Gespanns springt, in seiner uniformartigen Livree an die Tür der eleganten Karosse tritt, sie ehrerbietig öffnet – und der Gestank ihr entgegenschlägt.
Der Viehbahnhof.
Die Auktionshallen und Gleisanlagen, das Schlachtvieh selbst sind dem Auge gnädig verborgen hinter der Säulenpracht des schlossartigen Backsteinbaus, in welchem die menschlichen Reisenden die Züge besteigen. Zu riechen sind die Tiere dennoch, die man einen Steinwurf entfernt ins Freie treibt, damit sie ihren letzten Weg in den nahe gelegenen Schlachthof antreten.
Elisabetha dankt dem Kutscher mit der knappen Andeutung eines Nickens. Wie die Koffer in das Gepäckabteil gelangen, das ist nicht ihre Angelegenheit. Besonders viel gibt es ohnehin nicht zu tragen. Nein, nicht auf dieser Reise.
Die Halle des Lehrter Bahnhofs, geschaffen aus Stahl und Glas, mit Verblendungen aus Backstein versehen. Ein Gewimmel von Menschen. Und aus diesem Gewimmel Blicke, die ihren Schritten folgen in ihrem lavendelfarben gedeckten, bis an den Hals geschlossenen Reisekleid, einen schmalen Damenhut mit dezentem Blumenschmuck auf dem aufgesteckten Haar.
Es sind Blicke, die ihr vertraut sind. Die sich zuweilen in ihrem Sinne nutzen lassen. Und denen sie an diesem Morgen mit Desinteresse begegnet. Es ist ganz offensichtlich eine Dame von Stand, der ein Beamter in der Uniform der Preußischen Staatseisenbahnen den Zustieg zum Abteil der Ersten Klasse öffnet. Doch diese Dame könnte auch das Doppelte von Elisabethas noch immer nicht ganz achtzehn Jahren zählen in jener Selbstverständlichkeit, mit der sie sich bewegt, so völlig ihrer Position gewiss. Sodass schon deswegen kein Mensch eine ihrer Handlungen infrage stellt. Und sei es, dass sich diese Dame augenscheinlich entschieden hat, ihre Reise ohne jede Begleitung anzutreten.
Die Polster des Abteils könnten einem halben Dutzend Fahrgästen Platz bieten. An diesem Tag werden sie leer bleiben, von Elisabetha abgesehen, die sämtliche Plätze hat blockieren lassen. Es handelt sich um einen Wagen vom alten Schnitt, in dem die Reisenden ihre Abteile von außen besteigen wie den Fahrgastraum einer Kutsche. Ein Gang, der die Segmente miteinander verbunden hätte, existiert nicht. Eine und eine halbe Stunde, die sie für sich allein sein wird. Wenn sie wollte, könnte sie die Vorhänge schließen, um selbst die Gaffer auszusperren an den einzelnen Halten. Doch sie weiß bereits, dass das nicht nötig sein wird.
Weil sie fort sein wird. Schon fort in der Vergangenheit, noch ehe sie ihr Ziel erreicht. Um zurückzublicken. Um zu verstehen. Wie es dazu gekommen ist, dass eine junge Frau in herrschaftlicher Garderobe nun eben diese Reise unternimmt, den Fächer reglos auf den Knien.
Ein durchdringendes Dampfsignal, das die Lokomotive von sich gibt. Beiläufig nur, dass Elisabetha aufblickt, als die Wagenfolge anruckt, in die stampfende Monotonie der stählernen Räder auf den stählernen Gleisen fällt, während die Bauten des Betriebsgeländes vorübergleiten, die Kasernen und Arsenale, Fabriken und Gießereien, die Häuser von Moabit.
Verwischte Eindrücke, in denen die kaiserliche Hauptstadt hinter ihr zurückbleibt, die schluchtartige Enge ihrer Straßen Raum gibt für das weite Land mit seinen Feldern und Weidegründen, seinen alleengesäumten Wegen, windigen Heiden und ausgedehnten Wasserflächen. Zum ersten Mal seit jenem Tag.
*
Herbst 1882. Sieben Monate zuvorW
Es war ein Mädchen, das wenig mehr als ein halbes Jahr jünger war. Ein Mädchen, dessen Herz vor Aufregung pochte, während es unruhig von einem Fuß auf den anderen trat auf dem Provinzbahnhof, als der Personenzug Einfahrt hielt, welcher der Hauptstadt entgegenstrebte. Es war dasselbe junge Mädchen, dieselbe junge Frau, und doch war es ein anderer Mensch mit einem anderen Namen. Elisabetha. Elisabetha von Flatow von den Flatows auf Gut Kleinenkolbow am Rande der Ribbecker Heide.
Dieser Elisabetha war bewusst, wie wenig sie sich in vieler Hinsicht unterschied von anderen Mädchen aus den Familien des kleinen Adels in abgelegenen Landstrichen des preußischen Königreichs. Das Muhen, das Grunzen, das Blöken von Vieh, sein penetranter Geruch: Sie waren dieser Elisabetha vertraut. Als einzige Tochter des Hauses besaß sie das Privileg eines Zimmers in bevorzugter Lage im Wohngebäude auf Kleinenkolbow, der Morgensonne und dem bescheidenen Gutspark zugewandt, wo eine einzelne Platane sich über die Reihen der Obstbäume erhob. Sodass sie die Tiere nicht zu sehen bekam. Die klagenden Laute indessen, die die Kühe von sich gaben, wenn die Melkerinnen sich verspäteten, vermochte das Fensterglas nicht auszusperren. Ja, selbst die Ausdünstungen der Tiere nur eher unvollständig, wenn Elisabetha sich staunend im Spiegel betrachtete.
Und feststellte, dass der Unterschied zu anderen Mädchen ihres Alters in Wahrheit erheblich war. Was nicht allein galt, weil sie eine Schönheit war. Die strahlenden Augen, den ebenmäßigen Teint, die stolzen Brauen unter dem bernsteinfarbenen Haar: Das hätte nun jedes andere Mädchen ganz genauso wahrnehmen können, auch ohne dass es mit weiteren Gaben gesegnet war.
Entscheidend war, dass Elisabetha es wusste. Dass ihr mit ihrem Äußeren nämlich eine Waffe in die Hand gegeben war, die sie mit immer größerem Geschick zu führen verstand. Wie schon der Spiegel selbst bewies mit seiner fein ziselierten Einfassung, für den ihr Vater eine nicht unbeträchtliche Summe auf den Tresen des Händlers gezählt hatte. Was für die Fotografien von Damen der Berliner Gesellschaft ganz genauso galt. Fotografien, die doch benötigt wurden der Frisuren wegen, die man in der Hauptstadt trug, wie seine Tochter ihm geduldig erklärt hatte. Erst recht galt alles das noch einmal für das malvenfarbene Kleid. Die Farbe der Saison, wie der Verkäufer in der Kreisstadt ihr versichert hatte, bevor er dienernd den Rest ihres Budgets in Empfang genommen hatte.
Eines Budgets, bei dem es kaum infrage stehen konnte, dass es die Möglichkeiten eines wackeren märkischen Gutsherrn weit überstieg. Von der Tochter dieses Gutsherrn einmal ganz zu schweigen, der nun die Last der ganzen Welt von den Schultern fiel, als sie wahrhaftig jenen Zug bestieg, der erste Schritt in ihrem Plan gelungen war, von dessen wahrer Natur kein Mensch auf der Welt erfahren durfte.
Und nein, nicht ihre Schönheit hatte sie an diesen Punkt gebracht, dachte Elisabetha. Auch nicht das reine Wissen um diese Schönheit. Es war ihre Entschlossenheit. Ihr eiserner Wille. Der Wille, Wirklichkeit werden zu lassen, was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hatte.
Begonnen, selbstverständlich, hatte alles schon vor einer ganzen Weile. Mit den Fotografien nämlich. Bei denen es sich natürlich nicht um die Fotografien der schönen Damen handelte.
Es waren Fotografien, die die kaiserliche Familie zeigten. Wie sie vermutlich überall im Reich die Wände der Adelssitze und der wohlhabenden Bürgerhäuser schmückten. Und der Behausungen der einfachen Leute zweifellos ebenso. So wenig Elisabetha solche Behausungen auch von innen her kannte. Vermutlich würde man sich dort mit preisgünstigeren Lithografien behelfen, dachte sie. Mit Holzschnitten aus der Illustrirten Zeitung vielleicht, die man mit Sorgfalt aus dem Blatt trennte.
Während in wohlhabenderen Haushalten dieselben Gesichter aus silbernen Rahmen blickten. Wie eben in der Wohnstube derer von Flatow zu Kleinenkolbow. Ganz gleich, ob man sich solche Rahmen dort nun eigentlich noch leisten konnte in diesen Tagen. In der Mitte der weißbärtige Kaiser, zu seiner Rechten sein graubärtiger Thronfolger, während zur Linken …
Energisch. Kühn und unerschrocken, das Kinn nach vorn gereckt, die Spitzen des schmalen, gepflegten Schnurrbarts dramatisch nach oben gezwirbelt, die Hand auf dem Griff der Waffe. Die glanzvolle Zukunft seines Hauses wie des gesamten Kaiserreichs. Selbst wenn der in Wahrheit nun doch noch ein wenig spärliche Schnurrbart ihm weiterhin etwas beinahe Jungenhaftes verlieh, den vierundzwanzig Sommern zum Trotz, die er zählte, Elisabetha mehrere Jahre voraus.
Wilhelm. Das war sein Name. Als Sohn des Thronfolgers führte er denselben Namen, den bereits sein kaiserlicher Großvater trug. Blut vom Blute des angestammten preußischen Königshauses. Erbe des Erben der Krone des mächtigen Kaiserreichs im Herzen des Kontinents, geschmiedet aus dem Stahl der Bajonette nach dem glanzvollen Sieg über die Österreicher.
Es existierten mehrere derartige Fotografien in Elisabethas Elternhaus. Und dennoch hatte keines dieser Bilder ihre Aufmerksamkeit jemals besonders auf sich gezogen. Anders als eine bestimmte kleinere Fotografie, kaum größer als ihre Handfläche. Eine Fotografie, die im wahrsten Sinne des Wortes ein Schattendasein führte, halb hinter der Kaminschürze verborgen, wenn das Dienstmädchen die Petroleumleuchten entzündete. Und doch hatte mit eben dieser Fotografie alles seinen Anfang genommen. Die schwindelerregenden Veränderungen der vergangenen Monate, die nun dazu geführt hatten, dass ein junges Mädchen voll Aufregung über die eigene Kühnheit in einem Zug in die Hauptstadt saß.
Was dieses bewusste Bild nun anbetraf, so hing es seit dem vergangenen Sommer an seinem Platz. Seit Elisabethas siebzehntem Geburtstag genauer gesagt, als ihr Taufpate aus der Hauptstadt angereist war, um gemeinsam mit ihrer Familie den Anlass zu begehen: Johann von Gottleben. General von Gottleben, der schon zu einer Zeit mit ihrer Mutter bekannt gewesen war, lange bevor er seinen aufsehenerregenden Aufstieg in den Offiziersrängen des preußischen Heeres angetreten hatte. Eben er hatte dieses Bild im Gepäck gehabt, und zugegeben war es kein Geschenk an Elisabetha selbst gewesen, sondern an ihre Eltern, mit einer schwungvollen Signatur des Porträtierten versehen. Doch schließlich hatte ihr Geburtstag den Anlass seines Besuchs in Kleinenkolbow dargestellt. War es nicht unübersehbar, dass bereits das ein Zeichen war?
An diesem Tag jedenfalls hatte ihr Leben einen Wandel erfahren. Einen Wandel, auf den sie niemals hatte rechnen können. An diesem Tag oder doch kurz darauf.
Es hatte sich am Morgen nach der Abreise des Generals zugetragen. Ihre Mutter war damit beschäftigt, nach der festlichen Tafel vom Vortag die Tischwäsche und die Servietten durchzugehen, um zu prüfen, ob sämtliche Stücke noch ansehnlich waren. Ob eines von ihnen ausgebessert werden musste, bevor man es in die Wäsche gab. Ob es gar ersetzt werden musste. Eine Aufgabe, die sie stets persönlich versah, obgleich man sie doch ebenso gut irgendjemandem unter den Domestiken hätte übertragen können. Elisabethas Finger hatten derweil versonnen über die Geschenke gestrichen, die sie zu ihrem Ehrentag erhalten hatte und die sich nun auf dem Gabentisch stapelten: die Flacons mit erlesenen Düften, der elfenbeinerne Federhalter mit Iridiumspitze, die kostbaren Sammeltassen aus schimmerndem Porzellan, mit einem kunstvoll stilisierten Muster versehen. Wobei sie beiläufig nur einen Blick auf die neue Fotografie warf.
Sie blieb stehen wie vom Donner gerührt.
Der Prinz. Der künftige Erbe der Krone. Eine Erscheinung, die ihr vertraut war aus den Bildern unmittelbar daneben. Und doch so unvertraut, so vollkommen anders auf eben dieser Fotografie, dass es ihr mühsam nur gelang, ein Aufkeuchen zu unterdrücken.
Auf dieser Aufnahme hatte er sich nicht in jene Pose geworfen, nach der die ganze Welt zu verlangen schien. Im Gegenteil: als wenn er die Gegenwart des Fotografen kaum recht zur Kenntnis nahm, die Augen in eine unerreichbare Ferne gerichtet. Auf das Meer vielleicht, dachte sie. So jedenfalls würden die meisten Betrachter vermuten. War doch bekannt, wie sehr der Prinz die Seefahrt liebte.
Ja, jedermann musste das vermuten. Einzig sie, Elisabetha von Flatow, hatte auf der Stelle begriffen, was es mit diesem Ausdruck in Wahrheit auf sich hatte.
Er sieht traurig aus. Der Gedanke war ihr durch den Kopf geschossen. Er war ein vollkommen anderer Mensch mit diesem Blick, der in seinen Augen stand: nachdenklich. Versonnen. Traurig. Das forsche, soldatische Wesen, das jedermann von ihm zu erwarten schien, der er mit jedem Atemzug unter Beobachtung stand: Auf diesem Bild war nichts davon zu erkennen. Hier hatte er seine Maske sinken lassen. Warum auch immer. Weil er mit einem Mal nicht länger die Kraft aufzubringen vermochte. Sodass stattdessen jener Mann zum Vorschein kam, der er in Wahrheit war. Suchend, dachte sie. Und doch auf eine Weise suchend, als ob er selbst kaum recht zu wissen schien, wonach er überhaupt auf der Suche war. Verloren. Verloren im Irgendwo und Nirgendwo. Gerade indem er nicht in Richtung des Betrachters sah … Gerade damit hatte sein Blick sich tief in Elisabethas Herz gesenkt.
Ihre Mutter hatte natürlich nichts davon mitbekommen, völlig in Beschlag genommen von ihrer verschmutzten Tischwäsche. Doch von diesem Moment an hatte der Gedanke Elisabetha keine Ruhe mehr gelassen. Der Gedanke, dass einzig sie auf der Stelle erkannt hatte, was dieser Blick zu bedeuten hatte. Ein Blick, der ein Fenster öffnete in die Seele des Erben des Kaiser- und Königreichs. Ein Blick, der eine Ahnung vermittelte, wie es in Wahrheit in ihm aussah.
Ihr allein. Ihr, Elisabetha von Flatow allein.
Und selbst wenn es sich anders verhielt. Wenn es denn Dutzende junger Mädchen gab irgendwo im Kaiserreich, denen ebenfalls etwas von jener Ahnung zuteilgeworden war … So spielte das am Ende keine besondere Rolle. Weil keines von ihnen Elisabetha von Flatow war mit ihrer Fähigkeit, in kühler Berechnung einen Plan zu ersinnen, wo schlichtere Gemüter sich verzehrten in jäher, nutzloser Leidenschaft.
Immer wieder kam es vor in den folgenden Tagen, dass sie vor einer anderen unter den fotografischen Aufnahmen stehen blieb, auf denen die kaiserliche Familie zu sehen war. Einer Aufnahme, die seine Gemahlin zeigte. Und die etwas weiter entfernt vom Kamin ihren Platz hatte. Denn ja, gewiss: Natürlich war er bereits vermählt. Und eben diese seine Gemahlin hatte ihm erst kürzlich seinen Sohn und Erben geschenkt. Den Erben des Erben des Erben der Krone demnach.
Semmelblond, dachte Elisabetha. Die Gemahlin. Gesund und proper und durchaus ansehnlich auf eine reizlose Weise. Eine Verwandte des dänischen Königshauses, sodass die Eheschließung zweifellos vor allem ein politisches Zeichen hatte setzen sollen in einem Versuch, die Wunden vergangener Konflikte zu schließen. Wie es so oft geschehen sein musste im Laufe der Geschichte. Töchter hochadeliger Häuser, die man dem künftigen Herrscher zuführte. Frauen, die ihm wenig zu bieten hatten als einen ebenso standesgemäßen wie fruchtbaren Leib, den sie ihm zur Verfügung stellten, um die Linie seiner erlauchten Familie fortzusetzen. Frauen, deren Namen vergessen wurden, kaum dass sie ins Grab gesunken waren, ausgezehrt von der unablässigen Abfolge der Schwangerschaften. Während ihre Ehemänner ihre Namen ins Buch der Geschichte schrieben.
Und doch nicht sie allein, dachte Elisabetha, während sie spürte, wie eine Gänsehaut auf ihre Unterarme trat. Mit nicht weniger kräftiger Feder nämlich wurden neben den Namen jener Mächtigen zuweilen die Namen der Frauen vermerkt, die in Wahrheit an ihrer Seite standen.
Giulia Farnese. Madame de Pompadour. Aurora von Königsmarck. Ja, selbst die schöne Wilhelmine von Lichtenau noch in den Tagen des Großvaters der gegenwärtigen greisen Majestät. Elisabethas Vater war ein belesener Mann. In einem abgelegenen Zimmer im Obergeschoss des Gutshauses hütete er eine kleine, aber ausgesuchte Bibliothek historischer Werke. Selbstverständlich war ihm nicht entgangen, dass seine Tochter seit dem vergangenen Sommer immer wieder dort anzutreffen war. Und jedes einzelne Mal hatte er sich dann auch höchst erfreut gezeigt, wenn er ihrer Anwesenheit gewahr wurde. Allerdings ohne allzu akribisch zu prüfen, um welche Art von Lektüre es sich eigentlich handelte, in die sie sich in einem solchen Maße vertiefte.
Voller Faszination hatte Elisabetha jedes Detail verschlungen, das sie über das Leben dieser Frauen hatte finden können. Frauen, die ganz anders gewesen sein mussten als die blassen Gestalten der Königinnen vergangener Tage. Frauen, die nicht aus hochherrschaftlichen Familien hervorgegangen waren. Frauen, die einem Mann, der mit jedem Tag die Last einer Krone zu tragen hatte, etwas viel Wichtigeres hatten geben können.
Ganz kurz schloss sie die Lider, verdrehte die Augen. War sie doch schließlich nicht allein in ihrem Abteil der zweiten Wagenklasse auf dem Wege nach Berlin. Einem Abteil, das sie mit einer Dame auf dem Rückweg in die Hauptstadt teilte und mit zwei Handelsreisenden für Liebigs Fleischextrakt. Die allesamt nicht ahnen konnten, was ihr soeben durch den Kopf ging. Was ihr von Anfang an bewusst gewesen war, wenn sie an jene Frauen dachte, an Frauen wie die Pompadour. Schließlich war sie auf einem ländlichen Gutshof aufgewachsen. Sie hatte beobachten können, was die Hengste und Stuten miteinander anstellten. Und die Knechte und Mägde nicht anders, wann immer sie sich unbeobachtet glaubten. Selbstverständlich war ihr klar, was Männer von Frauen begehrten.
Und hätte es eines letzten Beweises bedurft, so war sie in einem Winkel der väterlichen Bibliothek auf ein äußerst aufschlussreiches Werk gestoßen, versteckt beinahe hinter einer Reihe weit weniger fesselnder theologischer Schriften. Ein Buch, das ursprünglich aus dem geheimnisvollen Indien stammte, wie sie die Sache verstand. Auf jeden Fall aber war auf seinen Seiten eine große Zahl höchst eindrucksvoller lithografierter Zeichnungen versammelt. Lehrreicher Zeichnungen. So wenig auch zu übersehen war, dass die Bewohnerinnen und Bewohner der fernen britischen Kronkolonie über eine Beweglichkeit verfügten, mit der es die Menschen im Herzen Europas nicht ansatzweise aufzunehmen vermochten. Zumindest aber hatte Elisabetha damit eine Vorstellung entwickelt, worauf eine Frau sich einließ, wenn sie die Begierde eines Mannes erweckte.
Eine Vorstellung, in der sich durchaus unterschiedliche Gefühle mischten. Ein Erschrecken, wozu die Anatomie eines Mannes in der Lage war, wenn eine Frau sich ihm hingab? Wenn sie ein solches Gefühl verspürt hatte, dann war es höchstens ganz am Anfang da gewesen. Weit stärker war da ein gewaltiger Kitzel der Aufregung. Hinzugetreten war im Übrigen noch eine gewisse Verwirrung. Handelte es sich bei jenen Darstellungen doch eindeutig um genau das Geschehen, das ihre Mutter zuweilen mit gesenkter Stimme als eheliche Pflichten umschrieb. Was schon als solches Unsinn war. Ganz ausgeschlossen, dass diese Frauen und Männer ausnahmslos miteinander verheiratet waren. Schon weil sich auf etlichen der Darstellungen mehr als nur zwei Personen miteinander beschäftigten. Die obendrein ganz entschieden nicht den Eindruck machten, als ob sie sich einer unangenehmen Verpflichtung widmeten. Weit eher wirkten die Männer und Frauen verzückt, während sich ihre nackten Körper auf verwirrende Weise umeinanderschlangen. In einem aufregenden Spiel gefangen, zu dem sie einander zu verlocken suchten in gegenseitigem Begehren.
Und es war genau dieses Spiel, hatte Elisabetha bei sich gedacht. In genau diesem Spiel waren sie Meisterinnen gewesen: Frauen wie die Pompadour, auf einzigartige Weise geübt in den Künsten der Verlockung und Verführung.
Eben diese Frauen hatte Elisabetha von Flatow zu ihren Lehrmeisterinnen erkoren. Kundigen Ratgeberinnen, die sie fortan auf jedem Schritt ihres Weges begleiten würden, wie sie beschlossen hatte, lesend und grübelnd, während sie die Literatur zurate zog, soweit sie nur greifbar war. Am offenen Fenster der winzigen Bibliothek zunächst, solange das abendliche Licht es zuließ. Beim Schimmer einer Petroleumlampe, als der Sommer sich neigte. Einer Lampe, deren Docht sie ein um das andere Mal eilig hatte kürzen müssen, wenn die Flamme zu rußen begann, unbemerkt bis zu diesem Moment. Immer und immer wieder, wenn Elisabetha denn versunken war in ihren Gedanken, das Antlitz des Prinzen vor ihre Augen trat und den ihm zugewiesenen Platz einnahm, während die Umrisse ihres Vorhabens schemenhaft hervorzutreten begannen. Gefangen in den schwindelerregenden Strategien jener Frauen vergangener Zeiten.
Frivole Spiele der Liebe hatten schon immer zum guten Ton gehört am Hofe der Kaiser und Könige, wie die Lektüre ihr verriet. Schon seit den Zeiten der verträumten Troubadoure und Minnesänger war das so gewesen, deren Finger die Saiten ihrer Harfe liebkosten wie den Leib ihrer Angebeteten selbst, die sie mit Worten der Sehnsucht bedachten. Wenn eine der beiden Seiten verheiratet war, tat das dem Spiel keinen Abbruch. Das machte vielmehr seinen Reiz aus. Das konkrete Reglement lediglich wurde zuweilen dem veränderten Geschmack der Zeit angepasst. Je nachdem, ob man in einer eher sinnenfrohen Epoche lebte wie der Ära einer Pompadour. Oder in einem Zeitalter gestrengerer Sitten wie dem gegenwärtigen, das kaum noch Raum zu kennen schien für die galanten Abenteuer vergangener Zeiten.
Wobei es eine einzige Sache gab, die über all die Generationen gleich geblieben war, wie Elisabetha zu ihrer Genugtuung festgestellt hatte. Wenn eine Frau es nur richtig anstellte, dann lag die Entscheidung einzig bei ihr, von wem sie sich verehren ließ. Alleine sie war es, die einen Herrn erwählte, auf den ihr Auge fiel. An den sie eine wortlose Herausforderung aussprach. Eine Herausforderung, die er überhaupt nicht ablehnen konnte als ein Mann von edler Geburt. Weil er war, was er war, dachte sie. Beinahe schon durch das Blut, das in seinen Adern floss, für ihren Zauber empfänglich. Und ihm am Ende ausgeliefert, sobald es ihr denn einmal gelungen war, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
In einem Taumel würden seine Tage fortan dahingleiten im Gedanken an ihren leuchtenden Leib, den seine Arme umfingen, sobald der Abend sich senkte. Wenn er in die Tür zu den Gemächern seiner Dame trat und mit verschleiertem Blick auf sie niedersah in seiner dunklen Uniform, die ihm so einzigartig zu Gesicht stand. Und wenn sie dann ihrerseits kaum an sich zu halten vermochte, sobald er den Arm nach ihr ausstreckte und …
Sehr bewusst zügelte Elisabetha an dieser Stelle ihre lebhafte Fantasie und gebot den Bildern Einhalt. Bildern, die sich in Sekundenschnelle eingestellt hatten.
Die Regeln auf dem Schlachtfeld der Liebe konnten sich als nicht weniger kompliziert erweisen als die Forderungen eines militärischen Manövers. Und zwar für alle Beteiligten. Den höchsten Wert, lehrten die großen Strategen, besaß jene Festung, die am schwierigsten zu erstürmen war. Unter gar keinen Umständen durfte der hohe Herr es daher als Selbstverständlichkeit betrachten, dass sich die Tür seiner Angebeteten Abend für Abend für ihn öffnete. Und widersinnigerweise galt das insbesondere dann, wenn diese einem Tête-à-Tête in Wahrheit mit ganz genau derselben erwartungsvollen Freude entgegensah.
War das doch Teil der Herausforderung. War doch auch er gebunden an das Regelwerk der höfischen Liebe. Unversehens würde er sich auf einem Feldzug wiederfinden, dessen taktische Herausforderungen man den jungen Offizieren mit Sicherheit nicht vermittelte an der Kriegsakademie in der Straße Unter den Linden. Oder beim ersten Regiment der Garde. Wo der Prinz seinen Dienst versah.
Die Einsätze waren hoch, dachte Elisabetha. Wie hätte es auch anders sein können, wenn so viel auf dem Spiel stand? Nächte der Leidenschaft, die schon als solche eine ungeheure Bedeutung besaßen. Noch näher konnte man seinem Herrscher schließlich nicht kommen als zwischen den Laken aus feinem Damast. Und dennoch waren sie kaum mehr als ein Beginn für eine Frau, der der Zauber der Pompadour eigen war und ihrer fernen Schwestern auf dem Schlachtfeld der Liebe. Eine Frau, die es nicht damit bewenden ließ, wenn ihr denn eine solche Position in den Schoß fiel im herrschaftlichen Schlafgemach. Mitsamt dem Herrscher selbst. Eine Frau, die ihm so unendlich viel mehr zu bieten vermochte als die lustvolle Zerstreuung einer Nacht in jenem Spiel, in dem die Rollen zuweilen vollständig anders verteilt waren, als es zunächst erscheinen mochte.
Wie schnell er das am Ende begriff – das hing nun ganz allein von ihm ab. Wann er sich denn die Augen rieb und ihm klar wurde, was sie tatsächlich für ihn sein konnte – so unendlich weit hinaus über das bloße Stillen fleischlicher Begierden. Ein Lächeln, dachte Elisabetha, mit dem die Schöne ihn willkommen hieß, wenn er das luxuriös ausgestattete kleine Palais in den Gärten seiner Residenz betrat, das er eigens für sie eingerichtet hatte. Eine kleine, freche, vielleicht auch geistreiche Bemerkung, um etwas von der Müdigkeit und Trauer aus seinen Augen verschwinden zu lassen. Ein offenes Ohr für die Beschwernisse und Sorgen seines Tages, wenn er ermattet niedergesunken war auf den weichen Fauteuil in ihrem Boudoir und sie mit duftenden Ölen seine schmerzenden Schläfen massierte, nachdem sie den Kragen seiner Uniform gelöst hatte. Mit müder Stimme würde er ihr berichten von diesem Tag, der von Neuem angefüllt gewesen war mit all den Ränkespielen auf den Korridoren seines Palastes, wo ihm ein jeder nach dem Munde redete und doch nur seine eigenen Interessen im Kopf hatte.
Anders als sie. Bei ihr würde er wissen, dass es ihr einzig um ihn allein ging. Bei ihr würde er Zuflucht finden. Bei dem einen Menschen, der ihn verstand. Einer Frau, die ihn bei der Hand nehmen konnte, wenn er verloren und unschlüssig in die Welt blickte angesichts all der verwirrenden Entscheidungen, denen er sich Tag für Tag gegenübersah.
Wozu sie ohne jede Einschränkung in der Lage war: ihm einen Rat zu geben, wenn er um einen solchen bat. Oder vielleicht auch einmal ohne gesonderte Aufforderung, geschickt an geeigneter Stelle angebracht. Weil sie sich nämlich über sämtliche wichtigen Dinge auf dem Laufenden hielt. Und ihm damit auch dies von den Schultern nahm. Weil so viel Gutes und Nützliches, das einst mit seinem Namen verknüpft sein würde, in Wahrheit auf ihre Initiative zurückging. Ehrgeizige neue Projekte weitab von den Gemetzeln auf dem Schlachtfeld, denen er gezwungenermaßen immer wieder seine Aufmerksamkeit widmen musste. Waisenhäuser für Mädchen aus armen Familien, die in den Winkeln seines Reiches entstanden. Universitäten und Kadettenschmieden für künftige Generationen treuer Diener seiner Krone. Wer anders als die Pompadour hatte in der Stadt Sèvres jene legendäre Manufaktur des Weißen Goldes ins Leben gerufen, die auf dem gesamten Kontinent in einem einzigartigen Ruf stand? So viel, das eine solche Frau mit jedem Tag bewirken konnte, während sie in sämtliche Richtungen ihre Fäden spann, sich zuverlässige Verbündete zu schaffen wusste. Und alles das zu seinem Besten. Denn jene Frauen mussten kluge Frauen gewesen sein. Frauen, die beinahe selbst Herrscherinnen gewesen waren durch ihren Einfluss auf den Mann, der die Krone trug.
Mätressen. Ein französisches Wort, wie Elisabetha wusste: Maîtresse – die Herrin. Eine Herrin, die selbstredend viel zu klug war, um ihm nicht mit jedem Augenblick das Gefühl zu geben, dass er natürlich auch ihr Herr war.
Eben das, hatte sie beschlossen, würde sie für ihn sein. Für Wilhelm, ihren Prinzen mit den traurigen Augen im dunklen Sepia der Fotografie. Eben das war es, wonach er auf der Suche war, ohne dass er in Wahrheit selbst davon wusste. Nach der wahren Frau in seinem Leben. Der es keine große Schwierigkeit bereiten sollte, die farblose Gestalt seiner Königin auf freundliche Weise neben sich gelten zu lassen. In jenem Bereich, der ihr zukam. Wie seine Minister und Generäle eben auch als Teil der Verpflichtungen, denen ein Mann seines Standes sich selbstredend nicht entziehen durfte.
Elisabetha wusste, wie oft die Menschen sie unterschätzten. Schon als kleines Kind war das so gewesen, und später, als junges Mädchen, womöglich noch stärker. Mochte ihre eher zierliche Statur eine Rolle spielen, das ebenmäßige, herzförmige Gesicht mit dem offenen Blick unter dem bernsteinfarbenen Haar. Wer sollte auf den Gedanken verfallen, dass in einem solchen Persönchen ein dermaßen fester Wille wohnte?
Am allerwenigsten ihr eigener Vater offenbar. Der es doch eigentlich hätte besser wissen müssen. Zeit ihres Lebens schon hatte er sie auf Händen getragen, seine einzige Tochter, ein Mädchen nach einem halben Dutzend Jungen. Er hatte sie beschützt und behütet in der winzigen Welt des Gutshofs zu Kleinenkolbow. Jeden Wunsch hatte er ihr von den Augen abgelesen, wenn sie es nur geschickt genug angestellt hatte. Jedenfalls kam es immer wieder vor, dass Besucher des Gutes vor Überraschung an den Zäunen stehen blieben, wenn Josephine über die Weiden galoppierte, eine leibhaftige Lipizzanerstute mit stolzem, federndem Schritt. Mit der man auf der Ribbecker Heide nun als Allerletztes gerechnet hätte. Und Elisabethas Kleider, exakt den Schnitten aktueller französischer Modejournale nachempfunden, suchten ohnehin ihresgleichen auf den Gesellschaften in der Bezirkshauptstadt, wo die Familien des heimischen Adels, die Gutspächter und die Offiziere der Garnison miteinander verkehrten.
Und doch hatte sie erkennen müssen, dass selbst die Großzügigkeit ihres Vaters ihre Grenzen hatte. Nachdem sie sicher gewesen war, dass sie nun alles erkundet hatte, was es nur zu wissen gab über die Mätressen der Kaiser und Könige. Als sie sich ihren Plan zurechtgelegt und beschlossen hatte, den entscheidenden Schritt nun zu wagen, die entscheidende Bitte zu äußern. Selbstredend, ohne ihren Vater in ihre wahren Beweggründe einzuweihen.
Er hatte an seinem Arbeitstisch gesessen, vor dem Fenster, das über die Weiten der Ländereien von Kleinenkolbow blickte, einen Landstrich, der sandig und karg und nicht sonderlich fruchtbar war. Und als sie mit ihren Ausführungen zu Ende gewesen war, hatte er seine Tochter angestarrt wie vom Schlagfluss gerührt.
Die Hauptstadt? Was in Gottes Namen wollte sie in Berlin, diesem Moloch der Sünde? Gab es nicht Festivitäten zuhauf in der heimischen Provinz? Die Tanzbälle zum Abschluss der Pferdeauktion waren seit Generationen gut genug gewesen für die Flatows auf Kleinenkolbow! Eine Tochter der Familie als Debütantin auf dem Hofball vor den Augen der Majestäten? Noch niemals sei dergleichen vorgekommen! Die Familie besaß nicht einmal eine Bleibe in der Hauptstadt, in der sie während der Ballsaison hätte logieren können! Wie stellte sie sich das vor? Irgendwo in einer Absteige zu hausen, mutterseelenallein? Davon abgesehen, dass kaiserliche Bälle bekanntlich nicht jedermann offenstanden. Selbst einem hübschen Mädchen nicht, und wenn es noch so ansehnliche Kleider trug. Je eher Elisabetha sich einen solchen Gedanken aus dem Kopf schlug, desto besser. Denn schließlich … Ein Zögern. Er sei sich nicht sicher, ob ihr das Ausmaß ihres gefälligen Äußeren vollständig bewusst sei, hatte er in einem ganz anderen Tonfall angefügt. Den wackeren Junkern auf der Ribbecker Heide jedenfalls sei es höchst entschieden nicht verborgen geblieben. Und so schwer es ihm fallen würde, seine Tochter gehen zu lassen, wenn sie sich dereinst vermählte: Im ältesten Sohn der Gutsnachbarn wohne ein beträchtlicher Ehrgeiz, wie es hieß. Es wäre kaum überraschend, wenn er einmal zum Landrat aufsteigen würde. Und Elisabetha sei ihm ja bereits begegnet auf der Pferdeauktion: Der Junge war doch ein stattlicher Bursche.
Stattlich. Allerdings: Das war er. Wenn man als stattlich denn einen Menschen empfand, dem das fleischige Kinn formlos aus dem Vatermörder quoll. Schaudernd hatte sie sich abgewandt.
Und doch hatte das Gespräch mit ihrem Vater einen Gedanken in ihren Kopf gesetzt. Unbeabsichtigt zweifellos, doch möglicherweise der Funke zu einem noch weit ausgefeilteren Plan. Denn in der Tat traf es zu, dass die Flatows über kein Domizil in der Hauptstadt verfügten. Über keine nahen verwandtschaftlichen Verbindungen, die ihr Zugang zu jenen Festen hätten verschaffen können, auf denen selbst das Herrscherhaus verkehrte. Was aber, wenn sie genau damit den entscheidenden Hebel gefunden hatte für ihre Absichten?
Sie hatte den richtigen Augenblick abpassen müssen. Hatte sie mit ihrer Mutter doch niemals ein vergleichbar enges Verhältnis verbunden, wie es zu ihrem Vater bestand. Wobei sie längst begriffen hatte, dass es gerade die ständige Bevorzugung durch den Herrn über Kleinenkolbow gewesen war, die auf der anderen Seite zu einer gewissen Distanz geführt hatte. Die Herrin des bescheidenen Gutes musste einfach im Blick behalten, dass es neben ihrer einzigen Tochter noch ein halbes Dutzend junger Männer gab, denen niemand eine Lipizzanerstute zum Geburtstag schenkte. Dass sie dabei auf Elisabetha ein etwas strengeres, niemals aber unfreundliches Auge hatte, konnte selbst diese ihr nicht recht übel nehmen.
Wobei es nicht klug gewesen wäre, ihre Mutter das auch spüren zu lassen. Weil genau das ein Werkzeug sein konnte – in einem Moment wie diesem.
Elisabetha wusste, dass es der älteren Frau gefiel, wenn ihre Tochter auf dem Gutshof mit Hand anlegte. Ganz so, wie sie selbst es ebenfalls tat. Etwa indem sie persönlich dafür Sorge trug, dass die Vorratskeller für den Winter gut gefüllt waren. An einem Nachmittag, als sie gemeinsam die letzten Äpfel in einer dunklen, trockenen Kammer verstaut hatten, war der Augenblick gekommen.
Elisabetha war bewusst gewesen, wie wichtig es war, dass sie ihre Worte sorgfältig wählte. Hatte ihr Vater seine Gemahlin bereits ins Vertrauen gezogen mit seinen Gedanken zum Sohn der Gutsnachbarn? Wenn das so war, musste Elisabetha besondere Vorsicht walten lassen. Einen künftigen Landrat würde ihre Mutter vermutlich ebenfalls für eine gute Partie halten. Mit dem Unterschied allerdings, dass sie eine Sache aufmerksam zu durchdenken pflegte, bevor sie eine Entscheidung traf. Anders als zuweilen ihr Gemahl.
Mit großer Ruhe also setzte Elisabetha ihr die Dinge auseinander, während sie bei einem Glas Cidre beisammensaßen nach ihrem Werk im Apfelkeller. Die Dinge, wie sie nun einmal waren.
Elisabetha war eine Schönheit. Sie alle wussten das. Ihr Vater wusste es, und ihre Mutter wusste es. Und Elisabetha selbst wusste es mit Sicherheit noch einmal wesentlich besser, nachdem doch sie es war, die die Landjunker mit ihren Augen verschlangen, während sie den Pferden kaum noch einen Blick gönnten auf der Auktion. Und da ihr Vater ihr nicht allein mit Josephine einen Herzenswunsch erfüllt, sondern obendrein über Jahre hinweg in eine Gouvernante investiert hatte, beherrschte seine Tochter nun sowohl die Etikette der besseren Kreise als auch die Feinheiten der französischen Sprache, derer man sich in der höheren Gesellschaft bediente. Was mehr, sollte man meinen, konnte sich ein Mann auf Brautschau wünschen, der sich zugleich mit dem Gedanken an eine ehrgeizige Laufbahn trug?
Nun, zumindest eine Sache gab es da, erklärte Elisabetha. Denn zweifellos würde der überaus stattliche Nachbarssohn all ihre Vorzüge nur allzu gern in Kauf nehmen. Doch sie würden nicht ausreichen.
Musste er sein hohes Amt doch erst einmal erringen. Und das würde erhebliche Anstrengungen bedeuten, gute Verbindungen zu einflussreichen Würdenträgern innerhalb der Provinz. Männern, deren Aufgabe darin bestand, auf den Kaiser und König einzuwirken, damit er sich für einen bestimmten Kandidaten erwärmte. Und eben das war am ehesten mit einer gut gefüllten Schatulle zu bewerkstelligen, aus der sich diesem oder jenem ein Gefallen erweisen ließ. Einer Schatulle, auf die die wackeren jungen Herren aus märkischem Adel bekanntlich ganz allgemein gesteigerten Wert legten, völlig gleich, ob sie ein derart verantwortungsvolles Amt anstrebten. Einnahmen aus Land- und Viehbesitz überall in der Provinz, die sich ganz trefflich abrunden ließen – durch eine klug bedachte Eheschließung.
Durch eine großzügige Mitgift. Sehr genau hatte Elisabetha ihre Mutter bei diesem Wort im Auge, war sich allerdings nicht vollkommen sicher, ob die ältere Frau nicht unmerklich zusammenzuckte. Durch eine reichhaltige Aussteuer, betonte Elisabetha. Eine Aussteuer, welche die Familie der Braut ihrer Tochter mit auf den Weg gab, wenn sie sich vermählte. Eine Aussteuer, bei der es undenkbar war, dass die Brauteltern sich lumpen ließen. Diente sie doch auch dem Zweck, ihren eigenen Wohlstand vor aller Augen unter Beweis zu stellen.
Für einen Gutshof, den sich in Zukunft sechs Söhne würden teilen müssen, musste das bereits unter gewöhnlichen Umständen eine Belastung darstellen. Angesichts der Großzügigkeit jedoch, die der Gutsherr seiner Tochter gegenüber schon in der Vergangenheit bewiesen hatte, war noch Schlimmeres zu erwarten. Und sei es der Ruin des Gutes selbst – all das um eine standesgemäße Partie für Elisabetha.
Und doch gab es in Wahrheit eine einzige Chance. Einen Moment lang hielt sie inne, bevor sie die folgenden Worte mit besonderem Nachdruck formulierte: Diese Chance bestand darin, dass sich eine Partie finden ließ, bei der das eben Geschilderte einfach keine Rolle spielte. Weil der Auserwählte nämlich einzig wegen ihrer Schönheit um sie warb. Wegen Elisabethas Umgangsformen. Wegen des Zaubers, der dem Wesen des Fräuleins von Flatow eigen war. Wozu er aber nur dann bereit sein würde, wenn ein paar Weiden oder Viehherden keine besondere Bedeutung für ihn hatten. Weil sein eigener Wohlstand das bescheidene Gut zu Kleinenkolbow nämlich ohnehin weit in den Schatten stellte. Nach einer Aussteuer würde ein solcher Mann nicht fragen. Und auch auf den Nachbargütern würde man sich nicht den Mund zerreißen, wenn eine Mitgift ausblieb – wenn denn der Auserwählte selbst einen eindrucksvollen Namen trug.
Sodass im Grunde nur ein einziges Problem blieb, schloss Elisabetha. Genau solche Namen ließen sich bekanntlich nicht finden unter den stattlichen Junkern auf der Ribbecker Heide.
Ihrer Mutter war zuzugestehen, dass sie nicht überrascht wirkte. Keine Spur von Erstaunen angesichts der Kühle, mit der ihre Tochter ihr all diese Dinge darlegte. Samt den Schlussfolgerungen, zu denen sie am Ende gekommen war: Berlin. In Berlin sah das vollkommen anders aus. Auf den Bällen und in den Salons, auf den Gesellschaften und Empfängen in der Hauptstadt des Kaiserreichs: Eben dort mussten solche Namen – und solche Männer – zu Dutzenden vertreten sein. Berlin konnte ein Ausweg sein für Elisabetha. Nicht anders aber auch für den schon jetzt überschuldeten Gutshof mit zu vielen Erben.
Allerdings … Und hier hatte Elisabetha innegehalten. Allerdings hatte sie genau dieses Ansinnen bereits an ihren Vater gerichtet. Und dieser habe es rundweg abgelehnt. Sodass es bedeuten würde, seinem erklärten Willen zuwiderzuhandeln, wenn sie, die beiden Frauen, es über seinen Kopf hinweg womöglich dennoch weiterverfolgten: Elisabetha einen Aufenthalt in der Hauptstadt zu ermöglichen und den Zugang zu so erlauchten Kreisen. Mussten sie da nicht befürchten, dass er sich enttäuscht, womöglich gar gekränkt fühlen würde? Zumal dann, wenn sie auch noch Erfolg hatten an einer Stelle, an der er selbst doch offenbar keine Möglichkeit erblickte. Ihr sei natürlich bewusst, was es für ihre Mutter bedeuten würde, gegen den Willen ihres Gemahls …
An diesem Punkt erst hatte sich der Blick ihrer Mutter verändert. Und mit brennender Röte auf dem Gesicht hatte Elisabetha die Augen niedergeschlagen. Denn die Frau dort an der anderen Seite des Tisches kannte sie. Kannte sie wie kein zweiter Mensch. Und auf der Stelle hatte sie begriffen, mit welchem strategischem Geschick sich ihre Tochter das verlockendste Argument bis zum Schluss aufgehoben hatte.
Siebzehn Jahre lang hatte die Herrin über Kleinenkolbow mitansehen müssen, wie ihr Gemahl seine Tochter nach Strich und Faden verwöhnte. Ein einziges seiner sieben Kinder. Für das er nun voraussichtlich ein weiteres Mal Unsummen ausgeben würde, um jene Verbindung mit dem künftigen Landrat einzufädeln, an der ihm so viel zu liegen schien. Zu einem Zeitpunkt, an dem er den Hof bereits an den Rand des Abgrunds geführt hatte. Jetzt seinen Plan zu durchkreuzen, im Bündnis mit eben dieser Tochter: Wie konnte seine Gemahlin sich das entgehen lassen?
Natürlich hatte Elisabetha gewusst, dass sie nach diesem Bissen schnappen würde. Wenn ihre Mutter nun deutlich machte, dass auch