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Dieses eBook: "Die Puppen des Maharadscha (Mystery-Krimi)" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Aus dem Buch: "Er wußte selbst nicht, wie er dazu gekommen war! Aber eines Abends fand er sich plötzlich in einer verräucherten Kneipe, zwischen Matrosen und allerlei zweideutigem Gesindel, schmierige Karten auf die unsaubere Tischplatte hauend. Er fluchte wie sie, spuckte wie sie und gröhlte gleich ihnen, wenn eine größere Summe aus der Bank in seine Hände floß. Dann bestellte er Schnaps für die ganze Korona, denn er hatte den Gewinn nicht nötig und brauchte vorläufig nicht davon zu leben, was ihm die Glücksblättchen in den Schoß warfen. Das war, wie gesagt, der Anfang. Aber es blieb nicht dabei. Einmal ließ er sich seinen Frack abbürsten, telephonierte nach einem Auto und fuhr ins Kasino de Paris. Da war es anders als in den Kaschemmen, denn die Herren trugen gestärkte Hemdbrüste, die Frauen hatten wenig an und die Schritte ertranken in tiefen Persern. Statt Schnaps trank man Sekt und statt um ein paar lumpige Franken ging es auf Hunderte, Tausende, und wenn man wollte – Millionen! – Dieses aber hatte Erwin Gerardi gesucht. Er setzte sich an einen Tisch, an dem gerade ein Platz frei wurde, goß drei Glas Champagner hinunter und begann zu jeuen. Erwin Gerardi war nämlich einer jener unverbesserlichen Käuze, die sich einbilden, ein System erfunden zu haben, nach dem sich ohne Verlust und mit viel Gewinn spielen läßt. Er hatte es in den Kaschemmen erprobt und wollte nun auch im großen Stile davon Gebrauch machen." Siegfried Bergengruen (1900 - 1942) war ein deutschbaltischer Journalist und Schriftsteller.
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Seitenzahl: 223
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Kapitel 1. Sanjo Afru
Kapitel 2. Ein Millionengeschäft
Kapitel 3. Ein kleiner Flirt und ein großer Erfolg
Kapitel 4. Gewonnenes Spiel
Kapitel 5. Der schwarze Koffer
Kapitel 6
Kapitel 7. Ein merkwürdiger Zwischenfall
Kapitel 8. Eine nächtliche Begegnung
Kapitel 9. Jeannette in Paris
Kapitel 10. Die Ereignisse in der Villa Afru
Kapitel 11. Aufregende Stunden
Kapitel 12. Judith
Kapitel 13. Das Geheimnis der schönsten Puppe
Kapitel 14. Im Flugzeug nach Indien
Kapitel 15. Zwischen Tod und Leben
Kapitel 16. Ivonnes Tanz
Kapitel 17. Ein unheimliches Wiedersehen
Kapitel 18. In letzter Minute!
Inhaltsverzeichnis
Er wußte selbst nicht, wie er dazu gekommen war! Aber eines Abends fand er sich plötzlich in einer verräucherten Kneipe, zwischen Matrosen und allerlei zweideutigem Gesindel, schmierige Karten auf die unsaubere Tischplatte hauend. Er fluchte wie sie, spuckte wie sie und gröhlte gleich ihnen, wenn eine größere Summe aus der Bank in seine Hände floß. Dann bestellte er Schnaps für die ganze Korona, denn er hatte den Gewinn nicht nötig und brauchte vorläufig nicht davon zu leben, was ihm die Glücksblättchen in den Schoß warfen.
Das war, wie gesagt, der Anfang. Aber es blieb nicht dabei. Einmal ließ er sich seinen Frack abbürsten, telephonierte nach einem Auto und fuhr ins Kasino de Paris. Da war es anders als in den Kaschemmen, denn die Herren trugen gestärkte Hemdbrüste, die Frauen hatten wenig an und die Schritte ertranken in tiefen Persern. Statt Schnaps trank man Sekt und statt um ein paar lumpige Franken ging es auf Hunderte, Tausende, und wenn man wollte – Millionen! – Dieses aber hatte Erwin Gerardi gesucht. Er setzte sich an einen Tisch, an dem gerade ein Platz frei wurde, goß drei Glas Champagner hinunter und begann zu jeuen. Erwin Gerardi war nämlich einer jener unverbesserlichen Käuze, die sich einbilden, ein System erfunden zu haben, nach dem sich ohne Verlust und mit viel Gewinn spielen läßt. Er hatte es in den Kaschemmen erprobt und wollte nun auch im großen Stile davon Gebrauch machen.
Und siehe, tatsächlich, er gewann! Gewann Unsummen! In bauschigen Bergen türmten sich um ihn die Banknoten, knisterten in allen Taschen, raschelten lüstern zwischen den Fingern. Seine Partner mußten die Plätze aufgeben, da sie bankerott waren. Neue Gegner nahmen ihre Stelle ein. Aber er blieb und siegte! Als er in den Morgenstunden heimfuhr, hatte er sein Vermögen verdoppelt! Hielt er bereits früher viel auf sein System, so schwor er nun darauf.
Das ging so lange, bis eines Tages ein fremder Herr in indischer Tracht in den Sälen des Kasinos de Paris erschien. Wie man beim Portier feststellte, hatte er sich als Sanjo Afru, Bevollmächtigter des Maharadschas von Sukentala, eingetragen. Reichtümer ließen sich hinter diesem Menschen vermuten, aber auch magische Kräfte, mit denen sich niemand messen wollte. Die Männer gingen in einem Bogen um ihn herum und die Frauen lächelten süß, wenn sein lässiger Blick sie traf.
Wen anders sollte man dem Inder gegenüberstellen, als den vom Glück gezeichneten, durch sein System gefeierten Erwin Gerardi. Ein paar Mitläufer wurden mit Mühe und Not aufgetrieben, dann ging die Sache los. Und auch Sanjo Afru verlor! Dabei ging es um Riesensummen. Da es an Bargeld mangelte, spielte man auf Schecks. Glühende Wirbel jagten durch Gerardis Hirn. Größer und größer wurde der Haufen des Geldes, der sich vor ihm staute. Nie wieder wollte er eine Karte anrühren, so gelobte er sich, wenn er auch diesmal siegreich aufstand. Ein gewaltiges Rittergut wollte er sich kaufen und dann heiraten!
Ja! Die schwarzlockige Tänzerin Ivonne Martinet, die sich bisher seinen Bewerbungen gegenüber ablehnend verhielt, da sie ihn für zu wenig kapitalkräftig glaubte. Aber nun würde sie wohl nicht umhin können.
Und dann: ein Auto mußte her! Ach was! Drei Autos mindestens, und ein Schwimmbad mit marmornem Becken und Spiegelwänden und erstklassige Rennpferde ...
»Auf wieviel gehen Sie?« fragte da die dumpfe Stimme des Inders laut und unsympathisch mitten in seine rosigen Träume hinein.
»Aufs Ganze!« sagte Gerardi unbedacht, denn er ärgerte sich, daß sein Partner ihn gestört hatte.
»Aufs Ganze? – O, bitte. Es stehen nur – fünf Millionen Franken!«
Fünf Millionen Franken?!
Gerardi überlief ein Grauen. Seine Hände begannen zu zittern. In seinen Schläfen hämmerte das Blut, kalter Schweiß feuchtete seine Stirn.
Die anderen Gäste hatten erfahren, worum es ging und drängten in lautlosen erregten Scharen zum Spieltisch. Fünf Millionen Franken! So etwas war noch nie dagewesen!
Gerardi kaufte und erhielt zwanzig Punkte. Er triumphierte innerlich. Am liebsten hätte er die Zahl laut herausgebrüllt. Nun sollte der Mann da gegenüber versuchen, ihn zu überbieten.
Sanjo Afru deckte seine Karte auf. Es war ein As. Einen Augenblick zögerten seine Finger wie Schlangen, die sich zusammenducken, bevor sie zum Biß vorstoßen. Dann kaufte er! Und erhielt noch ein As!
Jemand schrie: »Einundzwanzig!« –
Gerardi erhob sich taumelnd.
»Einen Scheck über fünf Millionen Franken, bitte ...« sagte freundlich die Stimme Afrus.
Gerardi schrieb. »Wieviel Nullen ...?« fragte er tonlos.
»Sechs ...« half ihm der Inder liebenswürdig ein.
»So, sechs? – Ich danke!« –
Er wankte hinaus. Der Portier wollte ihm den Mantel umhängen, aber er schob ihn zurück. Im nächsten Augenblick umgab ihn die Kühle des Gartens. Er war ruiniert, daran ließ sich nichts ändern. Noch mehr, er hatte nicht nur sein eigenes Vermögen verspielt, sondern sogar Schecks unterschrieben, die über seine Zahlungsfähigkeit hinausgingen. Schon morgen würde das der Inder auf der Bank feststellen. Dann wurde er für den Betrug belangt, verurteilt, ins Zuchthaus gesperrt. Verzweiflung und Lebensüberdruß bemächtigten sich seiner. Er ging bis an eine niedrige Mauer, die den Park im Süden begrenzte, und über deren Brüstung hinweg man einen wunderbaren Blick auf das mondbeschienene Mittelländische Meer hatte, auf dem hier und dort die rötlichen Lichtlein der Gondeln funkelten. Aber in diesem Augenblick sah der unglückliche, einsame Mann nichts von der großen Schönheit, die sich da vor ihm breitete. Der eine Gedanke, daß er gespielt und verloren hatte, ein für allemal, erfüllte völlig sein Herz. Ohne zu zögern, griff er in die Brusttasche und zog daraus eine kleine, im Mondlicht glänzende Pistole hervor. Wenn schon ein Ende gemacht werden mußte, dann wenigstens schnell und ohne Sentimentalität.
Aber er kam nicht zum Schuß.
Eilige Schritte knirschten plötzlich hinter ihm durch den Kies. Er wandte sich und steckte die Waffe weg. Vor ihm stand Sanjo Afru! Minutenlang sahen sich die beiden Männer in die Augen.
»Wenn ich ihn jetzt niederknalle, bin ich gerettet!« durchzuckte es Gerardis Hirn. »Kein Mensch würde es hören! Die Brandung ist viel zu laut! Er hat sicherlich alle Schecks und viel Bargeld in der Tasche! Ich wäre wieder ein gemachter Mann!« –
Aber in Sanjo Afrus Blick lag etwas so furchtbar Zwingendes und zugleich Spöttisches, das da sagen wollte, ich kenne ja alle deine schwarzen Absichten und sehe mich schon vor ..., daß Gerardi seine Gedanken aufgab und unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. »Geben Sie mir die Waffe!« sagte Afru leise und befehlend, und streckte die Hand aus.
Gerardi tat es ohne Widerspruch.
Afru betrachtete den Browning interessiert, lächelte dann geringschätzig und warf ihn über die Brüstung. Unten klatschte er aufs Wasser auf. Dann holte er eine Brieftasche heraus und überreichte sie Erwin. »Bitte,« sagte er, »hier sind Ihre Verluste. Ich erstatte sie Ihnen zurück. Es tut mir leid, wenn Sie sich um dieser Lappalie willen Sorgen gemacht haben.« –
Gerardi wußte nicht, wie ihm geschah. Er wollte danken, aber irgend etwas Heißes, das in seiner Kehle aufquoll, machte es ihm unmöglich, auch nur das kleinste Wort hervorzubringen. Stumm griff er nach der Hand des Inders.
Der aber zog sie zurück. »Sparen Sie Ihren Dank, denn ich habe noch nicht zu Ende gesprochen. Ich gebe Ihnen nicht umsonst fünf Millionen Franken zurück. Ich verlange für dieses Entgegenkommen auch Ihrerseits einen Dienst!«
Gerardi nickte eifrig. Es war ihm sogar lieb, wenn er etwas für den Fremden tun konnte, dann ging er wenigstens nicht völlig als Schuldner aus dieser unglückseligen Affäre hervor. »Ich stehe zu Ihrer Verfügung,« antwortete er heiser.
»Gut. Was ich von Ihnen verlange, ist denkbar einfach. Wie Sie gehört haben, bin ich der Beauftragte des Maharadscha von Sukentala. Dieser Herrscher hat nun, wie viele hohe Persönlichkeiten, eine eigenartige Marotte. Er sammelt Puppen! Und ich bin eigens nach Europa entsandt, um für ihn die schönsten Puppen ausfindig zu machen und nach Indien zu schicken. Dabei sollen Sie mir helfen ...!?«
»Gerne,« sagte Erwin Gerardi interessiert. »Aber worauf soll sich meine Tätigkeit erstrecken?«
»Auf nichts anderes, als den großen Koffer, der einmal monatlich mit den für den Maharadscha eingekauften Puppen hier eintrifft, eine Nacht lang bei sich aufzubewahren!«
Gerardi sah erstaunt auf. Er hatte das Gefühl, diese Angelegenheit habe irgendeinen Haken.
Afru durchschaute sogleich seine Gedanken. »Sie brauchen nicht zu befürchten, etwas Unerlaubtes zu tun. Es handelt sich lediglich um den Zufall, daß ich des öfteren außerhalb von Marseille auf Reisen bin und den sehr wertvollen Inhalt des Koffers bis zum Abtransport in guten Händen wissen möchte. Im übrigen steht es Ihnen frei, meinen Antrag abzuschlagen und sich zurückzuziehen. Ich müßte dann allerdings ...!?«
»Nein,« sagte Erwin schnell, »ich ziehe mich nicht zurück.«
Im Grunde war es ja einerlei, was für eine Bewandtnis es mit dem Koffer hatte. Ihm konnte niemand etwas anhaben, wenn er aus purer Liebenswürdigkeit ein harmloses Gepäckstück aufbewahrte. »Schicken Sie den Koffer ruhig zu mir!«
Der Inder verneigte sich. »Die nächste Ladung kommt am Samstag über acht Tage beim Einbruch der Dunkelheit und wird im nächsten Morgengrauen abgeholt werden.«
Er grüßte und verschwand.
Erwin Gerardi war wieder allein.
Mit zitternden Händen öffnete er das Portefeuille und schrie fast vor Überraschung und Freude. Statt seiner wertlosen Schecks befand sich darin eine Anweisung über 5 Millionen Franken, die am nächsten Tage auf einer Bank von Marseille abgehoben werden konnten!
Inhaltsverzeichnis
Als Erwin Gerardi um die Mittagszeit erwachte, strahlte funkelnder Sonnenschein durch die breiten Fenster. Erschreckt fuhr er auf und schaute nach der Uhr. Halb Zwei!
Er tastete nach der Stirn, die heftig schmerzte.
Was ... was hatte er erlebt?
Plötzlich fiel sein Blick auf die Tasche aus braunem Leder, die auf seinem Nachttisch lag. Es war also kein Traum gewesen. Er ergriff die Tasche, klappte sie auseinander und zog das marmorierte Stempelpapier hervor.
5 Millionen Franken!
Immerhin fragte es sich, ob die Sache stimmte und die Bank die Auszahlung nicht verweigern würde.
Mit fliegenden Händen kleidete Erwin sich an, trank eine Tasse Mokka, rauchte eine Zigarette und war um zwei Uhr bereits auf der Straße.
Dort merkte er, daß außer dem Scheck kein Sou sein eigen war. Wütend kramte er in allen Taschen und machte sich schließlich zu Fuß auf den Weg zur Bank.
Es war ein sehr heißer Tag und die Sonne brannte mit wahrhaft südlicher Glut auf die Straßen nieder. Scharf umrissen fielen von den Häusern ihre schwarzen Schlagschatten über den blendenden Asphalt, der unter der Hitze weich zu werden begann. Autos wirbelten benzinduftende Staubwolken auf. Motorräder schnauften und dröhnten. Die sonst so mißachtete Straßenbahn erschien Erwin Gerardi in diesem Augenblick begehrenswert und bequem. Aber er mußte laufen! Und war doch fünffacher Millionär!
An der Ecke der Rue du Progres und der Rue Bergere rannte er mit einer Dame zusammen. Sie kam aus dem Café Glacier, fächelte sich mit einem duftenden Tüchlein Kühlung zu und winkte angestrengt nach einer Autodroschke.
»Ivonne!« rief Erwin erfreut. »Sie sendet mir der Himmel! Sie müssen mich nach der Bank du Commerce fahren!?«
Ivonne Martinet betrachtete den erregt und erhitzt aussehenden Erwin vom Kopf bis zu den Füßen und sagte dann mißbilligend:
»So sieht also ein Mann aus, der sein ganzes Vermögen verspielte! Ich wüßte nicht, was Sie – ausgerechnet Sie – noch auf der Bank du Commerce zu suchen hätten und warum gerade ich Sie dorthin fahren sollte!?«
Erwin sah ein, daß hier eine langatmige Erklärung nutzlos war. Außerdem fuhr gerade das Auto vor. Es war also keine Zeit zu verlieren. Ohne Umstände griff er in die Tasche, holte den Scheck hervor und hielt ihn Ivonne unter die Nase. »Lesen Sie!« sagte er lakonisch, »und behaupten Sie noch einmal, ich habe nichts auf der Bank zu tun!«
Und da Erwin bestätigend nickte:
»Merkwürdig! – Ich habe nie geahnt, daß Ihnen so große Reserven zur Verfügung ständen. Von Ihrem Vater können Sie das eigentlich doch nicht geerbt haben!?«
»Habe ich auch nicht!« lachte Erwin belustigt. »Aber wollen wir nicht fahren? Es wird höchste Zeit und ich besitze keinen Sou Kleingeld.«
*
Am Eingang des Kassensaales trat ein kleiner eleganter Herr von asiatischem Typus auf Erwin und Ivonne zu und fragte halblaut:
»Habe ich es mit Monsieur Erwin Gerardi zu tun?«
»Gewiß, der bin ich,« sagte Erwin erstaunt. »Womit kann ich Ihnen dienen?«
Der kleine Herr verneigte sich tief. »In nichts, Monsieur, im Gegenteil, Sanjo Afru hat mich beauftragt, Ihnen behilflich zu sein, falls die Auszahlung Schwierigkeiten machen sollte. Ich bin sein Sekretär.«
Sie begaben sich in das Kassenzimmer.
Erwin wies den Scheck vor, der sogleich angenommen wurde. Der Beamte erkundigte sich, was mit der Summe geschehen solle.
Erwin dachte einen Augenblick nach. Dann erbat er sich zehntausend Franken in bar und ließ den Rest seinem Konto gutschreiben.
»Sehr wohl ...«
Der Beamte kehrte mit einem Päckchen Tausendfrankscheine zurück.
»Hier bitte. Sie haben vielleicht die Güte, nachzuprüfen.«
Aber Gerardi machte eine abwehrende Handbewegung und unterschrieb eine Quittung.
Vor dem Portal stellten Ivonne und er fest, daß der Fremde im Gewühl verschwunden war. Sie fuhren nach dem Maison Doree, um zu speisen. Das dauerte anderthalb Stunden und war sehr ausgiebig. Als sie endlich bei Kaffee, Chartreuse und Zigaretten angelangt waren, legte sich Ivonne behaglich zurück und sagte: »Was nun?«
Erwin kniff das rechte Auge zusammen, schnippte die Asche von seiner Zigarette und antwortete kühl: »Das Geschäft.«
Es war Ivonne klar, daß sich mit einem Manne, der fünf Millionen Franken auf der Bank und zehntausend Franken in der Tasche stecken hatte, schon Geschäfte machen ließen.
»Kann ich Ihnen dabei behilflich sein?« fragte sie freundlich.
Erwin erhob sich und ging einigemal auf und nieder. Schließlich blieb er vor Ivonne stehen. »Sie kennen Monsieur Doufrais persönlich?«
»Ich kenne ihn.«
»Er steht vor der Pleite.«
»Schön, würden Sie sich bereit erklären, festzustellen, unter welchen Bedingungen Doufrais seine Fabrik verkaufen will?«
»Sie sind der Käufer?«
»Ja. Aber er braucht es noch nicht zu wissen.«
Ivonne dachte einen Augenblick nach. Dieser Mann hatte Großes vor, und das imponierte ihr. Es lohnte sich mit ihm zu arbeiten. Vielleicht würde er sie sogar heiraten. Er hatte früher dergleichen Andeutungen fallen lassen. Aber damals hatte sie ja noch nicht gewußt ...! Jedenfalls bestand kein Hindernis, in die Sache hineinzuspringen. Aber Geschäft war Geschäft.
»Ich brauche einen Vorschuß auf meine Provision,« sagte sie lässig, »sonst kann ich nicht mitmachen.«
»Aber gewiß!« Erwin überreichte ihr einen Tausendfrankenschein. »Wenn es weiter nichts ist. Ich hoffe, diese Kleinigkeit wird vorläufig genügen. Treffpunkt: zehn Uhr abends im Café de Paris!«
»Ich werde tun, was möglich ist.«
Er küßte ihr die Hand und geleitete sie zum Auto.
Als sie abgefahren war, ging er ans Telephon. »18 066, bitte!«
Knistern, Schwirren, dumpfes Knacken. Dann eine etwas heisere Stimme:
»Hier Francois Courton.«
»Hier Erwin Gerardi ...«
»Du? Sehr schön, daß du lebst. Mir wurde aus dem Casino de Paris berichtet, du habest fünf Millionen Franken verspielt und es infolgedessen vorgezogen, dich in ein besseres Jenseits zu verflüchtigen. Aber diese Nachricht scheint nicht auf Tatsachen zu beruhen ... Oder sprichst du etwa aus dem Himmel ...?«
»Im Gegenteil. Ich stehe so fest wie lange nicht mit beiden Beinen auf der Erde. Außerdem ist einiges von Bedeutung vorgefallen. Ich bin in Besitz einer größeren Summe Geldes gelangt. Könntest du daher auf zwei Worte ins Maison Doree kommen? Ich habe etwas mit dir zu besprechen. Es betrifft, damit du im Bilde bist, das Terrain von Doufrais ...!«
»Von Doufrais? Ich verstehe. In zehn Minuten bin ich bei dir und bringe das Material mit.«
Francois Courton war Ingenieur und Sachverständiger der Eisenbahnverwaltung. Unter anderem hatte man es ihm übertragen, die neue Eisenbahnlinie von Marseille nach Cannes abzustecken.
Gerardi überzeugte sich, als der andere kam, daß die ledergepolsterten Türen verschlossen waren und setzte sich Francois gegenüber.
»Wie stehen unsere Aktien?« fragte er leise.
Courton entnahm der Aktenmappe eine Karte der Umgegend von Marseille, durch deren grüne, blaue und schwarze Farbenfelder sich eine dicke rote Linie wand. Courton fuhr mit dem Zeigefinger die Linie entlang und hielt schließlich an einem Punkt, der durch eine Ansammlung schwarzer Klexe als bebautes Gebiet gekennzeichnet war.
»Hier,« sagte er ruhig, »ist was du wünschest!«
Gerardi beugte sich vor und bemerkte, daß die rote Linie quer durch das Terrain der Doufraisschen Werke gelegt war.
»Bist du zufrieden?« fragte Courton. »Dieser Plan bleibt noch fünf Tage geheim, so lange hast du also Zeit zum Handeln. Sobald seine Veröffentlichung erfolgt ist, wird wohl kaum einer, durch dessen Besitztum die neue Eisenbahnlinie gehen soll, daran denken, gutwillig zu normalen Preisen zu verkaufen.«
»Ich bin zufrieden,« sagte Gerardi. »Alles Nötige ist eingeleitet. Falls die Sache richtig klappt, bekommst du hunderttausend Franken. Genügt das?«
»Es genügt. Aber du weißt: nur noch fünf Tage!«
Erwin Gerardi fuhr nach Hause, um sich umzuziehen. Als er seine schlanke Gestalt in Frack, blendender Hemdbrust und schwarzer Binde im Spiegel bewunderte, lächelte er seinem eigenen Bilde zu. Das Leben war doch schön! Wenn er sich auch hatte erschießen wollen. Denn gerade die lauernden Gefahren verliehen dem Dasein einen eigenen Reiz.
Es war nach Zehn, als er im Kasino eintraf.
Überall begegnete er erstaunten Blicken, die zu sagen schienen: Also du bist wieder da? Und wir dachten schon ...!
Am Spieltisch traf er Ivonne, die ein Zehnfrankstück nach dem anderen auf Rouge setzte und verlor.
»Lassen Sie das, Ivonne,« rief er. »Sie haben heute kein Glück im Spiel.«
Sie setzten sich in eine abgelegene Nische und bestellten Sekt und Austern.
Als der Sekt in den Kelchen perlte, fragte Erwin: »Also, Schönste der Frauen, was haben Sie ausgerichtet?«
Ivonne ließ sich Zeit. Dann antwortete sie: »Nichts zu machen. Der alte Doufrais denkt nicht daran, zu verkaufen. Er sagt, mit der Pleite habe es noch seine gute Zeit. Allerdings, wenn ich wüßte, daß ihm jemand eine Million vorschießen wolle – zu hohen Zinsen natürlich – das sei etwas anderes. Aber verkaufen – nein!«
»Verdammt!« Erwin schlug mit der Faust auf die Marmorplatte des Tisches. »Der Alte ist verrückt! Auf die verfahrene Karre auch noch Geld leihen? Aber, wenn er nicht verkaufen will, gut, so werde ich ihn zwingen!«
Er ergriff das Tischtelephon und ließ sich mit dem Detektivbureau »Union« verbinden.
»Union! Was steht zu Diensten?«
»Ich brauche Daten über die Firma Doufrais bei Marseille!« –
»Sehr wohl! Hat die Angelegenheit eine Stunde Zeit?«
»Nein. Dreißig Minuten müssen genügen!«
»Gut. Wohin können wir unseren Beauftragten mit den Feststellungen senden?«
»Casino de Paris. Marmorsaal. Elfte Seitenloge links. Erwin Gerardi.«
Er hängte den Hörer an. Die Sache kam in Schwung.
Sechs Minuten nach Elf betrat ein Herr mit markanten Zügen den Marmorsaal.
»Habe ich die Ehre mit Monsieur Gerardi?« erkundigte er sich höflich.
»Ganz recht. – Nehmen Sie Platz, Monsieur ...?«
»Morton ...«
»Monsieur Morton, trinken Sie ein Gläschen und erzählen Sie dann.«
Der Detektiv berichtete. Es erwies sich, daß Doufrais schon längst pleite gewesen wäre, wenn ihn nicht die Aufträge der Firma Spanetti in Mailand vor dem Schlimmsten bewahrt hätten.
»Kennen Sie den gefährlichen Konkurrenten von Doufrais?« fragte Gerardi gespannt.
»Einen Augenblick!«
Morton zog ein Notizbuch aus der Tasche und nannte dann mehrere Namen. Maßgebend sei auf alle Fälle der mittelfranzösische Seidentrust mit dem Direktionssitz in Lyon!
»Gut! Das genügt!« Gerardi beglich die Rechnung, steckte dem erfreuten Morton eine Hundertfranknote zu und verließ in Begleitung Ivonnes das Kasino.
»Ich fahre mit dem nächsten D-Zug nach Lyon! – Wollen Sie mich begleiten?«
»Ich bin gespannt, wie Sie die Sache ins Lot bringen werden und komme daher mit ... das heißt, wenn es Sie nicht stört ...?«
Erwin Gerardi lachte. Es war ein fröhliches Lachen, aus dem Ivonne schloß, daß ihre Chancen gut standen.
Im Morgengrauen trafen sie in Lyon ein. Ohne Zeit zu verlieren, fuhren sie nach dem Direktionsgebäude des Seidentrusts.
Es dauerte eine Weile, bis ihnen ein verschlafener Portier öffnete.
»Ist der Generaldirektor zu sprechen?«
»Verreist.«
»Wohin?«
»Paris.«
»Wer vertritt ihn?«
»Ingenieur Massot. Kommt um zehn Uhr.«
»Zu spät. – Wo wohnt er?«
»Rue du Valence 32!«
Schwapp war die Tür wieder zu. Erwin und Ivonne sprangen ins Auto und fuhren nach der Rue de Valence.
Das Haus Nr. 32 war erstaunlicherweise offen. Ein hübsches Kammerkätzchen stand im Vorgarten und klopfte beim Schein der ersten Sonnenstrahlen Teppiche.
Erwin ging auf sie zu: »Monsieur Massot schon auf?«
Gelächter als Antwort.
»Aber Monsieur! Um diese Zeit? – Nach vier Stunden das wäre was anderes.«
»Sie müssen ihn wecken! Es handelt sich um ein äußerst wichtiges Geschäft!«
Noch immer zögerte die Kleine, wurde aber, als ihr Erwin einen Zehnfrankschein in die Hand drückte, sofort von der Dringlichkeit der Sache überzeugt.
»Gut, gut ..., ich werde seh'n, was sich machen läßt!«
Verschwunden war sie.
Es dauerte fünf Minuten, zehn Minuten, eine Viertelstunde.
Erwin wurde ungeduldig.
Um neun Uhr dreißig ging ein Zug nach Marseille zurück, den wollte er benutzen. Schließlich hatte er für das ganze Geschäft nur fünf Tage Zeit und der erste war bereits angebrochen.
Als zwanzig Minuten vergangen waren, ohne daß sich jemand meldete, hielt er es nicht mehr länger aus und ging hinein. Bereits auf dem Vestibül hörte er eine männliche und eine weibliche Stimme, die in erregtestem Tonfall Zwiesprache hielten.
»Laß mich zufrieden ..., ich will noch schlafen!«
»Und ich sage Ihnen zum hundertstenmal: es ist ein feiner Herr, der eigens aus Marseille gekommen ist, um mit Ihnen ein wichtiges Geschäft zu verabreden.«
»Unsinn. Es ist wieder irgendein Vagabund, der dich zum besten hält und mich um ein paar Sous anbetteln will!«
»Um ein paar Sous?!« Des Mädchens Stimme klappte über vor Zorn und Eifer. »Um ein paar Sous?! – Na, wenn das so einer wäre, hätte er mir wohl nicht zehn Franken gegeben, damit ich Sie wecke ...!«
»Zehn Franken? Donnerwetter!«
»Jawohl, zehn Franken! Aber ich gehe nun, bringe sie zurück und erzähle ihm, daß er ruhig nach seinem Marseille zurückfahren kann, da der Ingenieur Massot zu faul sei, um morgens Geschäfte zu machen!«
Erwin wartete indessen nicht ab, bis das erzürnte Kammerkätzchen wieder bei ihm erschien, sondern öffnete ohne Umstände die Tür. Das Zimmer war geräumig und halbdunkel. In einer Ecke stand ein großes Bett. Auf dessen Rand saß ein Mann in blauseidenem Schlafanzug und bemühte sich, möglichst schnell ein paar rote türkische Morgenschuhe an die Füße zu bekommen.
»Pardon,« sagte Erwin, »wenn ich störe. Aber mein Zug geht in 45 Minuten ... Ich habe doch die Ehre mit Herrn Ingenieur Massot?«
»Allerdings, der bin ich ... Und Sie ...?«
»Erwin Gerardi aus Marseille. Ich komme, da ich Sie um eine Gefälligkeit bitten möchte ...«
»Ich pumpe prinzipiell nicht!«
»Ganz mein Fall! Aber bei Ihnen will ich eine Ausnahme machen! Ich biete Ihnen persönlich zehntausend Franken, wenn Sie das Geschäft für mich machen ...!«
»Was für ein Geschäft?«
»Mit der Firma Spanetti in Mailand!«
»Kauft von uns nicht! Wird von Doufrais beliefert!«
»Weiß ich. Sie setzen sofort ein Telegramm an Spanetti auf, in dem Sie drei Wagenladungen Seide loko Mailand um zehn Prozent billiger offerieren als Doufrais ...!«
»Sie sind wahnsinnig, Herr! Wir würden dann einen Verlust von nahezu sechs Prozent erleiden und haben nicht den geringsten Anlaß, uns in dergleichen sinnlose Affären hineinzustürzen!« –
»Die Angelegenheit ist weder sinnlos, noch eine Affäre! Wenn es Ihnen gelingt, ein einziges Mal die Aufträge der Firma Spanetti an Doufrais auf sich überzuleiten, ist Doufrais pleite ...!«
»Wissen Sie das bestimmt?«
»Jawohl. Damit Sie ganz sicher gehen, erbiete ich mich, den Verlust zu tragen. Genügt Ihnen das?«
»Und ich bekomme ...?«
»Wie ich schon sagte, zehntausend Franken, die auf der Société Générale deponiert werden.«
Massot dachte einen Augenblick nach. An der Sache war alles klar und nichts zu verlieren. Im Gegenteil, da er 6 Prozent Verlust kalkuliert hatte, und dieser in Wirklichkeit nur 4 Prozent betrug, würde die Firma durch die Sicherstellung dieses seltsamen Herrn Gerardi aus Marseille noch 2 Prozent der Gesamtsumme gewinnen. Und er? Er konnte zehntausend Franken auf alle Fälle brauchen. Immerhin mußte er sich mit dem Generaldirektor verständigen!
Während er sich unter Beihilfe Gerardis in aller Eile ankleidete, meldete er ein Telephongespräch nach Paris an. Es wurde neun Uhr, bis er den Anschluß bekam.
Der Generaldirektor aber war gerissener als sein Gehilfe. Er durchschaute sofort die Dringlichkeit der Sache und beschloß daraus Kapital zu schlagen. Er ließ Erwin Gerardi mitteilen, er könne seine Zustimmung nur erteilen, wenn er bereit sei, außer den 6 Prozent Verlust noch 2 Prozent Risikoentschädigung zu bezahlen.
Gerardi war nicht erbaut, als Massot ihm diesen Bescheid brachte. Aber die Zeit drängte, und es war keine Minute zu verlieren. Der Not gehorchend, sagte er zu.
Hals über Kopf ging es nach der Hauptpost. Das Telegramm wurde aufgegeben und die Antwort bezahlt. Sobald diese einlief, sollte Massot Gerardi in Marseille benachrichtigen.
Und dann saßen sie beide, Erwin und Ivonne, wieder in dem bequemen, geschlossenen Abteil des Zuges nach Marseille, den sie mit knapper Not erreicht hatten. Auf und ab schwangen die Drahtbündel der Telegraphenlinien neben dem Zuge. Zuweilen schauten für kurze Augenblicke die roten Dächer und weiße Mauern freundlicher Städtchen aus dem Grün der Landschaft, um bald wieder zu verschwinden.
Ivonne war sehr müde. Alle die vielen Ereignisse des letzten Tages, der vergangenen Nacht und dieses Morgens, die in kinematographischer Schnelle über sie hingestürmt waren, hatten auch ihre sonst recht widerstandsfähigen Lebensgeister mürbe gemacht. Das rhythmische Geräusch der Räder, das leise Schaukeln der Wagen und die streichelnde Wärme der Sonne machten sie vollends schläfrig. Sie schloß die Augen. Langsam, ganz langsam sank ihr feiner blasser Kopf zur Seite und schmiegte sich an Erwins Schulter.
Er lächelte und legte den Arm um sie.
So saßen sie lange.
Valence und Avignon zogen vorüber. Die ersten Vorstädte von Marseille schoben ihre verräucherten Mauern an die Schienen.
Da weckte Erwin seine Gefährtin durch einen Kuß.
Mit einem leisen Schrei fuhr sie auf: »Was ... was ... ist?!«
»Nichts. Wir sind in Marseille!«
»Du ... hast mich ... geküßt?!« – Und dann ganz erzürnt, daß sie selbst »Du« gesagt hatte: »Das war nicht hübsch von Ihnen, das war ...«
Aber er ließ sie nicht zu Worte kommen. Er nahm ihr schlafheißes, schönes Gesicht zwischen beide Hände und drückte einen, nein, viele Küsse auf ihren schmollenden Mund.
Schließlich rang sie sich los und wies hinaus. »Nun ist's aber genug!« rief sie atemlos. »Fast wäre ich erstickt, du schlimmer, böser, lieber Mensch! – – Was sollen sich denn überhaupt die Menschen denken ...?!«
Und wahrhaftig, der Zug stand längst auf dem Hauptbahnhof von Marseille und ein ganzer Schwarm Neugieriger beobachtete schmunzelnd die stürmischen Zärtlichkeiten, mit denen Erwin seine Angebetete überschüttete.
Inhaltsverzeichnis
Erwin wartete.