Die Prinzessinnen von New York - Secrets - Anna Godbersen - E-Book

Die Prinzessinnen von New York - Secrets E-Book

Anna Godbersen

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Beschreibung

Sind sie bereit, für ihre Liebe alles zu wagen?

In den luxuriösen Kreisen der New Yorker High Society von 1900 verbergen sich die dunkelsten Geheimnisse hinter den strahlendsten Lächeln und den prunkvollsten Fassaden, denn ihre Enthüllung kann ein Leben vollkommen verändern. Auch die Schwestern Diana und Elizabeth Holland haben die zerstörerische Macht eines Skandals bereits zu spüren bekommen und wollen nun gegen die Spielregeln der Elite verstoßen. Denn nur wenn sie alles riskieren - ihren Ruf, ihre gesellschaftliche Position und ihren Reichtum -, besteht für sie noch die Möglichkeit, mit den Männern zusammen sein zu können, die sie wirklich lieben.

"Intrigen, Liebe, Eifersucht, Verrat, Humor und ein opulentes Setting. Ich konnte DIE PRINZESSINNEN VON NEW YORK nicht zur Seite legen!" CECILY VON ZIEGESAR, Autorin von GOSSIP GIRL

4. Band der PRINZESSINNEN-VON-NEW-YORK-Reihe

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Seitenzahl: 451

Veröffentlichungsjahr: 2020

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

Prolog

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Epilog

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Anna Godbersen bei LYX

Impressum

ANNA GODBERSEN

Die Prinzessinnen von New York

SECRETS

Roman

Ins Deutsche übertragen von Ralf Schmitz

ZU DIESEM BUCH

In den luxuriösen Kreisen der New Yorker High Society von 1900 werden die dunkelsten Geheimnisse hinter den strahlendsten Lächeln und den prunkvollsten Fassaden verborgen, denn ihre Enthüllung kann ein Leben vollkommen verändern. Auch Diana und Elizabeth Holland haben die zerstörerische Macht eines Skandals bereits zu spüren bekommen – sie können nicht mit den Männern zusammen sein, die sie lieben. Nun haben die beiden Schwestern nur noch ein Ziel: ihr Leben wieder nach eigenen Regeln führen und endlich glücklich sein zu können. Doch als Elizabeth und Diana beginnen, das Netz aus Intrigen und Verrat, das um sie herum gesponnen wurde, zu zerreißen, stoßen sie auf ein Geheimnis, mit dem sie niemals gerechnet hätten. Ein Geheimnis, das sie dazu bringt, sich zu fragen, ob sie bereit sind, ihren Ruf, ihre gesellschaftliche Position und ihren Reichtum zu opfern. Denn was nützt ihnen der Luxus der New Yorker High Society, wenn sie nicht mit den Männern zusammen sein können, denen in Wahrheit ihr Herz gehört?

Für Sara

PROLOG

Noch vor fünfzig Jahren wollte jedes amerikanische Mädchen eine europäische Prinzessin sein. Schaute man sich ihre Kleider und Gesten an, war es unmöglich zu übersehen: Alle waren wie versessen darauf, sich wie die Damen aus Europa anzuziehen und die Umgangsformen der Pariser Salons zu kopieren. Doch heute kommen die Mädchen aus der Alten Welt zu uns, um mit eigenen Augen zu sehen, wie wir uns hier in den Vereinigten Staaten benehmen und in was für einer Aufmachung wir herumlaufen. So stehen sie an Deck der Dampfschiffe, ihre behandschuhten Hände umklammern die Reling, während sie den ersten Blick auf Manhattan erhaschen, die Insel der turmhohen Häuser und der erdrückenden Geheimnisse, deren Millionen Einwohner zu beinahe gleichen Teilen gefeiert werden oder in Vergessenheit geraten.

Was für ein schmales Stück Land, stellen die überraschten Seereisenden bei ihrem ersten Blick auf die Neue Welt unweigerlich fest, wenn man bedenkt, wie viel dort ständig passiert.

Natürlich laufen in etwa ebenso viele Schiffe aus dem Hafen aus wie dort ankommen. Selbst die Leute, denen regelmäßig der zweifelhafte Ruhm zuteilwird, dass ihr Name in der Klatschpresse steht, und deren Leben von einem begierigen Publikum verfolgt wird, müssen ab und zu die Stadt verlassen. Wie viele hohe Tiere der feinen Gesellschaft mochten sich wohl schon den Händen der Cunard Company anvertraut haben, deren Zwölf-Uhr-Dampfer sich auf seinem Weg von New York nach Frankreich gerade entschlossen vom Dock entfernte? Die Menschen auf den Holzplanken des Kais schrumpften ebenso wie die hinter ihnen aufragende Stadt. Die herausgeputzten Damen und Herren, die sich an die Reling drückten, konnten nicht mal mehr die Taschentücher ausmachen, mit denen man ihnen zuwinkte, auch wenn sie sehr wohl wussten, was für feine Stickereien auch jetzt noch in der schwülen Sommerluft flatterten. Ob die Reisenden wohl mit Liebe oder Heimweh oder doch eher Verbitterung auf ihre Heimatstadt zurückblickten? Waren sie froh, sie Block um Block vorbeiziehen zu sehen, oder vermissten sie schon jetzt die Salons und dämmrigen Clubs, den grünen Park in der Mitte und die Herrenhäuser am Stadtrand?

Da, mochten die feinen New Yorker beim Blick zurück auf ihre Stadt denken. Wenn ich dieser Straße folgen würde, käme ich zum Haus von Mamie Fish. Und der Weg führt dorthin, wo die William Schoonmakers wohnen. Da geht es zur Villa Buck, und wenn man dort entlangläuft, landet man unweigerlich bei einem der vielen Gebäude der Astors.

Vielleicht kam den Leuten auf dem Dampfer beim Anblick dieser Wahrzeichen in den Sinn, dass sie immer schon in einer Welt gelebt hatten, die ihre Kinder entweder fest an ihren Busen drückte oder sie fortschickte, damit sie wie Verbannte rastlos umherzogen. Welchen Kränkungen oder Peinlichkeiten, welchen erstickenden Ehen oder unverzeihlichen Taten oder gesellschaftlichen Fehltritten wollten die Reisenden unter dem wolkenlosen Julihimmel wohl entfliehen?

In jedem glänzenden Augenpaar, das in diesem Moment einen letzten Blick auf die Heimatinsel warf, schimmerte auch eine gewisse Sehnsucht nach dem, was zurückblieb. Doch der Abschiedsschmerz ließ mit jeder Sekunde nach, während die Spannung auf das, was vor ihnen lag, weiter zunahm. Das galt besonders für ein Mädchen, das, sagen wir, erst vor Kurzem erfahren hatte, wozu Herzen fähig sind oder auf welche Pfade die Liebe und eine gesunde Neugier führen können; ebenso wie für einen jungen Mann, der zum ersten Mal erlebte, was es bedeutet, Brücken ein für alle Mal hinter sich abzubrechen und auf eigenen Füßen stehen zu müssen. Schließlich braucht es kaum mehr als ein paar Jahre, bis wirklich jeder gelernt hat, dass nichts bleibt, wie es ist, und wie schnell sich alles verändern kann. Und am Ende erkennt man, dass dieses so glorreiche wie groteske Leben in den Häusern, die man heute noch für elegant hält, schon bald als ziemlich kurios und antiquiert gelten wird. New York wird es immer geben, aber die Stadt wird von Tag zu Tag fremder, und dort auszuharren, garantiert nicht, dass sie so bleibt, wie sie ist.

Letzten Endes kommt es darauf auch gar nicht an, denn die Besitzer dieser Augenpaare mussten gehen, und das Ufer war schon so weit entfernt, dass allein der Gedanke, über Bord zu springen und zurück an Land zu schwimmen, längst unmöglich war. Es gab kein Zurück mehr.

1

Während die junge Miss Holland, Diana, sich in Paris aufhält, wo sie den letzten Schliff bekommt, bleibt die New Yorker Gesellschaft einsam zurück und muss sich vorerst mit weniger strahlenden Schönheiten begnügen. Aber manche unter uns erinnern sich an jene schokoladenbraunen Augen und glänzenden Locken und verkriechen sich missmutig in den Ecken, während alle auf ihre Rückkehr warten.

– Aus der Gesellschaftskolumne des New York Imperial, Freitag, den 6. Juli 1900

Morgens schlenderte sie gerne an der Ufermauer entlang. Sie ging immer alleine und begegnete für gewöhnlich nur ein oder zwei Herren, deren Gehstöcke auf dem Pflaster klickten, denn die Einheimischen kamen lieber erst später heraus, um nach der Siesta einen Spaziergang zu machen. Das Wetter war seit Kurzem umgeschlagen, gelegentlich fegte das Meer über den Gehweg, was ihr anfangs Angst eingejagt hatte. Doch seit einem feuchten Freitag Anfang Juli betrachtete sie das Ganze als eine Art Taufe. Die Macht des Meeres – wie sie gestern Abend kurz vor dem Einschlafen in ihr Tagebuch geschrieben hatte – wühlte sie auf und beruhigte sie gleichzeitig, sodass sie sich jedes Mal wie neugeboren fühlte.

Sobald sie den Paseo del Prado überquert hatte, wandte sie sich Richtung Altstadt, ein wunderbarer Ort mit schattigen Arkaden und gewundenen Straßen, wo man hin und wieder einen Blick in gekachelte Innenhöfe voller Pflanzen und Bäume erhaschen konnte. Dort hielten sich mehr Leute auf, standen an Torbögen gelehnt herum oder saßen an Tischen auf den zahlreichen Plätzen der Stadt. Sie trug einen breiten herabhängenden Strohhut und hatte sich die Haare im Nacken hochgesteckt, um zu verbergen, wie merkwürdig kurz sie waren. Nicht, dass das eine Rolle gespielt hätte – sie war eine Fremde; alles, was an ihr merkwürdig wirkte, wurde sowieso von dieser Tatsache verschluckt. Hier erkannte sie niemand; den Habaneros, denen sie auf der Straße begegnete, war es egal, dass sie Diana Holland war.

Denn das war ihr richtiger Name, der in anderen Teilen der Welt eine gewisse Bedeutung hatte und bestimmte Schlussfolgerungen nach sich zog. Zum Beispiel, dass man sie von klein auf gelehrt hatte, außerhalb ihres Elternhauses niemals die Haut ihrer Hände zu entblößen oder sich auf den Straßen ihrer Heimatstadt nie ohne Begleitung sehen zu lassen. Und obwohl sie diese strikten Regeln regelmäßig ignoriert hatte, hatte sie erst herausgefunden, wie es sich anfühlte, die Verbote ihrer Heimatstadt wirklich vollkommen los zu sein, als sie nach Kuba gekommen war. In ihrem hellen, weit geschnittenen Kleid, in den Straßen einer fremden Hauptstadt war sie auf eine gewisse Weise gleichzeitig auffällig und unsichtbar. Sie war anonym, ein Zustand, der ihr so wie das Meer das wunderbare Gefühl gab, ein ganz neuer Mensch zu sein und alles mit ungetrübtem Blick sehen zu können.

Das Meer lag nun hinter ihr, die schiefergrauen Wolken, die sich über der Bucht zusammenballten, verdrängten allmählich den blauen Himmel. Das Grün der Palmen hob sich unerwartet frisch und klar gegen den grauen Hintergrund ab. Die Luft war stickig und schien bereits den nächsten Regenschauer anzukündigen. Das Wetter versprach nichts Gutes, doch für sie hatte diese eigentlich bedrückende Atmosphäre etwas Befriedigendes. Die in dunkle Farbtöne getauchte Landschaft und die Unheil verkündende Stimmung, die in der Luft lag, all das wirkte auf sie wie ein Ausdruck dessen, wie es in ihrer Seele aussah. Früher oder später würde der Wolkenbruch kommen, zuerst mit einzelnen dicken Tropfen, dann mit dichten Regenschleiern, die die gestreiften Markisen durchnässen und die Rinnsteine überfluten würden. Es war noch nicht lange her – Wochen höchstens, auch wenn es sich manchmal wie eine Ewigkeit anfühlte –, dass sie nach Havanna gekommen war, doch Wetterwechsel bekam sie schnell mit. Dieser hatte die Farbe von Kummer und Leid – wenn einer das erkennen konnte, dann war sie es.

Sie war allein und Tausende von Meilen weit weg von zu Hause, trotzdem war natürlich nicht alles Leid und Kummer. Wenn jemand nachgebohrt hätte, hätte Diana zugeben müssen, dass ihr hier in Wahrheit nur eines fehlte. Nicht einmal der Verlust ihrer Lockenpracht war wirklich bitter gewesen. Sie hatte sich die Haare wegen Henry Schoonmaker abgeschnitten – tatsächlich hatte sie den ziemlich dummen Versuch gestartet, sich freiwillig zur Armee zu melden, und das, obwohl Henry der ehemalige Verlobte ihrer Schwester Elizabeth war und kürzlich eine andere furchterregende Frau geheiratet hatte, deren Mädchennamen Penelope Hayes lautete. Bis jetzt war Diana noch nichts eingefallen, was sie nicht tun würde, um Henry nachzustellen. Vor ihrer Ankunft in Havanna hatte sie an der Bar eines Luxusdampfers gearbeitet und sich davor auf Eisenbahnzügen nach Chicago durchgeschlagen. Da hatte sie noch geglaubt, dass Henry mit seinem Regiment über San Francisco auf dem Weg zum Pazifik war.

An die kurzen Haare, was ja im Grunde eine Selbstverstümmelung gewesen war, hatte sie sich inzwischen gewöhnt, und fehlende Locken konnten die rosige Weiblichkeit von Dianas zierlichem Körper ohnehin nicht schmälern. In den vergangenen Monaten hatte sie gelernt, wozu sie alles fähig war, und dass sie Dinge tun konnte, die sie sich in den behaglichen Zimmern der Stadthäuser des alten New York nie hätte träumen lassen. Im Verlauf ihrer Abenteuer hatte sie kein einziges Mal im Freien übernachten oder ohne Essen ins Bett gehen müssen. Aber Henrys Abwesenheit – wie schwer sie auf ihrem empfindsamen Herzen lastete, war kaum auszuhalten.

Diana war an allen möglichen Orten gewesen, seit ihr jungenhaft kurzes Haar die Armee der Vereinigten Staaten nicht davon überzeugt hatte, sie im vergangenen März zur Grundausbildung antreten zu lassen, doch keiner dieser Orte hatte diesem auch nur entfernt geglichen. Sie wurde auf ihren Spaziergängen das Gefühl nicht los, sich in einer sehr alten Stadt zu befinden – zwar wusste sie, dass New York nicht viel jünger war, aber irgendwie gelang es ihrer Heimatstadt besser, die Vergangenheit zu verdrängen. Ihr gefiel der Gedanke, dass die Kathedralen, an denen sie vorüberging, und die Fassaden mit ihren schmiedeeisernen Ornamenten und den roten Dächern immer noch hochbetagte Konquistadoren bargen.

Offiziell war sie in Paris. Jedenfalls stand es so in den Zeitungen, wobei ihr Freund Davis Barnard, der für den New York Imperial die Gesellschaftskolumne schrieb, ein wenig nachgeholfen hatte. Dank ihm wusste sie auch, dass auch Henry nicht dort war, wo er eigentlich sein sollte – anscheinend reichte der Einfluss des alten William Schoonmaker so weit, dass er seinem Sohn nicht bloß einen ruhigeren Posten auf Kuba verschafft hatte, sondern auch sämtliche New Yorker Zeitungsleute dazu nötigen konnte, Stillschweigen über seine Versetzung zu bewahren. Aber Diana mochte die Vorstellung, dass sie sich beide an einem anderen Ort aufhielten, als alle glaubten. Es war fast so, als würde jeder von ihnen ein Double besitzen, das irgendwo da draußen vor den Augen der Welt brav ihre Rolle spielte, während sich ihr wahres Selbst im Verborgen unaufhaltsam ihrer Bestimmung näherte – bald würden sie sich treffen.

Gerade überquerte sie einen Platz, wo Hunde träge im Schatten lagen und Männer sich an kleinen Tischen vor den Straßencafés über ihre Kaffeetassen beugten. Da sie noch nie in Europa gewesen war, konnte sie es nicht mit Sicherheit sagen, aber die Stadt mit ihrem weit zurückreichenden Gedächtnis und den verfallenden Gebäuden, den Geistern, die in den Gassen zu flüstern schienen, dem Klang der katholischen Glocken und den langen und freundlichen Traditionen wirkte auf sie irgendwie wie ein Stück europäischer Kultur. In der Luft lag der Geruch, der immer aufkam, bevor es zu regnen begann, wenn der staubige Dreck der Stadt noch einmal aufstieg und dann endgültig fortgeschwemmt wurde, und Diana legte in Erwartung des Unwetters einen Schritt zu. Sie wollte nach Hause, in ihre kleine Mietwohnung, in der Hoffnung, nicht komplett durchnässt zu werden.

Sie hatte den Saum des Platzes erreicht und lief nun so schnell, dass sie die Hand heben musste, um ihren Hut fester auf den Kopf zu drücken. Vor ihr gingen zwei amerikanische Soldaten in maßgeschneiderten dunkelblauen Uniformjacken und stahlgrauen Hosen Dianas Blick blieb unweigerlich an dem lässigen Gang des Größeren mit der frech in den Nacken geschobenen Mütze hängen. Seine Schritte zogen ihre Augen wie magnetisch an und wirkten vertraut; einen Moment lang hätte sie schwören können, dass die Sonne durch die Wolken gebrochen war, um die Haut seines Nackens in einen Goldton zu tauchen, den sie sehr gut kannte.

»Henry!«, stieß sie atemlos hervor. Es war ganz Dianas Art, einfach draufloszureden, bevor sie nachgedacht hatte.

Der große Soldat drehte sich als Erster um, eine langsame Bewegung. Dianas Lungen hatten für einen Augenblick den Betrieb eingestellt; ihre Füße fühlten sich an wie störrische Hufe, die sich nicht rühren würden, egal wie sehr sie sie auch drängen mochte. Sie zwang frischen Sauerstoff durch ihre Nasenlöcher, doch da sah sie das Gesicht des Mannes bereits enttäuschend deutlich und erkannte, dass seine Züge zu weich und knabenhaft waren, der Bartwuchs am Kinn zu rötlich, um zu Henry zu gehören. Verwirrung spiegelte sich auf seinen Zügen wider, keine Spur von Wiedererkennen, trotzdem schaute er sie unverwandt an. Sein Mund stand sekundenlang offen, dann grinste er breit.

»Ich heiße nicht Henry«, sagte er gedehnt. »Aber Sie, kleine Lady, können mich nennen, wie es Ihnen gefällt.«

Seine Augen starrten sie weiter an, bis sein Blick ein wenig fiebrig wirkte. Sie konnte nicht umhin, sein Lächeln zaghaft zu erwidern. Bewundert zu werden, war immer eine nette Sache, aber sie hatte nicht vor, sich hier lange aufhalten zu lassen. Den Fehler, sich von Henry ablenken zu lassen, als er ihr noch nicht zu gehören schien, hatte sie früher schon mal gemacht, und die Erinnerung daran erfüllte sie noch immer mit Entsetzen. Es wimmelte in der Stadt von amerikanischen Soldaten, da würde sie dem Richtigen früh genug über den Weg laufen. Da war sie sich so sicher, als hätte das Schicksal selbst es so bestimmt.

Also zwinkerte sie dem hochgewachsenen Soldaten zu – allerdings ohne besonders viel Elan – und lief rasch weiter Richtung Calle Obrapia, wo sie sich für den Abend zurechtmachen wollte. Der Tag war noch jung, alles in der Stadt leuchtete, und irgendwo da draußen war Henry. Deshalb wollte sie sich auf den Tag vorbereiten, an dem ihre Sterne günstig stehen würden und lang getrennte Liebende sich endlich wieder von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten würden.

2

Natürlich hat in letzter Zeit auch niemand Miss Dianas ältere Schwester, die ehemalige Miss Elizabeth Holland, zu Gesicht bekommen. Sie ist inzwischen glücklich mit Snowden Trapp Cairns, dem Geschäftspartner ihres verstorbenen Vaters, verheiratet, und wenn man den Gerüchten Glauben schenken will, wird es im kommenden Herbst ein neues Familienmitglied geben. Wir gratulieren der Familie Cairns. Die entzückende Mrs hat nach ihren erschütternden Erlebnissen im vergangenen Winter, als sie von einem liebestollen ehemaligen Angestellten der Familie Holland entführt wurde und nach einer gewalttätigen Szene in der Grand Central Station nur knapp mit dem Leben davonkam, nichts Geringeres verdient …

– Aus der Gesellschaftskolumne des New York Imperial, Freitag, den 6. Juli 1900

Die Äste über den Wegen im Central Park waren so dick und dicht belaubt, dass es Elizabeth Holland Cairns – die gerade auf dem Samtpolster einer Kutsche mit halb geöffnetem Lederverdeck saß – fast so vorkam, als würde sie durch eine dämmrige Grotte fahren. Es war Sommer, die Luft schwer von Feuchtigkeit, und niemand konnte den Pferden ihre langsame Gangart übel nehmen. Seit dem Tag im Spätwinter, an dem sie in aller Stille einen neuen Namen bekommen hatte, war Elizabeth kaum ausgegangen; es gehörte sich nicht, dass sich eine Dame in ihrem Zustand in der Öffentlichkeit sehen ließ. Doch jetzt war die Hitze so drückend, dass sogar die Wände ihrer Wohnung zu schwitzen schienen, und ihr Mann hatte sie schließlich davon überzeugt, dass ihr eine Spazierfahrt im Park guttun würde. Sie starrte auf die Lichtsprenkel hinab, die den staubigen Weg vor ihr bedeckten, und legte die Hand auf ihren Bauch, der sich als deutliche Wölbung vor ihrer zierlichen Gestalt abzeichnete.

Der angenehme Klang von gemächlichem Hufgetrappel wurde von der Stimme ihres Mannes Snowden unterbrochen. »Wir wollen dich dieser Hitze nicht zu lange aussetzen«, sagte er, bevor er seinen Worten ein sanftes »meine Liebe« folgen ließ.

Solange alle, die sie kannten, zurückdenken konnten, war Elizabeth schon immer die Art von junger Dame gewesen, die sich nicht einfach nur an die üblichen Anstandsregeln hielt, weil es von ihr erwartet wurde, sondern sie hatte ehrliche Freude daran, die Traditionen des guten Umgangs aufrechtzuerhalten. Wurde gegen diese Sitten verstoßen, empfand sie unvermeidlich eine tiefe Scham, aber in diesem Moment war sie nicht nur durch das Faltverdeck, sondern auch durch einen breitkrempigen Strohhut vor neugierigen Blicken geschützt. Seine Worte verpassten ihrer guten Laune einen ordentlichen Dämpfer, denn sie genoss den Duft des Laubes und den gelegentlichen Blick auf einen langen Rock, der vor und zurück schwang, wenn ein Mädchen mit ihrem jungen Begleiter vorbeischlenderte.

Elizabeth verbarg ihre Enttäuschung hinter einem fügsamen Lächeln und neigte ihr herzförmiges Gesicht mit den rehbraunen Augen, um Snowden zuzunicken. Man konnte ihn nicht wirklich als gut aussehend bezeichnen, aber er wirkte gepflegt und sah eigentlich gar nicht übel aus mit seinen ungewöhnlich blonden Haaren, die er dicht am Kopf geschoren trug, und den kantigen Gesichtszügen, die nicht durch irgendeinen Bart versteckt wurden.

»Du weißt es am besten«, fügte sie hinzu, vielleicht aus Respekt oder als eine Art Wiedergutmachung dafür, dass sie jedes Mal, wenn sie das Wort Ehemann aussprach, insgeheim jemand anders meinte. Denn für sie war der verstorbene Will Keller ihr Ehemann, während der Mann, den alle Welt irrtümlich für den Vater ihres Kindes hielt, nichts weiter war als eine Art Schutzschild gegen den kritischen Blick der Gesellschaft. Romantik hatte in dieser Ehe, von der nur sehr wenige wussten, dass es bereits ihre zweite war, nie eine Rolle gespielt.

Der Zweispänner geriet ein bisschen aus dem Gleichgewicht, als Snowden sich vorbeugte, um dem Kutscher neue Anweisungen zu geben, doch Elizabeth hörte ihn kaum. Die Kutsche bog ab, die Pferde zogen sie in eine andere Richtung, aber nichts davon interessierte sie sonderlich. Wenn sie die Augen schloss, war sie wieder mit Will zusammen, lief gemeinsam mit ihm über die sonnigen braunen Hügel Kaliforniens und plante ihr gemeinsames Leben. Sie hatte Will von dem Moment an geliebt, als er begonnen hatte, für ihre Familie zu arbeiten – er war damals noch ein Kind gewesen und durch einen der schrecklichen Brände zur Waise geworden, die durch ganze Wohnblöcke rasten und die dort lebenden Familien in einem irdischen Höllenfeuer einschlossen. Keiner der beiden hatte sich später erinnern können, wann ihre Freundschaft sich in etwas Romantischeres verwandelt hatte, aber nachdem es einmal geschehen war, schien ein ganz neues Leben vor ihnen zu liegen, das allein im Zeichen ihrer Liebe stand. Sie hatten nach Kalifornien zurückkehren wollen, wo sie glücklich gewesen waren, und waren schon fast in den Zug eingestiegen, als eine Handvoll Polizisten sie entdeckt und Will sofort niedergeschossen hatte.

Elizabeth riss abrupt die Augen auf, erschrocken darüber, wohin ihre Gedanken sie geführt hatten. Unter dem Strohhut der ehemaligen Miss Holland brodelte eine Mischung aus bitteren Erinnerungen, momentaner Zufriedenheit und allgegenwärtigen Schuldgefühlen, während ihre Kutsche aus dem Park rollte und auf eine unerwartete Straßenkreuzung zuhielt. Sie befanden sich nun am südlichen Zipfel des Parks, passierten das Plaza und das New Netherland Hotel und überquerten die Fifth Avenue. Ihr Zuhause, eine bescheidene Achtzimmerwohnung im Stadtbezirk Dover, lag an der Park Avenue, in dem Bereich, wo die Straßen mit der Nummer Siebzig begannen, aber sie erkannte jetzt, dass der Kutscher offenbar die Anweisung erhalten hatte, Richtung Downtown zu fahren. Ihre Lippen teilten sich, ihre Augen huschten zu ihrem Mann hinüber. Doch er schaute sie nicht an und sie gehörte nicht zu den Frauen, die ihren Mann infrage stellten.

Elizabeth bemerkte erleichtert, dass sie die Madison Avenue entlangfuhren. Hier war es weniger wahrscheinlich, dass sie erkannt wurde, und wenn doch, war sie sich sicher, dass es nur Leute sein würden, die genug Erziehung besaßen, um nicht zu erwähnen, dass sie die jungfräuliche Prinzessin der Elite von Manhattan in ihrem angeschwollenen Zustand in der Öffentlichkeit entdeckt hatten. An der Fifth Avenue stand eine Stadtvilla neben der anderen: allesamt protzige Monumente der weltlichen Errungenschaften ihrer Besitzer, damit die Leute sie begaffen konnten, so, wie die Bewohner selbst mit neidischen Blicken die anderen unter die Lupe nahmen. Dort war der Ort für Menschen wie die Hayes, deren einzige Tochter Penelope Elizabeths Gelegenheitsfreundin war und die, wenn man sie ließ, sich stets für das Kleid entscheiden würde, das aller Voraussicht nach sämtliche Aufmerksamkeit auf sie allein lenken würde. Inzwischen hieß es jedoch, dass Penelope eng mit der Erbin Carolina Broad befreundet war, die in ihrem früheren Leben Elizabeths Kammerzofe gewesen war. Heute Abend gab sie eine Party und alle hatten sich förmlich darum gerissen, eine Einladung zu ergattern, als wäre Linas Stammbaum nicht völlig frei erfunden. In diesem Moment waren an jener hochmütigeren Avenue und überall sonst vermutlich alle damit beschäftigt, sich für diesen Anlass herauszuputzen. Die Gäste waren natürlich andere als noch vor anderthalb Jahren, als Elizabeth die Debütantin war, die alle Welt kennenlernen wollte. Ihr wurde beinahe schwindelig bei dem Gedanken, wie schnell sich die Kulisse geändert hatte. Doch jetzt fuhren sie über die Madison, wo die alteingesessenen Familien in hübscheren, stilleren Häusern lebten, ihre Traditionen hochhielten und augenscheinlich nicht diesen unstillbaren Hunger besaßen, von allen gesehen und bewundert zu werden. Elizabeth war erleichtert, heute keine Abendgesellschaft besuchen zu müssen und spürte bei dem Gedanken daran, wofür die Fassaden dieser Sandsteingebäude standen, fast so etwas wie inneren Frieden in sich aufsteigen.

»Wohnen da nicht die Harman Livingstons?«, fragte Snowden sie nach längerem Schweigen und wies auf ein steinernes Herrenhaus an einer Ecke. Sie lächelte und nickte, denn obwohl sie sicher war, dass ihr Mann die Antwort kannte, erlaubte er ihr damit, die Reiseführerin in ihrer Heimatstadt zu spielen, und sie freute sich über die Gelegenheit, ihm wenigstens mal einen kleinen Gefallen tun zu können.

»Und dort die Whitehall Vanderbilts?«

Wieder nickte Elizabeth und während sie weiterfuhren, beantwortete sie brav seine Fragen und machte ihn sogar ihrerseits auf die eine oder andere Sehenswürdigkeit aufmerksam. Irgendwie tat es gut, Snowden etwas bieten zu können, auch wenn es sich lediglich um ein paar unbedeutende Informationen handelte. Das schöne Gefühl verschwand erst, als sie ihn sagen hörte: »Und dort die Cuttings?«

»Oh, ja.« Elizabeths Stimme wurde zu einem Flüstern und sie drehte sich so abrupt zu dem Haus um, dass zum ersten Mal an diesem Nachmittag genügend Licht auf ihre feinen Gesichtszüge fiel, dass die Passanten hier sie tatsächlich hätten erkennen können.

Denn der einzige männliche Erbe des Schifffahrtsvermögens der Cuttings war ein junger Mann namens Teddy, der ihr, als Will noch lebte, zwei Mal einen Heiratsantrag gemacht hatte, ohne dass sie oder irgendwer sonst ihn allzu ernst genommen hatte. Schließlich war er Teddy, ihr Freund, der bei der Beerdigung ihres Vaters neben ihr gesessen hatte und ein so stiller, empfindsamer Typ war, dass er für sie damals fast unsichtbar gewesen war, als sie selbst nichts anderes als den strammen Burschen im Kopf gehabt hatte, der im Kutschenhaus ihrer Familie wohnte.

Im vergangenen Winter, als sie mit ihrer alten Freundin Penelope nach Florida gereist war, hatte Teddy andeutungsweise von den Gefühlen gesprochen, die er noch immer für sie hegte. Und in dem kurzen Zeitfenster zwischen dem Tag, an dem sie erkannt hatte, dass sie ein Kind unter dem Herzen trug, und seinem Eintritt in die Armee hatte sie gehofft, dass er ihr noch einmal einen Antrag machen würde. Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich sogar nach einem Kuss oder einer kleinen Zärtlichkeit von ihm gesehnt, aber diesen Wunsch hatte sie seitdem so tief vergraben, dass es ihr schwerfiel, überhaupt daran zu denken. Immerhin stellte diese Sehnsucht den Verrat von nicht nur einem, sondern gleich zwei Ehemännern auf einmal dar. Und selbst wenn ihre Situation anders gewesen wäre: Teddy war inzwischen weit fort auf den Philippinen stationiert und angeblich rechnete Gemma Newbold nach seiner Rückkehr mit einem Antrag.

»Und das Haus da …?«

Elizabeth blinzelte und versuchte, die verwirrenden Schuldgefühle abzuschütteln. Das Haus, auf das Snowden gerade zeigte, war ein gut ausgestattetes dreistöckiges Sandsteingebäude mit hohen Fenstern. Es wirkte elegant und unaufdringlich und stand in der Mitte des Blocks auf der Westseite der Straße. Über dem Eingang prangte ein hübsches Oberlicht aus weißem und goldenem Buntglas. Sie befanden sich auf der Höhe der Hausnummern im Dreißigerbereich, nicht sehr weit von dem Haus am Gramercy Park entfernt, wo sie aufgewachsen war und ihre Familie immer noch lebte. Sie hätte dieses Haus kennen müssen und trotzdem hatte sie keine Ahnung, wer hier wohnte.

»Ich weiß nicht, ob ich …« Sie runzelte die Stirn und wandte sich ihm zu.

»Ich glaube«, begann Snowden, während sich ein Lächeln auf sein Gesicht stahl und er ihren Blick festhielt, »dort wohnen die Snowden Cairns.«

»Wie bitte?« Elizabeths Hand fuhr unwillkürlich nach oben, um sich über ihr Herz zu legen. Eine Welle der Dankbarkeit breitete sich in ihrer Brust aus und drängte die Schrecken der Vergangenheit ein wenig zurück. Genau so ein Haus hätte sie selbst ausgesucht: groß, aber nicht pompös, ein ernster und stattlicher Bau, ganz im Zeichen der althergebrachten New Yorker Vorstellung von Vornehmheit.

»Das Baby kommt bald«, sagte Snowden schlicht. »Da möchte ich, dass meine Frau ein angemessenes Zuhause hat.«

Elizabeth starrte das Haus an, in dem sie ihr Kind großziehen würde, und war mit jeder Sekunde mehr davon überzeugt, dass dies der richtige Ort war. »Oh, danke, Mr Cairns, vielen, vielen Dank«, platzte es aus ihr heraus, sobald sie die Sprache wiedergefunden hatte. Sie sah ihn blinzend an, noch immer ein wenig benommen, weil sie es nicht fassen konnte. Sie hatte unglaubliches Glück gehabt, rief sie sich ins Gedächtnis; in Zukunft sollte sie sich wohl besser häufiger daran erinnern, das nicht zu vergessen. Jetzt am Spätnachmittag schwoll der Verkehrslärm an, und die Gebäude ringsum nahmen im schwindenden Sonnenschein einen warmen Goldton an. Das echte Lächeln, das der Anblick des Hauses auf Elizabeths Gesicht gezaubert hatte, ließ nicht nach. Dann beugte sich Snowden zu ihr herüber und tat etwas, das er noch nie gewagt hatte. Er presste seinen Mund auf Elizabeths Lippen und küsste sie.

Bisher hatte es zwischen ihnen nie auch nur einen Hauch von Romantik gegeben, und der Schock, den seine Geste in ihr auslöste, war wie ein Eimer kaltes Wasser, der über ihrem Kopf ausgeschüttet wurde. Vermutlich wirkte sie so aufgebracht, wie sie sich fühlte, denn Snowden tätschelte ihr im nächsten Moment das Knie, als wäre er ein Großvater und sie ein kleines Mädchen, das abends zu lange aufgeblieben war.

»Wir können einziehen, sobald es dir recht ist«, erklärte er im formellen Ton, bevor er sich vorbeugte und den Kutscher anwies, sie zum Dover-Bezirk zurückzufahren, wo sie mit dem Packen anfangen konnten. Auf der Rückfahrt schaute er kein einziges Mal zu ihr herüber, und als sie ankamen, war sie überzeugt, dass, falls sie in dem Kuss tatsächlich irgendetwas Lüsternes gespürt hatte, es nur daran lag, dass sie zu viel Fantasie hatte und jede Menge Schuldgefühle mit sich herumschleppte.

3

Obwohl die Spanier eine ordentliche Niederlage eingesteckt haben, bleibt die Lage im Pazifik angespannt, denn die amerikanischen Befehlshaber hatten, bevor sie versuchten, Provinzen mit 200 000 bis 300 000 feindseligen Einwohnern zu halten, nicht die geringste Ahnung, wie groß die Philippinen überhaupt sind. Manche Experten vertreten die Auffassung, dass die amerikanische Militärpräsenz nur etwas mehr als halb so stark ist, wie es zur Befriedung der Region erforderlich wäre. Im Licht dieser Tatsache erscheint der Einsatz mehrerer Adliger aus unserer Stadt umso heldenhafter, unter ihnen Mr Teddy Cutting und Mr Henry Schoonmaker, deren genauer Aufenthaltsort oder Regiment aus Sicherheitsgründen selbstverständlich nicht preisgegeben werden darf …

– Von der Titelseite des New York Imperial, Freitag, den 6. Juli 1900

»Es heißt, dass die Truppen bald heimgeholt werden«, sagte Colonel Copper, während er sich vorbeugte und in einen Weidenkorb mit Rumflaschen, Zucker und frischen Minzblättern griff, um sich einen neuen Drink zu mixen. Der Korb stand auf den polierten hellen Planken eines großen Seglers, der von Henry Schoonmaker durch die Bucht von Havanna gesteuert wurde. Henry trug ein bis zum Brustbein aufgeknöpftes weißes Leinenhemd und eine helle Armeehose. Auf seiner Haut perlte träge der Schweiß, Bartstoppeln überschatteten sein aristokratisch geformtes Kinn, seine Haare waren gescheitelt und mit Pomade gebändigt. Nachdem er sich freiwillig gemeldet hatte, hatte er zunächst darauf geachtet, immer glatt rasiert zu sein, aber das kam ihm inzwischen nicht mehr sonderlich wichtig vor. »Zuerst heim und dann auf die Philippinen, wo sie wirklich benötigt werden.«

Obwohl das Wort heim sein Interesse geweckt hatte, schaute Henry nicht zu ihm herüber. Stattdessen löste er seinen schwarzen Blick von den Wolkengebirgen, die sich über dem blaugrauen Wasser mit den in der Nachmittagsbrise treibenden Schiffen unterschiedlichster Art sammelten, und ließ ihn über die gesamte Bootslänge schweifen, wo eine Handvoll Soldaten, die im Rang alle weit über ihm standen, mit hübschen einheimischen Mädchen tuschelten. Die jungen Damen gaben sich dabei kaum Mühe, ihre Langeweile zu verbergen. Über ihnen blähten sich die elfenbeinfarbenen Segel. Noch musste man sich um das Wetter keine Sorgen machen, obwohl die Sonne nicht mehr so kräftig schien wie bisher und man am Abend oder am nächsten Tag mit einem Unwetter rechnen musste. Das Schiff, das sie von einem spanischen Marineoffizier beschlagnahmt hatten, der sich aus dem Staub gemacht hatte, war genauso gut ausgestattet wie einige, die der Familie Schoonmaker gehörten. Und auch wenn Henry sich auf seinem Platz am Steuer wohlfühlte, fiel es ihm schwer, dem Segeln an diesem Tag irgendetwas abzugewinnen. Er hatte sich damit immer gerne die Zeit vertrieben, aber New York und der Mensch, der er dort gewesen war, erschienen ihm inzwischen weit weg und fremd.

»Heißt das, wir werden bald auf die Philippinen verlegt?«, fragte er mit einer Hand an der Pinne aus poliertem Eichenholz, während er in der anderen seinen Drink hielt. Sein alter Freund Teddy Cutting war im Pazifik stationiert – sie waren zur selben Zeit in die Armee eingetreten, trotzdem hätte ihr militärischer Werdegang nicht unterschiedlicher verlaufen können. Henry hatte immer geglaubt, an so einem Ort zu sterben, wo Teddy gerade war, und wenn nicht gleich zu sterben, dann doch wenigstens in ernsthafte Gefahr zu geraten und herauszufinden, was es hieß, ein Mann zu sein.

Der Colonel hob den Blick, die herabhängenden Schnurrbartspitzen bogen sich durch sein Lächeln ein bisschen zur Seite. »Manche werden sicher verlegt, aber keine Sorge, Sie werden nicht dabei sein, mein Junge.« Als er sich wieder in die Kissen sinken ließ, die überall an Deck verteilt waren, gab die Feldflasche an seinem Gürtel ein gluckerndes Geräusch von sich. Wie alles, was der Colonel trug, war sie ein Zeugnis kostspieliger, sportlicher Männlichkeit. Henry hatte Teddy schon öfters vorgeworfen, ständig alles zu ernst zu nehmen, aber jetzt sehnte er sich nach seinem alten Freund mit dem besonnenen Blick, um der idiotischen Gesellschaft zu entkommen, von der er momentan umgeben war. »Sie sind für mich hier zu wichtig.«

Obwohl es nicht spöttisch gemeint war, konnte Henry nicht anders, als sich verhöhnt zu fühlen. Seine enorme Wichtigkeit bestand nämlich ganz allein in seiner Fähigkeit, bei den Rennen in der Bucht, mit denen sich der Colonel seit der Wahl im Juni und der damit einhergehenden friedlichen Phase vergnügte, kleine und wendige Segelboote zu steuern. Ihm war klar, wie sehr er sich damit lächerlich machte, dass die beruhigenden Worte des Colonels eine Welle der Enttäuschung in ihm auslösten, dennoch hatte er Mühe, den Mann und das Leben unter seinem Kommando nicht als einen einzigen großen Witz anzusehen. Henry hob das Glas an die Lippen und trank einen Schluck, ehe er den Blick abwandte und über das Meer wandern ließ, wo die Schiffe auf dem Weg in den Hafen über das Wasser glitten. Auf der einen Seite der Hafeneinfahrt waren die Schindeldächer und von Arkaden gesäumten Plätze der Altstadt zu sehen, während direkt gegenüber die Festung El Morro – ein furchterregendes Bollwerk aus Stein – finster von ihrer Hügelkuppe herabstarrte.

»Nein, in ein paar Tagen findet das Rennen gegen Lieutenant Colonel Harvey statt, also würde ich jetzt natürlich auf keinen Fall zulassen, dass Sie Havanna verlassen.« Colonel Copper gluckste, und Lieutenant Colonel Harvey stimmte mit ein. Henry warf den beiden einen flüchtigen Seitenblick zu, nahm nur die hervortretenden roten Blutgefäße auf ihren breiten Nasen wahr und wandte sich schnell wieder ab. Es hieß, dass nur neunzig Meilen zwischen Kuba und Florida lagen – manchmal träumte er davon, dass er diese Strecke schwimmend überwand. Als Zivilist war er letzten Winter einmal in Florida gewesen. Dort hatte er einen schrecklichen Fehler gemacht und den Wünschen seiner scheinheiligen Frau nachgegeben. Doch er erinnerte sich auch an die warmen Tage davor, als er noch die Chance auf etwas Wahrhaftiges gehabt hatte. »Wisst ihr, Señoritas, Henry hier kommt aus einer sehr alten, sehr renommierten Familie. Die Schoonmakers zählen angeblich zu den zehn reichsten Familien …«

Henry blinzelte gegen den Wind und empfand fast schon ein bisschen Mitleid mit Colonel Copper. Schließlich erlag er letzten Endes nur dem gleichen Irrglauben wie die meisten anderen: Er glaubte ernsthaft, dass er so sein wollte wie die Schoonmakers und dass es erstrebenswert wäre, Jachten und Herrenhäuser an der Fifth Avenue zu besitzen und den eigenen Namen andauernd in der Zeitung zu lesen – und er konnte unmöglich verstehen, was Henry selbst erst vor Kurzem zu begreifen begonnen hatte. Nämlich, dass all das nur bedeutete, dass es ziemlich schwierig war, das zu tun, was man eigentlich wollte, oder die Frau zu lieben, in die man sich tatsächlich verliebt hatte. Henry hatte ja, um Gottes willen, nicht mal ordentlich Soldat werden können. Colonel Copper hatte Henry gemustert und herausgefunden, dass er einer der Schoonmakers war, um ihn danach quasi mehr oder weniger vom aktiven Dienst freizustellen. Das Ganze hatte Henrys Vision vom Dienst fürs Vaterland und heroischen Erlebnissen ein Ende gesetzt. Seit letztem April begannen für ihn die meisten Tage also mit Segeln und endeten in der stickigen Kaserne, wo er den Namen von Diana Holland flüsterte, während er vergeblich zu schlafen versuchte.

Diana Hollands Liebe war ihm für einen kurzen Moment tatsächlich wie eine sehr reale Möglichkeit erschienen, ein glänzendes, reines Ziel, das seinem bisherigen Leben, all den langweiligen Jahren, einen Sinn gegeben hätte. Doch dann hatte er sich abscheulich benommen und das Leben dieser zauberhaften jungen Frau mit einem grauenvollen Zynismus vergiftet. Wenn er Glück hatte, kehrte er in seinen Träumen manchmal in die Zeit zurück, als sie noch einen Grund gehabt hatte, an ihn und seine Liebe zu glauben. Leider plagten ihn jedoch häufiger Albträume, in denen er ein Zimmer betrat und mit ansehen musste, wie sie in den Armen des Bruders seiner Frau lag. Sein Mädchen hatte dort im Zwielicht gestanden, mit dem Rücken gegen die Wand gepresst, während dieser unverbesserliche Spieler seine Finger nicht von ihr lassen konnte. Diese Szene erregte noch heute Übelkeit in ihm, gleichzeitig war ihm bewusst, dass er diese quälende Erinnerung mehr als verdient hatte. Wenn er daran dachte, wollte er sich am liebsten umbringen, aber hier gab es einfach keine Chance zu sterben. Es sei denn, er trank sich zu Tode, schließlich soff er hier praktisch genauso viel wie in New York. Die einzige Veränderung war die Farbe seiner Haut, die in der Sonne braun geworden war.

»Sind die Ladys hier nicht hübsch und willig?«, hörte er die Stimme des Colonels hinter seinem Rücken, und obwohl Henry sich nicht umdrehte, konnte er sich sehr gut vorstellen, dass Colonel Copper die Mädchen in seinen Armen mit einem anzüglichen Grinsen musterte. »Sie zwinkern und flirten so wunderbar – die Mädchen daheim würden sich das nie erlauben, nicht wahr?«

Henry fühlte sich plötzlich von dem Wunsch übermannt, entweder über Bord zu springen oder sich schleunigst einen ganzen Liter Rum in den Rachen zu kippen. Ersteres schien die heroischere Alternative zu sein, allerdings ging ihm beim Nachdenken auf, dass der Sturz ihn nicht töten, sondern lediglich klatschnass machen würde, dabei war er vor Ärger über das hirnlose Geschwätz des Colonels jetzt schon in Schweiß gebadet.

»Kommen Sie schon, Schoonmaker, hören Sie auf, das Meer anzustarren! Besorgen wir Ihnen lieber ein Mädchen!«

Wut blitzte plötzlich in Henrys dunklen Augen auf, und seine Finger packten die Ruderpinne fester. Als das Boot unter seinen Füßen sich leicht zur Seite neigte, wusste er, dass der Colonel aufgestanden war, trotzdem weigerte er sich hinzusehen. Heißer Zorn wallte in ihm auf, ohne dass er eine Ahnung hatte, woher das Gefühl auf einmal kam. Er wusste nur, dass er die Nase voll von Kuba hatte, von sich selbst und von allen anderen Orten, an denen er jemals gewesen war, und von allem, was er jemals begehrt hatte, mit einer Ausnahme.

»Herr, erbarme dich. Schoonmaker, Ihre Frau wird schon nichts herausfinden. Leben Sie doch mal ein bisschen, solange Sie es noch können. So hübsch kann sie doch unmöglich sein!«

»Es ist nicht meine Frau, wegen der ich mir Sorgen mache!« Henry sprang auf und fuhr zu seinem befehlshabenden Offizier herum. Das Schiff geriet erneut aus dem Gleichgewicht, das Deck schwankte und entlockte den Damen am Bug ängstliche Schreie. Ihm fiel wieder ein, dass eine von ihnen, als sie nervös den Schritt vom Landungssteg an Bord gemacht hatte, ihm gesagt hatte, dass sie Nichtschwimmerin sei. Irgendwo im Hinterkopf machte er sich einen Moment lang Sorgen um ihre Sicherheit, doch dann war er mit den Gedanken wieder woanders. »Aber, ja, die Frau, der ich treu bin, ist durchaus so hübsch.«

»Henry«, fuhr Colonel Copper in gespieltem Ernst fort, »ich bin Ihr Vorgesetzter, und ich bestehe darauf, dass Sie sich vergnügen.«

Die beiden Männer standen sich nun am Heck des Bootes direkt gegenüber. Gleich würde eine Wolke über ihnen vorbeiziehen und die ganze Situation würde vollkommen absurd wirken. Doch es war später Nachmittag, und der Colonel hatte bereits mehrere Drinks intus, während der gerechte Zorn durch Henrys Adern pulsierte wie schwerer Wein. Er begegnete dem Blick des älteren Mannes mit all der Wut und Verwirrung, die er angesichts eines Lebens empfand, das ihn gegen seinen Willen immer wieder nur mit Cocktails am Nachmittag und ziellos dahingleitenden Segelbooten konfrontierte. Keiner von beiden sagte ein Wort, und vielleicht wäre das Schweigen im nächsten Moment schon Gelächter gewichen, hätte ihr Segler nicht in der Bugwelle eines Frachtschiffs zu schaukeln begonnen. Die junge Nichtschwimmerin klammerte sich ungeschickt an ein Tau, um sich festzuhalten. Das Ganze setzte die Mechanik der Takelage in Bewegung: Der Baum schwang über das Bootsdeck und verfehlte Henry nur um Haaresbreite, der erleichtert feststellte, dass er noch feste Planken unter den Füßen hatte. Doch im nächsten Moment hörte er ein lautes Klatschen und Prusten – und erkannte, dass der Colonel nicht so viel Glück gehabt hatte und über Bord ins Wasser gefegt worden war.

Henry musste zum ersten Mal an diesem Nachmittag grinsen. Der Anblick seines Colonels, der im ruhigen, trüben Wasser um sich schlug, war zu komisch, als dass er sich hätte beherrschen können. Die jungen Damen kreischten und krabbelten zum Bug, um zu beobachten, wie dieser alberne Amerikaner mitsamt seiner schicken Uniform in der Bucht absoff. Und dann kreischten sie aufs Neue, als Henry sein Hemd vollständig aufknöpfte, es aufs Deck warf und kopfüber ins Wasser sprang. Er versank tief in der kühlen Stille und in diesem kurzen Moment des Eintauchens kam es ihm so vor, als könnte er Florida vielleicht doch schwimmend erreichen. Das Wasser, so trübe es auch sein mochte, verwandelte ihn irgendwie: Als Henry die Arme um den Colonel schlang, an der Oberfläche Atem holte und ihn über die Reling an Bord wuchtete, war sein Zorn verflogen.

»Alles in Ordnung, Sir?«, fragte er, als er den Colonel aufs Boot hievte. Die gereizte Lethargie, die er eben noch empfunden hatte, war wie weggespült.

»Ja, mein Junge«, gab der Colonel zurück und klopfte Henry auf den durchnässten Rücken. Er wirkte zwar etwas geschockt, schien aber ansonsten in Ordnung zu sein. »War doch alles nur Spaß. Ich werde Ihnen zukünftig keine Vorhaltungen mehr wegen der Mädchen machen, solange Sie sich einen neuen Drink einschenken und wenigstens so tun, als würden Sie sich ein wenig amüsieren.«

»Ja, Sir.« Die Luft fühlte sich jetzt kühler an, also zog Henry rasch sein Hemd wieder an. Als er mit den Knöpfen fertig war, nahm er das frische Glas Rum entgegen, das Harveys Mädchen ihm eingegossen hatte. Weitere Drinks machten die Runde.

»Auf Kuba …«, rief das Mädchen und hob sein Glas. »… y Los Estados Unidos.«

Alle tranken auf eine lange Freundschaft zwischen ihren Ländern, während Henry in Gedanken wie immer seinen eigenen Toast ausbrachte: auf Diana, was auch immer sie zurzeit tun mochte, und auf die winzige Chance, dass sie ihm eines Tages verzeihen würde.

4

Die begehrteste Feier des heutigen Abends gibt Miss Carolina Broad in ihrem neuen Stadthaus an der East Sixty-third Street in der Nähe des Parks. Erwartet werden Berühmtheiten wie der Prinz von Bayern, Mr Reginald Newbold mit seiner Braut Adelaide sowie Mrs Henry Schoonmaker, geborene Miss Penelope Hayes, die sich seit dem Frühjahr von einer kleinen Familientragödie erholt hat und nun womöglich einen Skandal verursachen wird, weil sie bereits so bald wieder ausgeht, während ihr Gatte im Ausland seinem Land dient. Ein geladener Gast indes wird der Abendgesellschaft wohl fernbleiben, nämlich Miss Broads neuer Nachbar Leland Bouchard, der seine Europareise schon mehrfach verlängert hat und dessen Rückreise über den Atlantik nach New York sich wegen ungünstiger Wetterverhältnisse nun weiter verzögert …

– Aus der Gesellschaftskolumne der New York News of the World Gazette, Freitag, den 6. Juli 1900

Die Hitze hier drinnen war drückend, und jedes Stückchen Boden – vom schimmernden Granit der Vorhalle über die polierten Eichenholzstufen der Wendeltreppe bis zum Parkett im Fischgrätmuster, das den Empfangsbereich bedeckte – wurde von glänzenden schwarzen Lederschuhen und wirbelnden Röcken verdunkelt. Der schwere Duft von Parfum und der Klang von zweideutigen Anmerkungen hingen in der Luft und machten es schwer, den Gesprächspartner zu verstehen, wenn die Dame oder der Herr in normaler Lautstärke sprach. Musik spielte, aber nur die besten Tänzer tummelten sich auf dem Parkett, denn das Haus war derart vollgestopft mit Leuten, dass jedes weniger begabte Tanzpaar, das es gewagt hätte, kostbaren Raum für sich zu beanspruchen, giftige Blicke geerntet hätte. Die Gäste drängten sich an der elfenbein- und rosafarben bedruckten Tapete der unteren drei Etagen, und obwohl die Fenster geöffnet worden waren, stand die Luft in den Zimmern immer noch. Aber natürlich dachte niemand daran zu gehen. An diesem Freitag gab es keinen Ort, an dem irgendjemand hier lieber gewesen wäre.

Durchs Gewühl, treppauf, treppab, eilte die Gastgeberin Carolina Broad und versetzte die Menge ein bisschen in Aufregung, wo immer sie auftauchte. Und das lag nicht nur an dem lavendelblauen Seidenkleid, das ihre Schultern entblößte, sich um ihre Hüften schmiegte und hinter ihr her wirbelte wie die Schleppe eines Brautkleids. Der Perlenbesatz des Mieders war so fein gearbeitet, dass er den Gästen womöglich entgangen wäre, hätten die Perlen nicht im Licht der Kandelaber gefunkelt. Es hatte mal eine Zeit gegeben, als sie ihre Schultern lieber versteckt hätte – sie waren breit und knochig und in der warmen Jahreszeit genau wie ihre Nase mit Sommersprossen bedeckt –, doch seit sie das beträchtliche Vermögen ihres früheren Wohltäters Mr Carey Lewis Longhorn geerbt hatte, hatte sie eine ganze Menge dazugelernt. Unter anderem, dass eine junge Dame, wenn sie klug war, immer dazu stand, was sie hatte, und das auch zeigte! Sie stammte aus einer Familie im Westen, die durch Kupferverhüttung reich geworden war, ein Vermögen, das ein wenig bescheidener war als ihr derzeitiger Besitz. Das war jedenfalls die offizielle Version, und ihre nackten breiten Schultern, deren weiße Haut mit rostroten Tupfen verziert war, und die für ihren Mund ein wenig zu großen Zähne schienen ihre Geschichte zu bestätigen. Neuerdings trug es bloß zu ihrer Ausstrahlung bei, wenn sie in einer Situation etwas grob oder ungeschliffen wirkte.

Der Abend war ein Triumph, den sie leider nicht mal ansatzweise genießen konnte. Denn der einzige Mensch, dessen Anwesenheit ihr etwas bedeutet hätte, befand sich irgendwo auf dem Atlantik.

Vielleicht um sich von ihrer Enttäuschung abzulenken, hetzte sie umher und verursachte kleine Wellen und Strudel im Meer der Gäste, die die Flure und Galerien ihres neuen Stadthauses füllten – Nummer 15, ein hohes, schmales Gebäude mit roter Backsteinfassade. Eigentlich hatte sie sich einen der imposanten Monolithen gewünscht, die heutzutage an der Fifth Avenue gebaut wurden, andererseits wollte sie jedoch unbedingt in genau diesem Block wohnen und die Nummer 15 war das einzige Haus gewesen, das zur Verfügung stand. Zu ihrer Überraschung hatte sich diese Entscheidung sogar als vorteilhaft erwiesen. Alle Welt wusste, dass sie sich eigentlich etwas Grandioseres leisten konnte, aber die Zeitungen und die Leute, denen sie an dekadent gedeckten Mittagstafeln begegnete, lobten sie, weil sie sich für etwas entschieden hatte, das elegant war und einer jungen Erbin ohne Familie gut zu Gesicht stand.

Heutzutage wollte jeder in ihrer Nähe sein und ihr am liebsten etwas ins Ohr flüstern – an diesem Abend war es genauso. Carolina lächelte und posierte, und als ihre Wangen sich in der Hitze leicht röteten, brachte dies das Grün ihrer Augen nur noch mehr zur Geltung. Sie tauschte Komplimente mit Mrs Reginald Newbold, geborene Adelaide Wetmore, die mit ihrem neuen Ehemann unter dem lebensgroßen Porträt Stellung bezogen hatte, das Carolina als Reiterin zeigte und über dem Kamin in der Bibliothek im zweiten Stockwerk hing. Es war das größte Porträt aus der Sammlung des verstorbenen Longhorn, die er von den Schönheiten der Geschellschaft hatte anfertigen lassen, und sein letzter Auftrag. Auf halbem Weg die Treppe hinunter begrüßte sie Agnes Jones mit einem warmen Lächeln, mit der ihre Kindheitsfreundin Elizabeth Holland früher aus Mitleid befreundet gewesen war. Agnes war an und für sich kein interessanter Mensch, andererseits fütterte sie – wie Carolina kürzlich herausgefunden hatte – die Klatschspalten der New York News of the World Gazette immer wieder mit schmackhaften Häppchen aus der Gerüchteküche. Wenn man also nett zu ihr war, durfte man damit rechnen, dass man den Dank für diese Freundlichkeit schwarz auf weiß gedruckt in der Zeitung zu lesen bekam. Am Eingang des mit Rosenholz getäfelten Wohnzimmers im ersten Stock flirtete Carolina kurz mit Amos Vreewold, der seinem Ruf, ziemlich platte Komplimente zu verteilen, mal wieder vollkommen gerecht wurde.

Als sie den ganzen Zirkus nicht länger ertragen konnte, löste sie sich aus dem Gedränge und trat an die Fenster, die gen Süden zeigten. Es roch in der sommerlichen Stadt nach Hitze, Laub und auch leicht, aber nicht unangenehm, nach Tieren. Unten standen Pferde, die mit den Kutschern ihrer Gäste am Straßenrand warteten. Sie würden sich wohl noch etwas gedulden müssen, wahrscheinlich bis in die frühen Morgenstunden, wenn die Gesellschaft zur allgemeinen Enttäuschung der Besucher zu Ende gehen würde. Carolina nahm einen tiefen Atemzug – es kam ihr so vor, als hätte sie seit einer Ewigkeit nicht mehr richtig Luft geholt –, dann tat sie etwas, das sie fast jeden Tag und an manchen Tagen sogar jede Stunde machte: Sie ließ ihren Blick an der Häuserzeile entlangwandern, bis zu der Kalksteinvilla mit der in die imposante Fassade gemeißelten Hausnummer 18. Dort lebte Leland Bouchard – zumindest, wenn er in der Stadt war, was jedoch seit Monaten nicht mehr der Fall gewesen war.

Für einen Augenblick keimte die Hoffnung in ihr auf, er könnte endlich zurückgekehrt sein, doch dann sah sie, dass die Fenster noch immer so dunkel und unergründlich waren wie schon seit Monaten. Sie schluckte niedergeschlagen und ließ die Schultern hängen. Leland hätte bereits vor zwei Tagen aus Europa heimkehren sollen – das wusste Carolina, weil seine Abreise aus Paris in den Klatschspalten angekündigt worden war. Aus keinem anderen Grund hatte sie beschlossen, an diesem Abend eine Party zu veranstalten, aus keinem anderen Grund hatte sie sich überhaupt erst für dieses Haus in diesem Straßenblock entschieden. Doch dann hatte das stürmische Wetter die Abfahrt seines Schiffs verzögert und ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht, sodass er nicht rechtzeitig zurückgekommen war, um bei der Einweihung ihres Hauses dabei sein zu können.

In Florida hatten sie ein paar wirklich perfekte Tage miteinander verbracht – sie hatten ständig zusammen getanzt und waren völlig voneinander verzaubert gewesen –, aber das war im Februar gewesen. Ein-, zweimal hatte sie sich eingebildet, dass die Worte »Heirate mich« über seine Lippen kamen, auch wenn dann alles natürlich sehr schnell gegangen wäre. Das letzte Mal hatte sie ihn in New York gesehen, als es noch bitterkalt gewesen war und sie geglaubt hatte, dass ihr Traum von einem Leben in der feinen Gesellschaft ein jähes Ende gefunden hätte. Doch dann war sie plötzlich und völlig unerwartet sehr, sehr reich geworden – und ihre größten Ängste hatten sich allesamt in Luft aufgelöst. Nun träumte sie jede Nacht von dem Moment, in dem er endlich durch ihre Tür kommen und sehen würde, zu was sie es inzwischen gebracht hatte. Das Warten war eine Qual, die sie nur lindern konnte, wenn sie trübsinnig aus dem Fenster Richtung Süden auf sein Haus blickte und versuchte, die Lichter im Inneren mit reiner Willenskraft anzuzünden.

»Aber, Miss Broad, was in aller Welt starren Sie da so unverwandt an?«

Carolina fuhr zu schnell herum, um noch rechtzeitig verbergen zu können, dass ihre Wangen erröteten. Penelope Schoonmaker kam auf sie zu, hochgewachsen und im Glanz ihrer alten, zinnoberroten Herrlichkeit, die sie seit ihrer kleinen »Unpässlichkeit« im vergangenen Frühjahr nicht mehr so üppig zur Schau gestellt hatte. Miss Broad blinzelte und küsste Mrs Schoonmaker auf beide Wangen. Obwohl Carolina bei Penelopes Hochzeitsfeier gewesen war und damit bewiesen hatte, dass sie eine junge Dame von Bedeutung war, waren sie nicht so eng befreundet, dass sie sich wohlgefühlt hätten, sich gegenseitig ihre Schwächen zu zeigen. Die Einzige, die wusste, wie tief Carolinas Gefühle für Leland waren, war ihre ältere Schwester Claire, die nach wie vor als Hausmädchen für die Hollands arbeitete und jedes pikante Detail aus dem Leben ihrer kleinen Schwester in der eleganten Welt genoss. Aber natürlich war ständig etwas los, besonders im Leben einer Erbin, sodass die Schwestern sich schon seit Wochen nicht mehr zu einem ihrer Geheimtreffen hatten verabreden können. Oder waren seitdem bereits Monate vergangen?

»Dein Haus ist sensationell«, bemerkte Mrs Schoonmaker einen Augenblick später. Die beiden Frauen musterten sich wie argwöhnische Verbündete. Carolina spürte einen Hauch von Befriedigung, als ihr auffiel, dass Penelope ihre feinsten Brillanten an ihrem schlanken Hals und ihrem alabasterfarbenen Dekolleté trug und dass ihr ovales Gesicht mit enormer Sorgfalt zurechtgemacht war. Es war weder für die Gastgeberin noch für sonst jemanden zu übersehen, dass sie diesen Abend nicht auf die leichte Schulter genommen hatte.

»Du musst bald wiederkommen und es dir mal in Ruhe anschauen, wenn wir unter uns sein können«, gab Carolina mit kultivierter Stimme zurück. »Jetzt, wo du ja wieder ausgehen kannst.«

»Es wäre mir eine Freude.« Penelope lächelte dünn. Eine gewisse Schärfe trat in ihre runden blauen Augen. Als sie weitersprach, legte sie einen Hauch von gekünstelter Sorge in ihre Stimme. »Aber jetzt verrate mir doch bitte – was genau schaust du dir da so angestrengt an? Du darfst dich doch während deiner ersten großen Abendgesellschaft durch nichts ablenken lassen.«

»Nein.« Die Ironie in Carolinas Tonfall war kaum zu überhören, auch wenn sie augenscheinlich zuzustimmen schien. Es juckte sie immer noch, sich umzudrehen und einen weiteren Blick auf Lelands leeres Haus zu werfen. »Natürlich nicht.«

»Allerdings hätte ich Agnes Jones an deiner Stelle nicht eingeladen«, fuhr Penelope fort und wandte sich mit abschätzigen Blicken den übrigen wohlhabenden New Yorkern zu, die sich in allen Winkeln des Raumes drängten und den Türrahmen verstopften. »Andererseits bin ich erleichtert, dass diese Geschiedene, Lucy Carr, diesmal offensichtlich nicht dabei ist. Ein Jammer nur, dass Leland Bouchard nicht rechtzeitig zurück war …« Sie legte eine bedeutungsschwangere Pause ein. »Oh, schau mal, gerade sind in seinem Haus die Lichter angegangen!«

Carolina spürte, wie ihr Mund trocken wurde und ihre Lippen sich teilten. Einen Augenblick lang zwang sie sich selbst, sich nichts anmerken zu lassen, und begegnete stattdessen weiter trotzig dem schelmisch wissenden Blick ihrer Freundin. Doch der Wunsch war zu groß. Sie fuhr herum und starrte hinaus auf die Straße. Die Szenerie, die sie seit ihrem Einzug in die Nummer 15 so oft betrachtet hatte, hatte sich plötzlich verwandelt. Auf einmal brannte dort drüben Licht, und die Fenster waren geöffnet worden. Ein riesiger Haufen Gepäckstücke wurde aus einem Automobil die Treppen hinauf ins Haus getragen, das nicht länger düster, sondern warm und einladend wirkte.

»Entschuldige mich«, flüsterte sie und setzte sich in Bewegung, ohne Penelopes Reaktion abzuwarten. In diesem Moment war es ihr egal, was die Frau von ihr denken mochte. Sie musste unbedingt ihren Butler finden und ihn losschicken, um Leland zu holen.