Die Rabentochter - Karen Dionne - E-Book
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Die Rabentochter E-Book

Karen Dionne

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Beschreibung

Fünfzehn Jahre ist es her, dass die damals 11-jährige Rachel Cunningham ihre Mutter erschoss. Ein tragischer Unfall – so ihre Erinnerung. Seither lebt Rachel freiwillig in einer psychiatrischen Klinik, ohne ihre Schuldgefühle je überwunden zu haben. Doch Trevor Lehto, ein Bekannter und angehender Journalist, möchte für eine Reportage mehr über den damaligen Fall herausfinden. Auch in Rachel erwacht der Wunsch, sich endlich der ganzen Wahrheit zu stellen. Wild entschlossen verlässt sie die Klinik und fährt zu ihrer Tante Charlotte und ihrer Schwester Diana, die im Elternhaus von Rachel und Diana leben, einem herrschaftlichen Jagdhaus. Damit begibt sich Rachel jedoch in höchste Gefahr, denn die beiden hüten ein tödliches Geheimnis ...

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Buch

Fünfzehn Jahre ist es her, dass die damals 11-jährige Rachel Cunningham ihre Mutter erschoss. Ein tragischer Unfall– so ihre Erinnerung. Seither lebt Rachel freiwillig in einer psychiatrischen Klinik, ohne ihre Schuldgefühle je überwunden zu haben. Doch Trevor Lehto, ein Bekannter und angehender Journalist, möchte für eine Reportage mehr über den damaligen Fall herausfinden. Auch in Rachel erwacht der Wunsch, sich endlich der ganzen Wahrheit zu stellen. Wild entschlossen verlässt sie die Klinik und fährt zu ihrer Tante Charlotte und ihrer Schwester Diana, die im Elternhaus von Rachel und Diana leben, einem herrschaftlichen Jagdhaus. Damit begibt sich Rachel jedoch in höchste Gefahr, denn die beiden hüten ein tödliches Geheimnis …

Autorin

Karen Dionne hat in jungen Jahren mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter ein alternatives Leben in einer Hütte auf der Upper Peninsula geführt. Ihre Erfahrungen in der Wildnis von Michigan inspirierten sie zu ihrem Psychothriller-Debüt und großen Bestseller »Die Moortochter«, dem mit »Die Rabentochter« wieder ein packender Psychothriller folgt. Heute lebt Karen Dionne mit ihrem Mann in einem Vorort von Detroit, wo sie an weiteren Spannungsromanen schreibt.

KAREN DIONNE

DIE

RABEN

TOCHTER

PSYCHOTHRILLER

Deutsch von Andreas Jäger

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »The Wicked Sister« bei G.P. Putnam’s Sons, New York.

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Copyright © der Originalausgabe 2020 by Karen Dionne

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Published by arrangement with K Dionne Enterprises LLC.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München

Umschlagfoto: Haus: Drunaa/Trevillion Images;

Sumpf: Nicola Smith/Trevillion Images

Redaktion: Eva Wagner

BH · Herstellung: kw

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-20796-0V002

www.goldmann-verlag.de

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Für Jeff–

für dein unerschütterliches Vertrauen in mich und meine Schriftstellerei und dafür, dass du mit deiner Idee den Keim zu diesem Buch gelegt hast.

Die Wahrheit ist wie die Sonne. Du kannst sie eine Zeit lang ausblenden, aber verschwinden wird sie nicht.

ELVIS PRESLEY

Eins

HEUTE

Rachel

Manchmal, wenn ich die Augen schließe, halte ich ein Gewehr in den Händen. Meine Hände sind klein, meine Finger kurz und dick. Ich bin elf Jahre alt. Das Gewehr an sich ist nichts Besonderes, nichts unterscheidet es von irgendeinem anderen Remington. Außer dass es das Gewehr ist, das meine Mutter getötet hat.

In meiner Vision stehe ich vor meiner Mutter, die am Boden liegt. Das Gewehr zielt auf ihre Brust. Ihr Mund ist offen, und ihre Augen sind geschlossen. Ihre Brust ist rot.

Mein Vater kommt zur Haustür hereingestürmt. »Rachel!«, schreit er, als er mich sieht. Er fällt auf die Knie, nimmt meine Mutter in die Arme und blickt zu mir auf, seine Züge entstellt von Schock und Entsetzen.

Lange Zeit wiegt er meine Mutter in den Armen, als ob sie ein Baby wäre. Als ob sie noch lebte.

Schließlich legt er sie behutsam auf den abgetretenen Parkettboden und richtet sich langsam auf. Er nimmt das Gewehr aus meinen zitternden Händen, sieht mich an mit einem Schmerz, so groß, dass ich ihn nicht begreifen kann, und richtet das Gewehr gegen sich selbst.

Es war anders, sagt die Seidenspinne, die in der Mitte ihres Netzes sitzt, in einer Ecke des Zimmers, wo die Putzfrauen nie wischen. Dein Vater hat zuerst deine Mutter getötet und dann sich selbst.

Ich verstehe nicht, warum die Spinne lügt. Normalerweise sagen Spinnen die Wahrheit.

»Woher willst du das wissen?«, kann ich mir nicht verkneifen zu fragen. Sie war nicht dabei, als meine Eltern starben. Ich schon.

Die Spinne betrachtet mich ernsthaft mit ihren acht glänzenden Augen. Ich weiß es, sagt sie. Wir alle wissen es.

Ihre Jungen wuseln an den Rändern des Netzes umher, winzig wie Staubkörnchen, und nicken.

Ich will der Spinne sagen, dass sie sich irrt, dass ich besser als alle anderen weiß, was an dem Tag passiert ist, als meine Eltern starben, und dass ich die Konsequenzen des Verbrechens, das ich als Kind begangen habe, besser verstehe, als sie es je können wird. Denn schließlich lebe ich seit fünfzehn Jahren damit. Wer einmal einen Menschen getötet hat, ist für immer gebrochen, zerschlagen in so viele unendlich kleine Teile, dass nichts und niemand sie je wieder zusammensetzen kann. Fragen Sie irgendeinen Autofahrer, der in betrunkenem Zustand einen Fußgänger überfahren hat; fragen Sie irgendeinen Jäger, der seinen Freund oder Schwager mit einem Hirsch verwechselt und erschossen hat.

Fragen Sie irgendeine Frau, die ein geladenes Gewehr in der Hand hielt, als sie noch zu klein war, um vorherzusehen, was passieren würde.

Meine Therapeuten sagen, dass ich an komplizierter Trauer leide, und versprechen mir, dass es mir irgendwann besser gehen wird. Meine Therapeuten irren sich. Es geht mir immer schlechter.

Ich kann nicht schlafen, und wenn ich schlafe, habe ich Albträume. Ich habe häufig Kopfschmerzen und ständig Bauchschmerzen. Früher hatte ich regelmäßig Selbstmordgedanken, bis mir klar wurde, dass es eine größere Strafe ist, den Rest meines Lebens in einer psychiatrischen Klinik zu verbringen. Ich esse, ich schlafe, ich lese, ich sehe fern, ich gehe spazieren. Ich atme die warme Sommerluft ein, spüre die Sonne auf meiner Haut, lausche dem Zwitschern der Vögel und dem Summen der Insekten. Ich sehe die Blumen erblühen, die Blätter sich verfärben, den Schnee fallen– und immer ist da dieser Gedanke, der alle anderen verdrängt, diese furchtbare Wahrheit, die tief in meinem Herzen brennt: Ich bin der Grund, weshalb meine Eltern nie wieder sehen, riechen, schmecken, lachen oder lieben werden. Ich bin schuld, dass meine Eltern tot sind.

Die Polizei hat den Tod meiner Eltern als erweiterten Suizid eingestuft, begangen von meinem Vater. Alle Zeitungsberichte, die ich habe finden können, stimmen darin überein: Peter James Cunningham (45) tötete aus unbekannten Gründen seine Ehefrau, Jennifer Marie Cunningham (43), und richtete anschließend die Waffe gegen sich selbst. Manche Journalisten spekulieren, dass ich gesehen haben müsse, wie mein Vater meine Mutter erschoss, und deswegen weggelaufen sei. Andere mutmaßen, dass ich die Leichen meiner Eltern gefunden hätte und deswegen durchgedreht sei. Ich hätte ihnen gesagt, dass ich dafür verantwortlich war, wenn ich in der Lage gewesen wäre zu sprechen. Als ich drei Wochen später aus meiner Katatonie erwachte, ließ ich jeden, der es hören wollte, wissen, was ich getan hatte.

Aber bis heute will mir niemand glauben. Nicht einmal die Spinne.

Zwei

Ich lasse die Spinne mit ihrem Nachwuchs allein, und nach einem Blick auf meine Armbanduhr– ein billiges Plastikteil, das meine Tante Charlotte im Dollar Store gekauft hat, nachdem die letzte, die sie mir geschenkt hatte, gestohlen worden war– gehe ich die zwei Treppen nach unten in den Gemeinschaftsraum. Auf einem der Kabelkanäle läuft heute Nachmittag der erste Star-Trek-Kinofilm, und ich habe meinem Freund Scotty versprochen, dafür zu sorgen, dass niemand auf ein anderes Programm umschaltet. Meine Schritte hallen im leeren Treppenhaus wider. Ich trage Tennisschuhe– mit Klettverschluss, etwas anderes ist uns nicht gestattet. Die Keramik-Bodenfliesen sind gesprungen oder fehlen ganz, der Putz an den Wänden und der Decke bröselt und blättert ab. Mein Zimmer ist in einem der ältesten Gebäude, das aus der Zeit der Eröffnung der Klinik im Jahr 1895 stammt, als es noch die »Irrenanstalt Upper Peninsula« war. »Regionales Psychiatrisches Zentrum Newberry«, wie es sich heute nennt, klingt definitiv besser, aber es ist trotzdem, was es ist: eines von zwei großen psychiatrischen Krankenhäusern für Erwachsene im Staat Michigan. Dieses hier liegt auf der Upper und das andere auf der Lower Peninsula. Einrichtungen, in denen psychisch Kranke Heilung suchen, und in denen die unheilbar Geisteskranken den Rest ihrer Tage verbringen. Ich finde mich irgendwo dazwischen.

Ich trete aus dem Treppenhaus und laufe gegen eine Wand aus Lärm. Im Flur wimmelt es von Menschen. Patienten, Krankenschwestern, Patientinnen mit Schwestern, die im Gleichschritt neben ihnen her marschieren– denn nach den Mahlzeiten darf man Bulimikerinnen nicht allein lassen. Pfleger, Reinigungskräfte, ein Arzt im weißen Kittel. Ich schiebe mich dicht an der Wand entlang, den Kopf gesenkt. Ich spreche niemanden an. Niemand spricht mich an. Meine Therapeuten sagen immer, dass ich meine Zimmergenossinnen und die anderen in meiner Therapiegruppe besser kennenlernen sollte. Aber was für einen Sinn hat es, sich mit jemandem anzufreunden, der ohnehin irgendwann weg ist? Ich bahne mir meinen Weg durch den verglasten Durchgang zwischen den Schlafsälen und dem Verwaltungsgebäude, der sich an sonnigen Tagen höllisch aufheizt– unzerbrechliches Plexiglas, wie das Personal jedem Neuankömmling sogleich erklärt–, und öffne die Tür zum Gemeinschaftsraum.

Der Gemeinschaftsraum ist genauso trostlos, wie man es von einer hundert Jahre alten psychiatrischen Anstalt erwarten würde: schmutzfleckige cremefarbene Wände; abgetretene grüne Asbest-Bodenfliesen; die Fenster mit massiven Metallstreben unterteilt, damit niemand rausspringen kann; Kunstledersesselund -sofas, mit Klebeband geflickt und am Boden festgeschraubt. Auch hier ist es laut– der Ton des Fernsehers ist viel zu weit aufgedreht, um das Stimmengewirr von Besuchern und Patienten zu übertönen, die wiederum viel zu laut reden, um den Fernseher zu übertönen. Und der Geruch– ein Mix aus abgestandenen Kochdüften und Desinfektionsmittel, von dem meine Tante Charlotte sagt, dass er sie an ein Altersheim erinnert, nur überlagert von Zigarettengestank.

Hier im Krankenhaus rauchen so gut wie alle. Zigaretten sind gratis– ob das ein raffinierter Trick der Tabakkonzerne ist, um uns abhängig zu machen und lebenslang an sie zu binden, oder ob es nur ein weiteres Beruhigungsmittel im reichhaltigen Arsenal der Klinik ist, vermag ich nicht zu sagen. Nur Feuerzeuge und Streichhölzer sind uns verboten, genau wie Schnürsenkel, Kordeln, Einkaufstüten aus Plastik, Mülltüten und Dutzende andere gewöhnliche, aber potenziell tödliche Gegenstände, die Menschen außerhalb von psychiatrischen Anstalten tagtäglich benutzen.

Dennoch hat es in meiner Zeit hier zwei vollendete Selbstmorde gegeben. Ein Mädchen hat einen Pullover aufgedröselt und das Garn zu einem Strick geflochten, den sie sich um den Hals legte. Dann warf sie das andere Ende über ein Rohr unter der Decke des Badezimmers, stieg auf die Toilettenschüssel und sprang hinunter. Eine andere trank eine Flasche Abflussreiniger, die sie von einem Putzwagen gestohlen hatte, als niemand hinschaute. Die Putzfrau verlor deswegen ihren Job. Trotzdem: Wenn man bedenkt, dass mindestens die Hälfte der Patienten hier sind, weil sie entweder versucht haben, sich das Leben zu nehmen, oder damit gedroht haben, muss man die Leistung des Personals durchaus anerkennen.

»Ur-sa!«, ruft Scotty quer durch den Raum, als er mich erblickt. Er springt auf und wedelt mit den Händen.

Ich lächle und winkte zurück. Scotty ist ein Kind im Körper eines Mannes: groß und breitschultrig, mit Armen, die aussehen, als ob er einen mit einer Umarmung erdrücken könnte. Aber innen drin ist er weich wie ein Gummibärchen, mit blassblauen Augen und straßenköterblonden Haaren und geistig ungefähr auf dem Stand eines Neunjährigen. »Scotty« ist übrigens nicht sein richtiger Name– ich nenne ihn nur so wegen seines Faibles für Star Trek, so, wie er mich »Ursula« nennt wegen meiner Liebe zu Bären.

Scottys Bruder Trevor wartet ebenfalls auf dem Sofa. Mein Magen schlägt wie gewohnt Purzelbäume, als ich ihn sehe. Ich wusste natürlich, dass er hier sein würde– wir sind nach dem Film zu einem Gespräch unter vier Augen verabredet–, aber diese Wirkung hat er nun mal auf mich, da kann ich nichts machen. Trevor Lehto ist achtundzwanzig, zehn Jahre jünger als Scotty und zwei Jahre älter als ich. Heute trägt er ein Holzfällerhemd mit hochgekrempelten Ärmeln, Converse-Sneakers und Jeans, was alles gut zu seinen braunen Haaren und Augen und dem Dreitagebart passt, der irgendwie natürlich und gepflegt zugleich wirkt. Ich habe selbst braune Haare und Augen und trage Jeans und karierte Baumwollhemden, weil das praktisch die Einheitskleidung für Männer wie Frauen auf der Upper Peninsula ist. Aber Trevor steht der Look so gut, dass es den Leuten auffällt. Ich bin ziemlich sicher, dass ich nicht die Einzige hier im Krankenhaus bin, die in ihn verknallt ist.

»Lange nicht gesehen«, sage ich, während ich mich ans andere Ende des Sofas setze, mit Scotty zwischen uns. »Gut schaust du aus.«

Das ist nicht nur reine Höflichkeit. Trevor ist braun gebrannt, und– nach seinen muskulösen Unterarmen zu schließen– so durchtrainiert, wie ich ihn noch nie gesehen habe. So sieht man wohl aus, wenn man sechs Monate mit dem Rucksack durch Nordpatagonien gewandert ist.

»Danke. Bin gerade erst zurückgekommen. Und natürlich musste ich als Allererstes den Burschen hier besuchen.«

Er boxt seinen Bruder in den Arm. Scotty grinst und boxt zurück. Und auch ich muss unwillkürlich lächeln. Scottys Lächeln ist so rein und aufrichtig wie sein Herz. Es braucht nicht viel, um ihn glücklich zu machen, und das ist einer der Gründe, warum ich gerne Zeit mit ihm verbringe. Manche Leute glauben, dass ich mich nur mit Scotty angefreundet habe, um mich an Trevor ranmachen zu können, aber das stimmt nicht. Ich verstehe ja, dass unsere Freundschaft manch einem seltsam vorkommen mag, wenn man bedenkt, dass ich einen IQ von hundertzwanzig habe und Scotty vielleicht gerade mal die Hälfte. Dabei ist genau das ein wichtiger Grund, warum unsere Freundschaft funktioniert. Scotty akzeptiert mich als die, die ich bin, und er verlangt keine Gegenleistung dafür. Und was das Wichtigste ist: Er stellt keine Fragen.

»Wo hat er denn das Veilchen her?«, fragt mich Trevor. »Er will’s mir nicht sagen.«

»Keine Ahnung. Mir will er es auch nicht sagen, und alle anderen halten den Mund.«

Es ist zwar denkbar, dass Scotty die Treppe hinuntergefallen oder gegen eine Tür gelaufen ist, ohne dass jemand anders die Finger im Spiel hatte. Aber wahrscheinlicher ist es, dass einer der Pfleger ihn absichtlich geschlagen oder ihm ein Bein gestellt hat. Die meisten sind gebaut wie Footballspieler, und manche waren das auch, bevor sie wegen eines kaputten Knies oder einer anderen Verletzung den Sport aufgeben mussten und irgendwann hier landeten. Es kann eigentlich nicht gut gehen, wenn man hilflose Bewohner der Obhut von verbitterten, körperlich weit überlegenen Menschen überlässt, und Scotty ist ein leichtes Opfer. Es ist nicht das erste Mal, dass er mit unerklärlichen Verletzungen und Blutergüssen daherkommt, und leider wird es auch nicht das letzte Mal sein. Trevor versucht schon seit Längerem, eine gute betreute Wohnung in der Nähe von Marquette zu finden, damit er ein Auge auf seinen Bruder haben kann, aber bislang ohne Erfolg. Es gibt nicht viele Einrichtungen, die bereit sind, einen geistig behinderten paranoiden Schizophrenen aufzunehmen.

»Pthhht!«, macht Scotty, als der Film anfängt.

Wie zu erwarten, erhebt sich ringsum genervtes Stöhnen, und alles ruft durcheinander: »Nicht schon wieder der Mist!« und »Umschalten!«

Genau deswegen habe ich heute Morgen den richtigen Sender eingestellt und mir die Fernbedienung unter den Nagel gerissen. Ich drehe den Ton laut und stecke die Fernbedienung zwischen die Sofakissen.

Der Film macht dann doch wesentlich mehr Spaß, als ich gedacht habe– hauptsächlich, weil Scotty die ganzen zwei Stunden lang gebannt auf der Sofakante hockt, vornübergebeugt und mit den Händen zwischen den Knien, während Trevor und ich uns zurücklehnen und hinter seinem Rücken Blicke tauschen und die Augen verdrehen. Dann und wann sieht eine Frau am anderen Ende des Zimmers, die verbissen vorgibt zu lesen, von ihrem Buch auf und durchbohrt Trevor und mich abwechselnd mit Blicken, was mir vielleicht ein bisschen zu viel Genugtuung verschafft.

Sobald der Abspann zu Ende ist, springt Scotty auf. »Möge die Macht mit euch sein«, sagt er feierlich.

Für jeden anderen muss Scottys Segen sich wie sinnloses Gestammel anhören: Möh-ehe-Mah-mi-öh-sah– gesprochen mit monotoner Stimme, die Silben durch quälend lange Pausen getrennt und mit großer Anstrengung hervorgestoßen. Ich kann nicht erklären, wieso ich in der Lage bin, seine Mund-voll-Murmeln-Sprechweise zu verstehen, genauso wenig, wie ich meine Fähigkeit erklären kann, die Spinne zu verstehen. Ich sage ihm nicht, dass das ein Zitat aus Star Wars ist und nicht aus Star Trek.

»Zwei Wochen!«, ruft Trevor ihm hinterher, als Scotty sich auf dem Absatz umdreht und schnurstracks auf sein Zimmer im Männerblock zusteuert. Scotty gibt keine Antwort.

Trevor steht auf und streckt sich. »Puh, das war brutal. Wollen wir gleich anfangen, oder brauchst du noch ein paar Minuten?«

»Fangen wir an.«

Ich hätte zwar nichts gegen eine Pinkelpause, bevor wir uns an die Arbeit machen, aber die öffentlichen Toiletten auf dieser Etage sind abgeschlossen, und ich habe keine Lust, in die Zentrale runterzugehen und um den Schlüssel zu betteln. Ich lasse die Fernbedienung auf dem Sofa liegen– soll sie sich nehmen, wer mag– und folge Trevor zu einem freien Tisch in größtmöglicher Entfernung zum Fernseher.

Als Trevor anrief, um zu sagen, dass er sich entschieden habe, Journalismus als Hauptstudium zu wählen, und fragte, ob er mich für einen dieser »Was-macht-XY-eigentlich-heute?«-Artikel interviewen könne, wurde mir bewusst, dass das Universum mir ein Geschenk gemacht hat. Fünfzehn Jahre lang hat niemand der These widersprochen, wonach mein Vater meine Mutter ermordet hat. Ich bin die Einzige, die weiß, dass er es nicht getan hat. Dieses Interview ist eine Chance, noch etwas Gutes aus meinem nutzlosen, vergeudeten Leben zu machen– vielleicht meine einzige Chance, denn es ist nicht so, als ob die Reporter mir die Tür eingerannt hätten.

Trotzdem bin ich nervös. Einem aufstrebenden Journalisten zu erzählen, dass ich meine Mutter getötet habe, und ihm zu erlauben, meine Wahrheit zu veröffentlichen, wird unweigerlich Konsequenzen nach sich ziehen: Skepsis und Spott, falls man mir nicht glaubt, gefolgt von noch mehr Therapien, noch mehr Albträumen, noch mehr Medikamenten. Vielleicht auch wieder Sonderbewachung wegen Selbstmordgefährdung, wenn sich herausstellt, dass ich mit dem Druck nicht klarkomme. Und das will ich auf keinen Fall, denn dann werden sie mich keine Sekunde mehr allein lassen, nicht einmal beim Pinkeln. Oder, wenn man meiner Geschichte Glauben schenkt, eine polizeiliche Ermittlung, die Rehabilitierung meines Vaters und möglicherweise eine Gefängnisstrafe für mich.

Ganz abgesehen davon, dass Trevor, wenn er erfährt, dass ich meine Mutter getötet habe, mich künftig mit anderen Augen betrachten wird. Ich habe es zu oft erlebt, dass Leute in der Gruppentherapie ihr Herz ausschütten im Glauben, dass es ihnen danach besser geht, nur um dann festzustellen, dass sie, indem sie ihre tiefsten, dunkelsten Geheimnisse preisgaben, alles noch tausendmal schlimmer gemacht haben. Wenn man einmal weiß, dass der Onkel dieser Frau dort sie missbraucht hat, während ihr Stiefvater alles filmte, damit sie die Videos im Darknet verkaufen konnten, oder dass der süße Junge, in den man mit vierzehn verknallt war, die ersten sieben Jahre seines Lebens geglaubt hat, er sei ein Mädchen, weil seine Mutter ihn so angezogen und behandelt hat, und dass er mit sechzehn immer noch Probleme mit seiner geschlechtlichen Identität hatte, oder dass die Eltern der neuen Zimmergenossin jeden Bissen überwachten, der über ihre Lippen kam, und dass sie, wenn sieauch nur ein halbes Pfund zugenommen hatte, stundenlang in einem Fitnessraum trainieren musste, der eher einer Folterkammer glich– dann kann man das nur schwerlich wieder vergessen.

Ich muss mich daran erinnern, dass ich das hier machen will. Trevor mag den Anstoß zu diesem Interview gegeben haben, aber ich bin aus freien Stücken hier.

Ich setze mich. Er setzt sich. Ich warte.

»Was dagegen, wenn ich mitschneide?« Er greift in eine Umhängetasche aus grünem Segeltuch und stellt ein Aufnahmegerät zwischen uns auf den Tisch, ohne meine Antwort abzuwarten. Die Tasche sieht neu aus.

»Äh, nein. Mach nur«, sage ich, obwohl mir bei dem Gedanken, dass er eine Aufnahme unseres Gesprächs mitnehmen wird, schon mulmig zumute ist.

Es war kein einfacher Weg von der total verängstigten Elfjährigen, die von ihrer Tat so traumatisiert war, dass sie weder sprechen noch sich bewegen konnte, bis zu dem Punkt, an dem ich heute bin, wo– nun ja, wo ich immerhin gehen und sprechen kann. Man hat mir gesagt, dass ich absolut keine Reaktionen gezeigt hätte, als ich hier ankam, weder auf verbale noch auf physische Stimuli. Ich erinnere mich, dass ich sehen und hören konnte, doch immer, wenn mir endlich etwas eingefallen war, was ich tun oder sagen wollte, schien es mir einfach nicht der Mühe wert, zu sprechen oder mich zu bewegen. Ich weiß, dass das merkwürdig klingt, aber besser kann ich es nicht beschreiben. Mir war nicht langweilig, weil ich gar kein Gefühl für das Verstreichen der Zeit hatte. Die Stunden kamen mir vor wie Minuten, die Tage wie Stunden. Die drei Wochen, die ich in einem Körper gefangen war, der den Dienst verweigerte, ernährt über eine Magensonde und entleert durch einen Katheter, schrumpften zu einem einzigen, endlosen Tag zusammen. Ich konnte mich bewegen, aber nur, wenn jemand nachhalf, und dann blieb ich in dieser Position, bis man mich wieder bewegte. Was wohl ganz praktisch war, wenn es darum ging, mich vom Rollstuhl ins Bett zu heben und umgekehrt.

Mehr als alles andere ist mir eine überwältigende Müdigkeit in Erinnerung geblieben, wie man sie keinem Kind je wünschen würde. Es gab Momente, da schien mir selbst das Atmen zu anstrengend. Ich war verloren in einem Wirbel von Gedanken und Erinnerungen, über die ich keine Kontrolle hatte: Ich bin im Waffenzimmer. Ich hebe das Gewehr an meine Schulter. Ich schieße auf den Löwen in der Halle. Ich schieße auf ein Zebra und eine Gazelle. Ich bin eine Großwildjägerin und nicht ein elfjähriges Mädchen, das alle Lebewesen gleich gern hat und keiner Fliege etwas zuleide tun würde. »Was tust du da?«, schreit meine Mutter, als sie mich sieht. »Leg das Gewehr weg!« Also lege ich es weg. Es gibt einen lauten Knall. Meine Mutter fällt hin. Sie steht nicht mehr auf. Eine Szene, die sich seit fünfzehn Jahren in einer Endlosschleife vor meinem inneren Auge abspielt, wie ein Film, immer gleich, bis ins kleinste Detail.

Trevor beginnt mit ein paar harmlosen Eröffnungsfragen, die ich leicht beantworten kann: Wie war es, meine Teenagerjahre in einer psychiatrischen Klinik zu verbringen? (So schlimm, wie es sich anhört, und schlimmer, als du es dir jemals ausmalen könntest.) Bist du zur Schule gegangen? (Ja, wir hatten Unterricht, aber ich habe die Abschlussprüfung nicht abgelegt, weil ich nicht vorhabe, die Klinik zu verlassen, wozu sollte das also gut sein? Letzteres sage ich ihm allerdings nicht.) Ob ich außer seinem Bruder noch Freunde habe? (Nein. Es sei denn, man rechnet die Spinne dazu, und unsere Beziehung eine »Freundschaft« zu nennen wäre wohl etwas übertrieben angesichts der Tatsache, dass sie mir ständig widerspricht. Ganz abgesehen davon, dass Seidenspinnen nur ungefähr ein Jahr alt werden und ich schon gar nicht mehr weiß, mit wie vielen Generationen ich mich schon angefreundet habe.) Was würde ich den Leuten gerne über mich sagen, was sie noch nicht wissen? (Die perfekte Gelegenheit, ihm zu sagen, dass ich meine Mutter getötet habe, aber dafür ist es noch ein bisschen zu früh im Interview, also zucke ich nur mit den Schultern.)

Er rutscht auf seinem Stuhl herum, ein Zeichen, dass er zu einem anderen Thema übergehen will. Ich mache mich bereit. Ich bin sehr gut im Lesen von Körpersprache. An einem Ort wie diesem muss man das sein.

»Lass uns jetzt über deine Kindheit reden. Erzähl mir, wie dein Leben war, bevor du in die Klinik kamst.«

»Was dagegen, wenn ich rauche?«, frage ich, um Zeit zu gewinnen, damit ich meine Worte in Ruhe aus dem Skript auswählen kann, das ich im Geist schon ausgearbeitet habe.

Von diesem Interview hängt so viel ab. Trevor muss verstehen, dass meine Eltern so glücklich miteinander waren, wie zwei Menschen es nur sein können, und dass mein Vater meine Mutter genauso wenig hätte töten können wie Romeo seine Julia. Wenn ich das erst einmal geklärt habe, kann ich ihm sagen, wer es wirklich getan hat. Und außerdem brauche ich wirklich eine Zigarette.

»Äh, nein. Ist schon in Ordnung.« Er wedelt mit der Hand die rauchgeschwängerte Luft weg, die das Zimmer erfüllt. »Ich sterbe wahrscheinlich sowieso an Lungenkrebs, ehe wir mit dem Interview fertig sind.«

Ich lache mit ihm und schüttle eine Zigarette aus der Schachtel. Dann halte ich sie hoch und warte, bis einer der Pfleger mich sieht und an den Tisch kommt, um mir Feuer zu geben.

»Bevor ich in die Klinik kam«, beginne ich, indem ich seine genaue Formulierung verwende– eine Gesprächstechnik, die ich von meinen Therapeuten gelernt habe, und mit der ich die unterschwellige Botschaft sende, dass er und ich auf einer Wellenlänge sind. »Bevor ich in die Klinik kam, hatte ich eine sehr glückliche Kindheit. Meine Eltern gehörten zu den Paaren, die einander wirklich lieben. Du weißt schon, was ich meine: kein Abschied am Morgen ohne einen Kuss– einen richtigen, nicht nur ein Küsschen auf die Wange. Händchenhalten auf der Straße. Beim Fernsehen nebeneinander auf der Couch sitzen, und nicht jeder an einem Ende. Meine Schwester sagt, dass unsere Eltern am Tag ihres Todes noch verliebter waren als an dem Tag, als sie sich kennenlernten, und das glaube ich gerne. Wir wurden beide zu Hause unterrichtet, deshalb haben wir viel Zeit miteinander verbracht. Wir vier wohnten zusammen mit der Schwester meiner Mutter in einem fantastischen zweigeschossigen Blockhaus, das mein Ururgroßvater damals in derZeit der Holzbarone auf einem sechzehnhundert Hektar großen Anwesen südöstlich von Marquette erbaut hatte– aber das weißt du vermutlich schon«, füge ich hinzu und denke an die Millionen von Wörtern, die über uns schon geschrieben wurden.

»Das ist schon in Ordnung. Ich würde es gerne in deinen eigenen Worten hören.«

»Na schön.« Ich ziehe an der Zigarette, während ich überlege, wie ich das Gespräch am besten in die gewünschte Richtung lenken kann, und klopfe die Asche in einen der dünnen Aluminium-Aschenbecher, die im Raum verteilt stehen und eigentlich nur einmal verwendet werden sollen, die aber von der Klinik nie weggeworfen werden, weil wir als staatliche Einrichtung chronisch unterfinanziert sind.

»Meine Eltern waren Wildbiologen, wie du sicher auch schon weißt. Unser Land grenzte an drei Seiten an hohe Felsriegel, und an der vierten an einen großen See. Sehr isoliert, sehr unberührt. Meine Eltern pflegten zu sagen, in diesem fantastischen Ökosystem zu leben und zu arbeiten sei wie der Himmel auf Erden. Und weil das Land, auf dem meine Mutter und mein Vater forschten, den Eltern meines Vaters gehörte, und weil meine Eltern ihre Forschung selbst finanzierten, mussten sie sich gegenüber niemandem rechtfertigen, und so waren sie in der Wahl ihrer Methoden und ihrer Forschungsgegenstände vollkommen frei. Das Spezialgebiet meines Vaters waren Amphibien, während meine Mutter über Schwarzbären forschte. Sie haben immer gescherzt, dass meine Mutter doppelt so viel Testosteron haben müsse wie mein Vater– wegen ihrer Spezialisierungen, weißt du?«

Trevor lächelt und notiert sich den Scherz meiner Eltern. »Und wen hast du lieber gemocht? Die Frösche oder die Bären?«

»Ich habe alles geliebt, was sich bewegt«, antworte ich diplomatisch, obwohl die Wahrheit ist, dass ich mit Amphibien nicht viel anfangen kann, während ich von Schwarzbären mindestens so begeistert bin, wie meine Mutter es war, und es auch immer sein werde. »Ich habe meine Eltern öfter auf ihren Exkursionen begleitet. Mal watete ich durch die Tümpel und Bäche, eingehüllt in Moskitonetze und mit einer Wathose, wie sie mein Vater trug, und nahm Wasserproben und zählte Kaulquappen oder fing Frösche ein. Und am nächsten Tag kauerte ich neben meiner Mutter in ihrem Beobachtungsversteck und verfolgte aus wenigen Metern Entfernung, wie ein viereinhalb Zentner schwerer Schwarzbär an unserer Köderstation herumschnüffelte.«

»Klingt idyllisch.«

»Das war es auch.«

Ich bin mir nicht sicher, ob er das wirklich ernst meint, oder ob er mich dazu auffordert, es zu beweisen. Ich hoffe, dass ich meine Kindheit nicht in zu rosigen Farben male– er soll nicht glauben, dass meine Erinnerungen durch Wunschdenken und die zeitliche Distanz verfälscht sind. Dabei waren diese Jahre eher noch idyllischer, als ich sie geschildert habe, mit dem ganzen Zauber eines Märchens: eine wilde, wunderschöne Landschaft. Ein Jagdhaus, so prächtig wie ein Schloss inmitten eines geheimnisvollen, undurchdringlichen Waldes. Intelligente und liebevolle Eltern, die mich wie eine Prinzessin behandelten und mich in ihre Arbeit einbezogen, als ob ich eine Fachkollegin wäre, während sie mir gleichzeitig die Freiheit ließen, meine Welt zu erkunden, zu lernen und zu wachsen.

»Du hattest also kein Problem damit, allein durch diese Wälder zu streifen?«

»Nein, überhaupt nicht. Allein im Wald herumzustromern war für mich so natürlich, wie es für ein Stadtkind ist, sich in der U-Bahn zurechtzufinden.«

Er nickt, als ob ich etwas Bedeutendes bestätigt hätte, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, was das sein sollte. Dann zieht er seine Umhängetasche heran, kramt darin herum und nimmt eine schlichte braune Aktenmappe heraus.

»Ich möchte dir etwas zeigen. Das hier ist eine Kopie des Polizeiberichts. Ohne Fotos«, setzt er rasch hinzu. Er blättert die Mappe durch und zieht ein Blatt heraus, das er zwischen uns auf den Tisch legt. »Hier«, er tippt auf die Mitte der Seite. »Da geht es um dein Verschwinden.«

Natürlich hat er den spektakulärsten Teil meiner Geschichte herausgegriffen– wenn er auf eine Enthüllungsstory gehofft hat, kommt er allerdings exakt fünfzehn Jahre zu spät. Jeder kann meinen Namen zusammen mit »vermisstes Mädchen« googeln und haufenweise Artikel über mein Verschwinden finden, von Boulevardzeitungen bis hin zu den landesweiten Nachrichten. VERMISSTES MÄDCHEN GEFUNDEN! und KIND ÜBERLEBT WIE DURCH WUNDER ZWEI WOCHEN IN URWALDHÖLLE– SIE FAND DEN WEG ZURÜCK IN DIE ZIVILISATION, VERLOR ABER DIE SPRACHE. Und meine persönliche Lieblingsschlagzeile: MOWGLI-MÄDCHEN VON WÖLFEN GERETTET?

»In dem Bericht heißt es, als die Polizei am Tatort eintraf, seist du schon verschwunden gewesen«, hilft er nach, als ob ich die Details meiner eigenen Geschichte nicht kennen würde. »Sie haben eine Suche gestartet, aber inzwischen war die Erde so zertrampelt, dass man nicht erkennen konnte, in welche Richtung du gelaufen warst. In der Nacht schneite es dann, was jede Chance, am Morgen deine Spur aufzunehmen, zunichte machte. Trotzdem suchten sie tagelang nach dir– mit Hubschraubern, Spürhunden und allem–, doch je mehr Zeit verging, desto mehr mussten sie sich eingestehen, dass du höchstwahrscheinlich tot warst.«

»Genau. Bis mich dann zwei Wochen später ein Autofahrer am Straßenrand liegen sah«, unterbreche ich ihn im Bemühen, die Sache abzukürzen, damit wir zu dem Thema kommen können, über das ich eigentlich sprechen will.

»Am Straßenrand liegend, unfähig zu sprechen oder dich zu bewegen«, fügt er hinzu, was allerdings ein ziemlich dramatisches Detail ist. »Und dennoch– abgesehen davon und von ein paar Kratzern und Blutergüssen, warst du körperlich in erstaunlich guter Verfassung. Aber jetzt kommt die große Frage, Rachel: Ich bin auf der Upper Peninsula aufgewachsen. Ich weiß, wie das Wetter Anfang November ist. Minustemperaturen in der Nacht, und bei dem ganzen Neuschnee ist es praktisch undenkbar, dass du diese zwei Wochen ohne Hilfe überlebt hast. Und doch hast du es irgendwie geschafft. Ich weiß, dass du dich damals an nichts erinnern konntest, aber wie sieht es heute aus? Kannst du mir irgendetwas dazu sagen? Was hast du gegessen? Wie hast du dich warm gehalten? Wo hast du geschlafen?«

Er sieht so hoffnungsvoll aus, dass ich versucht bin, etwas zu erfinden, um ihn und seine künftigen Leser zufriedenzustellen. Mir kommt der Gedanke, dass ich ihm alles Mögliche erzählen könnte, ohne dass mir irgendjemand widersprechen könnte.

Doch leider sind mir jene Tage heute noch ebenso sehr ein Rätsel wie damals. Und außerdem mag ich es gar nicht, wenn jemand nicht die Wahrheit sagt.

»Nein, tut mir leid. Ich kann mich immer noch an nichts erinnern. Meine Therapeuten haben versucht, mir zu helfen, meine Erinnerungen zurückzugewinnen. Ich glaube, sie haben mich als persönliche Herausforderung betrachtet. Ich war dieses rätselhafte Mädchen, dieses Wolfskind, das plötzlich auftauchte, nachdem sie zwei Wochen lang verschwunden war, und keine Ahnung hatte, wo sie gewesen war oder was sie getan hatte. Aber irgendwann mussten wir akzeptieren, dass diese Tage für immer verloren sind.«

»Aber sind sie es wirklich? Sagt die Wissenschaft nicht, dass wir alles behalten, was wir je gesehen oder gehört haben? Diese Erinnerungen müssen doch noch irgendwo in deinem Gehirn herumfliegen.«

»Ja, schon. Im Prinzip ist das richtig. Ich meinte, dass meine Erinnerungen weg sind in dem Sinne, dass ich nicht an sie herankomme. Glaub mir, wir haben es versucht. Wenn es um Erinnerungen im Zusammenhang mit Kindheitstraumata geht, muss man berücksichtigen, dass das Gehirn so etwas anders verarbeitet als normale Erlebnisse. Manchmal sind sie so tief verschüttet, dass die Betroffenen gar keinen Zusammenhang herstellen zwischen ihren Problemen als Erwachsene und einem Ereignis, das ihnen als Kind widerfahren ist.«

Was ich ihm nicht sage, ist, dass ich mich an jene Tage gar nicht erinnern will und es auch nie wollte, was sicherlich eine große Rolle beim kollektiven Versagen meiner Therapeuten gespielt hat. Wenn das, was in dieser Zeit passiert ist, so verstörend war, dass mein Gehirn es für nötig hielt, die Erinnerung zu löschen, dann will ich es auch nicht wissen.

»Könntest du bitte einfach nur einen Blick darauf werfen? Vielleicht löst sich ja irgendeine Blockade, wenn du den Bericht liest.«

Ich nehme die Mappe, die er mir hinhält, obwohl die Beschäftigung mit den Details jenes Tages so ziemlich das Letzte ist, wonach mir im Moment zumute ist. Im Grunde will ich ihm nur entgegenkommen, weil er hundert Meilen gefahren ist, um mich zu interviewen, und wir wissen beide, dass ich ihm noch nicht viel geliefert habe.

Ich überfliege die Seiten rasch, mit gespieltem Interesse, bis ich zu einer Strichzeichnung eines Kindes neben der Abbildung eines schweren Gewehrs komme– und jetzt bin ich wirklich interessiert. Ich lese den dazugehörigen Absatz:

Nachdem die Tochter gefunden worden war, untersuchte der Rechtsmediziner das Mädchen und fand keine Spuren von Blutergüssen an ihren Gliedmaßen oder ihrem Rumpf, die durch das Abfeuern eines Winchester Magnum entstanden sein könnten. Angesichts der Größe des Gewehrs im Verhältnis zu Größe und Gewicht des Mädchens, in Verbindung mit dem Fehlen von Spuren am Körper, kam der Rechtsmediziner zu dem Schluss, dass die Tochter das Gewehr nicht abgefeuert haben kann.

Mein Herz pocht. Ich lege die Mappe vorsichtig auf den Tisch, wische mir die Hände an meiner Jeans ab und schiebe sie unter meine Oberschenkel, um sie am Zittern zu hindern. Ich verstehe das nicht. Ich habe meine Mutter erschossen. Ich habe sie getötet– ich weiß, dass ich es getan habe. Ich habe mich mit dem Gewehr in der Hand vor ihrer Leiche stehen sehen, schon so viele, viele Male.

Und doch gibt es keinen Grund anzunehmen, dass dieser Absatz irgendetwas anderes als die Tatsachen beschreibt. Wer immer diesen Bericht geschrieben hat, kann sich das nicht ausgedacht haben. Die Details sind zu spezifisch. Zu leicht zu widerlegen, wenn sie falsch wären. Selbst ich kann sehen, dass das abgebildete Gewehr– es ist nicht das Remington, das ich in meinen Visionen sehe– so groß ist, dass ich mit elf Jahren unmöglich in der Lage gewesen wäre, es zu heben.

Angesichts der Größe des Gewehrs im Verhältnis zu Größe und Gewicht des Mädchens, in Verbindung mit dem Fehlen von Spuren am Körper, kam der Rechtsmediziner zu dem Schluss, dass die Tochter das Gewehr nicht abgefeuert haben kann.

Es ist unmöglich. Und doch habe ich die Wahrheit hier direkt vor Augen, schwarz auf weiß.

Ich habe meine Mutter nicht getötet. Ich kann es nicht getan haben. Laut Polizeibericht habe ich dieses Gewehr niemals abgefeuert.

Drei

Ich schließe die Augen, schwanke, halte mich an der Tischkante fest, um nicht in Ohnmacht zu fallen. Meine Kehle ist so zugeschnürt, dass ich kaum Luft bekomme. Fünfzehn Jahre. Fünfzehn Jahre sitze ich nun schon in einer psychiatrischen Klinik eine selbst auferlegte lebenslange Freiheitsstrafe ab für ein Verbrechen, das ich nicht begangen habe. Es ist verrückt. Irre. Vollkommen wahnsinnig. Ich komme mir vor wie eine Idiotin.

Zwei Sätze in der Mitte eines Polizeiberichts, den ich nie gelesen habe, beweisen, dass mein ganzes Leben von einer Lüge bestimmt war. Definiert von einer Lüge. Erinnerungen aus diesen verlorenen Jahren brechen in Wellen über mich herein.

– Es ist mein zwölfter Geburtstag. Ich hocke im Schneidersitz auf dem Boden einer Gummizelle, in eine Zwangsjacke geschnürt. Meine Arme tun weh, meine Nase juckt, und ich muss pinkeln. Ich bin schon ganz heiser vom Schreien um Hilfe. Als endlich ein Pfleger das Sichtfenster in der Tür aufschiebt, habe ich schon eingenässt und eingekotet.

– Ich bin fünfzehn. Ich liege auf dem Rücken auf einer schmalen Fahrtrage und zähle die Neonröhren, die an der Decke vorbeiziehen, während ich durch einen langen Flur geschoben werde. Meine Arme und Beine sind mit Ledergurten fixiert. Meine Therapeutin hat mir versprochen, dass dies die letzte Elektroschocktherapie sein wird, die ich brauche. Ich glaube ihr nicht.

– Letzte Woche. Ich bin so zugedröhnt nach einer weiteren willkürlichen Umstellung meiner Medikation, dass ich nur noch schlafen will. Eine Pflegerin weckt mich dennoch und zerrt mich aus dem Bett, und ich muss zusammen mit den anderen Patientinnen am Schwesternzimmer anstehen, um auf meine Medikamente zu warten. Draußen verfärbt sich der Himmel erst rot und dann grün. Grillen zirpen, und irgendwo entlang des Flurs spielt jemand Geige. Ich bohre die Finger in meine Arme, bis sie bluten, um die Ameisen zur Ruhe zu bringen, die unter meiner Haut umherkrabbeln.

»Geht’s dir nicht gut?«

So viele Jahre. So viele Erniedrigungen. So viel Leiden. Und alles für nichts und wieder nichts. Ich möchte schreien, meine Faust in die Wand rammen, den Polizeibericht zerreißen und die Fetzen Trevor ins Gesicht schmeißen, auf den Tisch steigen und allen im Raum verkünden, dass ich nicht hierhergehöre, nie hierhergehört habe.

»Rachel? Ist alles in Ordnung? Sag doch was!«

Er wirkt ehrlich besorgt. Ich kann mir vorstellen, wie ich auf ihn wirken muss: blass, schwitzend, zitternd. Er glaubt wahrscheinlich, dass ich gleich einen Herzinfarkt bekomme. Vielleicht liegt er ja richtig.

»Ehrlich gesagt«, antworte ich, »es geht mir gar nicht gut. Muss wohl eine Reaktion auf meine neuen Medikamente sein. Können wir das Interview ein andermal fortsetzen? Vielleicht am Telefon?«

»Natürlich. Soll ich jemanden rufen? Kann ich irgendwas für dich tun?«

»Das wird schon wieder«, lüge ich. »Mir ist nur ein bisschen schwindlig, weiter nichts.«

»Wenn du sicher bist …«

»Ich bin sicher.« Ich ringe mir ein Lächeln ab und halte ihm die Hand hin. »Danke für dein Verständnis.«

Natürlich ist er enttäuscht, aber das kann ich nicht ändern. Er schüttelt mir die Hand, schaltet das Aufnahmegerät aus und packt seine Sachen zusammen. Er gibt mir seine Karte, sagt, dass es ihm ein Vergnügen war, mit mir zu sprechen, und wünscht mir gute Besserung. Er verspricht, in ein paar Tagen noch mal vorbeizuschauen, um zu sehen, wie es mir geht, und ich soll ihn jederzeit anrufen, wenn mir irgendetwas Wichtiges einfällt oder ich einfach nur reden will.

Und die ganze Zeit denke ich nur: Na los doch, geh endlich.

Sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hat, verschränke ich die Arme auf dem Tisch und lasse den Kopf sinken.

Angesichts der Größe des Gewehrs im Verhältnis zu Größe und Gewicht des Mädchens, in Verbindung mit dem Fehlen von Spuren am Körper, kam der Rechtsmediziner zu dem Schluss, dass die Tochter das Gewehr nicht abgefeuert haben kann.

Wie ist es möglich, dass ich das nicht gewusst habe? Wieso kann ich mich nicht erinnern?

Als ich aus der Katatonie erwachte, erzählte ich allen, dass ich meine Mutter getötet hätte. Warum ist niemand auf die Idee gekommen, mir zu sagen, dass ich sie nicht nur nicht getötet hatte, sondern dass ich es auch gar nicht gekonnt hätte? Ich hätte meine Teenagerjahre im Jagdhaus verbringen können, ich hätte studieren und einen Abschluss machen können, die Forschungsarbeit meiner Mutter fortsetzen, mich verlieben, heiraten. Stattdessen habe ich absolut gar nichts erreicht. Ich habe meine Zukunft um meiner Eltern willen verschenkt– ein Opfer, von dem ich jetzt weiß, dass es vollkommen sinnlos und unbegründet war.

Die fatale Verkettung von Missverständnissen und falschen Annahmen, die mich zu diesem Moment geführt hat, bereitet mir körperliche Übelkeit. Da niemand mir glaubte, als ich aus der Katatonie erwachte und erzählte, dass ich meine Mutter getötet hätte, redete ich einfach nicht mehr darüber. Meine Tante und meine Schwester fragten nie nach, was mich in der Klinik hielt, weil sie dachten, dass meine Therapeuten sich um meine Probleme kümmerten. Meine Therapeuten kannten den Grund für meine mangelnden Fortschritte nicht, weil ich ihnen nie gesagt hatte, dass ich glaubte, meine Mutter getötet zu haben. Und so ging es immer weiter, immer im Kreis. Eine Tragödie der Irrungen.

Und dennoch … Ich weiß ganz genau, wenn ich jetzt meine Augen schließen würde, würde ich mich wieder mit dem Gewehr in der Hand vor der Leiche meiner Mutter stehen sehen.

Ich habe keine Ahnung, warum mein Gehirn dieses Bild heraufbeschwört, warum ich es immer wieder und wieder sehe, warum meine Visionen sich so real anfühlen, obwohl sie es ganz offensichtlich nicht sind. Mir ist klar, dass Kinder sich manchmal schuldig fühlen, wenn etwas Schlimmes passiert. »Magisches Denken« heißt das, wenn zwei unzusammenhängende Ereignisse im Kopf des Kindes verschmelzen und untrennbar miteinander verbunden werden: »Ich war böse auf meine Mama, und sie hatte einen Autounfall, also ist es meine Schuld, dass sie sich wehgetan hat.«

Aber ich war nicht drei oder vier oder fünf Jahre alt. Ich war elf– eine intelligente, sensible, belesene Elfjährige, deutlich reifer als die meisten Gleichaltrigen, und ganz bestimmt alt genug, um den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung zu verstehen. Irgendetwas muss passiert sein, was mich glauben machte, ich hätte meine Mutter getötet. Vielleicht bin ich in die Diele gekommen, nachdem meine Eltern schon tot waren, habe das Gewehr aufgehoben und auf ihre Leichen hinabgeschaut. Vielleicht hat mein armes traumatisiertes Gehirn dieses Stückchen echter Erinnerung genommen und so lange verdreht, bis ich überzeugt war, dass ich selbst den Schuss abgefeuert hatte. Vielleicht … Ich könnte es verstehen, wenn mein Gehirn die Erinnerung an diesen schrecklichen Tag gelöscht hätte, um mich zu schützen. Aber warum sollte es die Wahrheit durch etwas noch viel Schlimmeres ersetzen?

Ich setze mich auf und fahre mir mit der Hand durch die Haare. Die Zigarette glimmt immer noch im Aschenbecher. Ich rauche sie bis auf den Filter und stecke mir die nächste damit an, dann lehne ich mich zurück, lege die Füße auf den Tisch und blicke mich im Zimmer um. Es ist eine seltsame Vorstellung, dass für alle anderen alles genau so weitergeht wie bisher, während für mich nichts mehr so sein wird wie zuvor.

Fünfzehn Jahre lang war ich ein schlechter Mensch. Ich war das Mädchen, das seine Mutter getötet und seinen Vater dazu gebracht hatte, sich das Leben zu nehmen, das der Welt zwei talentierte und kluge Wissenschaftler genommen hat, die vielleicht noch wichtige Entdeckungen gemacht hätten. Und die dann das Einzige tat, was ihr einfiel, um Wiedergutmachung zu leisten: indem sie ihre selbst auferlegte Buße am schlimmsten Ort ableistete, den sie kannte. Wenn man das alles wegnimmt, wer bin ich dann noch?

Ich rauche und denke nach und rauche und denke nach, bis die Essensglocke läutet. Der Raum leert sich im Nu. Nicht weil die Leute es so eilig haben, das unfassbar fade und totgekochte Kantinenessen zu verzehren, sondern weil der Gemeinschaftsraum während der Mahlzeiten abgeschlossen wird– es gibt einfach nicht genug Personal, um beide Räume gleichzeitig im Auge zu behalten– und deshalb alle das Feld räumen müssen. Ich drücke die Zigarette aus und nehme die Füße vom Tisch, dann stecke ich Trevors Visitenkarte in die Hosentasche und stehe auf. Ich kämpfe mich gegen den Strom durch das Gedränge wie ein flussaufwärts schwimmender Lachs und gehe zurück auf mein Zimmer. Niemand hält mich an oder fragt mich, wohin ich gehe. Sich vor den Mahlzeiten zu drücken ist nur dann ein Problem, wenn man an einer Essstörung leidet, was bei mir nicht der Fall ist– obwohl ich so dünn bin, dass es ein Leichtes wäre, jemanden davon zu überzeugen, falls ich einen Grund dazu hätte.

Ich kann nämlich eine ganze Reihe von Neurosen und Psychosen simulieren. Affektive Störungen sind am leichtesten, aber auch als Schizophrene kann ich verdammt überzeugend sein. Früher habe ich jedes Mal, wenn ich eine neue Zimmergenossin bekam, eine andere Störung simuliert, so, wie man eine neue Bluse oder Jacke anprobiert. Das mag manipulativ oder vielleicht sogar grausam erscheinen, aber es war im Grunde nur ein harmloser Spaß. Alle meine Zimmergenossinnen würden irgendwann wieder ausziehen– was spielte es also für eine Rolle, wenn sie ein falsches Bild von mir in Erinnerung behielten? Sie glauben zu machen, dass ich manisch-depressiv sei oder an antisozialer Persönlichkeitsstörung oder einer Zwangsneurose oder einer paranoiden Persönlichkeitsstörung litt, war besser, als ihnen zu sagen, was mit mir wirklich nicht stimmt.

Eine Diagnose, die jetzt nicht mehr zutrifft.

Ich wanke die Treppe hinauf und lasse mich auf mein Bett fallen wie eine Betrunkene. Ich greife nach dem Stoffbären, der mich immer getröstet hat, seit ich ein Kind war, und streiche mit dem Daumen über die kahle Stelle an seinem Kopf. Als ich damals in die Klinik eingeliefert wurde und weder sprechen noch mich bewegen konnte, haben meine Therapeuten versucht, mithilfe dieses Bären an mich heranzukommen. Sag mir, was dein Problem ist, Rachel, sagten sie mit hoher, piepsiger Stimme, während sie mit dem Bären vor meinem Gesicht herumwackelten und seine Arme verstohlen mit ihren Fingern bewegten. Wovor hast du Angst? Es ist okay, mir kannst du es ruhig sagen. Als ob eine Beichte bei einem Stoffbären die Erinnerung an das auslöschen könnte, was ich gesehen hatte. Was ich getan hatte.

Was ich nicht getan hatte.

Ich seufze und schiele zur Zimmerecke. Die Spinne hält klugerweise den Mund.

Ich wälze mich auf den Rücken, verschränke die Arme im Nacken und starre auf die braunen Flecken auf der Matratze des Stockbetts über mir. In meinen ersten Jahren hier habe ich immer nach Mustern in diesen Flecken gesucht, so wie andere Leute Dinge in Wolken sehen: einen Bären, einen Wal, einen Mann und eine Frau, die sich küssen, meinen Vater und meine Mutter– was in Anbetracht der Tatsache, dass es sich lediglich um Urinflecken handelt, die zahllose Bettnässer im Lauf vieler Jahrzehnte hinterlassen haben, nur zeigt, wie schrecklich ich sie vermisst habe. Ein Kuss, wie man ihn im Kino sieht, ein Rhett-Butler-Scarlett-O’Hara-Kuss. Der Kuss von zwei Menschen, die wahnsinnig und leidenschaftlich ineinander verliebt waren.

Nicht der Kuss eines Mannes, der im Begriff war, seine Frau zu ermorden.

Mein Vater hat zuerst meine Mutter getötet und dann sich selbst.

Ich spreche die Worte der Spinne laut nach. Sie fühlen sich nicht echt an.

Es war ein Unfall. So muss es gewesen sein. Vielleicht hat mein Vater das Gewehr gereinigt, während meine Mutter in der Nähe war, und ist dabei irgendwie an den Abzug gekommen. Vielleicht ist das Gewehr von selbst losgegangen. Vielleicht ist er nur erschrocken, als eine Buschratte über den Boden lief oder ein Kampfjet tief übers Haus hinwegflog, oder von einem plötzlichen Donnerschlag. Der Unfall könnte sich auf tausend verschiedene Arten zugetragen haben, aus tausend verschiedenen Gründen. Ich weiß nur, dass mein Vater niemals absichtlich meiner Mutter etwas angetan hätte– aus all den Gründen, die ich Trevor darlegen wollte.

Trevor. Ich erschaudere, wenn ich daran denke, wie dicht ich davor war, ihm zu gestehen, dass ich es war, die sie getötet hat. Damit hätte ich auf einen Schlag all meine Glaubwürdigkeit eingebüßt– falls eine Langzeitpatientin in einer psychiatrischen Klinik überhaupt glaubwürdig sein kann. In diesem Moment könnte er sich wahrscheinlich gerade in den Hintern beißen, weil er das Interview überhaupt anberaumt hat, und sich denken, wie verantwortungslos es von mir ist, in das Gespräch mit ihm einzuwilligen und ihn dann gleich wieder wegzuschicken. Ich bin sicher, dass er mir seine Karte nur aus Höflichkeit gegeben hat und dass er den Artikel schon als völligen Fehlschlag abgeschrieben hat.

Wie dem auch sei– es spielt keine Rolle, was er von mir denkt, denn ich werde auf keinen Fall noch einmal mit ihm Kontakt aufnehmen. Warum sollte ich ihm helfen, die gleiche alte Geschichte von wegen »Rachels Vater hat ihre Mutter ermordet und sich dann das Leben genommen« noch einmal aufzuwärmen?

Meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich war so dicht dran. Ich hatte mir alles so schön überlegt. Nachdem ich die Unschuld meines Vaters bewiesen hätte, sei es vor Gericht oder vor dem Tribunal der öffentlichen Meinung, hätte ich mir das Leben genommen. Nicht aus Verzweiflung oder Hoffnungslosigkeit, wie mein Vater– ein egoistischer Akt, der mir bis heute unbegreiflich ist: Wie konnte er mich allein lassen, gerade als ich ihn mehr denn je brauchte? Wie konnte er den Tod mit meiner Mutter dem Leben mit mir vorziehen?– Nein, sondern aufrecht und mutig, als finalen Akt der Reue. Ich hatte mir sogar schon überlegt, wie ich es tun würde– eine geniale und originelle Methode, die noch niemand in der Klinik versucht hatte, die aber hundertprozentig so funktionieren würde, wie ich es beabsichtigt hatte.

Und jetzt– was soll ich jetzt tun?

Ich drücke meinen Bären an die Brust, vergrabe mein Gesicht in seinem Fell und klammere mich an ihn, als ob er ein Anker wäre, eine Rettungsleine– das Einzige, was mich davon abhält, in einem Ozean von Selbstvorwürfen und Verzweiflung zu versinken, einer so erdrückenden Verzweiflung, dass mir fast die Luft wegbleibt.

All meine Opfer waren umsonst. Alles, was ich geglaubt habe, war eine Lüge.

Ich weine so heftig wie noch nie zuvor in meinem Leben. Noch heftiger als damals, als ich aus der Katatonie erwachte und begriff, dass meine Albträume wahr und meine Eltern wirklich tot waren. Gewaltige, krampfhafte Schluchzer schütteln mich, stülpen meinen Magen um und lassen meinen ganzen Körper verkrampfen. Ich weine um das arme elfjährige Waisenkind, das vom Tod seiner Eltern so traumatisiert war, dass es in eine Nervenheilanstalt eingeliefert werden musste; um den entsetzlich einsamen und suizidalen Teenager, zu dem sie heranwuchs; um die sechsundzwanzigjährige Frau, die ich heute bin, die so überzeugt davon war, dass ihr Leben keinen Wert hatte, dass sie glaubte, nichts Besseres verdient zu haben als dieses Leben in einer psychiatrischen Klinik. Ich weine um meine Eltern, um die Tragödie, die unsere Familie zerstört hat, um alles, was hätte sein können und nie gewesen ist.

Endlich sind keine Tränen mehr da. Ich setze mich auf, wische mir mit dem Ärmel übers Gesicht und gehe ins Bad, um mir mit Toilettenpapier die Nase zu putzen. Meine Augen sind so verquollen, dass ich kaum sehen kann. Ich beuge mich über das Waschbecken und spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht, dann befeuchte ich einen Waschlappen und kühle damit meine brennenden Augen, ehe ich mich wieder aufs Bett lege.

Es ist schwer zu glauben, dass ich fünfzehn Jahre lang so falschgelegen haben soll. Meine Visionen sind so hartnäckig. So gleichbleibend. So real.

Und wenn ich mich doch nicht irre? Was, wenn der Rechtsmediziner sich geirrt hat? Ich wünschte, ich hätte daran gedacht, Trevor um eine Kopie des Polizeiberichts zu bitten. Er könnte Details enthalten, die die Polizei übersehen hat, weil sie nicht zu der Geschichte passen, die der Tatort zu erzählen schien. Details, deren Bedeutung nur ich verstehen kann, weil ich im Jagdhaus gelebt habe. Das waren meine Eltern. Ich weiß Dinge über sie und ihre Beziehung, die im Polizeibericht gar nicht auftauchen, weil niemand mich je vernommen hat.

Aber was dann? Den Bericht noch einmal durchzugehen und widersprüchliche Details zu identifizieren wird gar nichts ändern, weil dies der Bericht ist, der meinen Vater von Anfang an verurteilt hat. Und wenn die Lektüre des Berichts eine Erinnerung auslöst, oder wenn ich darin etwas finde, dem ich genauer nachgehen will– wie soll ich von hier aus Ermittlungen anstellen?

Ich stehe vor der Leiche meiner Mutter mit einem Gewehr in der Hand.

Der Rechtsmediziner hat ausgeschlossen, dass die Tochter das Gewehr abgefeuert haben kann.

Bin ich eine Mörderin oder nicht? Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden. Ich muss an den glücklichsten und schrecklichsten Ort zurückgehen, den ich kenne.

Nach Hause.

Vier

DAMALS

Jenny

Ich hätte etwas sehen müssen. Etwas hören. Ich hätte es wissen müssen.

Wenn ich nur wenige Minuten früher aus dem Fenster geschaut hätte, hätte ich den Nachbarsjungen vielleicht noch rechtzeitig aus dem Pool ziehen können, um ihn wiederzubeleben. Noch ein paar Minuten früher, und ich hätte vielleicht verhindern können, dass er hineinfällt.

Die Polizei, die Sanitäter, mein Mann– alle, sogar die Yangs, sagen, ich hätte alles getan, was ich konnte. Sowie ich den dunklen Schatten am Grund unseres Pools sah und begriff, worum es sich handelte, schrie ich meine Tochter an: »Lauf, so schnell du kannst, nach nebenan und sag Mrs Yang, sie soll den Notruf anrufen!« Ich rannte durch den Garten, streifte meine Schuhe ab und sprang kopfüber in den Pool. Ich bekam eine Handvoll T-Shirt zu fassen, zog den Jungen heraus und legte ihn an den Beckenrand, wo ich sofort mit der Reanimation begann, obwohl ich das noch nie bei einem Kleinkind gemacht hatte und nicht wusste, ob ich es richtig machte. Ich hörte erst auf, als die Sanitäter eintrafen und übernahmen. Aber es war nicht genug. Das einzige Kind unserer Nachbarn war da schon tot.

Ich sagte dem Polizisten, der mich befragte, dass ich keine Ahnung hätte, wie der Junge in unseren Pool gelangt war. Der Pool ist eingezäunt, wie jeder sehen kann, und mein Mann und ich achten sehr gewissenhaft darauf, das Tor stets geschlossen zu halten, weil wir vor zwei Monaten in dieses Haus gezogen sind und unsere achtjährige Tochter noch nicht schwimmen kann. Ja, das Tor war offen, als ich am Pool ankam. Nein, ich weiß nicht, wie das passiert ist. Nein, ich kann nicht genau sagen, wo unsere Tochter war, als der Junge hineinfiel. Ich weiß nur, dass Diana, als ich meine Arbeit in der Küche unterbrach und ins Wohnzimmer ging, vor dem Fernseher am Boden saß und einen Disney-Film schaute.

Der Polizist fragte, ob er in meiner Gegenwart mit Diana sprechen könne. Sicher, antwortete ich.

Diana bestätigte, was ich bereits gesagt hatte, und setzte sich auf seine Aufforderung hin im Schneidersitz auf den Boden, um zu demonstrieren, wie sie ferngesehen hatte, mit dem Rücken zum Fenster, die Hände brav im Schoß gefaltet. Nein, sie hat keine verdächtigen Geräusche aus dem Garten gehört. Ja, der Film, den sie angeschaut hat, Robin Hood, ist ihr Lieblingsfilm, aber sie mag auch Die Schöne und das Biest und Arielle, die Meerjungfrau.

»Melden Sie sich bei mir, falls Ihnen noch etwas einfällt«, sagte der Polizist einigermaßen freundlich, nachdem er mit unserer Vernehmung fertig war, und gab mir seine Karte.

Die Karte hängt an unserem Kühlschrank. Ich habe nicht vor anzurufen.

Denn so sehr ich mir auch wünsche, dass es anders wäre– im Grunde meines Herzens weiß ich, dass meine Tochter etwas damit zu tun hat. Es ist einfach undenkbar, dass der Nachbarssohn ohne ihr Zutun in unserem Pool gelandet ist. Ob sie nun herausgefunden hat, wie man das Tor öffnet, und am Pool gespielt und das Tor offen gelassen hat, als sie ins Haus ging, und nicht gesehen hat, wie der Kleine hineinspazierte– oder ob sie gesehen hat, wie er hineinfiel, und nicht auf die Idee kam, mich zu holen, weil sie vielleicht dachte, der Junge könne schwimmen– ich weiß es nicht.

Was ich weiß– und was ich dem Polizisten nicht gesagt habe und auf keinen Fall meinem Mann sagen werde, weder jetzt noch irgendwann später–, ist, was ich gesehen habe, als ich ins Wohnzimmer kam und bevor ich aus dem Fenster schaute.

Nämlich, dass die Kleider meiner Tochter nass waren.

Die Polizei ist abgezogen, wie auch die Sanitäter, die Feuerwehr, der Coroner, die Reporter, unsere neugierigen Nachbarn– und anscheinend sämtliche Bewohner der Stadt, die den Polizeifunk mithören. Das Geschehen hat sich zum Nachbarhaus verlagert, einer Mini-Villa aus roten Klinkern: flackerndes Blaulicht, die Einfahrt und ein Teil unserer Sackgasse von Fahrzeugen zugestellt, ein Berg von anklagenden Teddybären und Kerzen und Blumen, die an unserem gemeinsamen Zaun aufgeschichtet sind– eine spontane Bekundung von Trauer und Trost und Beistand, die alle einschließt außer uns.

Ich habe mich in eine Ecke des riesigen braunen Sofas im Wohnzimmer gequetscht, einem dunkel getäfelten Raum mit hoher Decke im hinteren Teil des Hauses, mit raumhohen Fenstern zum Garten und zum Pool. Die Poolbeleuchtung ist ausgeschaltet, das Mondlicht spiegelt sich auf dem tödlichen Wasser. Polizei-Absperrband flattert im leichten Wind.

Peter sitzt am anderen Ende. Normalerweise sitzen wir nebeneinander auf diesem Sofa, nachdem wir unsere Tochter ins Bett gebracht haben und endlich dazu kommen, uns bei einem Glas Wein zu entspannen und einander von den Ereignissen des Tages zu erzählen. Sonst hätten wir das Gefühl, dass dieser kalte, riesige Raum uns verschlingt. Da war mir das hundert Jahre alte Bauernhaus allemal lieber, das wir gemietet hatten, als Peter in Upstate New York unterrichtete, und auch das verwitterte Cape-Cod-Haus in Swampscott während seiner Anstellung am MIT. Selbst die winzige Dachgeschosswohnung in dem schäbigen Bungalow in dem heruntergekommenen Viertel von Detroit, wo wir wohnten, als wir frisch verheiratet waren, hatte mehr Charakter als diese Missgeburt aus Klinker und Kalkstein. Die anderen waren alle bescheidene Holzhäuser mit kleinen Zimmern und reicher Vergangenheit: die Treppengeländer von Generationen von Händen glatt poliert, die Steinplatten des Gartenwegs von zahllosen Tritten so abgenutzt, dass nach dem Regen die Vögel kamen, um aus den Pfützen zu trinken.

Doch die Maklerin hatte uns versichert, dass um diese Jahreszeit in Ann Arbor der Wohnungsmarkt so gut wie leer gefegt sei, und wir würden wahrscheinlich nichts anderes in unserem Preissegment finden, jedenfalls nicht in fußläufiger Entfernung zur Universität. Und da alles darauf hindeutete, dass es ein richtig heißer Sommer werden würde, wer würde da nicht in einem Haus mit Pool wohnen wollen?

Ich denke, die Antwort auf diese Frage kennen wir jetzt.

Ich beuge mich vor und stelle das Glas Wein, das Peter mir eingeschenkt hat, auf den Couchtisch, ohne einen Schluck getrunken zu haben. Ich bin ohnehin schon wie betäubt. Ein Kind ist in unserem Swimmingpool gestorben. Jedes Mal, wenn ich diese Worte denke, habe ich das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Ein Freund von Peter, der Anwalt ist, sagt, wir könnten wegen fahrlässiger Tötung belangt werden, obwohl der Tod des Jungen ein Unfall war. Ich hoffe, dass es so kommt.

Ich lehne mich zurück, den Kopf an die Kissen gelegt, und mustere verstohlen meinen Ehemann. Peter sieht genauso fertig aus, wie ich mich fühle. Ich versuche mir vorzustellen, wie wir es schaffen sollen, weiter hier zu wohnen. Wie es morgen sein wird und übermorgen und am Tag danach, auf diesem Sofa zu sitzen, aus diesen Fenstern zu schauen– diesen Swimmingpool zu sehen–, den Wechsel der Jahreszeiten zu beobachten, alles in dem Wissen, dass der arme William Yang nie zum Mann heranwachsen wird– durch unsere Schuld.

»Wir können nicht hierbleiben«, sage ich. »Das ist mein Ernst«, fügte ich hinzu, als Peter nicht reagiert. »Wir müssen umziehen.«

Er kippt seinen Drink hinunter– Jameson mit Eis anstelle seines gewohnten Glases Rotwein. »Ich kann verstehen, dass dudas so siehst. Für mich ist es auch schwer. Aber wir können nicht umziehen. So kurz vor Semesterbeginn würden wir nicht mal ein möbliertes Zimmer finden.«

»Ich rede nicht davon, in ein anderes Haus umzuziehen. Ich rede davon, in eine andere Stadt zu ziehen. Irgendwohin, wo wir über die Straße gehen oder im Park spazieren oder einkaufen oder an einer Fakultätsfeier teilnehmen können, ohne dass irgendjemand weiß, was passiert ist. Wo Diana in die Schule gehen kann, ohne dass die Leute hinter ihrem Rücken tuscheln und mit Fingern auf sie zeigen.«