Die Puppenspieler - Oliver Jungwirth - E-Book

Die Puppenspieler E-Book

Oliver Jungwirth

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Beschreibung

"Es gibt das Gefühl, das sich hin und wieder in einem breit macht, ohne dass man genau sagen kann, wo es herkommt. Das Gefühl, dass gerade etwas passiert, was nicht passieren sollte. Ein Stein ins Rollen gebracht wird, was letztlich nur in einer Lawine enden kann." Um nicht völlig zu vereinsamen beschließt René seine Rückkehr in die Welt, der er den Rücken gekehrt hatte. Zu spät bemerkt er, dass diese sich weitergedreht hat und er nun ein Spielball von Mächten geworden ist, die vor allem eines wollen: Eine Eskalation der Gewalt. Kritikerstimmen: "(...) Klappentext und Cover ließen auf eine spannende Geschichte hoffen, aber meine Erwartungen wurden sogar noch übertroffen. Von Beginn an bis zum Ende hat mich die Spannung der Handlung in den Bann gezogen." A Bird's Point Of View "(...) kein Text, den man abschließend weglegt, zum Tagesgeschäft übergehend. Dazu trifft Jungwirth allzu oft den Nerv des uns umgebenden Alltäglichen. Sei es in Form von Pressemeldungen, sei es in Begegnungen und Gesprächsfetzen in U-Bahn, Zug oder Beisl. Er legt den Finger auf jene empfindlichen Stellen, die unter dem Namen Zivilcourage subsummiert werden können. Stellen, die wir nur allzu gerne bei anderen zu finden wünschen, uns selbst in ihrem Licht aber nur selten exponieren wollen." die-kuchers.at

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„Doom – Die Herrschaft geht zu Ende, bring herbei die Mondenwende. Lass mich für dich Schatten sein. Niemals Morgen, wir allein.“

Johanna Blau „Wartezimmer im Themenpark“ 18. September 2012

Thriller

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

TEIL 1: MORGENDÄMMERUNG

Kapitel 1: Klarheit (in aller) (I)

Kapitel 2: Du bist nett (I)

Kapitel 3: Hypnotisiert (I)

Kapitel 4: Institution (I)

Kapitel 5: Café Depresso

Kapitel 6: Kreuze (I)

Kapitel 7: Institution (II)

Kapitel 8: Hypnotisiert (II)

Kapitel 9: Kreuze (II)

TEIL 2: MITTERNACHTSSONNE

Kapitel 10: Klarheit (in aller) (II)

Kapitel 11: Kreuze (III)

Kapitel 12: Institution (III)

Kapitel 13: Du bist nett (II)

Kapitel 14: Kreuze (IV)

Kapitel 15: Hypnotisiert (III)

Kapitel 16: Klarheit (in aller) (III)

TEIL 3: TAGESLICHTER

Kapitel 17: Du bist nett (III)

Kapitel 18: Institution (IV)

Kapitel 19: Hypnotisiert (IV)

EPILOG

NACHWORT

EINLEITUNG

Es ist bereits eine Weile her, dass ich „dieses Buch“ hier geschrieben habe. Aktuell noch unter dem Namen „Mondenwende“ bekannt, musste ich leider feststellen, dass der Name – so gut er mir gefällt – viele Menschen davon abgehalten hat, es zu kaufen und zu lesen. Das finde ich tragisch und auch irgendwie verständlich. Als ich also vor einiger Zeit die Neuauflage von „Sonnenglaster“ unter dem Namen „Die Nachtschwärmer“ aufgelegt habe, war mir schon klar: Es wird auch eine Neuauflage von „Mondenwende“ geben müssen. Und da mir auch schon klar war (und ist), dass es einen dritten Teil geben wird (allerdings ist noch unklar mit welchen Hauptpersonen), gibt es jetzt auch ein Coverdesign, welches klar macht, dass die Bücher zusammengehören. Man kann also sagen, die „Erstauflagen“ sind die „Limited Edition“ und bereits ausgelaufen.

Man könnte meinen, ich verwerte hier altes Material neu, aber tatsächlich mache ich das, was ich schon die längste Zeit machen wollte. Ich bringe das Design auf Schiene. Und ja, auch bei „Die Puppenspieler“ habe ich ein paar Dinge im Buch überarbeitet, aber – wie ich zu meiner großen Freude feststellen musste –das Buch ist sehr gut gealtert und irgendwie ist das Thema immer noch aktuell. Ich musste nur Kleinigkeiten ändern.

Und das ist irgendwie auch tragisch.

Wie dem auch sei: Damit niemand meint, ich hätte euch nicht gewarnt. Ja, es wird eine Neuauflage von der ersten „Christoph Friedberg“-Akte geben.

Tatsächlich arbeite ich gerade daran. Allerdings wird „G.E.H.O.R.S.A.M.“, so der Titel, nicht nur „überarbeitet“, sondern es ist tatsächlich ein neues Buch mit der alten Geschichte und neuen Figuren, angereichert mit neuen Szenen und ein paar alte Szenen wurden entfernt und geändert. Warum und wieso, dass werdet ihr in einem anderen, eigenen Vorwort lesen dürfen.

So weit, so gut.

Viel Vergnügen mit „Die Puppenspieler“ und ich wünsche uns allen eine bessere Welt als diese hier.

Oliver Jungwirth

Haag am Hausruck, 03.08.2021

VORWORT VON CHRISTIAN GRILL

Der Mensch. Unendliche Weiten.

Unendliche Möglichkeiten. So viel Potential.

So eingeengt. Den eigenen Kognitionen folgend, ohne die Last des Nachdenkens zu schwer werden zu lassen.

Irgendjemand wird sich aber schon etwas dabei gedacht haben, oder? Oder?

Unendliche Verschwendung.

Und dann? Passiert etwas, das man sooo ja nicht ahnen konnte und sicher nicht gewollt hat. Das ist aber nicht unsere Schuld! Das ist aber nicht unsere Schuld, oder?

Oder?

Und bumm. Aus. Aber...

Eine Sinuskurve. Aus dem Schlamm gekrochen, kurz die Nase geputzt, den Dreck abgestreift und um sich geblickt. Es geht aufwärts. Es kann nur aufwärts gehen.

Den Blick nach vorne. Aufbauend. Ideenreich.

Gemeinsam.

Wer halt noch da ist.

Wieder.

Und die Dummheit wartet ab und lauert auf den Peak.

Willkommen zum Vorwort dieses Buches. Atmen Sie ruhig ein und aus. Und jetzt schauen Sie auf. Falls Sie sich noch in einer Buchhandlung befinden, dann gehen Sie jetzt zur Kassa und kaufen Sie dieses Buch. Das ist würdig und recht. (Falls Sie bei dem Wort Buchhandlung schmunzeln mussten oder gar nicht wissen, was das ist, denken Sie vielleicht kurz darüber nach.)

Oliver Jungwirth, der Autor dieses Buches, ist mein Freund.

Schön, das schreiben zu können.

Wir haben einst vor langer Zeit gemeinsam studiert, oft nebeneinander sitzend, einen interessanten Gedanken weiter spinnend oder uninteressante ignorierend. Auf Blöcken entstanden Gedichte, Texte, Fragmente, Skizzen, Teile späterer Veröffentlichungen und, soweit ich weiß, der erste Band dieser Reihe. Oliver ist ein intelligenter und vor allem ein kreativer Mensch. Er hinterfragt Dinge. Er denkt nach. Und redet schnell und teilweise schlampig. Er ist Fan von Kaffee, Terry Prachett, Columbo und Bernd, dem Brot. Man kann sich mit ihm hervorragend über Star Trek unterhalten. Ich mag ihn. Klar. Er ist Cineast und Musikliebhaber, schreibt intelligente Kritiken, macht Filme, bei denen man in den letzten Jahren auch hören kann, was die Akteure sagen, oft schräg und trashig (ein Müllmonster schleudert einen Plüschhai, der sich an der Kehle seiner Opfer festsetzt bis das Kunstblut spritzt), aber auch tiefsinnig und fordernd (z.B. sein gemeinsam mit Barbara Payre geschaffenes Werk "Zeitraum", das Angehörigen/Hinterbliebenen von suizidalen Menschen eine Stimme gab). Beide unbedingt anschauen. Und nicht zuletzt: Er schreibt Bücher.

Ebenso schräg, tiefsinnig und fordernd. Eines davon halten Sie in ihren Händen. Lesen Sie es! Es wird anregender Diskussionsstoff sein!

Die Kapitel in diesem Buch (und im Band 1 der Reihe) beginnen mit Zitaten aus einigen meiner Liedtexte für meine Band „Aquarian Age“. Wenn das Wort "Ehre" nicht immer wieder von Arschlöchern missbraucht werden würde, wäre es mir eine.

In jedem Fall: Es ist mir eine Freude!

In der Zwischenzeit hofft Sisyphos auf eine Änderung der Amplitude.

Schon wieder.

Christian Grill

PROLOG

„When we awake ... we know nothing.“ – Aquarian Age „hypnotized“

I

Das Leben ist voller Überraschungen. Manche davon gut. Manche davon schlecht. Die meisten haben keine langfristigen Auswirkungen.

Zumindest dachte ich das immer.

Heute blicke ich auf alles zurück was passiert ist und bin mir nicht mehr sicher.

Wie viel kann ein einziger Mensch verändern?

Kann er die Welt retten? Kann er sie vernichten?

Vor nicht allzu langer Zeit hätte ich geschworen, beides sei nicht möglich.

Seitdem ist viel passiert.

Ich habe meine Meinung nicht geändert, weil ich es wollte.

Auch nicht, weil ich eines Morgens aufwachte und mir dachte: „Hey, versuch es doch mal mit dieser neuen Ansicht!“ Nein.

Es hat seinen Grund.

Vielleicht kann ein Mensch die Welt nicht retten.

Vielleicht kann ein Mensch sich nicht einmal selbst retten.

Aber eine Gruppe Menschen kann die Welt verändern.

Zum Guten wie zum Schlechten. Auch wenn beides natürlich im Auge des Betrachters liegt.

Wenn ich die Augen schließe, dann sehe ich mich sitzen. Verwundet, geschlagen und bereit einfach aufzugeben.

Ich lehne mit dem Rücken zur Wand. Umringt von Menschen, die mich töten wollen. Neben mir sitzt eine Frau. Susi. Sie hat gemeinsam mit mir dagegen angekämpft. Wir haben beschlossen uns zu vertrauen.

Sie hat die Lösung, meinte sie. Sie könne uns retten.

Was mir nie klar war, ist wie recht sie damit hatte.

Dann wurde ich gefragt, wen von uns beiden sie töten sollen. Ich wäre so gerne tapfer gewesen. Ich wäre so gerne der Held meiner Geschichte gewesen. Hätte mit Stolz geschwellter Brust in die Welt geschrien: „Mich!

Lasst sie gehen!“

Aber das war nicht, was passiert ist.

Das ist nicht, was passierte.

II

Seitdem ist viel Zeit vergangen. Die Welt hat sich weitergedreht. Das Leben ist passiert oder besser: Ich habe das Leben passieren lassen. An mir vorbeiziehen lassen.

Und dann kamen sie zurück in mein Leben.

Fielen erneut über mich und diese Welt her und haben alles aufs Neue verändert.

Ich könnte sie hassen.

Könnte ihnen den Tod, die Pest, die Vernichtung wünschen, aber seltsamerweise tue ich das nicht.

Sie haben mich befreit.

Haben mir mein wahres Ich gezeigt.

Vielleicht sollte ich dankbar sein.

Nicht für alles was sie gemacht, verursacht haben.

Aber zumindest für diesen einen Teil.

III

Wenn der Mond am Himmel steht, dann sammelt sich das Rudel. Sie heulen ihn an, lechzen nach Blut und knurren, immer bereit sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen.

Wenn die Träume des Nachts tanzen und von einer goldenen Zukunft singen, dann springt der Wolf in ihre Mitte, zerfetzt sie und frisst sie alle auf.

Ich war so knapp davor mit dem Rudel zu heulen.

So knapp, dass ich es mir selbst beinahe nicht verzeihen konnte. Aber der Mond steht am Himmel.

Die Nacht hat sich über die Welt gesenkt und der Wandel ist im Begriff eine immer greifbarere Form anzunehmen.

Zuerst war es nur ein Flüstern. Worte, die niemand laut auszusprechen wagte. Dann begannen die Trommeln zu schlagen, die Heere fanden sich, riefen nach ihren Generälen und die Macht strömte zurück ins Zentrum.

Was vor Monaten noch undenkbar schien, war plötzlich möglich. Nahe. Real. Das Flüstern wurde lauter. Die Stimmen sprachen von Hass, von Mord, von „uns“ und von „denen“. Die Gier war da. Immer da gewesen, nie verschwunden, immer nur im Verborgenen gelegen. Verdeckt durch ein Lächeln und ein böses Wort hinter vorgehaltener Hand.

Alles ist anders.

Die Arbeit im Schatten ist getan.

Die Dunkelheit überzieht das Land wie ein Leichentuch.

Die Toten wandeln nun unter uns, ohne zu wissen, dass sie dem Tod geweiht sind.

Man kann es in ihren Augen sehen.

Das Rudel ist groß geworden.

Stark. Mächtig.

Es versteckt sich nicht mehr hinter der Fassade von anständigen Menschen. Es versteckt sich hinter Symbolen, hinter Avataren, Accounts und der Illusion der Sicherheit.

Doch es ist niemand mehr sicher.

Vielleicht waren wir das nie.

Vielleicht war es von Anfang an eine Lüge. Geschaffen von jenen, die nun im Rampenlicht stehen, um in die Gesichter der versammelten Menge zu blicken und mit blitzend weißen Zähnen alle ihre Ängste und Befürchtungen für wahr zu erklären.

Die Worte sind nicht mehr geflüstert.

Sie werden gebrüllt.

Die Krüge werden geschwenkt, die Stimmung schlägt um.

Die Parolen hallen durch die Zelte, über die Straßen und im offenen Tageslicht wird das Wort ABER als neues Zauberwort gehandelt, nach dessen Nutzung man selbst Dinge sagen kann, die vor nicht allzu langer Zeit selbst im Traum noch gerügt worden wären.

Die Zeiten sind anders.

Die Welt ist dieselbe.

Die Gefahr war noch nie so groß.

Mein Hass noch nie so brennend.

TEIL 1

MORGENDÄMMERUNG

Kapitel 1: Klarheit (in aller) (I)

„Wenn es drinnen regnet, draußen nicht (niemand will einen Krieg, haben wir in der Schule gelernt)“ – Aquarian Age „klarheit (in aller)“

RENÉ

I

Ich wache auf. Stumm. Das ist gut. Das ist sehr gut. Die letzten Wochen passiert mir das zum Glück öfter. Ich öffne die Augen, sehe die gewohnte Umgebung und fühle mich ... wach. Kein Traum, der mich die ersten Sekunden in die neue Umgebung verfolgt. Keine Szenen, die gefüllt sind mit Blut, Angst und Zähnen.

Es ist noch nicht hell draußen. Ich bin ruhig.

Alles ist in Ordnung.

Alles. In. Bester. Ordnung.

Manchmal, an guten Tagen, habe ich das Gefühl, als hätte ich alles nur geträumt. Als wäre meine Zeit mit Susi und ... den „anderen“ nur ein dummer, schrecklicher Albtraum gewesen, der mir viel zu real vorkam.

Menschen, die sich in reißende Bestien verwandeln.

Eine Flucht durch die Straßen der Stadt, verfolgt von Tieren, die mich zerfetzen wollen. Eine junge Frau, der ich mich ausliefere, nur um sie im entscheidenden Moment im Stich zu lassen.

Wir können nicht alle Helden sein.

Sie hat mich nie verurteilt. Mir nie gesagt, wie enttäuscht sie ist.

Fast so, als hätte sie meinen Verrat erwartet.

Wie sehr ich mich dafür gehasst habe.

Wie sehr ich sie dafür gehasst habe.

Die Zeit heilt alle Wunden, heißt es. Das ist eine Lüge.

Eine einzige, groß propagierte Lüge, die uns wohl nur helfen soll, daran zu glauben, dass irgendwann alles gut wird. Außen mag es so sein. Menschen vergeben uns. Das Leben geht weiter. Und irgendwann verblasst die Erinnerung, dämmert die Erkenntnis, dass es eigentlich ohnehin niemanden interessiert.

Sie ist weg.

Ich weiß nicht, wo sie ist und ich will es auch nicht wissen.

Niemand will die Erinnerung an seinen größten Misserfolg immerzu vor sich haben. Niemand.

Langsam drehe ich mich zur Seite, blicke auf den Wecker, der am Bettrand steht und frage mich, weshalb mir das Ziffernblatt sagt, dass ich um drei Stunden zu früh wach bin. Dann bemerke ich, dass es draußen noch dunkel ist.

Ein Seufzer entkommt mir.

Natürlich weiß ich, dass ich heute nicht mehr schlafen werde. Zu viele Nächte habe ich mir bei dem Versuch wieder einzuschlafen um die Ohren geschlagen, mich von einer Seite auf die andere drehend und störrisch bemüht. in ruhigen Schlaf zu sinken.

Als ob ich jemals wieder ruhig schlafen könnte.

Die Wunden heilen. Das Fleisch erholt sich.

Narben bleiben.

Manchmal jucken sie. Manchmal vergisst man eine Weile, dass sie überhaupt da sind.

Die Seele heilt nicht.

Meine Seele heilt nicht.

Das liegt womöglich an meinem Wissen, dass es keine Wiedergutmachung gibt. Keine geben kann.

Ich werde mir nie verzeihen.

Um mich von diesen düsteren Gedanken abzulenken werfe ich die Decke zurück, setze mich auf und starre stumm auf den Boden. Ein paar Minuten konzentriere ich mich nur auf meinen Atem und verdränge alles.

Der Gedanke an Kaffee taucht auf und die Versuchung ist groß.

Ich beschließe spontan ihr nachzugeben und trabe lustlos, aber wach, in die Küche. Nachdem ich die Maschine eingeschaltet und auf den richtigen Knopf gedrückt habe, fluche ich laut, schalte sie rasch wieder ab, greife nach einem Geschirrtuch und schüttle stumm und auf mich wütend den Kopf.

Vielleicht wäre es gut gewesen, wenn ich eine Tasse darunter gestellt hätte. Ich scheine doch nicht so wach zu sein, wie mein Hirn mir einreden will.

Dass ich mich auf meinen Kopf nicht sehr gut verlassen kann, sollte ich eigentlich bereits wissen. Was man sich nicht alles schönreden kann.

Es dauert nicht lange und der Saustall ist wieder in Ordnung gebracht.

Für einen kurzen Moment wünsche ich mir, dass mein Kopf auch so rasch wieder in Ordnung gebracht werden könnte, weiß aber gleichzeitig, dass diese Hoffnung vergebens ist. Mein Kopf bleibt kaputt. Auch wenn mein Leben wieder in geordneten Bahnen verläuft.

Ordnung.

Was für ein Wort.

Es gab mal eine Zeit, da dachte ich, dass diese Ordnung tatsächlich existiert, aber dann brach meine Welt zusammen und die neue Welt, die dahinter zum Vorschein kam, hat mir nicht gefallen. Wen wundert das? Hat sie mich doch beinahe das Leben gekostet.

Ich stelle eine Tasse unter die Maschine, drücke erneut den richtigen Knopf und nicke mir selbst bestätigend zu, während die Bohnen gemahlen werden.

Immer noch den Kaffee betrachtend, der eben in die Tasse fließt, kann ich mir ein kurzes Grinsen nicht verkneifen.

Die Idee, einen Psychologen, Psychotherapeuten oder irgendeine andere Art von Gehirnpfuscher zu engagieren, der mir glaubwürdig einreden könnte, dass alles, was ich erlebt habe, nur ein Traum war, ist mir mehrmals gekommen.

Vielleicht hätten Tabletten geholfen.

Möglicherweise hätte man mich auch einfach in die Klapsmühle gesteckt und mich weggesperrt. Aufgrund von brutalen Gewaltfantasien.

Dürfte der Staat das?

Ich weiß es nicht.

Ich hatte ja nichts getan.

Außerdem gab es Zeugen.

Die junge Frau, deren Namen ich nicht einmal mehr denken kann, ohne Schuldgefühle zu bekommen, hat die Polizei informiert. Die haben alles gefilmt. Die Morde konnten geklärt werden. Ich wurde nicht einmal angezeigt. Und das, obwohl ich mir eine Zeit lang nicht einmal selbst sicher war, ob ich nicht doch ein Mörder bin.

Ganz sicher bin ich mir noch immer nicht.

Ich verdränge den Gedanken – etwas, worin ich bereits viel zu viel Übung habe -, nehme den Kaffee, den ich mittlerweile schwarz trinke, und gehe zum Fenster um schweigend die Straßen zu betrachten.

Die Schatten gehen um des Nachts.

Das tun sie jede Nacht.

Heute gehen sie länger um.

Anstatt die Erinnerung wieder aufleben zu lassen, denke ich an den Tag, der morgen vor mir liegt. Es gibt viel zu tun.

Da ich dank meiner kleinen Firma genug Geld habe, um mir über Arbeitszeiten, Gehalt, Lohn, Einkommen, was auch immer, keine Sorgen machen zu müssen, habe ich mir eine Auszeit genommen. Geplant waren zehn Wochen.

Mit gestrigem Datum waren es zehn Monate.

Sicher habe ich hin und wieder in der Firma nach dem Rechten gesehen. Aber meine Leute haben die Sache im Griff. Der Plattenladen liegt ihnen genauso am Herzen wie mir. Zum Glück.

Die Bands, die wir unter Vertrag haben, sind bekannter geworden. Eine große Firma hat einen Deal mit uns ausgehandelt und wir brauchen uns eigentlich um nichts mehr so richtig kümmern. Sie können in den Räumlichkeiten der Plattenfirma aufnehmen, die stellt die physischen Alben her, bereitet die MP3-Files vor und sogar das gute alte Vinyl haben sie wieder neu entdeckt.

Wundervoll.

Klar weiß ich, dass sie die Bands abwerben werden und uns dann nichts anderes übrig bleibt als zu schließen. Aber bis dahin wird es noch eine Weile dauern und die Geschäftsführerin, mit der wir die Deals für die Bands verhandelt haben, hat uns versichert, dass unser Laden mittlerweile Kultstatus hat und sie ihn allein deshalb schon nicht dichtmachen werden.

Wenn die wollten, dann könnten sie uns morgen kaufen. Die haben so viel Geld, dass wir ein Angebot von denen mit Sicherheit nicht ablehnen könnten.

Zumindest nicht, wenn wir noch bei Sinnen wären.

Oder ich.

Der Geschäftsführer auf dem Papier bin immer noch ich.

Allerdings war die Dame, ihr Name ist mir entfallen, irgendetwas mit Baum, nur die bevollmächtigte Vertreterin des tatsächlichen Bosses. Irgend so ein versoffener Typ, der seine Sekretärin bumste und das auch noch offiziell als Porno verkaufte.

Ich schüttle den Kopf.

Der Typ ist irre. Und krank. Aber so läuft das wohl in dieser Welt. Wer Geld hat, ist nicht irre, der irrt sich nur manchmal. Und das ist ein großer Unterschied.

Ich trinke einen Schluck Kaffee und lasse die wohlige Wärme meinen Körper durchdringen.

Es scheint, als könnte ich ohnehin keine positiven Gedanken zustande bringen. Die Pläne für morgen beruhigen mich auch nicht besonders.

Ein Interview.

Es ist mir ein Rätsel, warum der Kerl mich interviewen wollte. Natürlich – der Deal mit der Plattenfirma war ein verdammt gutes Geschäft und mein Name stand in ein paar Zeitungen. Ich wurde sogar für den Pegasus in Betracht gezogen, habe aber dafür gesorgt, dass mein Name gestrichen wurde.

Ein Wirtschaftspreis von einer Zeitung gesponsert. In Kooperation mit einer Bank. Nein, danke. Bitte nicht.

Blitzlichtgewitter, in Kameras grinsen und sich zum Deppen machen für etwas, das man rein für sich selbst gemacht hat. Dafür wird man dann auch noch belohnt.

Ich kann das alles nicht nachvollziehen.

Öffentlichkeit brauche ich eigentlich keine. Ich bin froh, wenn niemand an mich denkt.

Aber dieser eine Journalist ... er ließ nicht locker.

Wochenlang hat er mir aufgelauert, mich immer wieder per Mail kontaktiert und angerufen. Die Überlegung, ob ich ihn nicht wegen Stalkings anzeigen sollte, hat sich aufgedrängt, aber leider ... so wurde mir versichert ... bin ich eine Person von öffentlichem Interesse. Oder so. Was immer das auch sonst noch bedeuten mag, in diesem Fall bedeutet es, dass der Typ das Recht hat, mich zu belästigen.

In was für einem Land leben wir eigentlich?

Nichts von dem was er tut ist illegal, hieß es. Na dann.

Also habe ich vor ein paar Tagen zugesagt.

Unter der Bedingung, dass er mich danach in Ruhe lässt. Es ist eine kleine Zeitung, die kennt ohnehin niemand. Außerdem ist es eines von diesen Blättern, die gratis an allen Busstationen und Straßenbahnhaltestellen herumliegen und sich in den meisten Fällen nur vom Wind durch die Gegend tragen lassen.

Das liest kein Mensch.

Zumindest glaubt niemand das, was drin steht.

Über den Deal mit der Plattenfirma will er sprechen, die Zukunft unserer Bands und ähnliche Dinge hören.

Eigentlich finde ich es gut.

Ein guter Einstieg, um wieder zurück zu kommen in die Welt der Lebenden. Wieder zurück zu kommen in den Alltag.

Weg vom Wahnsinn.

Hin zu greifbaren, realen Aktivitäten.

Dinge, die ich beeinflussen und ändern kann.

Nicht so wie ... nein.

Schluss damit.

Angewidert wende ich mich vom Fenster ab, knalle meine Tasse fester und härter als notwendig auf den Tisch und gehe zur Tür.

Vielleicht ist die Zeitung ja bereits da, die wird immer irgendwann in der Nacht geliefert.

Als ich die Tür öffne, liegt sie tatsächlich bereits auf der Fußmatte.

Ich bücke mich, um sie aufzuheben und pralle dann entsetzt einen Schritt zurück.

Das Titelbild.

Zerfetzte, tote Menschen. Männer und Frauen. Eine davon ist Uschi. Die Frau, die tot in einer Mülltonne gefunden wurde. Die Frau, der ich damals nachgerufen hatte, sie möge aufpassen, dass ihr nicht irgendwann jemand das Herz aus der Brust reißt.

Panisch fahre ich herum, bleibe dann wie angewurzelt stehen und – lausche.

War da ein Tapsen?

Pfoten, die in meiner Wohnung, gleich im Raum nebenan, herumstreichen? Ein Schnüffeln? Ein Knurren? Höre ich den Tod, der mich endlich gefunden hat?

Langsam, bemüht kein Geräusch zu verursachen, bewege ich mich zurück in die Küche. Leise, so leise wie möglich, ziehe ich ein Messer aus dem Messerblock und drehe es so, wie ich es schon viele Male gedreht habe.

Stichbereit.

Nicht nur meine Hand mit dem Messer ist bereit sich zu wehren, zu kämpfen, notfalls zu töten. Mein ganzes Wesen ist bereit dazu. Die Angst wird weniger, wird verdrängt von Wut, von Hass. Sie haben mein Leben zerstört. Sie haben mir meinen Frieden genommen. Sie haben ... für einen Sekundenbruchteil regt sich die Furcht wieder, fetzen ihre dunklen, blutverschmierten Fratzen durch meine Erinnerung und ich kann ein leichtes Winseln nicht unterdrücken – aber dann ist der Hass wieder da.

Mein Körper spannt sich. Meine Augen werden zu schmalen Schlitzen und ich weiß, dass ich nicht zögern werde. Dass ich nie wieder zögern werde.

Mit dem Rücken zur Wand schleiche ich zur Tür, die in den Flur führt, leise, lauschend.

Da – da ist es wieder. Das Tapsen.

Sie sind tatsächlich zurück.

Gekommen, um mich zu holen.

Ich stehe bewegungslos. Atme tief ein und aus, vertreibe das Zittern aus meiner Stimme und meinen Gliedmaßen. Noch ein Atemzug. Noch einer. Und ein letzter.

Dann trete ich in den Flur, bereit, das Messer auf alles und jeden niedersausen zu lassen, was sich mir bedrohlich in den Weg stellt.

Mit fester und lauter Stimme sage ich: „Ihr könnt mir nichts anhaben. Ich weiß, dass ihr hier seid.“

Dann lausche ich.

Nichts.

Es ist eine beklemmende Stille.

Ich kann spüren, dass jemand hier ist. Etwas mich gehört hat.

„Du kannst aufhören, dich zu verstecken“, sage ich, genauso laut und nochmals mit fester Stimme. Dann schweige ich. Wenn ich mehr sage, beginnt meine Stimme wieder zu zittern. Sie dürfen meine Angst nicht spüren. Dürfen sie nicht riechen.

Ich atme noch einmal ein und aus und bereite mich darauf vor, die paar Schritte durch den Flur ins Wohnzimmer zu gehen, doch dann fällt mein Blick durch die offene Wohnungstür.

Ich stutze.

Langsam lasse ich das Messer sinken und blicke auf die Fußmatte.

Da ist keine Zeitung.

Unsicher geworden, aber ruhiger als zuvor, werfe ich einen Blick ins Wohnzimmer, nur um sicherzugehen, und stelle fest, dass niemand hier ist, bevor ich zurück in den Flur gehe und aufatme. Ich schließe die Tür ins Treppenhaus und schließe ab.

Danach sehe ich zur Sicherheit in allen Räumen nach, selbst im Abstellraum, in dem ohnehin niemand Platz hätte Nichts.

Ich bin allein.

Mein Verstand spielt mir Streiche.

Wieder.

Ich bringe das Messer zurück an seinen Platz, setze mich an den Tisch und starre auf die Tischplatte als wäre sie das interessanteste Ding, das ich seit Wochen gesehen habe.

Was auch so stimmen mag.

Der Gedanke, dass mein Verstand mir wieder Streiche spielt, macht mir viel mehr Angst, als es jedwedes Monster in der Wohnung hätte tun können.

Meine Sicht verschwimmt.

Ohne es zu bemerken habe ich zu weinen begonnen.

Wird dieser Albtraum jemals enden?

Kann er jemals enden?

Ich wische mir die Tränen aus den Augen, aber es hilft nicht. Es sind zu viele neue Tränen zu schnell an deren Stelle.

Mein Leben. Ein Trümmerhaufen.

Ich muss wirklich unter Leute kommen.

Vielleicht hilft das.

Vielleicht macht es alles nur noch schlimmer.

Sie würde wissen, was zu tun ist.

Sie würde ...

Gottverdammt.

II

Ich muss eingeschlafen sein, denn der Wecker im Schlafzimmer läutet schrill. Ich hebe meinen Kopf von meinen Armen, die auf dem Tisch ruhen. Der Kaffee steht noch genau an der gleichen Stelle wie davor. Fast voll. Kalt.

Was für eine Verschwendung.

Schulterzuckend stehe ich auf, taumle ins Schlafzimmer und drücke den „Aus“-Knopf des Weckers.

Mittlerweile scheint die Sonne durchs Fenster, aber die Welt da draußen wirkt bitter, kalt und trostlos.

Alles wie immer.

Alles ist wie immer.

III

Nicht lange danach sitze ich in einem Café am Hauptplatz, betrachte stumm die Leute um mich herum und komme mir absolut nicht psychisch krank vor, während ich darüber nachdenke, was ich tue, wenn sich neben mir Menschen in Wölfe zu verwandeln beginnen. Der Gedanke ist völlig absurd, aber es ist ja nicht so, als ob ich mir das noch nie eingebildet hätte.

Menschen, die sich in Wölfe verwandeln.

Werwölfe.

Ich war tatsächlich der Meinung, dass Werwölfe unsere Stadt unsicher machten und Morde begingen.

Sogar meinen Mitbewohner hatte ich damals verdächtigt.

Dabei war auch er ermordet worden.

Am Ende waren sie alle tot.

Alle bis auf mich und ... sie.

Nicht, dass unser Überleben auch nur irgendwie mein Verdienst gewesen wäre.

Im Gegenteil.

Ein Schatten legt sich über mich und als ich den Blick hebe, steht ein Kerl vor mir, irgendwo zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt, und mustert mich neugierig.

Ich brauche ein wenig, bis ich begreife, wer das ist.

Es ist der Reporter.

Er sieht anders aus, als ich ihn mir vorgestellt habe: Ungepflegter und ein klein wenig verbrauchter als ich dachte. Er hat schiefe Zähne. Zwischen zwei von ihnen scheint sich ein Stück Fleisch verfangen zu haben, denn er fährt mit der Zunge herum, als ob er versucht, etwas zwischen ihnen hervor zu kitzeln. Er schafft es aber nicht, bemerkt, dass ich seinen Mund beobachte und hört abrupt damit auf.

Stattdessen lächelt er.

Um seine Schulter hat er eine Tragetasche hängen, Stoff, gebraucht, nicht sehr alt, aber der Zustand ist nicht der Beste. Das gleiche gilt für seine ganze Aufmachung. Er wirkt ein wenig gehetzt, sieht sich kurz um und nickt mir dann zu.

Er streckt mir seine Hand entgegen und grinst breit.

Es ist kein echtes Grinsen.

Vielleicht glaubt er, dass er freundlich lächelt, aber auf mich wirkt es abstoßend.

Genauso wie der Rest seiner Erscheinung.

Er trägt ein Hemd, auf seinem linken Unterarm sind Flecken. Ich tippe auf irgendeine Soße. Vermutlich vom Kebab-Stand, vorne an der Kreuzung am Anfang des Hauptplatzes. Seine Haare sind halblang und nicht mehr sehr voll. Ein Teil davon sieht aus, als wären sie frisch gewaschen, ein Teil davon wirkt fettig.

Ich ergreife seine Hand und schüttle sie, während er sich vorstellt – Simon irgendwer. Er plappert etwas von „es ist mir eine Ehre, der erste zu sein, der Sie vor der Rückkehr in die Arbeitswelt interviewen darf“. Ich kann nicht anders – auch wenn ich mich bemühe höflich zu bleiben - und merke an, vermutlich weiterhin von ihm genervt worden zu sein, wenn ich nicht zugesagt hätte.

Ein erfreutes – und dieses Mal echtes – Lächeln huscht über sein Gesicht und es macht ihn weder hübscher noch freundlicher. Ich habe den Eindruck er fasst meine Aussage als Kompliment auf. Was sie definitiv nicht war.

Was für ein komischer Kerl.

Es dauert nicht lange und schon steht der Kellner neben uns. Der Reporter bestellt sich ein Glas Weißwein, irgendeinen Welschriesling. Meine Augen wandern zur Uhr, die gerade mal entspannt auf 10 Uhr vormittags zuwandert. Ich sage nichts dazu. Er bemerkt meinen Blick, scheint kurz zu überlegen, ob er Stellung nehmen soll, entscheidet sich dann aber dazu, es zu überspielen und nochmals breit zu grinsen.

Obwohl er noch keine Frage gestellt hat, bereue ich bereits, zugesagt zu haben und wünsche mir, ich wäre weit weg.

„Also“, beginnt er schließlich. „Danke nochmals, dass Sie sich die Zeit genommen haben, ein kurzes Interview mit mir zu führen.“

Ich sage nichts, nehme einen Schluck vom Kaffee und ziehe betont desinteressiert eine Augenbraue fragend hoch. Mein Gesichtsausdruck muss ihm alles verraten, was es zu sagen gibt, aber auch das überspielt er locker.

Darin scheint er Übung zu haben.

Er legt ein Aufnahmegerät auf den Tisch und nimmt eine Kamera aus der Tasche. Ich hebe abwehrend die Hand und frage ihn, ob das sein muss. Ja, meint er. Die einzigen Bilder, die er sonst von mir hat, wären entweder alt oder ... er zögert, spricht es dann aber doch noch aus: oder von dem Video, das ihm in die Hände gefallen ist, von jener Nacht.

Ohne lange nachzudenken richte ich mich auf, drehe mich so, dass die Sonne mich anscheint und gut beleuchtet. Ich lächle ihn kalt an.

„Ein bisschen mehr lächeln“, sagt er, hebt den Apparat an sein Auge und sucht sich sein perfektes Bild. Es ist eine dieser neuen Spiegelreflexkameras, die einen Sucher und ein Display haben. Immerhin. Das Objektiv wirkt teuer.

Er macht ein paar Fotos, lässt die Kamera sinken und drückt irgendetwas herum. Ich vermute, dass er die Bilder auf dem Display betrachtet. Nach ein paar Sekunden nickt er zufrieden, was ich zum Anlass nehme, mich wieder aus der Sonne zu drehen und in den Schatten zurückzuziehen.

Zufrieden packt er die Kamera in die Tasche und greift nach dem Aufnahmegerät.

Stumm sehe ich ihm zu, langsam etwas ungeduldig werdend. Das Problem ist nicht seine Langsamkeit, sondern, mein Gefühl, dass alles hier falsch ist und ich nicht hier sein sollte. Ich bin kurz davor, einfach aufzustehen und zu gehen.

Es gibt dieses Gefühl, das sich hin und wieder in einem breit macht, ohne dass man genau sagen kann, woher es kommt. Das Gefühl, dass gerade etwas passiert, was nicht passieren sollte. Ein Stein ins Rollen gebracht wird, was letztlich nur in einer Lawine enden kann.

Natürlich gibt der Journalist mir dazu keinen Anlass, aber mein Bauch sagt mir ganz deutlich, eine Absage wäre besser. Vielleicht peinlich, aber dennoch: Aufstehen. Gehen. Jetzt.

Mein Kopf allerdings bringt mich dazu, sitzen zu bleiben, durchzuatmen und zu hoffen, die Sache möge doch bitte rasch vorbei sein.

Er hat bereits die Fotos. Auch wenn ich noch nichts gesagt habe – eine Story kann er schon bringen, selbst wenn ich jetzt gehe.

Wie wäre es mit „Plattenfirmen-Boss nach Massaker noch nicht bereit zum Wiedereinstieg ins Berufsleben“? Oder vielleicht „Nerven gehen mit Plattenboss durch - lässt Interview platzen“. Ganz gleich. Was kann er schon fragen? Ich muss ihm ja keine Antwort geben.

Endlich ist er mit dem Aufnahmegerät fertig. Er nickt mir zu. Ich reagiere nicht, betrachte nur weiter, wie er mit den Knöpfen spielt.

Nach einer kleinen Ewigkeit blinkt es rot und das Display beginnt, die Zeit zu zählen.

Er hat es geschafft, das Diktiergerät einzuschalten.

Yeah. Mein Held.

Ich freue mich zu früh. Er nimmt nochmals seine Tasche hervor und kramt darin herum. Ein Seufzer entkommt mir, was ihn dazu bringt, zusammen zu zucken und mich schuldbewusst anzusehen.

Entgegen meiner Stimmung versuche ich ihn aufmunternd anzulächeln und ihm so das Gefühl zu geben, dass alles okay ist, auch wenn ich jetzt bereits mit wirklich großem Willen dagegen ankämpfen muss aufzustehen und einfach zu gehen.

Dann hat er es doch geschafft, der Block und Stift liegen vor ihm.

Ich kann sehen, dass er ein paar Fragen darauf notiert hat.

Der Kellner bringt seinen Wein - was ihn sichtlich freut – er greift das Glas aber nicht an.

Sein Blick wendet sich mir zu.

Er lächelt wieder sein grausam unechtes Lächeln.

„Also“, sagt er. „Bereit anzufangen?“

SIMON

I

Natürlich ihn. Wen sonst?

Wen sonst würde der Chef mit so einem Auftrag abspeisen? Es war so typisch. Da riss er sich seit Jahren für dieses dumme Blatt den Arsch auf und was bekam er dafür? Blöde, dämliche und absolut unnötige Interviews. Mit Leuten, die kein Mensch kannte und für die sich noch weniger interessierten. Aber oh – wenn der Chef möchte, dass dieser Kerl interviewt wurde, dann war es natürlich die Aufgabe von ihm, das umzusetzen.

Nicht Regina, nicht Frank, nein – ihn musste man damit beauftragen. Klar. Völlig klar.

Die Wut, die er verspürt hatte, als sein Chef ihm den Auftrag gegeben hatte, war bald umgeschlagen. Aber nicht in Hass oder Frust, nein, sicher nicht. Er war kein wütender Mensch. Simon war ausgeglichen, ruhig, innerlich gefasst und sachlich.

Er neigte nicht zu Wut.

Aber dass dieses Arschloch diese beschissenen „es interessiert keine Sau“-Aufträge immer ihm gab, sollte doch langsam mal jemand bemerken.

Simon war nicht der Typ, der seinen Chef darauf aufmerksam machte. Er war nicht derjenige, der sich vor ihn hinstellte und sagte „Chef, ich mache seit Jahren saubere, gute und astreine Arbeit. Es wird Zeit, dass du mich mal an die großen Sachen ranlässt“. Nein, so etwas würde Simon nie über die Lippen kommen.

Das wäre arrogant. Und Simon war nicht arrogant. Er dachte nicht im Traum daran, dass er besser war als die anderen. Oder einen besseren Job machte. Er wusste es.

Daran war nichts arrogant.

Fakten waren wertfrei.

Aber dass niemand in seiner Kollegenschaft aufstand und den Chef fragte, warum er nicht endlich, gottverdammt-verfickt-und-zugenäht, Simon einen großen Auftrag gab, das stimmte ihn manchmal nachdenklich.

In seltenen Fällen drängte sich ihm sogar der Gedanke auf, dass die anderen ihn absichtlich nicht vor dem Chef erwähnten, weil sie wussten – wenn er, Simon, erst einmal einen großen Auftrag an Land gezogen hatte, dann würden sie alle gegen ihn abstinken. Aber sowas von.

Natürlich kam es nicht soweit. Bis jetzt nicht.

Wie auch?

Da gab es die Flüchtlingskrise – seit Monaten. Und wer wurde geschickt, um darüber zu berichten? Natürlich Regina. „Weil sie als Frau das Einfühlungsvermögen hat, um damit sensibel umzugehen“, wurde ihm gesagt, als er sich danach erkundigt hatte. Sensibel?

Dieses kalte Miststück? Simon konnte darüber nur den Kopf schütteln. Er dachte an die Schlagzeile, die sie nach ein paar Interviews vor Ort verfasst hatte: „Freiwillige an der Grenze zur völligen Erschöpfung“.

Im ersten Moment las sich das wie ein Aufruf, die armen Leute zu entlasten, aber wer den Artikel las, konnte nicht umhin etwas Anderes darin zu erkennen, nämlich den subtilen Hinweis, dass die Flüchtlinge einfach zu viel verlangten. Sie wollten zu viel und nahmen keine Rücksicht auf die Freiwilligen, denen es ebenfalls oft schlecht ging, weil sie sich zu sehr verausgabten.

Verfickte Freiwillige. Alles Penner und Idioten.

Niemand machte einen Job freiwillig für den andere bezahlt wurden. Die größte Dummheit auf Erden.

Oder der zweite Artikel: „Flüchtlinge fallen über Gratismahlzeiten her“. Die armen Leute waren nur seit Tagen am Verhungern gewesen und hatten sich eben nicht in einer Reihe angestellt, sondern waren in Trauben vor der Essensausgabe gestanden. Nicht mehr und nicht weniger.

Und ihre Schlagzeile ließ es klingen, als ob diese Menschen die Essensstände förmlich überrannt hatten. Interessanterweise kam darüber im Artikel überhaupt nichts vor. Sie beschrieb nur, wie erschöpft die Leute gewesen waren. Wie sie nach dem Essen auf die Betten gefallen waren und geschlafen hatten wie Babys. Auch das war kein Wunder gewesen, immerhin hatten sie seit Tagen zum ersten Mal wieder richtige Nahrung zu sich genommen und natürlich waren sie dann zusammengebrochen. Die Anspannung war vorbei, die Leute konnten durchatmen, hatten ihre wichtigsten Bedürfnisse versorgt. Wer wusste schon, wie lange sie nicht mehr geschlafen hatten.

Und sie hatte subtil aggressive Artikel darüber geschrieben. Nur die Wahrheit. Nur beschrieben, was sie gesehen hatte – niemand konnte ihr vorwerfen, dass sie etwas erfunden hatte.

Die Auswahl der Szenen, die sie beschrieb jedoch ...

selbst jene, die nicht sinnerfassend lesen konnten, mussten nach der Lektüre wissen, dass die Flüchtlinge unser Land ausbeuteten. Allein ihre Anwesenheit war eine Kampfansage.

Kurz gefasst: Sie hatte genial gearbeitet. Wundervoll.

Die Auflagen waren gestiegen. Sie hatte eine Provision bekommen. Eine verdammte Provision. Blödes, geniales Dreckstück.

Tief im Innersten wusste Simon jedoch: Er hätte es noch besser hinbekommen. Er hätte Dinge gesehen, die ihr nicht aufgefallen waren. Das wusste er.

Vielleicht einen kleinen Streit, vielleicht ein aggressiv klingendes Gespräch, vielleicht einen bedrohlichen Blick. Vielleicht jemanden, der betete und das Wort „Allah“ sagte. Er hätte noch viel Großartigeres leisten können als sie.

Doch bekam er die Chance dazu? Nein. Niemals.

Die größte Frechheit passierte, als sie ihren Urlaub in Paris verbracht hatte. Ohne Zweifel mit irgendeinem reichen Schnösel, der seiner Frau eingeredet hatte, auf Geschäftsreise zu sein ... sie kotzte Simon an. Und dann hatte sie noch das Glück, das gottverdammte Glück, dass an diesem Tag nicht ein Anschlag stattfand, sondern mehrere. Mehrere! Und sie war in der Nähe gewesen. Die blöde Kuh hatte nicht einmal weit laufen müssen, um mit ihrem Mobiltelefon Videos zu machen und Fotos zu schießen, die sie exklusiv bereits in der Morgenausgabe verwenden konnten.

Wer hatte so viel beschissenes Glück? Kein Mensch.

Kein Mensch hatte das. Es hätte Simon nicht einmal überrascht, wenn sie die Anschläge organsiert hätte – natürlich war das Blödsinn. Das wusste er. Allerdings wäre es ihr zuzutrauen.

Was bekam er? Ein Interview mit irgendeinem Typen, der vor langer, ganz langer Zeit einen Überfall überlebt hatte und dessen kleiner Plattenladen jetzt einen Deal mit der größten Plattenfirma des Landes abgeschlossen hatte.

Der Typ hatte sich monatelang eingesperrt und – Hand aufs Herz – wer hatte ihn vermisst? Keine Sau. Motion Records schloss alle naselang solche Deals ab. Das war nichts Neues. Aber – sein Chef wollte, dass er ihn interviewte. Er hatte aus sicherer Quelle – ein Begriff, den Simon nur aus schlechten Filmen kannte – erfahren, dass der Kerl sich nach Monaten in Isolation – angeblich um sich von seinem Trauma zu erholen (verdammtes Weichei) – wieder in die Öffentlichkeit wagte.

Tatsache.

Das war sein Auftrag.

Die Hölle.

Was hatte Frank für einen Auftrag? Ein Interview mit einem bekannten Psychologen. Zum Thema „Wie können wir als Gesellschaft lernen, mit der Angst vor dem Terror zu leben“. Zumindest hatte Frank Simon versichert, dass es sich um einen bekannten Psychologen handelte. Herbert Kantmann. Oder so ähnlich. Dem Namen nach verwandt mit dem Lebkuchen und Keksmacher aus dem Nachbarbezirk.

Keine Ahnung, ob ein Zusammenhang bestand. Frank hatte den Typen immer den „Keksmann“ genannt, aber Simon wusste nicht, ob Frank ihn zum Narren gehalten hatte oder nicht. Und Simon hatte keine Lust gehabt, die Sache zu googeln.

Es war ihm auch völlig egal.

Was ihn störte, war, dass man aus diesem Interview etwas machen konnte. Völlig egal was der Typ Frank erzählen würde ... allein das Thema würde sicherstellen, dass sich die Auflage bei dieser Ausgabe verdoppeln würde.

Es war zum Haare Ausreißen.

Zumindest bis Simon etwas in den alten Artikeln entdeckt hatte. Wie immer hatte er über den Typen recherchiert, den er interviewen sollte. Viele Berichte hatten sich um diese eine Nacht gedreht. Eine Hütte.

Eine junge Frau. Und eine Bande von Kriminellen, die sie durch die halbe Stadt gejagt hatten. Ein paar Tote.

Von der Polizei angeschossen oder erschossen. Nicht, dass es einen Unterschied für Simon machte, ob man dieses Gesindel gleich für immer aus der Stadt entfernte, oder nur verletzte. Er hielt die erste Variante sogar für billiger.

Was die Aufmerksamkeit von Simon erregt hatte, war aber nicht diese Nacht gewesen. Es war nur ein kleiner Nebensatz. Ein Detail.

Simon achtete auf Details, nicht so wie seine beiden Kollegen, die eigentlich zu blöd waren, um beim Scheißengehen die Muschel zu treffen.

Das Detail, auf das Simon gestoßen war, lautete „Wölfe“.

Dieser Typ hatte tatsächlich zuerst behauptet, dass er nicht von Menschen verfolgt worden war, sondern von Wölfen. Ein Nervenzusammenbruch, so wurde geschrieben. Auch wenn es keine Anzeichen gegeben hatte, dass dem tatsächlich so war. Also von den üblichen Folgen eines Traumas (erneut: Weichei) abgesehen.

Aber Wölfe? Menschen, die sich in Wölfe verwandelten? Tatsächlich Werwölfe? Das war neu.

Wirklich neu.

Natürlich gab es so etwas nicht, aber dieses Detail erschien Simon wichtig. Vor allem in Kombination mit der Tatsache, dass sich dieser René danach monatelang in seiner Wohnung verkrochen hatte um seine Wunden zu lecken. Haha. Wunden lecken.

Er hatte über sein eigenes Wortspiel laut auflachen müssen. Was ihm einen neugierigen Blick von Regina eingebracht hatte. Simon hatte ihr gespielt zwinkernd eine Kusshand zugeworfen und sich dann wieder seinen Recherchen gewidmet. Sollte sie doch denken, was immer sie wollte. Und wenn sie der Meinung war, dass er auf etwas Tolles, Spannendes gestoßen war – umso besser.

Ganz abgesehen davon – und Simon konnte sein Glück kaum fassen – war die Exfreundin von dem Typen das erste Opfer gewesen. In einer Mülltonne gefunden.

Mit herausgerissenem Herzen. An diese Schlagzeile konnte sich Simon noch sehr gut erinnern. Er hatte sie nur nie mit dem Überfall in Verbindung gebracht.

Vielleicht gab es einen Zusammenhang dahinter.

Vielleicht gab es ein „großes Ganzes“, das bis jetzt noch nie jemand entdeckt hatte.

Natürlich konnte das alles auch nur Zufall sein und die Sache war im Grunde absolut banal. Zufälle, Bandenkriege, Drogen, das übliche Zeug eben. Aber das war egal.

Völlig egal.

Tatsächlich war es auch völlig egal, was ihm der Kerl erzählen würde, denn es gab Möglichkeiten ... nur ganz dezente am Rand der Wahrscheinlichkeit schimmernde Möglichkeiten, dass Simon nichts zitieren brauchte. Vielleicht musste er auch kein tatsächliches Gespräch führen, sondern nur beschreiben, was geschehen war, um bereits eine Schlagzeile zu haben.

Eine Idee, wie er das Interview spannend gestalten konnte, keimte in ihm auf.

Klarerweise würde er nie auf den Gedanken kommen, einen Interviewpartner zu verunsichern. Vertrauen war nunmal die Basis auf welcher er arbeitete.

Sollte es allerdings jemanden geben, der seinen Interviewpartner in der Nacht vor dem Interview daran erinnerte, was damals geschehen war ... nun, das war ja nun nicht wirklich die Schuld von Simon.

Er zog eine Schublade auf und warf einen Blick auf die Visitenkarten, die darin lagen. Er blätterte sie durch, fand eine passende und griff nach dem Telefon, während sich in seinem Kopf ein Plan geformt hatte.

Er lächelte als am anderen Ende der Leitung jemand abhob und ihn mit „Ey, Simon, Alter! Was geht, Mann?

Hast du einen Job für mich?“ begrüßte.

Und ob Simon einen Job für ihn hatte.

II

Als Simon nach dem Interview ins Büro zurückkehrte, musste er sich zusammenreißen um nicht breit zu grinsen. Die Blicke seiner Kollegenschaft bohrten sich fragend in seine Seite und seinen Rücken, aber er versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass er es genoss.

Es kostete ihn Überwindung, doch er gab sich bedrückt, beklemmt und sogar ein wenig ängstlich.

Seine Hose war zerrissen. Oberhalb des Knies klaffte ein Loch und sein Oberschenkel war blutig.

Ein blaues Auge und ein kaputtes Aufnahmegerät gingen auf das Konto dieses Irren. Das Interview war in etwa so gelaufen, wie er sich das vorgestellt hatte.

Seine Fragen hatten René aus der Reserve gelockt, obwohl sie eigentlich völlig harmlos gewesen waren, aber Simon hatte sein Gegenüber gut beobachtet. Der Kerl hatte sich nicht so gut im Griff gehabt, wie er wohl gedacht hatte. Anhand seiner zittrigen Finger, dem nervösen kurzen Nippen an seiner Kaffeetasse und den sich immer wieder unkontrolliert zu Fäusten ballenden Händen Renés hatte Simon immer gewusst, wann er in die richtige Richtung gegangen war, hatte immer gewusst, wann er die nächste – scheinbar völlig harmlose – Frage stellen konnte, um René aus der Fassung zu bringen.

Für Zuhörer musste es sogar wirken, als hätte er sich wirklich Sorgen um seinen Interviewpartner gemacht.

Dass Simons Aufnahmegerät von René zerstört worden war, war noch besser – er musste nämlich gestehen, dass er am Ende, kurz bevor René auf ihn losgegangen war, dann doch eine sehr offensichtliche und provokante Aussage getätigt hatte. Im Flüsterton. Weg vom Aufnahmegerät und hoffentlich so leise, dass es nicht darauf zu hören gewesen wäre, aber so war es viel besser.

Das Ding war kaputt.

Es gab nur seinen Bericht und den Bericht der Zeugen rundum, die zwar gesehen hatten, was passiert war, aber nicht gehört hatten, was zuvor gesprochen worden war.

Nun. Sie hatten sicher René schreien gehört.

Das mussten sie gehört haben.

Alle, die sich nach ihnen umgedreht hatten, mussten auch gesehen haben, wie Simon versucht hatte ihn zu beruhigen. Seine Gesten hatten genau das ausgestrahlt. Beruhigen Sie sich! Ich stelle ja nur ein paar Fragen! Aber seine Worte ... ach, er war so genial gewesen.

Als er seine Tasche auf seinen Platz stellte, öffnete sich die Tür seines Chefs. Er sagte nichts, betrachtete Simon nur von oben bis unten und wartete.

Ein paar Sekunden lang starrten sie sich gegenseitig an. Dann hob Simon die Hand und hielt einen Finger hoch.

Sein Chef zögerte zwei, drei Sekunden, blickte skeptisch, aber Simon lächelte ihn siegessicher an, woraufhin sein Chef doch nickte und ohne Wort die Tür wieder schloss.

Simon grinste breit, auch wenn ein kurzer Schmerz seine Wange hinaufschoss.

Als er sich setzte, erhaschte er einen Blick auf Regina, die ihn von der Ferne böse anstarrte, wütend kehrt machte und den Raum verließ.

Er gratulierte sich zu seinem Erfolg.

Seite 1.

Titelblatt.

Na bitte.

Das sollte noch jemand sagen, dass er seinen Job nicht verstand.

Kapitel 2: Du bist nett (I)

„I see structure and well thought action. “ – Aquarian Age „Nice“

RENÉ

I

„Du bist wohl der größte Depp, der unter der Sonne wandelt“, schimpft mich Angela auf ihre übliche, liebevolle Art und Weise. Der Unterschied zu den anderen Tagen, an denen ich mir solche Kommentare anhören darf, ist, dass dieses Mal das schelmische Funkeln in ihren Augen fehlt. Dieses Mal meint sie es genau so, wie sie es sagt.

Ich kann nicht einmal widersprechen, sondern senke nur den Blick und kaue auf meiner Unterlippe herum.

Sie mustert mich, ihr Blick ist anklagend und ein wenig verärgert, und seufzt schließlich. Bevor sie noch etwas sagen kann, höre ich Tom „Das ist genial!“ rufen. Keine Sekunde später biegt er um die Ecke in den Vorraum.

Er hat Kopfhörer um seinen Hals hängen und seine langen Haare zu einem Zopf zusammengebunden.

Breit grinsend steht er nun in der Tür, blickt mich an und breitet die Arme in einer „Willkommen“-Geste aus.

Nach einem letzten unsicheren Blick in Richtung Angela stehle ich mich an ihr vorbei und lasse mich von Tom drücken. Ja, das tut gut. Ganz ehrlich.

Hinter mir höre ich, wie sich Angela nochmals abfällig räuspert, bevor sie mit einem betont lauten „Ich bin dann mal wieder bei der Arbeit“ von dannen zieht. Die Tür ins Büro fällt hinter ihr ins Schloss.

Tom entlässt mich aus seiner Umarmung und wir beide sehen Angela nach. Ich seufze und Tom legt mir beruhigend eine Hand auf die Schulter. Er grinst noch immer. Wenn auch nicht mehr ganz so breit.

„Lass sie. Tatsächlich ist sie froh, dich zu sehen.“

Er nimmt die Hand von meiner Schulter und kramt in seinen Taschen nach Tabak und Papier während er weiterspricht.

„Auch wenn sie es nicht zugeben wird: Das war ein genialer Marketingschachzug. Das nächste Mal solltest du uns nur vorher Bescheid geben. Angela macht den halben Tag nichts anderes als Anrufe zu beantworten und Anfragen abzuwehren.“

Nachdem ich mir bei Tom nie sicher bin, wie er die Dinge meint, die er sagt, sehe ich ihm ins Gesicht und versuche herauszufinden, ob es sich um Sarkasmus handelt oder nicht. Es hilft nicht. Kein Anzeichen in die eine oder andere Richtung.

Stattdessen ist er bereits mit etwas anderem beschäftigt: Er hat den Tabak gefunden und dreht sich eine Zigarette.

Ein kurzer fragender Blick, ein Nicken von mir und keine Minute später stehen wir vor der Tür. Die Sonne scheint uns ins Gesicht während wir ein paar Sekunden lang schweigend nebeneinander stehen und entspannt den Rauch in die Gegend blasen.

„War das ein Scherz vorhin?“, frage ich ihn.

Er zuckt mit den Schultern.

„Keine Ahnung.“

Ich lasse die Zigarette sinken und betrachte ihn stumm. Ein Mann zwischen 40 und 50 Jahren, Aufnahmeleiter, Musikproduzent. Super Gehör, fast perfekter Mischer und alles in allem immer noch in erster Linie ein Musikliebhaber. Menschen, die Tom das erste Mal sehen, stecken ihn meistens in die Schublade „alter, übrig gebliebener Hippie“. Das entspricht allerdings nicht der Wahrheit. Tom ist weder ein Hippie noch ist er übrig geblieben. Im Gegenteil. Tom ist der einzige Mensch den ich kenne, der seit dreißig Jahren verheiratet ist, zwei Kinder hat (zwei Töchter) und der in all der Zeit, noch nie auch nur ein einziges schlechtes Wort über seine Frau verloren hat.

Tom ist ein Phänomen für mich. In vielerlei Hinsicht.

„Wie kannst du nicht wissen, was du gemeint hast?“

Tom zuckt mit den Schultern, zieht an seiner Zigarette und bläst den Rauch in den Himmel.

„Kennst du das, dass man hin und wieder einfach etwas laut aussprechen muss, um zu merken, ob man es meint oder nicht meint?“

Ich nicke.

„Dann kennst du vielleicht auch die Momente, in denen man etwas gesagt hat, mit dem Gesagten ganz zufrieden ist, aber selbst noch nicht genau weiß, wie man es gemeint hat?“

Ich überlege kurz.

„Nein“, sage ich dann. „Eigentlich nicht.“

Er blickt mich überrascht an.

Dann grinst er.

„Erinnerst du dich an diese eine Weihnachtsfeier?“

Der abrupte Themenwechsel überrascht mich, aber sofort schießen mir Bilder in den Kopf.

„Bruchstückhaft.“

Ich grinse zurück.

Tom nickt zufrieden.

„Unser Streit?“, frage ich ihn.

Er zieht an seiner Zigarette und nickt.

„Ich weiß bis heute nicht, was ich dir sagen wollte, aber es hat mir sehr gut getan, dich einfach mal ein wenig anzuschreien.“

Ja, ich kann mich erinnern. Keine schöne Szene und auch kein Glanzlicht in meiner Karriere. In dem Lokal haben wir heute noch Hausverbot.

„Ehrlich gesagt, war es völlig egal, was du gesagt hast.“

„Korrekt“, stimmt Tom mir zu. „Aber ich hatte so eine Wut auf dich, das musste einfach mal raus. Es waren alles nur Kleinigkeiten und wenn du mich heute danach fragen würdest, dann könnte ich dir nicht eine einzige davon nennen.“

Er sieht mich ernst an.

„Manchmal muss man ein Gefühl rauslassen, einfach, damit es weg ist.“

Ich verstehe plötzlich was er meint.

Mir fällt das Interview ein, das ich gestern gegeben habe.

Erstaunlich, was ein paar Worte ausrichten und anrichten können.

Worte, nur Worte.

Man sollte meinen, dass man über den Dingen steht.

Dass es völlig egal ist, was jemand sagt, denn es sind trotzdem nur Worte. Worte. Nichts weiter.

Vielleicht liegt es an mir. Vielleicht geht es allen so, keine Ahnung. Aber Worte ... das ist hartes Zeug. Das kann sich in die Seele brennen und deine Stimmung verdammt rasch in die falsche Richtung drücken.

Ich weiß nicht, ob es tatsächlich die Worte sind, oder das, was sie in uns auslösen, aber es ist schwer. Echt schwer.

Wenn ein falsches Wort reicht, dass jemand beginnt Faustschläge auszuteilen. Wenn ein falsches Wort reicht, dass jemand mitten im Gespräch aufsteht, mit der Faust auf den Tisch schlägt und abhaut. Wenn ein falsches Wort reicht, langjährig aufgebautes Vertrauen auf einen Schlag zu zerstören.

Dann ist es vermutlich besser, nichts zu sagen.

Vor allem kann man niemals wissen, was welches Wort in welcher Person auslöst.

Ein völlig banaler Satz kann zur Katastrophe führen, weil die Person, an welche er gerichtet ist, etwas völlig anderes darin hört, versteht, oder weil es Saiten in der Person zum Schwingen bringt, die man nicht einmal kannte.

Tom mustert mich, immer noch rauchend.

„Was denkst du gerade?“

Ich verziehe das Gesicht und rümpfe die Nase.

„Wie verdammt gefährlich es sein kann, ein Gespräch zu führen.“

Tom lacht auf, dämpft die Zigarette im Aschenbecher aus und dreht sich wieder in Richtung Büro um.

Bevor er die Tür öffnet und mich alleine in der Sonne stehen lässt, klopft er mir aufmunternd auf die Schulter: „Es muss nicht mal ein Gespräch sein“, sagt er. „Worte sind auch auf Papier gefährlich.“

Dann zwinkert er mir zu und lässt mich alleine stehen.

Ich will einen Zug an der Zigarette machen, stelle aber fest, dass sie ausgegangen ist.

Eine, zwei Sekunden überlege ich, sie wieder anzuzünden und in Ruhe fertig zu rauchen. Dann fällt mir ein, dass mein Feuerzeug auf dem Tisch im Büro liegt und ich ohnehin versuchen muss gesünder zu leben.

Oder überhaupt zu leben.

Es ist alles so relativ.

Verdammte Scheiße.

II

Angela blickt nicht einmal auf, als ich mich neben sie stelle und ihrem Telefonat zuhöre. Vermutlich hat sie mich reinkommen gehört oder gesehen.

„Nein“, sagt sie gerade. „Er steht für keine weiteren Gespräche zur Verfügung.“

Sie greift nach einem Stift und macht auf einem Zettel, der vor ihr liegt, einen Strich. Ich sehe genauer hin und blinzle überrascht. Dreiundzwanzig Striche.

Sonst steht nichts darauf.

„Natürlich richte ich es ihm aus. Ja, ich habe Ihre Nummer notiert“, sagt Angela gerade und macht auf einem anderen Zettel einen Strich. Damit sind es fünfzehn Striche.

Dann legt sie auf, dreht sich doch zu mir um und mustert mich anklagend.

„Tut mir leid“, murmle ich.

Sie sagt nichts, aber ihr Blick spricht Bände.

Sofort spüre ich Schuldgefühle in mir aufkeimen und versuche Ausreden dafür zu finden, warum ich mich absolut nicht schuldig fühlen muss. Leider finde ich keine passenden, von den üblichen „Er hat angefangen“ und „Er hat es verdient“ abgesehen.

Wir alle wissen, dass genau diese beiden die am meisten benutzten Ausreden sind und auch jene, welche der Bedeutung des Wortes zu einhundert Prozent gerecht werden.

Eine Ausrede ist genau das: Der Versuch einer Rechtfertigung, obwohl man genau weiß, dass es keine Rechtfertigung gibt.

Angela schweigt mich immer noch an, aber zumindest ist ihr Blick nicht mehr ganz so streng. Schließlich seufzt sie, macht eine wegwerfende Handbewegung und schiebt dann die beiden Zettel in meine Richtung.

„Diese hier“, sagt sie und zeigt auf den oberen mit den dreiundzwanzig Strichen. „Diese wollten Interviews mit dir führen.“

Dann fährt ihr Finger zum anderen Zettel.

„Und diese wollten, dass du sie zurückrufst.“

Ich betrachte den Zettel und suche dann den Schreibtisch nach Kontaktdaten oder Namen oder Nummern ab. Nichts dergleichen.

Ein kurzer Blick von mir genügt. Ich muss nicht einmal eine entsprechende Frage stellen.

„Nein, ich habe von niemand die Nummer notiert.“

Sie steht auf und geht zur anderen Seite des Raums wo ihre Kaffeemaschine steht. Sie drückt die Tasten, der Automat beginnt die Bohnen zu mahlen. Ihr nächster Satz geht im Lärm des Reibens unter.

„Bitte?“, frage ich nach.

Das Getöse der Maschine stoppt. Kaffee läuft in ihre Tasse. Es sind Mumins drauf. Manchmal vergesse ich, was für ein Nerd diese Frau ist.

„Ich sagte, dass ich nicht wusste, was du für eine Berühmtheit bist.“

Mit einem Kopfschütteln setze ich mich auf den Tisch und lasse die Beine baumeln.

„Bin ich auch nicht.“

Sie nimmt ihren Kaffee und deutet auf die Zeitung, die nicht weit entfernt liegt.

„Doch“, widerspricht sie mir. „Sieh dir mal den Beitrag an.“

Mir ist nicht danach, den Artikel zu lesen. Ich weiß auch so genau, was drin steht. Der Reporter hat vermutlich über die Stränge geschlagen und mich als irren Idioten hingestellt, der ihn grundlos attackiert hat.

Grundlos.

Dass ich nicht lache.

Der Kerl hat es auf alle Fälle provoziert.

Aber verdient hat er es nicht. Sicher nicht.

Ich habe ihm genau das gegeben, was er wollte.

„Du hast recht“, murmle ich. Angela nimmt wieder auf dem Sessel neben mir Platz, während ich weiterhin betreten die Beine baumeln lasse und den Boden anstarre.

„Womit?“, will sie wissen.

„Ich bin tatsächlich der größte Idiot, der auf dieser Erde herumläuft.“

Ein kurzes Lächeln entkommt ihr und ich fühle mich besser.

Angela ist eine dieser Frauen, deren Lebensfreude alle im Raum sofort fröhlicher macht. Ein Lächeln, das die Welt ein klein wenig freundlicher, besser, lebenswerter erscheinen lässt. Es gibt nicht viele Frauen, die das können. Es liegt nichts Sexuelles darin.

Nichts ... Materielles, Physisches. Es ist wie ein Sonnenaufgang.

Kein Mensch hasst den Sonnenaufgang.

Und wenn es solch einen Menschen gibt, dann will ich mit ihm nichts zu tun haben.

Sie wird sehr rasch wieder ernst.

„Ja, das bist du.“

Sie beugt sich nach vor, greift über meine Beine nach der Zeitung und legt sie vor sich auf den Tisch. Für einen kurzen Augenblick atme ich ihren Duft ein. Sie riecht gut.

Ich kann ihren Nacken sehen, ihre glatte Haut, ihr Haar, wie es über ihre Schultern hängt und spüren, wie es meine Beine streift.

Ich muss an eine andere Frau denken. Eine Frau, von der ich nicht weiß, was aus ihr wurde, wo sie ist und wie ich ihr jemals wieder in die Augen sehen könnte.

Dann ist der Moment vorbei und ich bin wieder im Hier und Jetzt.

„Du hast noch nicht einmal einen Blick darauf geworfen, oder?“, fragt Angela mich.

Ich schüttle den Kopf.

„Kein Interesse“, behaupte ich.

Sie nickt, trinkt von ihrem Kaffee und schlägt die Zeitung auf.

„Was machst du?“, will ich wissen.

Sie ignoriert mich und blättert auf die richtige Seite, zeigt auf die Überschrift und ich wende den Blick ab.

„Nein“, sage ich bestimmt, stoße mich mit den Händen von der Tischplatte ab und lande auf meinen Füßen.