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Was ist eine Verschwörungstheorie? Wer glaubt daran und warum? Welche Folgen ergeben sich daraus für Gesellschaft, Politik, Gesundheit und Social Media? Der Band betrachtet das Phänomen des Verschwörungsglaubens aus verschiedenen psychologischen Blickwinkeln und stellt diese in einen interdisziplinären Diskurs. Leserinnen und Leser erhalten so einen Überblick über die aktuelle Forschung zu Verschwörungsnarrativen, inklusive der so wichtigen Widersprüche, Uneinigkeiten und Debatten. Der erste Teil des Bandes beleuchtet die kognitiven Grundlagen von Verschwörungstheorien und den Einfluss von kognitiven Verzerrungen. Es wird der Frage nachgegangen, wie ein verschwörungstheoretisches Weltbild im Lebensverlauf entstehen kann. Zudem wird die Rolle von Verschwörungsglauben im politischen Diskurs, den sozialen Medien und in Bezug auf das persönliche Gesundheitsverhalten diskutiert. Auch wird auf Möglichkeiten und Grenzen von Interventionen gegen Verschwörungsglauben eingegangen. Im zweiten Teil des Bandes werden diese psychologischen Perspektiven in eine produktive Reibung mit anderen Fächern gebracht. Beiträge aus Philosophie, Geschichtswissenschaft, Linguistik und Kommunikationswissenschaft beleuchten die psychologischen Überlegungen kritisch oder reflektieren die Begrenztheit der psychologischen Methoden. Den Abschluss bildet ein Beitrag zur weltanschaulichen Beratung von Verschwörungsgläubigen und ihren Angehörigen. Der Band vermeidet vorschnelle Vereinfachungen und verfolgt das Ziel, das Phänomen des Verschwörungsglaubens in all seinen Nuancen zu begreifen und weder in die Falle zu tappen, Verschwörungsglauben und seine Konsequenzen a priori zu verdammen, noch diesen zu verharmlosen.

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Roland Imhoff

(Hrsg.)

Die Psychologie der Verschwörungstheorien

Von dunklen Mächten sonderbar belogen…

Prof. Dr. Roland Imhoff, geb. 1977. 1998–2005 Studium der Psychologie in Bonn. 2005–2012 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozial- und Rechtspsychologie der Universität Bonn. 2006–2010 Promotionsstipendiat des Evangelischen Studienwerks Villigst e.V. 2010 Promotion. 2012–2015 Juniorprofessor für Sozialpsychologie an der Universität zu Köln. Seit 2015 Professor für Sozial- und Rechtspsychologie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Arbeitsschwerpunkte: Kategorisierung und Stereotype, Verschwörungsglauben, soziale Vergleiche, Repräsentationen von Geschichte.

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www.hogrefe.de

Umschlagabbildung: © stock.adobe.com / Who is Danny

Satz: Sabine Rosenfeldt, Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

Format: EPUB

1. Auflage 2024

© 2024 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-3179-6; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-3179-7)

ISBN 978-3-8017-3179-3

https://doi.org/10.1026/03179-000

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|5|Geleitwort aus dem DGPs-Vorstand

Als Dietrich Bonhoeffer im Dezember 1944 sein Gedicht „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ schrieb, auf das der Untertitel dieses Buches anspielt, befand er sich in einer verzweifelten Lage. Von der Gestapo im Keller ihrer Berliner Zentrale inhaftiert und der Beteiligung an Umsturzversuchen gegen Adolf Hitler überführt, wartete er auf seine Hinrichtung. Inmitten solcher furchtbaren Umstände glaubte Bonhoeffer trotzdem daran, dass hinter diesem allem eine unzerstörbare Ordnung steht, die es gut mit uns meint und auf die wir vertrauen können. Sein Gedicht legt hiervon in berührender Weise Zeugnis ab.

In gewisser Hinsicht begegnet uns bei dem Thema, mit dem sich dieser Band beschäftigt, das genaue Gegenteil dessen: Unter der Oberfläche von Lebensumständen, die mit der Dramatik der Lage eines Dietrich Bonhoeffers oft wenig bis nichts zu tun haben, werden Ordnungen und Strukturen vermutet, die Böses wollen und uns Schaden entweder gezielt zufügen oder zumindest billigend in Kauf nehmen. Wie aber kommen Menschen dazu, an solche Abgründe zu glauben? Wie entstehen Verschwörungstheorien, wie verbreiten sie sich, woraus speist sich der Glaube an sie? Und lässt sich dieser Glaube auch relativieren; gibt es also zum Beispiel Möglichkeiten der Intervention, wenn Menschen eine regelrechte Verschwörungsmentalität entwickeln?

Mit solchen und anderen Fragen zum Thema „Verschwörungstheorien“ setzen sich die verschiedenen Texte in diesem Buch auseinander. Das Buch leistet damit einen wichtigen Beitrag zum Verständnis von Verschwörungstheorien allgemein und zu ihrer Einordnung in aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen im Besonderen. Darüber hinausgehend leistet das Buch aber auch etwas, was uns als Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs) sehr am Herzen liegt, nämlich das „Einmischen“ unseres Faches in aktuelle gesellschaftliche Debatten. Genau dies hat der Wissenschaftsrat im Jahr 2018 in seinem Bericht zur Lage der Psychologie von unserem Fach gefordert. Die Psychologie verfügt über eine überragende Fülle inhaltlicher Theorien und Modelle, mit denen sie verschiedenste politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Fragen unserer Zeit adressieren kann, sowie über ein Arsenal äußerst fundierter Methoden, um zu evidenzbasierten Antworten auf diese Fragen zu kommen. Wir Psycholog:innen sind aber typischerweise deutlich zurückhaltender darin, dieses auch offensiv nach außen zu vertreten, als dies Ver|6|treter:innen manch anderer Disziplinen – wie zum Beispiel der Medizin oder der Ökonomie – sind. Wenn es also darum geht, psychologisches Wissen in die Gesellschaft zu tragen, gesellschaftlich relevante Themen vor dem Hintergrund psychologischer Expertise einzuordnen, Erklärungen zu liefern und relevanten Entscheidungsträger:innen Handlungsempfehlungen anzubieten, dann haben wir als Fach noch „Luft nach oben“.

Eine der Maßnahmen, die der Vorstand der DGPs ergriffen hat, um die Erfüllung der „Third Mission“ unseres Fachs zu stärken, ist die Gründung von Task Forces zu aktuellen Fragen unserer Zeit. Als eine dieser Task Forces wurde im Jahr 2020 die Task Force „Verschwörungstheorien“ ins Leben gerufen, der der Herausgeber und einige Autor:innen des vorliegenden Bandes angehören. Die erste Aufgabe dieser Task Force bestand darin, den Wissensstand über Verschwörungstheorien zusammenzutragen und für die interessierte Öffentlichkeit in kurzer, allgemein verständlicher Form auf der Website der Task Force bei der DGPs aufzubereiten. Das Ergebnis dieser Arbeit ist einsehbar unter https://www.dgps.de/schwerpunkte/task-force-verschwoerungstheorien/. Für alle diejenigen, die es genauer wissen möchten, als es im Rahmen kurzer Antworten auf FAQs möglich ist, wird das nun vorliegende Buch eine große Hilfe sein.

Das vorliegende Buch ist aber nicht nur ein Beispiel dafür, dass sich die wissenschaftliche Psychologie an aktuellen gesellschaftlichen Debatten beteiligt, sondern auch dafür, wie eine solche Beteiligung aussehen sollte: Auf hohem Niveau werden in den Buchkapiteln Forschungserkenntnisse zu Verschwörungstheorien zusammengetragen, in einen erklärenden Rahmen eingebettet und auf Praxisbeispiele übertragen. Die Arbeit der psychologischen Autor:innen dieses Buches ist geleitet von einem Wissenschaftsverständnis, wie es die DGPs stellvertretend für ihre forschenden und lehrenden Mitglieder propagiert: Wissenschaftliche Erkenntnisse beruhen auf theoriegeleiteten und evidenzbasierten Forschungsprozessen. Schlussfolgerungen über das menschliche Erleben und Verhalten müssen empirisch begründbar sein, Forschungserkenntnisse objektiv aufbereitet werden, und der Gültigkeitsrahmen für die Erkenntnisse sollte dabei immer mitberücksichtigt und kommuniziert werden.

Um dem Anspruch an eine differenzierte wissenschaftliche Auseinandersetzung gerecht zu werden, geht das vorliegende Buch nochmals einen Schritt weiter. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Erkenntnisstand zu Verschwörungstheorien erfordert nämlich, die Interdisziplinarität dieses Forschungsgebietes zu berücksichtigen. Folglich bleibt der Fokus der Buchbeiträge nicht bei der empirisch orientierten wissenschaftlichen Psychologie stehen, sondern wird ausgeweitet auf benachbarte Wissenschaftsdisziplinen, die sich ebenfalls mit der Erforschung von Verschwörungstheorien beschäftigen, wie der Literatur- und Kulturgeschichte, der Philosophie, der Kognitionslinguistik und der Kommunikationswissenschaft. Durch die Beiträge dieser benachbarten Disziplinen wird die empirisch-psycho|7|logische Sicht um andere Zugänge zu Verschwörungstheorien (z. B. qualitative, erkenntnistheoretische) ergänzt und mit diesen kontrastiert. Durch dieses Vorgehen wird die aktuelle Erkenntnislage auf hohem wissenschaftlichem Niveau zusammengetragen, und die Qualität des wissenschaftlichen Diskurses wird auf eine breite Basis gestellt.

Dieses Buch richtet sich daher, seinem ganzheitlichen Ansatz entsprechend, auch an eine breite Zielgruppe: Für Wissenschaftler:innen aller Disziplinen, die sich einen Überblick über den aktuellen wissenschaftlichen Stand mit dem Fokus auf psychologischer Forschung und deren Einordnung in das weitere Forschungsfeld verschaffen möchten, stellt es eine hervorragende Einstiegslektüre dar. Dieses Buch eignet sich aber ebenso gut für Lehrer:innen, die zum Beispiel Geschichte oder Politische Bildung unterrichten, und die mit Schüler:innen einen kritischen Blick auf politische Einstellungen und gesellschaftliche Entwicklungen nehmen möchten und sich anhand der in diesem Buch skizzierten Ideen und Theorien einen ganzheitlichen Zugang zum Thema verschaffen möchten. Und nicht zuletzt richtet sich das Buch auch an „Privatpersonen“, die sich aus Interesse einem gesellschaftlich relevanten Thema fundiert annähern möchten.

Vor dem Hintergrund dieser breiten Ausrichtung hoffen wir, dass auch möglichst viele Personen, die sich bisher noch nicht viel mit wissenschaftlicher Psychologie beschäftigt haben, dieses Buch mit Gewinn lesen werden. Denn dieser Gewinn sollte nicht nur darin bestehen, dass sie hinterher ein besseres und fundierteres Verständnis von Verschwörungstheorien, ihrer Historie, ihrem Wesen, ihren Ursachen und den Mechanismen ihrer Verbreitung haben. Sondern der Gewinn kann und wird hoffentlich auch darin bestehen, zu verstehen, wie man ganz grundsätzlich aus wissenschaftlicher Perspektive Phänomene fundiert, ergebnisoffen und evidenzbasiert untersucht. Als Fachgesellschaft der wissenschaftlichen Psychologie sind wir zutiefst davon überzeugt, dass ein solcher Zugang nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse hervorbringt, sondern dass er als generelle „Brille“ auch im eigenen Alltag hilft, wenn man sich beständig fragt, wie plausibel Vermutungen, die man anstellt, vor dem Hintergrund bestehenden Vorwissens sind, welche Evidenz sich für oder gegen diese Vermutungen finden lässt, und ob es nicht auch sehr plausible Alternativen zu den eigenen Vermutungen gibt. Damit wird man zwar nicht ohne weiteres zum unerschütterlichen Gottvertrauen eines Dietrich Bonhoeffers kommen, aber zumindest in angemessener Weise hinterfragen, ob man denn gerade wirklich von bösen Mächten sonderbar belogen wird.

Göttingen, Herbst 2023

Prof. Dr. Stefan Schulz-Hardt

Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs)

Inhaltsverzeichnis

1  Von der Verschwörung zur Theorie, dem Glauben, der Mentalität und wieder zurück – Verschwörungstheorien als psychologisches Forschungsfeld

I.  Psychologische Perspektiven

2  Verzerrte Informationsverarbeitung als Quelle und Folge von Verschwörungsglauben

3  Verschwörungsglauben in der Jugend

4  Verschwörungsglauben im politischen Denken und Handeln

5  Verschwörungstheorien in sozialen Netzwerkseiten und Messenger-Diensten aus medienpsychologischer Perspektive

6  Verschwörungstheorien aus gesundheitspsychologischer Perspektive

7  Prävention und Intervention gegen den Glauben an Verschwörungstheorien

II.  Interdisziplinäre Perspektiven

8  Die Epistemologie der Verschwörungstheorie

9  Die psychologische Forschung aus Sicht der Kulturgeschichte

10  Nutzung multipler Datenquellen zur Erforschung der Prävalenz von Verschwörungserzählungen

11  Verschwörungstheorien linguistisch erforschen

12  Verschwörungserzählungen in den Massenmedien und ihre Wirkung auf den Verschwörungsglauben im Publikum

13  „Von guten Mächten wunderbar geborgen …“ – Möglichkeiten und Grenzen der weltanschaulichen Beratung für Verschwörungsgläubige und deren Umfeld

Anhang

Die Autorinnen und Autoren des Bandes

Sachregister

|11|1  Von der Verschwörung zur Theorie, dem Glauben, der Mentalität und wieder zurück – Verschwörungstheorien als psychologisches Forschungsfeld

Roland Imhoff

Verschwörungstheorien oder der Glaube daran galten lange nicht wirklich als zentrales Thema wissenschaftlicher Forschungsfragen. Sie führten in den meisten westlichen Nachkriegsgesellschaften weitestgehend ein kulturelles Nischenleben – von raunenden Flugblättern bis hin zu Hollywood-Blockbustern wie Oliver Stones „JFK“. Zwar gab es immer Menschen, die von den Illuminaten, den Rothschilds, ja, der jüdischen Weltverschwörung halluzinierten, aber als ernsthaftes Forschungssujet galt dies nicht. Dies hat sich innerhalb der letzten 10 Jahre rapide gewandelt. Die Psychologie der Verschwörungstheorie ist eines der hot topics der Psychologie geworden, große Forschungsförderungen wurden für das bessere Verständnis des Themas ausgeschüttet und eine thematische Sonderausgabe renommierter Fachzeitschriften jagt die nächste. Dies hat mit vielen Dingen zu tun. Einerseits sind Verschwörungstheorien im Web 2.0 sichtbarer geworden. Ob ihre Anzahl und Verbreitung quantitativ zugenommen haben oder ob sie sogar mehr Anhänger:innen finden, ist dabei gar nicht so leicht feststellbar (vgl. Kapitel 10). Jedoch, trotz allem Geraune von Echokammern, stoßen viele Menschen erst durch das Internet auf Phänomene, die in prä-digitalen Zeiten in eigenen, nicht so leicht zugänglichen gesellschaftlichen Nischen stattfanden. Gesellschaftliche Relevanz wird Verschwörungstheorien zugeschrieben, weil vermutet wird, dass sie ursächlich für eine Reihe problematischer Verhaltensweisen sind. Menschen, die glauben, hinter der COVID-19-Pandemie stecke in Wirklichkeit eine Verschwörung, hielten sich weniger an Abstandsgebote und Maskenpflichten und ließen sich seltener impfen (Bierwiaczonek et al., 2022). Weltweit waren Proteste – zum Teil auch gewalttätige – gegen infektionseindämmende Maßnahmen von verschwörungstheoretischer Rhetorik begleitet. Ein von Behauptungen über einen angeblichen Stimmenklau aufgestachelter Mob von Anhänger:innen des ehemaligen Präsidenten Donald Trump versuchte im Januar 2021 die Bestätigung seines Präsidentschaftsnachfolgers zu stören, indem sie das US Kapitol stürmten. Zahlreiche terroristische Attentäter hinterließen Pamphlete, in |12|denen ein nahezu geschlossenes verschwörungstheoretisches Weltbild erkennbar wurde – von den Anschlägen in Oslo und auf der Insel Utøya durch Anders Breivik im Juli 2011 bis zum rechtsextremen Terrorakt in Hanau am 19. Februar 2020. Das Image von Verschwörungstheorien hat sich also gewandelt von einer belächelten, häufig bizarren Behauptung okkulter Vorgänge hin zu einer Bedrohung demokratisch-westlicher Werte und gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Dies ist unter anderem deshalb bemerkenswert, weil Verschwörungstheorien und auch das ihnen innewohnende Potenzial, menschen- und demokratiefeindliche Stimmungen anzufachen, keineswegs eine neue Erscheinung sind. Die von der nationalsozialistischen Propaganda aufgegriffene und vervielfachte Mär einer jüdischen Weltverschwörung, die letztendlich die industrielle Vernichtung von Millionen Jüd:innen als Notwehr zu rechtfertigen sucht, ist hier nur ein besonders drastisches und verheerendes Beispiel. Verschwörungstheorien benennen Schuldige und lenken so die Aufmerksamkeit und auch die Schuld weg von systemischen Problemen oder Zufällen hin zu Individuen, ihren Entscheidungen und geheimen Plänen. Damit bringen sie immer die Möglichkeit ins Spiel, Schlechtes aufzuhalten, indem den verursachenden Strippenzieher:innen das Handwerk gelegt wird – ganz ohne strukturellen Wandel. Diese Denkfigur identifizierte auch Karl Popper (1956) im von ihm beklagten Vulgärmarxismus, eine Spielart linker Bewegungen also, die statt einer ernsthaften Analyse kapitalistischer Vergesellschaftung eine „Verschwörungstheorie der Gesellschaft“ pflegten, in der negative Dinge passieren, weil sie von mächtigen Eliten geplant wurden. So werden gesellschaftlich komplexe Phänomene und Probleme – von Globalisierung über Migration und Arbeitslosigkeit bis hin zu Pandemien – nicht mithilfe von Eigendynamiken oder zufälligen Prozessen erklärt, sondern als Resultat eines allumfassenden Plans.

Genau dies ist die Minimaldefinition einer Verschwörungstheorie, die sich auch die Taskforce Verschwörungstheorien der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs; Imhoff et al., 2022b) gegeben hat: „Eine Verschwörungstheorie erklärt ein Ereignis oder einen Umstand durch geheime Absprachen einer Gruppe von Personen zu deren Vorteil und dem Schaden der Allgemeinheit.“

Einiges an dieser Definition ist erläuterungswürdig. Zuerst einmal wird von Verschwörungstheorien gesprochen, nicht von -mythen, -erzählungen oder anderen vorgeschlagenen alternativen Begriffen. Kritiker:innen des Begriffes Verschwörungstheorie führen oft an, er würde damit meist unzutreffende und häufig menschenverachtende Behauptungen adeln, indem er sie in den Stand von Theorien erhebe und damit das Antlitz von Wissenschaftlichkeit und Akkuratheit verleihe. Dem ist auf zwei Arten zu begegnen. Einerseits konzeptuell: Es ist keineswegs so, dass alles, was in der Wissenschaft als Theorie firmiert, notwendigerweise wahr, widerspruchsfrei und formalisiert oder auch nur empirisch testbar und entsprechend falsifizierbar ist. Jimmy Carter soll angeblich gesagt haben: „Eine Theorie ist eine Vermutung mit Hochschulbildung“. Andererseits empirisch: Verschwö|13|rungsgläubige fühlen sich keineswegs geadelt oder bestätigt, wenn man ihre Behauptungen als Verschwörungstheorie bezeichnet – im Gegenteil, sie sehen darin einen Kampfbegriff der CIA zur gezielten Diskreditierung der Behauptungen (Nera et al., 2020) oder sind entrüstet, dass es sich angeblich „nur“ um eine Theorie handeln soll, wo es doch die Wahrheit ist. Umgekehrt ist auch die gegenteilige Befürchtung, die Bezeichnung als Verschwörungstheorie würde eine Vermutung diskreditieren und zu weniger Zustimmung führen, empirisch nicht haltbar. Die Bezeichnung hat keinen nachweisbaren Effekt (Wood, 2016).

Eine Verschwörungstheorie ist also die Behauptung an sich. Dieser kann man zustimmen oder nicht. Darin spiegelt sich der jeweils individuelle Verschwörungsglauben. Dieser beschreibt eine psychologische Variable, nämlich das Ausmaß, in dem ein Mensch einer Verschwörungstheorie zustimmt. Tatsächlich zeigen sehr viele Befunde, dass Menschen sich relativ robust und stabil darin unterscheiden, ob sie Verschwörungstheorien zustimmen. Menschen, die Verschwörungstheorie A zustimmen, stimmen mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch Verschwörungstheorie B zu, auch wenn die beiden keinen Bezug zueinander haben. Frühe Forschung vermutete hier eine gegenseitige Stützung am Werk, ein sogenanntes monologisches Glaubenssystem (so der Begriff in Goertzel, 1994). Jede Verschwörungstheorie stütze jede weitere, weil sie zum Beispiel ähnliche Machenschaften, ähnliche Akteur:innen oder ähnliche dahinterstehende Mächte unterstellt. Diese Annahme gegenseitiger Stützung kommt jedoch an ihre Grenzen, wenn erklärt werden soll, wieso die gleichen Menschen tendenziell zwei unterschiedlichen Verschwörungstheorien zustimmen, die sich logisch eigentlich ausschließen. Solche widersprüchlichen Verschwörungstheorien beinhalten zum Beispiel, dass Lady Di vom britischen Geheimdienst ermordet wurde und ihren Tod nur vorgetäuscht hat (Wood et al., 2012) oder dass COVID-19 gar nicht existiert und eine gefährliche Biowaffe ist (Imhoff & Lamberty, 2020). Dies hat einige Autor:innen zu der Annahme geführt, dass es eine allgemeine Weltsicht gibt, Verschwörungen am Werk zu vermuten oder nicht, die dann jeweils nur angewendet wird auf konkrete Ereignisse oder Phänomene (Imhoff et al., 2022a). Einer der Begriffe, der sich für diese Weltsicht durchgesetzt hat, ist der der Verschwörungsmentalität (Imhoff & Bruder, 2014; Moscovici, 1987). Die Taskforce der DGPs schreibt: „Eine allgemeine Neigung von Personen, sich die Welt über Verschwörungstheorien zu erklären, bezeichnet man als Verschwörungsmentalität.“

Diese begrifflichen Definitionen von Verschwörung (eine vorgebliche geheime Absprache), Verschwörungstheorie (eine Annahme über eine solche Absprache), Verschwörungsglauben (die Zustimmung zu einer oder mehreren Verschwörungstheorien) und Verschwörungsmentalität (die generelle Neigung, Verschwörungstheorien zuzustimmen) finden sich auch in den Kapiteln dieses Buches wieder. Dort, wo Autor:innen davon abweichen oder zusätzliche Begrifflichkeiten (wie Verschwörungsnarrativ, ‑erzählung, ‑mythos o. Ä.) verwenden, werden diese jeweils in Abgrenzung zu oben stehenden Begriffen erläutert.

|14|Das vorliegende Buch stellt insofern eine Besonderheit dar, als es einerseits die Relevanz von Verschwörungsglauben aus verschiedenen psychologischen Blickwinkeln betrachtet und andererseits die interdisziplinäre Auseinandersetzung und auch den Widerspruch sucht – mit der Philosophie, der Kulturgeschichte, der Kognitionslinguistik und der Kommunikationswissenschaft. Die dahinterstehende Idee ist, dass nur durch Reibung Wärme entsteht und nur im beharrlichen Streiten um Begrifflichkeiten gemeinsame Erkenntnisse erzielt werden können. Leser:innen sind also angehalten, das Buch als Ganzes zu lesen und nicht einzelne Kapitel daraus alleinstehend zu konsumieren. Zwar ist jeder Einzelbeitrag für sich eine abgerundete und abgeschlossene Analyse, aber die intendierte Schwingung und interdisziplinäre Reibung ergibt sich erst im Zusammenwirken.

Der erste Teil des Buches ist den verschiedenen psychologischen Perspektiven gewidmet. Aileen Oeberst und Marcel Meuer beleuchten in Kapitel 2 die kognitiven Grundlagen von Verschwörungstheorien und diskutieren, inwiefern ubiquitäre kognitive Verzerrungen, denen wir alle unterliegen, sich im Bereich des Verschwörungsglaubens nachzeichnen lassen. Hier argumentieren sie einerseits, wie solche gedanklichen Abkürzungen an der Entwicklung und Aufrechterhaltung von Verschwörungsglauben beteiligt sein können, betonen jedoch in Übereinstimmung mit der in dieser Einleitung vorgenommenen Nuancierung, dass keineswegs als gut belegt gelten kann, dass Verschwörungsgläubige solchen kognitiven Verzerrungen in besonders starkem Ausmaß unterliegen. Unter Umständen ist hier auch der Mangel an erdrückender Evidenz an sich informativ: Trotz einer explosionsartigen Zunahme an psychologischer Forschung zu Verschwörungsglauben wurde für die Annahme stärkerer kognitiver Verzerrungen im Rahmen von Verschwörungstheorien bislang noch keine überzeugend robuste Evidenz geliefert.

Tisa Bertlich, Pia Lamberty und Roland Imhoff richten in Kapitel 3 das Augenmerk auf einen noch untererforschten Bereich: die Entstehung eines verschwörungstheoretischen Weltbildes im Lebensverlauf. Bisherige Befunde deuten darauf hin, dass Verschwörungsmentalität zeitlich hoch stabil ist und sich auch durch experimentelle Manipulation nicht ohne Weiteres beeinflussen lässt (Imhoff et al., 2022a). Allerdings stützen sich diese Studien vor allem auf Stichproben von Erwachsenen. Vor diesem Hintergrund diskutiert der Beitrag, inwiefern eine Erforschung der Prädiktoren von Verschwörungsmentalität in der Adoleszenz eine Schlüsselrolle zum Verständnis interindividueller Unterschiede spielen könnte.

Aufbauend auf diese Grundlagen machen Tobias Rothmund und Vladimir Bojarskich in Kapitel 4 den Anfang einer Reihe von Reflexionen konkreter Kontexte, in denen Verschwörungstheorien relevant sind. Obwohl es auch boulevardeske (der Tod Lady Dis) und primär wissensbezogene Verschwörungstheorien (die Annahme einer flachen Erde) gibt, hat sich im Fach doch zunehmend die Einsicht durchgesetzt, dass Verschwörungsglauben eine zutiefst politische Komponente hat (|15|Imhoff & Bruder, 2014) und sich dadurch von auf den ersten Blick verwandten Konstrukten wie paranoidem Denken deutlich unterscheidet (Imhoff & Lamberty, 2018). Die Autoren analysieren die Rolle von Verschwörungstheorien im politischen Kontext beispielsweise anhand der Frage, wie Verschwörungsglauben normative Prozesse der demokratischen Willensbildung und Partizipation untergraben können. Wichtigerweise nehmen die Autoren dabei eine ausgewogene Perspektive ein und betonen, dass ein solches Ursache-Wirkungs-Modell, nach dem Verschwörungsglaube z. B. zu politischem Extremismus führe, nur eine mögliche Erklärung für empirische Korrelationen liefert. Umgekehrt, könnte eine bestimmte politische Haltung auch den Glauben an Verschwörungen motivieren oder beides könnte aus einer gemeinsamen Quelle gespeist werden (zum Beispiel aus einem tiefen Gefühl des Misstrauens in politische Prozesse), ohne in direktem kausalem Verhältnis zueinanderzustehen. Insofern weist dieser Beitrag darauf hin, dass über die kausale Funktionalität von Verschwörungstheorien im politischen Denken und Handeln zwar vielfach spekuliert wird, gleichzeitig aber nur wenig belastbare Evidenz vorliegt.

Auch Stephan Winter vermeidet es in seinem Beitrag zur Rolle sozialer Medien, in das Horn kulturkonservativer Alarmisten zu blasen. Entgegen dem häufig vorschnell geäußerten Verdacht, dass die sozialen Medien erstens ursächlich für die Verbreitung und zweitens verantwortlich für die Übernahme von Verschwörungstheorien sind, seziert er in Kapitel 5 sehr vorsichtig die vorliegende Evidenz daraufhin, was sich eigentlich daraus lernen lässt. Er unterscheidet die Optionen, dass es keinen spezifischen Zusammenhang zwischen sozialen Medien und Verschwörungsglauben gibt, dass Menschen, die bereits Verschwörungen glauben, präferiert soziale Medien als Informationsquelle aufsuchen, sowie die häufig beklagten Wirkungseffekte, dass die Konfrontation mit Verschwörungstheorien in den sozialen Medien also den Glauben an diese ursächlich hervorbringe oder steigere.

Diese notwendige Nuancierung soll natürlich nicht implizieren, dass Verschwörungsglauben keine gesellschaftlichen Kosten oder Probleme habe, die mit ihm assoziiert sind. Frederike Taubert und Philipp Schmid betrachten in Kapitel 6 den Zusammenhang von Verschwörungstheorien und Gesundheitsverhalten, ein Thema, das insbesondere im Rahmen der COVID-19-Pandemie eine neuerliche Aufmerksamkeitssteigerung erfahren hat. Sie argumentieren, dass der Sektor gesundheitsbezogener Einstellungen und Verhaltensweisen einen nahezu idealen Nährboden für Verschwörungstheorien liefert, mahnen jedoch auch weitere Forschung an, die den kausalen Einfluss von Verschwörungsglauben auf problematisches Gesundheitsverhalten noch besser durch längsschnittliche Designs und Experimente absichern sollte.

Den Schlusspunkt der primär psychologischen Beiträge setzen Kai Sassenberg, Lotte Pummerer und Kevin Winter mit einem Beitrag zu Interventionsmöglichkeiten gegen Verschwörungsglauben in Kapitel 7. Ausgangspunkt ist die ethisch |16|gebotene Frage, unter welchen Umständen es überhaupt legitim wäre, gegen etwas so Privates wie die persönlichen Überzeugungen einer Person zu intervenieren. Nach dieser wichtigen Klärung wird beleuchtet, wie auf Seiten sowohl der Sender:innen als auch der Empfänger:innen von Verschwörungstheorien Maßnahmen der Prävention und der Intervention wirken – und was einer effektiven Implementierung im Wege steht.

In der Folge sollen diese psychologischen Perspektiven in Teil 2 des Bandes in eine produktive Reibung mit anderen fachlichen Perspektiven gebracht und mit direkter Kritik konfrontiert werden. Den Anfang macht hier Kapitel 8, ein erkenntnisphilosophischer Beitrag von Romy Jaster, der sich differenzierter und transparenter als die meisten psychologischen Beiträge mit der normativen Frage auseinandersetzt, inwiefern sich problematische von nicht problematischen Verschwörungstheorien unterscheiden lassen. Die zumeist recht oberflächliche Auseinandersetzung darüber, ob Verschwörungstheorien notwendigerweise falsch sind oder nicht, überwindet sie mit einem klaren Fahrplan, wie sich dies für spezifische Theorien entscheiden ließe.

Kritischer noch geht Michael Butter in Kapitel 9 mit der Psychologie und ihrer Forschung ins Gericht, indem er aus der Perspektive der Kulturgeschichte die Ungenauigkeit und Einseitigkeit psychologischer Begriffe kritisiert. Ausgehend von einer Darstellung kulturgeschichtlicher Zugänge zur Thematik macht er klar, inwiefern sowohl psychologische Definitionen als auch ihre (Mess-)Methoden hinter dem zurückbleiben, was aus anderen Fächern gelernt werden könnte, zum Beispiel bezüglich des Fehlschlusses, den Begriff der Verschwörungstheorien auf Erzählungen an der Peripherie der Gesellschaft zu beschränken. Er legt auch dar, inwiefern manche psychologischen Befunde von einer historischen und regionalen Kurzsichtigkeit zeugen und vermutlich nicht über einen spezifischen räumlichen sowie zeitlichen Kontext (westlicher Gesellschaften nach 1945) hinaus übertragbar sind.

Pia Lamberty ist zwar Psychologin, ihr Beitrag wird aber als außerpsychologische Perspektive geführt, weil explizit die Beschränkung der psychologischen Allzweckwaffe der Selbstberichte in Fragebögen problematisiert wird. Am Beispiel der Coronapandemie zeichnet Lamberty in Kapitel 10 nach, wie zwar psychologische Umfragen wiederholt zu dem Schluss kommen, dass sich durch und während der Pandemie einerseits keine Zunahme an Verschwörungsglauben konstatieren lässt, sich aber andererseits sehr wohl eine Zunahme an verschwörungsbezogenen Protesten und Straftaten sowie an Aktivitäten im Netz und offline (wie z. B. einen erhöhten Zulauf bei einschlägigen Beratungseinrichtungen) feststellen lässt. Hier stellt sich die kritische Frage, inwiefern psychologische Einstellungsforschung eine geeignete Linse bietet, um politische Prozesse abzubilden, die sich vielleicht weniger durch sich ändernde Grundeinstellungen, als vielmehr durch zugenommene Handlungsrelevanz bereits bestehender Einstellungen vollziehen.

|17|Auf Basis (kognitions-)linguistischer Textanalysen arbeiten Sören Stumpf und David Römer in Kapitel 11 heraus, inwiefern sich aktuelle in deutschsprachigen Texten kursierende Verschwörungstheorien sehr wohl als Gegenerzählungen zur offiziellen Version fassen lassen. Ausgehend von einer Begriffsklärung illustrieren sie, wie Verschwörungsnarrative anhand der eingesetzten Sprache glaubhaft gemacht werden. Im Fokus zweier Fallstudien stehen dabei einerseits lexikogrammatische und andererseits konzeptuelle Metaphern als angebotene „Erkenntnis-Brillen“.

Ein anderer Ansatz, um das Auseinanderklaffen sozialwissenschaftlich erfasster Einstellungen und dem weit verbreiteten Eindruck einer zunehmenden Relevanz von Verschwörungstheorien zu erklären, böte die erhöhte mediale Aufmerksamkeit für das Phänomen. Christian Schemer, Tanjev Schulz und Marc Ziegele zeichnen in Kapitel 12 nach, wie Medien Verschwörungstheorien – sowohl in fiktiven als auch in non-fiktiven Genres – transportieren, aber auch thematisieren, und beleuchten zudem, ob dies eine Wirkung hat. Den Spieß umdrehend blicken sie auch auf die Medien als Gegenstand von Verschwörungstheorien und diskutieren abschließend eine mögliche Rolle von Medien in der Auseinandersetzung mit Verschwörungstheorien.

Die Auseinandersetzung wird abgeschlossen mit Eckhard Türks Diskussion der Rolle und Möglichkeiten von Beratungstätigkeit – gerade auch in spirituellem Sinne – im Umgang mit Verschwörungsglauben und Verschwörungen (vgl. Kapitel 13). Im Zentrum dieses Ansatzes steht die prominente Suche nach einem guten Leben als Motiv auch hinter der Zuwendung zu Verschwörungstheorien. Das Festhalten an menschlichen Beziehungen und die Hilfe bei der Bewältigung von individuellen Lebenskrisen rahmt am Ende auch das Buch: Zu Beginn mit einer neugierig unvoreingenommenen Haltung auf das Phänomen Verschwörungsglauben und zum Schluss mit einer wertschätzenden Hinwendung zu Menschen, die sich in Krisen Verschwörungstheorien zuwenden.

Die von Sassenberg et al. in Kapitel 7 gestellte Frage, ob und unter welchen Umständen Interventionen gegen Verschwörungsglauben eigentlich geboten sind, lässt sich also über das Buch hinweg wie folgt beantworten: Widerspruch und Intervention sind in dem Grade geboten, in dem Verschwörungstheorien gesundheitsgefährdendes Verhalten motivieren (vgl. Kapitel 6), demokratische Institutionen und Vermittlungsprozesse delegitimieren (vgl. Kapitel 4), sowie direkten Leidensdruck bei Betroffenen und ihrem Umfeld erzeugen (vgl. Kapitel 13).

Es ist deshalb bei aller Vorsicht vor vereinfachenden normativen Aussagen dennoch geboten, das Verständnis der Gründe für und die Konsequenzen von Verschwörungsglauben ernsthaft voranzutreiben und dies geht nur unter Einbeziehung unterschiedlicher fachlicher Perspektiven. Dazu möchte das vorliegende Buch einen Beitrag leisten.

|18|Literatur

Bierwiaczonek, K., Gundersen, A. B. & Kunst, J. R. (2022). The role of conspiracy beliefs for COVID-19 health responses: A meta-analysis. Current Opinion in Psychology, 46, 101346. Crossref

Goertzel, T. (1994). Belief in conspiracy theories. Political Psychology, 15, 731 – 742. Crossref

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|19|I.  Psychologische Perspektiven

|21|2  Verzerrte Informationsverarbeitung als Quelle und Folge von Verschwörungsglauben

Aileen Oeberst & Marcel Meuer

2.1  Einleitung

Washington, D.C., 4. Dezember 2016. Sonntagnachmittag in der Pizzeria Comet Ping Pong. Ein mit Sturmgewehr bewaffneter Mann stürmt die Pizzeria. Im Internet habe er gelesen, dass die Pizzeria das Schaltzentrum eines von angesehenen Prominenten organisierten Kinderpornorings sei. Er war ganze sechs Stunden aus einer Kleinstadt in North Carolina angereist, um die als Sexsklaven gehaltenen Kinder im Keller zu befreien. Er handelte seiner festen Überzeugung nach. Was er jedoch vorfand: Keine eingesperrten Kinder und noch nicht einmal einen Keller.

Wie kommt es dazu, dass eine Person einer Verschwörungstheorie – wie in diesem Fall „Pizzagate“ (Rütten, 2016) – so starken Glauben schenkt, dass sie sich zu Taten wie dieser Befreiungsaktion bewegt fühlt? Um sich der Beantwortung dieser Frage anzunähern, möchten wir in diesem Beitrag die bestehende Forschung zu einem Blickwinkel auf das Phänomen Verschwörungsglauben zusammentragen – dem der verzerrten Informationsverarbeitung. Denn eine Vielzahl psychologischer Studien demonstriert, dass die Informationsverarbeitung von Menschen keineswegs immer objektiv und neutral erfolgt, sondern verschiedene systematische Verzerrungen (engl.: biases) dabei auftreten. Verzerrungen in der Informationsverarbeitung können sich auf zweierlei Weise zeigen: Einerseits fallen darunter Abweichungen von einer objektiv richtigen Referenz. Dies trifft beispielsweise auf die Wahrnehmung von Mustern in einer objektiv zufallsgenerierten Reihenfolge zu (illusorische Mustererkennung) oder auch auf das retrospektive Urteil, ein Ereignis sei vorhersehbar gewesen, während dies vor dem Ereignis keineswegs so eingeschätzt wurde (Rückschaufehler). Andererseits spricht man von Verzerrungen, wenn Faktoren einen systematischen Einfluss haben, die keinen Einfluss haben sollten, wenn die Informationsverarbeitung objektiv wäre. Dies gilt beispielsweise für die eigenen Annahmen über die Welt – wenn wir dazu neigen, vorrangig Informatio|22|nen zu suchen und zu glauben, die unsere Annahmen über die Welt bestätigen, während wir dazu im Widerspruch stehende Informationen tendenziell ignorieren, diskreditieren oder als irrelevant betrachten (Bestätigungsfehler).

Der vorliegende Beitrag widmet sich der Frage, welche Rolle solche Verzerrungen in der Informationsverarbeitung im Kontext von Verschwörungsglauben spielen. Konkret diskutieren wir einerseits, inwiefern verzerrte Wahrnehmungen und Beurteilungen der Ursprung bzw. die Quelle von Verschwörungsglauben sein können – also dazu beitragen können, dass Menschen an Verschwörungstheorien glauben; andererseits erörtern wir, inwiefern Verzerrungen in der Informationsverarbeitung aus dem Verschwörungsglauben resultieren können – und somit auch zu deren Aufrechterhaltung und Immunisierung beitragen.

2.2  Verzerrungen als Quelle von Verschwörungsglauben

Laut Douglas et al. (2017) besteht eines der zentralen Motive für Verschwörungsglauben in dem zutiefst menschlichen Wunsch, Zusammenhänge zu verstehen, die Welt – oder zumindest Ereignisse – erklären und die Zukunft vorhersagen zu können. Dieses „epistemische“ Motiv ist keineswegs spezifisch für Verschwörungstheorien (vgl. Gopnik, 2000; Weiner, 1985), wohl aber typisch, denn Gegenstand der meisten Verschwörungstheorien sind gravierende und oft auch bedrohliche Ereignisse (van Prooijen & Douglas, 2017). Für diese Ereignisse sind Menschen besonders motiviert, Erklärungen zu finden (Ash, 2009; Schkade & Kilbourne, 1991). Somit stellt das epistemische Motiv potenziell einen Ausgangspunkt für Verschwörungstheorien dar, weil es die Informationssuche leiten kann. Und wer sucht, der findet bekanntlich. Schließlich lassen sich wohl für jede These Informationen finden, die sie stützen – auch, wenn diese unvollständig oder einseitig sein mögen oder auf einem Fehlschluss basieren (d. h. verzerrt sein) könnten. Im Folgenden stellen wir anhand verschiedener solcher Verzerrungen in der Informationsverarbeitung dar, wie diese den Glauben an Verschwörungstheorien forcieren können.

2.2.1  Illusorische Mustererkennung

Angefangen bei den wechselnden Gezeiten über die Giftigkeit bestimmter Pflanzen und Tiere bis hin zur Reaktion anderer auf eine Lüge: Zusammenhänge zu erkennen, kann sehr vorteilhaft sein. Dass unser Gehirn in besonderem Maße darauf ausgelegt ist, Muster in unserer Umgebung zu erkennen, zeigen jene Beispiele, in denen es über das Ziel hinaus schießt – und Zusammenhänge sieht, wo keine existieren. Derlei findet sich beim Aberglauben (Gilovich et al., 1985; |23|Skinner, 1948) ebenso wie beim Verschwörungsglauben: Brotherton und French (2014) zeigten erstmals, dass Personen, die stärker geneigt sind, Verschwörungstheorien zu glauben, auch die Wahrscheinlichkeit gemeinsam auftretender Ereignisse überschätzen. Untersucht haben sie dies anhand der sogenannten conjunction fallacy (Tversky & Kahneman, 1983): Hierbei lesen Personen eine kurze Geschichte und sollen die Wahrscheinlichkeit verschiedener Ereignisse einschätzen. Beispielsweise erfahren sie von einer Gruppe von Student:innen, die nach einer Vorlesung in einen Pub geht, dessen Biergarten geöffnet ist, und werden gefragt, wie wahrscheinlich es ist, dass (a) es ein warmer Sommertag ist, (b) Menschen im Biergarten sitzen und (c) es ein warmer Sommertag ist und Menschen im Biergarten sitzen. Zentral ist, dass immer zwei separate Ereignisse abgefragt werden (a, b) sowie eine Kombination beider (c). Dabei ist es logisch unmöglich, dass die Kombination als wahrscheinlicher eingeschätzt wird als eine ihrer Voraussetzungen (d. h. c > a, b). Dies ist jedoch immer wieder zu beobachten und wird als eben jene conjunction fallacy bezeichnet. Brotherton und French (2014) fanden nun, dass Verschwörungsgläubige mehr von diesen Fehlern machen. Mit anderen Worten, sie tendierten verstärkt dazu, Zusammenhänge zu sehen (im Sinne von gemeinsam auftretenden Ereignissen), wo keine sind.

In einer weiteren Studienreihe zeigten van Prooijen et al. (2018), dass ein verstärkter Glaube an Verschwörungstheorien mit einem verstärkten „Erkennen“ von Mustern in tatsächlich zufälligen Reihenfolgen von Münzwürfen einherging (aber siehe Dieguez et al., 2015, für fehlende Zusammenhänge). Darüber hinaus fanden van der Wal et al. (2018), dass Menschen, die eher Verschwörungen glauben, auch eher kausale (d. h. ursächliche) Zusammenhänge bei tatsächlichen Scheinzusammenhängen wahrnehmen: Verschwörungsgläubige meinten beispielsweise, dass die Zahl der Nobelpreise pro Land nicht nur mit dem Schokoladenkonsum seiner Bewohner:innen zusammenhing, sondern auch durch sie verursacht wurde. Neigen Menschen also zusammenfassend dazu, gemeinsam auftretende Ereignisse in einem Kausalzusammenhang zu sehen, kann dies schnell eine verschwörungstheoretische Erklärung der Ereignisse nahelegen: Wenn jemand beispielsweise nicht nur wahrnimmt, dass sich zeitgleich zu der Errichtung neuer Mobilfunktechnologien (5G-Sendemasten) die tödliche Erkrankung COVID-19 verbreitet, sondern darin einen ursächlichen Zusammenhang sieht, legt dies die Schlussfolgerung nahe, dass die Technologie die Erkrankung auslöst und dies von den Betreiber:innen vertuscht wird (Ahmed et al., 2020).

2.2.2  Attributionsfehler

Während sich das Kapitel 2.2.1 damit beschäftigte, dass Verschwörungsgläubige verstärkt Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge sehen (wo keine sind), geht es im Folgenden um ihre Tendenz, bestimmte Ursachen zu vermuten bzw. zuzuschrei|24|ben (d. h. zu attribuieren). So nehmen Menschen tendenziell an, dass Ursachen und Wirkungen proportional zueinander sind (Proportionalitätsverzerrung; Fiedler et al., 2011; LeBoeuf & Norton, 2012) – sodass für bedeutsame Ereignisse auch eher bedeutsame Ursachen erwartet werden (und nicht der Zufall, vgl. auch Taleb, 2001). Aus dieser Sicht ist auch leicht nachvollziehbar, warum vor allem für bedeutsame Ereignisse häufig Verschwörungstheorien entstehen (van Prooijen & Douglas, 2017). Schließlich bieten sie Erklärungen für diese Ereignisse an, die von einer großangelegten Verschwörung ausgehen. Indem sie also geheimes, böswilliges Handeln von Menschen in ihr Zentrum rücken, präsentieren sie eine gravierendere Ereignisursache statt der alternativen nicht konspirativen Erklärungen, welche oft einfachere Ursachen heranziehen (z. B. natürlicher Tod eines Prominenten; Zoonosen). Und selbst wenn die nicht konspirativen Erklärungen bereits menschliches Handeln als Ursache identifizieren (z. B. dass eine Einzelperson für die Ermordung eines Präsidenten verantwortlich ist), erscheint die verschwörungstheoretische Ursache meist gravierender, da sie von einer Gruppe von Menschen (vs. einer Einzelperson) ausgeht, die außerdem zum Nachteil der Allgemeinheit agiert und schließlich so viel Macht hat, dass sie ihr Handeln sogar vertuschen kann (McCauley & Jacques, 1979; vgl. auch LeBoeuf & Norton, 2012). Insgesamt erfüllen Verschwörungstheorien damit also bei der Suche nach Erklärungen häufig eher die intuitiven Erwartungen von Menschen hinsichtlich der Proportionalität von Ursache und Wirkung.

Dies lässt sich hervorragend am Beispiel von COVID-19 verdeutlichen: Dass derart große und bedrohliche Ereignisse, wie eine Pandemie mit gravierenden und langfristigen Folgen, durch so kleine und für das menschliche Auge unsichtbare Dinge wie Viren verursacht sein sollen, welche zudem noch nicht einmal zielgerichtet handeln und „nur“ durch den Kontakt auf einem Wildtiermarkt von Tieren auf den Menschen übergingen, entspricht gerade nicht der intuitiven Vorstellung von Proportionalität zwischen Ursachen und Wirkungen (vgl. Einhorn & Hogarth, 1986). Dies ist in vielen Verschwörungstheorien, die sich um die Coronapandemie ranken, hingegen schon eher der Fall: So wird beispielsweise postuliert, das Virus sei von Menschen absichtlich erschaffen worden – und sei es, um von den dann notwendigen medizinischen Maßnahmen zu profitieren oder diese für andere Zwecke zu missbrauchen – oder auch, dass Mobilfunktechnologien (5G) eigentlich hinter den Symptomen von COVID-19 stehen (Ahmed et al., 2020; Gerts et al., 2021; Jolley & Paterson, 2020).

Dabei scheinen die wahrgenommenen Auswirkungen des betreffenden Ereignisses ein zentraler Faktor für Verschwörungsglaube zu sein: Insbesondere dann, wenn Menschen selbst betroffen sind von den Konsequenzen dieser Ereignisse – oder aber sich in die davon Betroffenen hineinversetzen (können) – scheinen sie eher an Verschwörungen hinter den Ereignissen zu glauben (van Prooijen & van Dijk, 2014; vgl. auch van Prooijen, 2019). So neigen Menschen auch verstärkt dazu, an Verschwörungstheorien zu glauben, wenn sie sich bedroht oder ver|25|ängstigt fühlen (Grzesiak-Feldman, 2013; van Prooijen & Douglas, 2017) oder Kontrollverlust erleben (van Prooijen & Acker, 2015). Indem die konsequenzenreichen Ereignisse auf das Wirken von mächtigen Verschwörer:innen zurückgeführt werden, wird die oft ungreifbare Bedrohung konkret und einschätzbar (Franks et al., 2013; Sullivan et al., 2010), sodass das eigene Verhalten der Situation besser angepasst werden kann (van Prooijen & van Vugt, 2018), beispielsweise durch Annäherung (z. B. Teilnahme an Protestaktionen; Imhoff & Bruder, 2014) oder Vermeidung (z. B. Ablehnung von Impfungen; Oliver & Wood, 2014; Burke et al., 2021).

Verschwörungsgläubige sehen also eher menschliches Handeln als Ursache bedeutsamer Ereignissen. Allerdings geht es hierbei typischerweise nicht um menschliches Handeln per se – welches also zufälliges, versehentliches oder irrtümliches menschliches Verhalten beispielsweise ebenso mit abdecken würde. Stattdessen zeichnen sich Verschwörungstheorien ja gerade durch die Grundüberzeugung aus, dass Ereignisse nicht zufällig oder versehentlich zustande kommen. Vielmehr wird eine Verschwörung angenommen – es wird also postuliert, dass die Verschwörer:innen mit Absicht und aus eigennütziger Intention heraus handeln (wie auch schon oben in den Beispielen aufgegriffen). Und tatsächlich legen einige Studien nahe, dass Verschwörungsgläubige besonders häufig dazu neigen, Absichten hinter dem Verhalten anderer zu vermuten (Brotherton & French, 2015; Douglas et al. 2016). In weiteren Studien wurde dieser Zusammenhang etwas breiter gefasst erforscht, indem nicht die Zuschreibung von Intentionen erfasst wurde, sondern die Tendenz zur Anthromoporphisierung. Darunter versteht man die Übertragung menschlicher Charakteristika (z. B. Absichten) auf andere Dinge als Menschen (z. B. das Wetter, technische Geräte, Tiere; Waytz et al., 2010). Die Neigung zur Anthropomorphisierung hängt ebenfalls zusammen mit der Neigung, Verschwörungstheorien zu glauben (Bruder et al., 2013; Douglas et al., 2016; Imhoff & Bruder, 2014). Mit anderen Worten: Verschwörungsgläubige neigen verstärkt dazu, menschliche Absichten auch dort wahrzunehmen, wo keine sind (intentionality bias).

Wie genau der intentionality bias bei der Suche nach einer Erklärung für ein Ereignis eine verschwörungstheoretische Erklärung begünstigen kann, lässt sich anhand von Clarkes (2002) Ausführungen zum Zusammenhang von Verschwörungsglauben und einer sehr ähnlichen Verzerrung – dem Fundamentalen Attributionsfehler – erläutern. Um diesen Fehler zu verstehen, ist es wichtig, zwischen „dispositionalen“ und „situationalen“ Ursachen zu unterscheiden: Während erstere sich auf bestimmte Charakteristika von Menschen beziehen (z. B. Persönlichkeitseigenschaften), beschreiben letztere Merkmale der Situation. Um das Verhalten einer Person zu erklären, werden bei dispositionalen Ursachen also Personenmerkmale herangezogen, während bei situationalen Ursachen Kontextfaktoren bemüht werden. Der Fundamentale Attributionsfehler besteht nun in der Tendenz, in der Erklärung des Verhaltens anderer Menschen dispositio|26|nalen Ursachen zu viel Gewicht beizumessen (Nisbett & Ross, 1980). Mit anderen Worten: Der Einfluss der Situation wird von Menschen häufig unterschätzt (vgl. auch Korrespondenzfehler; Gawronski, 2004). Clarke (2002) postuliert, dass Verschwörungsgläubige diesen Fehler besonders häufig begehen – und somit die Ursachen für Ereignisse vorrangig in menschlichen Dispositionen suchen (d. h. Veranlagungen bzw. Neigungen). Zu diesen kann eben auch die Neigung gehören, an Verschwörungen zu partizipieren (vgl. auch Douglas & Sutton, 2011). Demgemäß wäre es naheliegender, die von einer Regierung verordneten Coronaschutzmaßnahmen auf die böswillige Absicht, insgeheim eine Diktatur errichten zu wollen, zurückzuführen – also eine gezielte Aktion aufgrund der Neigung zur Verschwörung zu postulieren –, anstatt die Maßnahmen als Reaktion auf das situativ bedingte Infektionsgeschehen anzusehen. Der intentionality bias ließe sich dabei als Spezialfall des Fundamentalen Attributionsfehlers verstehen, da hierbei die systematische Tendenz, menschliche Dispositionen als Ursachen anzusehen noch genauer spezifiziert wird, indem bestimmte Absichten angenommen werden.

Es wäre aber auch denkbar, dass andere dispositionale Ursachen zur Erklärung herangezogen werden, aus welchen dann Absichten geschlussfolgert werden, die wiederum den Glauben an Verschwörungstheorien fördern können: Wenn jemand beispielsweise annähme, dass Prinzessin Diana oder auch Elvis ihre eigene Berühmtheit zur Last fiel und sie deshalb die Neigung gehabt hätten, unbehelligt weiterleben zu wollen, dann wären die Verschwörungstheorien, sie hätten ihren eigenen Tod selbst vorgetäuscht (Douglas & Sutton, 2008), deutlich plausibler und überzeugender. Ganz ähnlich könnte die Überzeugung, bestimmte andere Personen hätten die Veranlagung zur Skrupellosigkeit und seien machtmotiviert, die Schlussfolgerung nahelegen, dass eben diese Personen deshalb auch bereit seien, sich an einer Verschwörung zu beteiligen (vgl. auch Wood et al., 2012).

Neben der klassischen Auffassung des Fundamentalen Attributionsfehlers, welche sich auf die Erklärung von Verhalten von Menschen beschränkt, weist Clarke (2002) zudem darauf hin, dass in Verschwörungstheorien zur Erklärung von Ereignissen ebenfalls zumeist dispositionale Ursachen herangezogen werden. Schließlich passieren Verschwörungen, weil Verschwörer:innen diese beabsichtigen und entsprechend ihrer Absicht handeln. Die nicht konspirativen Narrative über dasselbe Ereignis würden hingegen häufiger situationale Erklärungen liefern. Tatsächlich zeigte sich dieses postulierte Muster in einer vergleichenden Analyse der Inhalte von konspirativen und nicht konspirativen Erklärungen zu insgesamt 36 Themen (Meuer et al., 2023): Verschwörungstheorien beinhalteten deutlich mehr dispositionale und tendenziell weniger situationale Erklärungen als die entsprechenden nicht konspirativen Narrative. Wenn Menschen also dazu neigen, verstärkt dispositionale Ursachen zu vermuten und nach diesen für die Erklärung von bedeutsamen Ereignissen zu suchen, dann werden sie Verschwörungstheorien eher als überzeugende Erklärungen wahrnehmen.

|27|2.2.3  Rückschaufehler

Im Kapitel 2.2.2 haben wir beschrieben, wie die Neigung, bedeutsamen Ereignissen oder bestimmtem Verhalten dispositionale Ursachen zuzuweisen, Verschwörungsglauben begünstigen kann. Die nächste und letzte Verzerrung in der Informationsverarbeitung, die wir behandeln wollen, – der Rückschaufehler – könnte diese Zuschreibung dispositionaler Ursachen zusätzlich befeuern. Der Rückschaufehler beschreibt das universell auftretende Phänomen, dass Menschen die Wahrscheinlichkeit, Zwangsläufigkeit und Vorhersehbarkeit von Ereignissen im Nachhinein – nachdem sie also eingetreten sind oder bekannt wurden – überschätzen (Fischhoff, 1975; vgl. Roese & Vohs, 2012, für einen Überblick). Menschen haben also in der Rückschau verstärkt das Gefühl, dass es doch dazu kommen musste und dass auch vorher bereits klar war, dass es dazu kommen würde. Insbesondere bei Ereignissen mit gravierenden negativen Konsequenzen wirft die wahrgenommene Vorhersehbarkeit eines Ereignisses auch unmittelbar die Frage nach dessen Vermeidbarkeit auf (Oeberst & Goeckenjan, 2016). Denn wenn man bereits vorher hätte wissen können, dass es zu einem Schaden kommt, dann hätte man ja noch etwas unternehmen können, um diesen Schaden abzuwenden. So werfen beispielsweise Terroranschläge regelmäßig die Frage auf, ob diese nicht hätten verhindert werden können – spätestens dann, wenn bekannt wird, dass die:der Täter:in den Behörden bereits bekannt war oder gar als „Gefährder:in“ geführt worden war. Dabei kann es sich jedoch um einen Rückschaufehler handeln, bei welchem sich Menschen im Nachhinein vorrangig auf Informationen beschränken, die das eingetretene Ereignis vorhergesagt hätten (Blank & Nestler, 2007; Nestler et al., 2008), während sie dagegensprechende Informationen übersehen, ignorieren oder deren Relevanz unterschätzen. So relativiert sich beispielsweise die Information, dass ein Attentäter durch die Behörden bereits als „Gefährder“ eingestuft worden war, deutlich, wenn man berücksichtigt, auf welche Vielzahl von Personen dies zutrifft: Stand 1.4.2021 galt dies in Deutschland für 579 Personen1 – ohne dass all jene auch einen Anschlag begangen hätten. Dies verdeutlicht nicht nur die Schwierigkeit einer korrekten Prognose – also einer Beurteilung aus der Vorschauperspektive, ehe ein Ereignis eingetreten ist – sondern auch das Potenzial zur verzerrten Interpretation, wenn die Dinge in der Rückschau nur einseitig betrachtet werden: Einen tatsächlichen Attentäter im Nachhinein als „Gefährder“ zu identifizieren, erweckt den Schein eines eindeutigen Zusammenhangs, welcher dementsprechend hätte vorhergesehen und vermieden werden können (Oeberst, 2019). Shermer (2011) veranschaulicht dasselbe Phänomen am Beispiel des Angriffs auf Pearl Harbor am 7.12.1941 und sich darum rankende Verschwörungstheorien: Kurz nach dem Angriff warfen Verschwörungstheoretiker:innen die These auf, dass Präsident Roosevelt von dem Angriff ge|28|wusst haben musste, da die US-Nachrichtendienste die sogenannte „bomb plot message“ im Oktober 1941 abgefangen hatten – eine Nachricht, in der ein japanischer Agent in Hawaii instruiert wird, Kriegsschiffsbewegungen um Pearl Harbor herum zu überwachen. Und tatsächlich gab es insgesamt acht solcher Nachrichten zwischen Mai und Dezember 1941. Die Betrachtung allein dieser Tatsache mag suggerieren, dass Roosevelt von dem Angriff wusste. Und die Tatsache wiederum, dass er trotz dieses Wissens nichts dagegen unternahm, legt die Schlussfolgerung nahe, dass er damit eine bestimmte Absicht verfolgte. Beispielsweise wurde postuliert, dass er den Angriff billigend in Kauf genommen habe, um den Kriegseintritt der USA zu rechtfertigen (Flynn, 1945; Stinnett, 1999). Die Bedeutung dieser „bomb plot message“ relativiert sich jedoch wesentlich, wenn man berücksichtigt, wie viele weitere Nachrichten von den US-Nachrichtendiensten abgefangen wurden: Shermer (2011) verweist auf ganze 58 Nachrichten, die sich auf die Philippinen bezogen, 21 Nachrichten, die sich auf Panama bezogen, und je 7 Nachrichten, die sich auf Südostasien bzw. die Westküste der USA bezogen. Dieses Gesamtbild suggeriert deutlich weniger, dass Roosevelt von dem bevorstehenden Angriff auf Pearl Harbor gewusst haben könnte – oder gar müsste. Und damit verändern sich auch die Schlussfolgerungen zu seinem Verhalten – und es ist deutlich weniger naheliegend, dass er den Angriff billigend in Kauf genommen habe.

An diesem Beispiel zeigt sich eindrücklich, wie es zu dem Rückschaufehler kommt: In der Suche nach einer Erklärung für ein Ereignis neigen wir im Nachhinein dazu, uns einseitig auf Informationen zu konzentrieren, die für das Eintreten des Ereignisses sprachen (Blank & Nestler, 2007; Nestler et al., 2008). Damit geht verstärkt die Wahrnehmung einher, dass das Ereignis vorhersehbar war – und somit oft auch vermeidbar. Dass es jedoch nicht vermieden wurde, öffnet wiederum die Tür für den intentionality bias – die Interpretation also, dass dahinter Absicht steckte. Tatsächlich fanden wir in einer unveröffentlichten Studie, dass die retrospektive wahrgenommene Vorhersehbarkeit einer Katastrophe (Einsturz eines Staudamms) stark mit dem Glauben an Verschwörungstheorien zu diesem Ereignis (z. B., dass Sicherheitsgutachten zu dem Staudamm manipuliert wurden) zusammenhing (r = .58, p < .001; vgl. auch Lamberty, Hellmann & Oeberst, 2018).

Von zentraler Bedeutung ist der Rückschaufehler auch deshalb für Verschwörungstheorien, weil sämtliche Erklärungsversuche, also auch jene von Verschwörungstheoretiker:innen, eben erst nach dem Eintreten bzw. Bekanntwerden von (vermeintlichen) Ereignissen erfolgen. Und dies wiederum bereits zu einer einseitigen Suche nach und Bewertung von Informationen führt (z. B. auch in der Medienberichterstattung; vgl. Oeberst, 2019). Dies gilt zwar allgemein, aber wenn darüber hinaus noch eine Verschwörung vermutet wird, kann es zu einer „doppelt einseitigen“ Recherche kommen: Der Fokus wird nicht nur auf ereigniskonsistente Informationen gelegt, sondern zudem auf diejenigen Informationen, die eine Ver|29|schwörung nahelegen, während Informationen, die gegen den Eintritt des Ereignisses und gegen eine Verschwörung sprechen würden, wenig bis gar nicht Beachtung finden.

2.2.4  Zwischenfazit

Zusammenfassend lässt sich aus den bisherigen Studien festhalten, dass Verzerrungen den Glauben an Verschwörungstheorien begünstigen können, wenn nämlich Muster oder auch kausale Zusammenhänge wahrgenommen werden, wo keine sind (illusorische Mustererkennung), wenn der Einfluss menschlichen Verhaltens auf Ereignisse (Fundamentaler Attributionsfehler) und wenn Intentionen hinter den Handlungen anderer (intentionality bias) überschätzt werden. Dies kann teilweise aus Grundannahmen resultieren (z. B. die Erwartung bedeutsamer Ursachen für bedeutsame Ereignisse, also eine Proportionalitätsverzerrung) oder auch auf Basis einseitiger Informationen erfolgen (z. B. dem Fokus auf ereigniskonsistente Informationen, also einem Rückschaufehler).

Betont seien an dieser Stelle jedoch drei Dinge:

Erstens sind alle Menschen anfällig für die oben besprochenen Verzerrungen. Die referierten Forschungsarbeiten deuten lediglich darauf hin, dass Verschwörungsgläubige dies verstärkt sind (z. B. Brotherton & French, 2015; Douglas et al. 2016; van Prooijen & van Vugt, 2018). Mit anderen Worten: Der Unterschied zwischen Menschen, die eher geneigt sind, Verschwörungen zu glauben, und jenen, die das nicht sind, scheint in dieser Hinsicht eher ein gradueller, kein qualitativer, zu sein. Und selbst diese Annahme – dass Verschwörungsgläubige stärker dazu neigen, den besprochenen Verzerrungen zu unterliegen – steht empirisch eher auf wackeligen Beinen und basiert nur auf wenigen Veröffentlichungen mit signifikanten Effekten pro Verzerrung. Zudem ist uns nur eine einzige Veröffentlichung bekannt, die fehlende Zusammenhänge dokumentiert (Dieguez et al., 2015). So lässt sich schwerlich abschätzen, wie stark die Befundlage selbst verzerrt ist, da Nullbefunde – also fehlende Unterschiede oder Zusammenhänge – häufig nicht publiziert werden (Chan et al., 2004; Fanelli, 2012; Ferguson & Brannick, 2012; Rosenthal, 1979; Song et al., 2009; Turner et al., 2008), sodass es zu einem publication bias kommen kann: Die Veröffentlichungen zu einem Thema beschränken sich dann auf dokumentierte signifikante Effekte und liefern somit ein einseitiges Bild. Insofern sind wir mit einem Fazit zu der Frage zurückhaltend, inwieweit sich Verschwörungsgläubige durch eine besonders starke Tendenz zu verschiedenen Verzerrungen in der Informationsverarbeitung auszeichnen. Das Fazit lautet dementsprechend eher, dass bestimmte Verzerrungen in der Informationsverarbeitung, denen wir alle unterliegen können, förderlich für die Entstehung von Verschwörungsglauben sein können.

|30|Zweitens ist die referierte Forschung überwiegend korrelativer Natur. Sprich, es werden Zusammenhänge aufgezeigt – nicht jedoch Ursachen identifiziert. Es bleibt also unklar, ob die Verzerrungen in der Informationsverarbeitung die Ursache für einen stärkeren Glauben an Verschwörungstheorien darstellt oder aber deren Folge. Wir haben sie hier unter den potenziellen Quellen für Verschwörungsglauben aufgezählt, weil es plausibel ist, anzunehmen, dass diese Verzerrungen eben an der Entstehung bzw. Entwicklung von Verschwörungsglauben beteiligt sind – nicht mehr und nicht weniger. Denn eindeutige Nachweise für diese Annahme stehen noch aus.

Drittens könnten die bisherigen Ausführungen zum Zusammenhang von Verschwörungsglauben und den dargestellten kognitiven Verzerrungen zu dem Schluss verleiten, die Verzerrungen seien stets dysfunktional. Auch wenn Verzerrungen wie die erhöhte Muster- und Absichtswahrnehmung im Einzelnen betrachtet zweifellos zu falschen Schlüssen führen können (z. B. bei tatsächlich zufälligen Stimuli/Ereignissen), so könnten sie sich evolutionsbiologisch betrachtet aber dennoch entwickelt haben, um folgenreiche Gefahren insgesamt weniger zu übersehen (Haselton & Buss, 2000; van Prooijen & van Vugt, 2018). Denn es kann adaptiv sein, lieber eine Bedrohung zu sehen, wo tatsächlich keine ist, als tatsächliche Bedrohungen zu übersehen (Haselton & Buss, 2000; van Prooijen & van Vugt, 2018). An diese Perspektive anschließend wurde postuliert, dass Verschwörungsgläubige besonders häufig Bedrohungen wahrnehmen (unabhängig davon, ob es tatsächlich Hinweise auf eine reale Bedrohung gibt; Frenken & Imhoff, 2022; Meuer & Imhoff, 2021). Mit anderen Worten: Verschwörungsgläubige haben weniger Vertrauen in ihre Mitmenschen (Goertzel, 1994), und dies kann sie vor – bestimmten – negativen Folgen schützen (z. B. von Mitmenschen betrogen zu werden). Wahr werden Verschwörungstheorien dadurch aber natürlich nicht. Adaptivität ist nicht mit Akkuratheit gleichzusetzen. Und negative Folgen von Verschwörungsglauben gibt es natürlich auch (z. B. die Bereitschaft zu politischer Gewalt oder die Nichtbefolgung medizinischer Anweisungen; Bogart & Thorburn, 2005; Bogart et al., 2010; Imhoff et al., 2021; Oliver & Wood, 2014; Uscinski & Parent, 2014).

Im nächsten Teil dieses Kapitels wenden wir uns nun den Folgen in der Informationsverarbeitung zu – insbesondere den Verzerrungen, die aus dem Glauben an Verschwörungstheorien resultieren können.

2.3  Verzerrungen als Folge von Verschwörungsglauben

Wie eingangs bereits erwähnt, neigen Menschen dazu, ihre eigenen Annahmen zu bestätigen (Bestätigungsfehler; Nickerson, 1998). Anders ausgedrückt: Die Annahmen, die wir über die Welt haben bzw. die Fragen, die wir an die Welt stellen, |31|beeinflussen unsere Informationsverarbeitung. Dies kann auf sehr vielen verschiedenen Wegen passieren. So suchen Menschen ihre Umwelt vor allem nach Informationen ab, die sie – gemäß ihren Annahmen über die Welt – erwarten würden (positives Testen; Zuckerman et al., 1995), sie präferieren Informationen, die konsistent (vs. inkonsistent) sind mit ihren Annahmen (selective exposure bzw. congeniality bias; vgl. Hart et al., 2009, für eine Metaanalyse) und sie neigen dazu, Informationen, die nicht zu ihren Annahmen passen, zu diskreditieren (motivierter Skeptizismus bzw. disconfirmation bias; Ditto & Lopez, 1992; Edwards & Smith, 1996), anders zu bewerten (Sanbonmatsu et al., 1998; Tarrant et al., 2012) – beispielsweise als Ausnahme zu deklarieren (Richards & Hewstone, 2001) – oder gar fälschlicherweise als Bestätigung ihrer Annahmen wahrzunehmen (biased assimilation; Lord & Taylor, 2009). Menschen lassen sich also nicht so leicht von ihren Überzeugungen abbringen – auch nicht von Informationen, die dagegensprechen (belief perseverance; Anderson et al., 1980). Unter Umständen können Gegenbeweise den Glauben sogar noch verstärken, wie Festinger et al. eindrucksvoll anhand einer Weltuntergangssekte illustrierten (kognitive Dissonanzreduktion;Festinger, 1957; Festinger et al., 1956). Der Einfachheit und Verständlichkeit halber werden wir im Folgenden vom Bestätigungsfehler sprechen – dabei sind all die spezifischen Prozesse, die wir hier ausgeführt haben, jedoch explizit mitgemeint.

Wie auch die anderen in diesem Kapitel behandelten Verzerrungen ist der Bestätigungsfehler also ein bei Menschen allgemein auftretendes Phänomen (z. B. Kunda, 1990; Nickerson, 1998). Und Verschwörungstheorien lassen sich als eine Annahme über die Welt betrachten. Wenn Menschen diesen nun anhängen – und z. B. glauben, dass eine mächtige Gruppe (z. B. FBI, CIA, Mafia) in die Ermordung des ehemaligen US-Präsident John F. Kennedy involviert war (eine Verschwörungstheorie, die auch heute noch von etwa zwei Dritteln der US-Amerikaner:innen Zuspruch erhält; Enten, 2017) – dann ist zu erwarten, dass sie vermehrt Informationen heranziehen, die für die Beteiligung einer mächtigen Gruppe sprechen (z. B., dass Augenzeugen berichten, Schüsse von einer Stelle wahrgenommen zu haben, an der sich der mutmaßliche Täter Lee Harvey Oswald nicht aufgehalten hatte). Zudem würden sie Informationen, die gegen eine Beteiligung anderer Personen sprechen (z. B., dass die mit Oswalds Fingerabdrücken versehene Waffe ballistischen Untersuchungen zufolge diejenige war, mit der Kennedy getötet wurde) eher vernachlässigen, diskreditieren oder sogar zugunsten der Verschwörungsannahme auslegen (z. B., dass die erstaunlich eindeutigen Beweise erstaunlich schnell akquiriert wurden, spreche dafür, dass es im Vorhinein geplant war, Oswald als Sündenbock zu inszenieren; McHoskey, 1995).

Verschwörungstheorien zeichnen sich jedoch durch Merkmale aus, die dem Bestätigungsfehler nicht nur Tür und Tor öffnen, sondern diesen regelrecht einpreisen. Boudry und Braeckman (2011) nennen sie „Verteidigungsmechanismen“ von Verschwörungstheorien. Dazu gehört erstens, dass Verschwörungstheorien nicht falsifizierbar sind (vgl. auch Keeley, 1999; Meuer et al., 2023). Mit anderen Worten: |32|Sie können prinzipiell nicht widerlegt werden – fehlende Beweise für die Verschwörungstheorie oder gar Gegenbeweise können schließlich immer als erfolgreiche Vertuschung durch die Verschwörer:innen gewertet werden (Boudry & Braeckman, 2011). Dies bedeutet aber, dass jede Information wie auch ihr Gegenteil als Bestätigung der Verschwörungstheorie interpretiert werden können. Ein zweiter Verteidigungsmechanismus von Verschwörungstheorien besteht darin, dass sie immer auch erklären, warum es Personen gibt, die sie nicht glauben. Dies lässt sich gut anhand der Chemtrail-Verschwörungstheorie veranschaulichen, die davon ausgeht, dass den Flugzeugkondensstreifen am Himmel weltweit Chemikalien beigemischt sind (Cairns, 2016). Unter der Annahme, dass die beigemischten Sedativa die Masse der Menschen gefügig machen sollen, ist es durchaus nachvollziehbar, dass die nunmehr gefügigen Menschen die Verschwörung nicht zu erkennen vermögen. Tatsächlich findet sich diese Strategie in der ein oder anderen Form in den meisten Verschwörungstheorien wieder: So werden Wissenschaftler:innen oder Journalist:innen, die beispielsweise gegen die Verschwörungstheorie argumentieren, als gekauft oder aber als Teil der Verschwörung betrachtet, und es wird behauptet, die Masse an Menschen lasse sich von der („Lügen‑“)Presse und den Verschwörer:innen einlullen und manipulieren, sodass sie der nahezu perfekten Vertuschung der Wahrheit (Täuschung) zum Opfer fallen (Lewandowsky et al., 2013; Lewandowsky et al., 2015). Verschwörungstheorien postulieren also, dass sich die meisten Menschen mindestens täuschen lassen, wenn sie nicht gar durch die Verschwörer:innen dazu gebracht werden, die Vertuschung zu glauben (Franks et al., 2017). Mit der Überzeugung, die meisten Menschen seien zu gutgläubig und konformistisch, um die „Wahrheit“ (d. h. die Verschwörung) zu erkennen, geht nicht nur unmittelbar das Gefühl einher, besonders zu sein (weil Verschwörungsgläubige selbst eben dieser Täuschung im Vergleich zu allen anderen nicht verfallen; Imhoff & Lamberty, 2017), sondern es ist auch so, dass Verschwörungstheorien bereits selbst Widerstand gegen ihre Inhalte vorhersagen und erklären. Verschwörungsgläubige erhalten damit quasi einen „Joker“ (Boudry & Braeckman, 2011), der ihnen ermöglicht, jegliche Kritik – selbst sehr gut begründete – automatisch zurückweisen zu können.

Diese „Verteidigungsmechanismen“ lassen sich keineswegs nur bei Verschwörungstheorien finden. So führen Boudry und Braeckman (2011) unter anderem auch wiederholt die Psychoanalyse oder paranormale Überzeugungen (z. B. Psi-Phänomene) als Beispiele an. Aber diese Verteidigungsmechanismen finden sich eben auch immer bei Verschwörungstheorien. Der Reiz, bzw. der psychologische Vorteil von solchen sich selbst immunisierenden Überzeugungen ist, dass sie Stabilität und Sicherheit bieten (Friesen et al., 2015).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Glaube an Verschwörungstheorien sehr wahrscheinlich einen Bestätigungsfehler aufseiten der Verschwörungsgläubigen nachsichzieht. Und selbst wenn dies auch für andere Menschen und ihre Überzeugungen gilt, so machen es Verschwörungstheorien ihren Anhän|33|ger:innen besonders leicht, sie gegen Kritik zu verteidigen. Insofern überrascht vielleicht nicht, wie hartnäckig sich Verschwörungstheorien – trotz eindeutiger Gegenbelege – halten können (Jolley & Douglas, 2017; Stojanov, 2015).

Durch den Bestätigungsfehler ließe sich auch erklären, warum Verschwörungsgläubige häufig an mehr als nur eine Verschwörungstheorie glauben: Nehmen wir an, dass eine Person zunächst von nur einer Verschwörungstheorie überzeugt ist bzw. wird. Unabhängig von den ganz spezifischen Inhalten dieser Verschwörungstheorie beinhaltet sie immer auch allgemeinere Annahmen über die Welt, wie beispielsweise, dass die Dinge eben nicht so sind, wie sie scheinen, und sich stattdessen mächtige Personen verschworen haben (vgl. auch Wood et al., 2012). Mit dem Glauben an die eine konkrete Verschwörungstheorie gehen also wahrscheinlich auch solche allgemeineren Glaubenssätze einher (Oeberst & Imhoff, 2023). Auch diese können wiederum einen Bestätigungsfehler nach sich ziehen: Wenn Menschen ohnehin schon davon überzeugt sind, dass es Verschwörungen gibt, dann sind sie eben auch eher geneigt, diese vermehrt zu suchen, zu vermuten und zu finden. Und tatsächlich zeigt die Forschung einhellig, dass der Glaube an eine Verschwörungstheorie mit dem Glauben an andere Verschwörungstheorien einhergeht (z. B. Goertzel, 1994; Swami et al., 2011; Swami et al., 2010; Wood et al., 2012) – selbst dann, wenn sich die konkreten Verschwörungstheorien einander widersprechen mögen (z. B. „Prinzessin Diana hat ihren Tod vorgetäuscht“ vs. „Prinzessin Diana wurde vom MI6 getötet“; Wood et al., 2012). Darüber hinaus bestärkt wiederum jeder neue Glaube an eine weitere Verschwörungstheorie die Überzeugung davon, dass mächtige Eliten sich im Verborgenen verschwören und die offiziellen Narrative somit oft nicht stimmen, was letztlich in einer stabilen Tendenz an Verschwörungen zu glauben, der sogenannten Verschwörungsmentalität (Imhoff & Bruder, 2014), münden könnte. So spielte es beispielsweise in Studien von Meuer et al. (2021) keine Rolle, wie ausführlich die dargebotene verschwörungstheoretische Erklärung bestimmter Ereignisse war – einziger Prädiktor der Glaubwürdigkeit der Verschwörungstheorien war die Verschwörungsmentalität der Proband:innen. Auch dieser Prozess der gegenseitigen Verstärkung kann somit wesentlich zur Aufrechterhaltung von Verschwörungsglauben beitragen.

2.4  Fazit

Wir haben in diesem Kapitel versucht aufzuzeigen, inwieweit Verzerrungen in der Informationsverarbeitung zu der Entstehung und der Aufrechterhaltung von Verschwörungstheorien und Verschwörungsglauben beitragen können. Dabei haben wir einige Verzerrungen vorgestellt, welche möglicherweise eine Quelle von Verschwörungsglauben darstellen oder diesen zumindest fördern können, während wir weitere benannt haben, die als Folge von Verschwörungsglauben auftreten und zu dessen Immunisierung beitragen können.