Die Radioschwestern - Eva Wagendorfer - E-Book
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Die Radioschwestern E-Book

Eva Wagendorfer

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Beschreibung

Drei starke Frauen und ihr mutiger Weg in eine neue Zukunft

Frankfurt, 1927: Ihre Zukunft ist das Radio – da sind sich Gesa, Inge und Margot sicher. Die Freundinnen haben eine Stelle bei einem neu gegründeten Radiosender ergattert und träumen nun von einer glänzenden Karriere. Gesa möchte Hörspielsprecherin werden, die lebenshungrige Inge als berühmte Sängerin die Bühnen der Welt erobern, und Margot möchte endlich als Cellistin von ihren männlichen Kollegen im Rundfunkorchester anerkannt werden. Denn obwohl eine kreative Aufbruchsstimmung in der Luft liegt, müssen die jungen Frauen gegen alte Konventionen ankämpfen. Unterstützung bekommen sie vom neuen Intendanten, zu dem sich Gesa immer mehr hingezogen fühlt. Voller Tatendrang blicken die Freundinnen in die Zukunft, um ihren gemeinsamen Traum wahr werden zu lassen: Endlich frei und glücklich zu sein!

Drei Freundinnen, die trotz aller Widrigkeiten das Leben und die Liebe feiern – die große Saga geht weiter:
Band 1: Die Radioschwestern – Klänge einer neuen Zeit
Band 2: Die Radioschwestern – Melodien einer neuen Welt

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Seitenzahl: 501

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EVA WAGENDORFER ist das Pseudonym einer erfolgreichen Autorin. Sie wuchs in Passau auf und studierte in Regensburg. In ihren Romanen verarbeitet sie gern Stoffe mit historischem Hintergrund, die von starken Frauenfiguren getragen werden. Die »Radioschwestern-Saga« wurde inspiriert durch ein altes Rundfunkgerät, das sich seit vier Generationen im Familienbesitz befindet – und noch immer im Einsatz ist.

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EVA WAGENDORFER

DIE RADIO-SCHWESTERN

Klänge einer neuen Zeit

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2022 der Originalausgabe by Eva Wagendorfer

Copyright © 2022 by Penguin Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb.

Redaktion: Hanne Reinhardt

Umschlaggestaltung: Favoritbuero

Umschlagabbildung: © Elisabeth Ansley / Trevillion Images (2)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28154-0V002

www.penguin-verlag.de

Für Henning

»Frankfurt am Main auf Welle 467. Frankfurt am Main auf Welle …«

(Flüstern)

(Sprecher nach rückwärts:) »Wie? – Nein! Ausgeschlossen, draußen bleiben – (laut:) Frankfurt am Main auf … Aber was will sie denn, die Märchentante? Die Kinder schlafen doch längst – ich kann jetzt nicht, zum Donnerwetter …«

Anfang von: Zauberei auf dem Sender

Versuch einer Rundfunkgroteske

von Hans Flesch

Ausstrahlung des ersten deutschen Rundfunkhörspiels am 24. Oktober 1924 um 20.30 Uhr auf dem Frankfurter Sender.

PROLOG

Frankfurt, Januar 1926

Radionachrichten 1926:

»Die New Yorkerin Gertrude Ederle, Tochter deutscher Einwanderer, durchschwimmt als erste Frau den Ärmelkanal.«

In den Folgejahren wurde sie taub, weil das Salzwasser ihre vorgeschädigten Trommelfelle angegriffen hatte. Später erlitt sie eine Wirbelsäulenverletzung, die sie vorübergehend lähmte. Gertrude Ederle kämpfte sich zurück ins Leben, lernte wieder Laufen und Schwimmen und engagierte sich als Schwimmlehrerin für taube Kinder.

Eine Schneeflocke landete direkt in Gesa Westhofs Auge und ließ sie blinzeln. Kurz verschwammen die Umrisse der Häuser und Menschen, und sie hörte nur den Verkehrslärm um sich herum. Ein Auto hupte heiser. Dann blinzelte sie noch einmal und sah wieder klar. Mit einem Koffer in der Hand stand sie an der Omnibushaltestelle vor dem Frankfurter Bahnhof im dichten Schneetreiben und wartete. Nach den vier Stunden im stickigen Zug von Bielefeld ging ihr der eisige Wind durch und durch. Als er frech ihren Mantel hochwirbelte, wechselte sie die Straßenseite und stellte sich unter das schützende Vordach eines Coiffeur-Salons.

Drinnen waren alle Plätze besetzt. Sanftes Licht fiel durch die raumhohe Scheibe heraus auf den Bürgersteig. Gesa sah dabei zu, wie die Friseurin bei einer dunkelhaarigen Kundin Wasserwellen legte. Gekonnt schob sie mit Kamm und Fingern einzelne Strähnen zurecht und klemmte sie mit Wellenreitern fest. Die Frau daneben bekam eine Maniküre. Eine junge Mitarbeiterin, die wie ihre Kollegin einen weißen Kittel über der Kleidung trug, feilte die Nägel und polierte sie hingebungsvoll, bis sie glänzten.

Am Empfangstresen bezahlte gerade eine weitere Dame. Sie steckte das Portemonnaie zurück in die Handtasche, schlüpfte in ihre Lederhandschuhe und verließ den Salon. Eine Welle von Wärme und Wohlgeruch schwappte zu Gesa heraus, als die Tür geöffnet wurde.

»Wenn dein Schatz die Treue bricht, liebes Kind, dann weine nicht. Nimm doch den Abschied nicht so schwer, es gibt von dem Artikel Gott sei Dank noch mehr«, hörte sie die beschwingten Akkorde eines neuen Schlagers. Gerade so lange, bis sich die Ladentür mit leisem Glöckchenklingeln wieder schloss.

Gesa hielt Ausschau nach einem Grammofon. Sie spähte durch die Scheibe und entdeckte auf einem Tischchen ein Radioempfangsgerät. Ihr Atem beschleunigte sich. Hier im großen Frankfurt gab es tatsächlich einen Friseursalon, in dem die Kundschaft durch das Radioprogramm unterhalten wurde. Als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt, Musik und Nachrichten nebenbei zu hören. Wie absolut wundervoll! Und so fortschrittlich: Der Rundfunk wurde nicht nur daheim in den eigenen vier Wänden eingeschaltet, sondern sogar mitten in der Öffentlichkeit. Obwohl die Sendequalität zu wünschen übrig ließ und das Lied mit Rauschen und Knistern unterlegt war, entzückte es alle Damen im Salon. Die mitwippenden Fußspitzen bewiesen das. Es war Teil des Alltags und brachte ihnen Freude, ohne dass ständig jemand eine Schallplatte wechseln oder sich Gedanken darüber machen musste, was man als Nächstes spielen sollte. Diese Aufgaben übernahmen die Herrschaften von Radio Frankfurt.

Ein Lächeln breitete sich auf Gesas Gesicht aus. Offenbar war sie näher an die Schaufensterscheibe getreten, denn das Glas lief unter ihrem warmen Atem an und die Frauen drinnen sahen sämtlich zu ihr her. Schnell machte sie einen Schritt zurück. Ihre Verlegenheit minderte die freudige Erregung nicht. Hier war sie am richtigen Ort.

»Bald werdet ihr auch meine Stimme aus dem Radio hören«, flüsterte sie in Richtung der amüsiert dreinblickenden Damen, noch immer lächelte sie dabei.

Nichts ersehnte Gesa Westhof mehr als eine Stelle beim Rundfunk. Feuer und Flamme war sie für das neue Medium, sie wollte, nein musste ein Teil davon werden. Aus diesem Grund war sie nach Frankfurt gekommen. Sicherlich war es ein Wink des Schicksals, dass sie just im Moment ihrer Ankunft von einem fröhlichen Liedchen begrüßt worden war. Aus dem Radio.

Alles, wirklich alles würde sie versuchen, um ihre Chance zu bekommen, sich einen Platz in der Welt des Rundfunks zu erobern. Gesa wollte von Anfang an dabei sein, sehen, hören, miterleben, wie das Radio sich auch in Frankfurt durchsetzte. Allein in den letzten beiden Jahren, in denen die Übertragungen aus den Kinderschuhen zu wachsen begonnen hatten und zusehends mehr Menschen erreichten, war offenbar geworden, welche Magie den Klängen aus dem Äther innewohnte.

Während sie durch das Schneetreiben zurück zur Haltestelle lief, malte sie sich ihre Zukunft aus.

Die Geräte würden besser werden, die Sendungen facettenreicher, und irgendwann würde in jedem Wohnzimmer ein Radiogerät stehen. Und sie selbst, Gesa Westhof, würde als Sprecherin mehr Menschen unterhalten als Theater und Lichtspielhäuser zusammen. Allein mit dem Zauber der Stimmen würde das Radio Welten erschaffen, in denen sich junge wie alte Zuhörer verlieren konnten.

Mit quietschenden Bremsen hielt der Bus vor Gesa. Sie wartete, bis die Fahrgäste ausgestiegen waren, dann kämpfte sie sich mit dem Koffer in der Hand durch den Mittelgang zu einem freien Sitzplatz.

Eine Wohnung in Frankfurt konnte sie sich nicht leisten. Noch nicht. Bis es so weit war, würde sie in einer Pension in Offenbach unterkommen. Sicher nicht für lange Zeit.

Ruckelnd setzte sich das Gefährt in Bewegung. Die Scheiben waren beschlagen. Mit einem behandschuhten Zeigefinger wischte Gesa eine runde Stelle frei und sah hinaus in die Dämmerung des späten Nachmittags. Der Omnibus passierte den Bahnhofsplatz, fuhr hinunter zum Fluss und über die Wilhelmsbrücke. An einem Ufer des Mains sah Gesa die Werft des Westhafens, am gegenüberliegenden säumten schicke Villen den breit angelegten Kai. Sie ließen die Stadt hinter sich und fuhren ins deutlich ländlicher anmutende Offenbach. Unter Gesas Füßen bildete sich eine kleine Pfütze, als der Schnee an ihren Schuhen schmolz.

Weil ihr warm wurde, schlüpfte sie aus den selbst gestrickten Handschuhen und nahm den Schal ab. Dann holte sie zwei abgegriffene Zeitungsartikel aus ihrer Handtasche. Sie faltete den ersten auseinander und strich das Papier glatt. Seit eineinhalb Jahren trug sie ihn nun schon mit sich herum. Oben auf der Seite befand sich ein Bild, das eine Familie zeigte. Die Eltern saßen auf einem Sofa, zwei Mädchen in geblümten Kleidern tanzten auf dem Wohnzimmerteppich, und ein halbwüchsiger Junge kniete auf dem Boden. Seine Augen waren fest auf das Radiogerät gerichtet, das auf einem eigenen Tischchen stand. Der Text, den Gesa auswendig kannte, lautete: Feierabend in London. Das Wireless, wie man dort die Rundfunkübertragungsgeräte nennt, bietet breiter gefächerte Unterhaltung als alle anderen Freizeitbeschäftigungen. Die ganze Familie trifft sich abends vor dem Gerät und bisweilen werden Tanzübungen zur Musik gemacht. Um 17.30 Uhr finden die Kleinsten Zerstreuung in der Kinderstunde, danach stehen Lieder, Nachrichten oder das Wireless-Orchester auf dem Programm. Besonders hilfreich für den Alltag ist auch die tägliche Vorhersage des Wetters …

Gesa ließ den Artikel sinken. Schon Mitte 1924 hatte die Mehrheit der Briten Zugang zu einem Radio gehabt. Die BBC sendete seit 1922 aus London. Damals noch Zukunftsmusik in Deutschland, hatte das Radio Gesa von der ersten Stunde an fasziniert. Sorgfältig steckte sie das Blatt wieder weg und besah sich das andere. Das Bild auf diesem Artikel stammte aus Manchester. Es zeigte eine große Menschentraube, die sich auf einem Platz in der Stadt traf, um zu streiken. Alle waren Beschäftigte bei verschiedenen Zeitungen. Vom dritten bis zum dreizehnten Mai 1926 hatten die Zeitungsmitarbeiter in England die Arbeit niedergelegt, um mit ihrem Protest Minenarbeiter bei deren Forderungen nach mehr Entlohnung und besseren Arbeitsbedingungen zu unterstützen. Während dieser zehn Tage war die Popularität des ohnehin schon beliebten Mediums Radio noch einmal in die Höhe geschnellt und hatte die Tageszeitung als Informationsquelle Nummer eins unwiederbringlich abgelöst. Ein Meilenstein in der Geschichte. Der Zeiger der Zeit war für alle sichtbar weitergehüpft.

Wie immer durchlief Gesa ein ergriffenes Schaudern, sobald sie auf das Bild blickte. Zweifellos würde es auch hier in Deutschland dazu kommen. Die Zukunft gehörte dem Rundfunk. Der Artikel war es, der Gesa den letzten Anstoß gegeben hatte: Wenn sie es wagen wollte, dann jetzt. Bis zum Jahresende hatte sie gebraucht, um alles zu organisieren, und nun war sie hier. Mit ihren vierundzwanzig Jahren zum ersten Mal auf sich allein gestellt. Ein befreiender Gedanke, der ihr keinerlei Angst bereitete, sondern nichts als Vorfreude auf das, was sie in Frankfurt erwarten würde. Sie nahm ihre Zukunft in ihre eigenen Hände. Vor den Herausforderungen, denen sie sich dabei stellen musste, scheute sich Gesa nicht. Sie kannte ihr Ziel, und sie würde den Weg finden, der sie dorthin führte, wo sie sein wollte: zum Radio.

GESA

Frankfurt, April 1927

Radionachrichten 1927:

»Die Ostpreußin Hildegard Kwandt wird als erste Frau im Berliner Sportpalast zur Miss Germany gekürt.«

Die unterlegenen Damen machten ihrem Unmut darüber derart rüde Luft, dass eine berichtende Zeitung forderte, künftige Kandidatinnen auch charakterlich zu bewerten. Hildegard Kwandt nutzte die Gunst der Stunde, sie lief bei Modenschauen, wurde Fotomodell und reiste in die USA. Erinnerungsstücke an ihre Wahl zur Miss Germany bewahrte sie zeitlebens auf.

Im Laden an der Ecke Karlsplatz hing ein Plakat der Tiller Girls. Die langbeinigen Tänzerinnen glichen einander wie ein Ei dem anderen mit den einheitlichen schwarzen Bubikopffrisuren, in ihren knappen Kostümen und natürlich der Pose, die sie einnahmen. Momentan gastierte die englische Truppe mit ihrer Revue drüben im Schumanntheater. Gesa Westhof bezweifelte, dass die Kundschaft des Ladens Geld für Revuetheaterkarten übrighatte, aber es war nett von der Eigentümerin Frau Zurcher, Reklame dafür zu machen. Auch Gesa selbst hätte sich die Aufführung liebend gern angesehen, allein sie war diesen Monat ein wenig knapp bei Kasse.

Über dem Eingang stand in altmodischen schwarzen Lettern an der abblätternden Fassade: Kolonialwaren Zurcher. Genau genommen entsprach das nicht mehr den Tatsachen. Arg gebeutelt durch Krieg und Wirtschaftskrise, hatte die Familie das Geschäft verkleinern müssen, wie die Inhaberin noch Jahre später nicht müde wurde, in jeder passenden oder unpassenden Situation zu erzählen. Statt ausländischer Waren und Feinkost gab es nur mehr einen Kaffeeausschank mit Imbisstheke und einen Zeitungsverkauf. Im Schaufenster hatte Frau Zurcher zwei Stehtische aufgestellt, an denen das Erstandene gleich verzehrt werden konnte.

»Stühl gibt’s keine«, hatte sie Gesa, die regelmäßig dort einkaufte, einmal erklärt. »Ich bin ja net dabbisch. Die Leut solle ihre Kaffee im Stehe trinke und nachher wieder gehe. Desdeweesche verkauf ich viel mehr und hab die Bagasch net dauernd hier drin.«

Sie war eine auffallend kleine, untersetzte Frau Ende fünfzig, mit grauen Haaren, die sie streng zu einem Nackenknoten steckte. Stets in eine Kittelschürze gekleidet, war sie die Seele des Geschäfts. Ihre vielen Lachfältchen verrieten, dass sie keineswegs so unwirsch war, wie sie vorgab.

An diesem Morgen kaufte Gesa zwei Rosinenbrötchen, die Frau Zurcher in eine Dutt, eine Papiertüte, steckte. Im Zeitungsständer an der Wand gab es neben den obligatorischen Frankfurter Nachrichten auch diverse Blätter und Zeitschriften aus der Hauptstadt. Gesa nahm eine illustrierte Zeitung. Auf dem Titelblatt prangte das Bild einer jungen Frau, die mit Absatzschuhen und Badeanzug im Sand saß und einen Blumenstrauß in Händen hielt. Abenteuerliche Komposition, dachte Gesa. Die Bildunterschrift lautete: Beginn des Freiluftlebens. Aufnahme der Siegerin in einem Badeschönheitswettbewerb.

Gesa blätterte die Zeitschrift auf. Seite drei brachte einen großen Artikel samt Fotografie über den Besuch des französischen Präsidenten Gaston Doumergue bei König George in London.

»Wenn du’s lesen willst, musst du’s bezahlen, Kindsche«, mahnte Frau Zurcher. »Die zwanzig Pfennig Schodder für das Blättle wirste doch wohl haben.«

Gesa kaufte auch noch die Illustrierte und machte sich auf den Rückweg zur Wohnung ihres Freundes, die in der Gasse nebenan lag.

Die alleinstehende Frau im Erdgeschoss hatte ein Fenster geöffnet und schaute im Bademantel hinaus auf die Straße.

»Na, wieder beim Herrn Schriftsteller übernachtet, das Fräulein?«, rief sie provokant, als Gesa sich näherte. Sie zog eine Haarnadel aus ihren zum Trocknen gesteckten Wellen und klemmte sie an den Stummel der Zigarette, die sie rauchte. Die paar Extra-Paffer, die sie auf diese Weise gewann, hatten im Lauf der Zeit Haut und Härchen um ihre Lippen gelborange gefärbt. Zu viel Tabak machte gewiss nicht schön.

»Guten Morgen. Was für ein sonniger Tag heute, nicht wahr?« Gesa ließ sich ihre Heiterkeit nicht verderben.

Oben angekommen, stellte sie fest, dass ihr Freund das Bett verlassen hatte und in Unterwäsche am Tisch saß und schrieb.

»Khasana Lippenstift – macht jede Frau jünger, frischer, schöner.« Er rollte mit den Augen, während er deklamierte, was Gesa zum Lachen brachte. Wenn er sich aufregte, kam Willi ihr immer vor wie ein schmollender Junge.

»Was denken sich die Leute eigentlich dabei, von mir einen Reklametext für weiblichen Gesichtsaufputz zu erwarten?« Er warf den Bleistift auf den Tisch.

Um ihn bis zum Ende nutzen zu können, steckte eine Hülse aus Metall daran, die sich beim Aufprall löste und scheppernd zu Boden fiel.

Gesa hob sie auf und reparierte das Schreibutensil. »Verletzt es deine Würde als Schriftsteller, einen Werbeauftrag anzunehmen?« Grinsend wich sie einem zerknüllten Blatt Papier aus, das Willi in ihre Richtung warf. Auch er schmunzelte nun. 

»Es ist nicht grundsätzlich verwerflich, für Geld zu arbeiten, weißt du? Das müssen die meisten von uns.« Sie fuhr ihm liebevoll durchs Haar und dachte daran, dass sie selber gleich zur Arbeit musste. Ein Umstand, der sie glücklich machte. Gesa freute sich jeden Tag darüber, Teil des überschaubaren Kreises von Radiomenschen zu sein, die für den Südwestdeutschen Rundfunk tätig waren. Heute jedoch ganz besonders, denn die erste Probe für ein brandneues Hörspiel stand an. »Hat dich nicht ein Freund an Khasana empfohlen? Sie zahlen gut, das ist doch was.«

»So was interessiert mich nicht.«

»Sollte es aber. Schau mal.« Sie blätterte die Berliner Illustrierte durch. »Allein hier drin sind drei Khasana-Annoncen. Eine für Coldcream, eine für Puder und eine für Wangenrot. Die Firma investiert fleißig in Reklame, da werden sicher noch mehr Aufträge reinkommen.«

Gut gelaunt gab Gesa ihrem Freund den Bleistift zurück. Anstatt weiterzuschreiben, steckte der sich erst einmal eine Zigarette an, inhalierte tief und stieß den Rauch in einer dicken Wolke aus, die sich zwischen ihnen ausbreitete, wo sie in der Luft stehen blieb. Wohin sollte sie sich auch verziehen, in diesem winzigen Kabuff? Ein schmales Bett beanspruchte den Großteil des Raumes, dann gab es ein Tischchen unter dem Fenster, an dem Willi arbeitete, und einen einzigen Stuhl, auf dem er saß. In der Ecke stand ein Schrank, dessen abblätterndes Ockergelb den Blick darauf freigab, dass er zuvor rot und davor himmelblau gewesen war. 

Mehr als diese Unterkunft konnte sich der aufstrebende Literat nicht leisten, und Gesa hatte den Verdacht, er kultivierte ohnehin gern den Nimbus des armen Poeten.

Sein demonstratives Desinteresse an Geld sollte über seine einfache Herkunft hinwegtäuschen, vermutete sie, und dafür hatte sie absolut Verständnis. Willi war in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und früh aus der Enge der heimischen Wohnung geflohen, wild entschlossen, sich allein seinen Weg durchs Leben zu bahnen. Gesa bewunderte ihn für das, was er bisher erreicht hatte. Eigentlich grenzte es an Vermessenheit, bei einem derart bescheidenen Hintergrund Schriftsteller werden zu wollen. Wusste doch jeder, wie brotlos diese Kunst war, wenn man nicht zu den ganz Großen gehörte.

Gesa wollte es ihm gleichtun und ebenfalls das verwirklichen, wofür sie brannte. Dazu ermutigte Willi sie stets, sie schenkten einander gegenseitig Kraft. Vor diesem Hintergrund war es ihr vollkommen klar, warum er seine eigenen vier Wände nicht mit anderen teilen wollte. Das wäre ein Rückschritt gewesen. Er konzentrierte seine gesamte Energie darauf, es als Autor zu etwas zu bringen. Ebenso wie sie alles daransetzte, eine bekannte Rundfunkstimme zu werden. So bekannt, dass es ihr finanzielle Unabhängigkeit ermöglichte. Gesas schlimmste Vorstellung war, nicht frei über ihr Leben bestimmen zu können.

»Wenn man was werden will, muss man Einschränkungen in Kauf nehmen«, sagte Willi immer. »Aber Leute wie wir, Gesa, wir werden es schaffen. Wir sind Macher, keine Jammerlappen. Das habe ich auch gleich in dir erkannt. Du wirst deinen Weg gehen, und wo ich kann, werde ich dich unterstützen, mein Schatz. Wir sind gut füreinander.«

Sie befanden sich mittendrin in einer unglaublich aufregenden Zeit, die Chancen und Möglichkeiten bot, erstmalig nicht nur für die Herren der Schöpfung, sondern ebenso für Frauen. Zumindest für diejenigen, die sich etwas zutrauten. So wie Gesa: Sie beanspruchte nicht mehr und nicht weniger als einen eigenständigen Platz in der Gesellschaft, einen Beruf beim Rundfunk – der ihr ebenso zustand wie den männlichen Kollegen.

Willi war ein leidenschaftlicher Mann, der lebte und liebte, wie er wollte. Abgesehen davon, dass sie ihn herrlich exzentrisch fand, fühlte sich Gesa von ihm verstanden. Zwei Empfindungen, die sie in ihrem Leben bisher vermisst hatte.

Manchmal fragte sie sich allerdings, ob ihr Freund seine Prioritäten richtig setzte. Erst letzten Monat hatte er sich Geld von Gesa geborgt, um die Miete bezahlen zu können. Nun mokierte er sich über eine Aufgabe, die seine chronisch leere Kasse füllen würde und zudem die Aussicht auf Nachfolgeaufträge bot, wenn er sich geschickt anstellte.

»Ich arbeite an einem neuen Werk, das mir den Durchbruch verschaffen wird. Ich habe der Welt was zu sagen. Oberflächliche Reklamesprüche ersticken meine Kreativität. Verstehst du, was ich meine?« Er gestikulierte beim Reden wild mit den Händen, und sie seufzte.

Nachdem Willi die Zigarette in den überquellenden Aschenbecher gedrückt hatte, setzte sich Gesa auf seinen Schoß und schlang die Arme um seinen Hals. 

»Das verstehe ich sehr wohl. Aber solange du keinen Verleger hast, wirst du Kompromisse machen müssen. Immerhin kannst du nicht von Luft und Liebe leben, auch wenn ich mir Mühe gebe, reichlich für Letzteres zu sorgen. Einen kurzen Text für Khasana zu schreiben fällt dir bestimmt nicht schwer. Bei deinem Talent bist du in Nullkommanichts fertig und kannst dich guten Gewissens wieder deiner eigentlichen Arbeit widmen.«

Er küsste sie. Seine Lippen schmeckten nach Tabak. Zuerst lagen sie federleicht auf den ihren, dann wurden sie fordernder und weckten in Gesa ein Gefühl von Glückseligkeit. Schließlich schob er sie von sich. »Na schön. Was täte ich nur ohne dich, meine pragmatische kleine Geliebte? Jeder Künstler sollte einen nüchternen Menschen an seiner Seite haben, das ist ungemein hilfreich.«

Sie sah in seine stahlblauen Augen, die einen reizvollen Kontrast zum schwarzen Haar bildeten und maßgeblich zu Willis Attraktivität beitrugen. Merkte er nicht, dass seine Worte verletzend waren? Auch sie sah sich als kreativ, als jemand, der sich für Kunst, Kultur, Literatur begeisterte. Wieso nannte er sie nüchtern?

»Mein Pragmatismus hat mich dahin gebracht, wo ich heute bin«, sagte Gesa bestimmt. »Hast du vergessen, dass ich eine Rolle im großen Hörspiel ergattert habe? Ich werde neben prominenten Schauspielern zu hören sein. Ein erster Schritt zu mehr Bekanntheit.«

»Hm. Toll, Schatz.« An seiner Stimme hörte sie, dass sie seine Aufmerksamkeit verloren hatte. Bestimmt kreisten seine Gedanken schon wieder um die nächste Szene seines Romans. Oder darum, wie er den Reklameauftrag möglichst schnell hinter sich bringen konnte. Aber sie brauchte seine Bestätigung nicht. Ihr ging es nicht um Lob und Anerkennung. Sie vermochte sich selbst Zufriedenheit zu schenken – und zu erarbeiten, wie sie es bei Radio Frankfurt tat.

Seit etwas mehr als einem Jahr waren Gesa und Willi ein Paar, sie hatten einander kennengelernt, kurz nachdem sie nach Frankfurt gezogen war. Eine junge Frau vom Land, die mit einem Kopfsprung in den aufregenden Ozean der Großstadt eintauchte, fasziniert vom Nachtleben, der Künstlerszene und den Möglichkeiten, die sich boten. Seine Stimme riss sie aus ihren Gedanken.

»Lass mich jetzt arbeiten, Schätzchen.«

Er kniff die Lippen zusammen, wie immer, wenn er sich konzentrierte. 

»Ich muss sowieso los.« Gesa griff sich ihren Mantel und zog ihn über das Jumperkleid, das sie sich erst letzte Woche gegönnt hatte. Das längs gestreifte Strickoberteil nach der neuesten Mode mit tief liegender Taille und knielangem Rock würde ihre einzige Neuanschaffung dieses Frühjahr bleiben, sie musste sparen. Dann setzte sie einen Hut auf das rotbraune, in Wellen gelegte Haar und ging. 

Der Weg von Willis Wohnung in die Elbestraße war nicht weit. Zehn Minuten später stand Gesa vor dem sechsstöckigen Gebäude, in dem die Verwaltung von Radio Frankfurt untergebracht war. Zahlreiche Fenster, Simse und Balkone schmückten die Fassade der SÜWRAG, der Südwestdeutschen Rundfunkdienst AG.

Im Frühling vor drei Jahren hatte der Sender als vierte Funkgesellschaft in Deutschland seinen Betrieb aufgenommen. In Ermangelung eigener Räumlichkeiten waren die Abteilungen an verschiedenen Orten in der Innenstadt untergebracht. Neben dem Verwaltungsbüro gab es das Studio, das aus einer angemieteten Etage im Frankfurter Postscheckamt sendete, der obersten, im fünften Stock. In die Elbestraße kam Gesa, wenn es um die Lohnabrechnung ging oder – so wie jetzt – wenn sie ihre Freundin Inge besuchen wollte.

Sie stieg das Treppenhaus hinauf zu den Büroräumen und klopfte an eine Tür, hinter der Schreibmaschinengeklapper zu hören war. Das gleichmäßige Stakkato verstummte augenblicklich, als sie den Kopf durch den Türspalt steckte, und die Sekretärin am Schreibtisch winkte ihr zu und hielt drei Finger hoch.

Wie immer, wenn Gesa ihre Freundin bei deren Tagesarbeit sah, musste sie grinsen. Das Blondhaar streng aus dem Gesicht frisiert, die Bluse zugeknöpft bis obenhin und der Rock reichlich kniebedeckend, verkörperte Inge Jacobs das Fräulein vom Amt geradezu vorbildlich. Doch abends, wenn sie zusammen ausgingen, verwandelte sie sich in eine andere, schillernde junge Frau. Darin sahen weder Gesa noch Inge einen Widerspruch. Für beide war ihre Anstellung beim Sender etwas, das sie sich hart erarbeitet hatten. Eine Aufgabe, die sie mit Stolz erfüllten. Aber im Gegensatz zu Gesa, die als Sprecherin genau dort war, wo sie sein wollte, träumte Inge davon, Sängerin zu werden. Sie trat in Bars und Musikcafés auf, unermüdlich und stets in der Hoffnung, entdeckt zu werden. Die Chancen dafür standen günstig. Nicht nur in Berlin pulsierte das schillernde Nachtleben: Auch in Frankfurt gab es unzählige Jazzclubs, Bars, Tanzhallen und Revuetheater. Gute Sänger waren gefragt. Nach Jahren der Entbehrungen lechzten die Menschen nach Vergnügen. Jeder ging gern aus, tanzte Charleston oder Lindy Hop. Besonders wenn auf der Bühne musikalische Talente standen und die Nachtschwärmer anheizten.

Inge Jacobs arbeitete für Albert Bronnen, den jungen Intendanten des Radiosenders. Gesa wartete im Hauseingang, bis ihre Freundin, mit der sie sich eine Wohnung in der Altstadt teilte, wenige Minuten später herunterkam. Gemeinsam setzten sie sich auf die Bank neben der Litfaßsäule auf der anderen Straßenseite.

»Heute bin ich wirklich müde.« Inge gähnte wie zur Bestätigung. »Drei Auftritte in dieser Woche und heute Abend noch einer. Das schlaucht, wenn die Tagesarbeit dazukommt.«

Besorgt musterte Gesa das blasse Gesicht ihrer Freundin. »Denkst du nicht, dass du dich ein wenig übernimmst?«

»Ich weiß nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, nicht voranzukommen.«

»Wie meinst du das?«

»Dauernd schlecht oder gar nicht bezahlte Auftritte vor irgendwelchen Leuten in kleinen Bars. Das führt doch zu nichts. Vielleicht muss ich die Sache anders angehen.« Nachdenklich kaute Inge auf ihrem Daumennagel, dann sah sie Gesa eindringlich an. »Nimm zum Beispiel Dora – du weißt schon, Dora Waldschmidt …«

»Die im Rundfunkchor singt?«

»Genau die. Sie hat feste Auftrittszeiten mit dem Chor. Dazu die Proben. Bisher wurde sie nach Aufwand bezahlt, aber gerade habe ich den Vertrag abgetippt, den ihr der Bronnen angeboten hat und der deutlich besser ist als ihre bisherige Vereinbarung.« Sie verstummte.

»Willst du das denn, Inge? Im Chor singen? Ich dachte, du siehst dich als Solokünstlerin.«

Die Sekretärin richtete den Blick gen Himmel und stieß einen Seufzer aus, der aus ihrem tiefsten Inneren zu kommen schien. »Natürlich wünsche ich mir nichts mehr, als endlich entdeckt zu werden. Aber es ärgert mich, wie passiv allein dieser Ausdruck klingt. Ich muss mich entdecken lassen. Mensch! Wieso? Und von wem? Wenn ich mir dann vernünftigerweise vor Augen führe, wie praktisch es sein könnte, wenn ich meine hochfliegenden Träume aufgebe, Teil eines Ensembles werde …« Sie brach ab.

Gesa legte ihr den Arm um die Schultern. »Das bist nicht du. Inge Jacobs ist keine Chorsängerin, sondern der Star. Du brauchst keine anderen Stimmen neben dir, weil deine absolut einzigartig ist. Und dass du dir niemals was anderes in den Sinn kommen lässt! Stell dir eines von diesen Plakaten vor, die in den Glaskästen vor den großen Bühnenhäusern hängen. Heute Abend: Inge Jacobs mit Kapelle, darunter ein Bild von dir in einem atemberaubenden Abendkleid. Und darüber der Aufkleber: Ausverkauft. An so was musst du denken. Nicht an den ollen Radiochor.«

»Danke.«

Gesa merkte, wie Inge die Schultern straffte. Es geschah nicht oft, dass sie Nerven zeigte. Eigentlich war sie hart im Nehmen.

»Jeder kann mal ins Zweifeln kommen«, sagte Gesa leise. »Aber du darfst dich nicht beirren lassen.«

Inge schüttelte den Kopf. »Ist schon wieder vorbei. Mach dir keine Sorgen um mich. Ein kurzer Moment des Selbstmitleids, mehr nicht. Gut, dass du da bist.«

Natürlich war es nicht einfach, Abend für Abend zu singen, in der vagen Hoffnung, die richtige Person würde im Publikum sitzen und einen Schallplattenvertrag zücken. Aber Inge hatte das Zeug dazu, ganz groß rauszukommen, dessen war sich Gesa sicher. Sie würde die Freundin nicht in ihrem Vorhaben bestärken, wenn sie nicht vollständig von ihrem Talent überzeugt wäre.

»Warum gibt der neue Intendant eigentlich Dora Waldschmidt eine Festanstellung? Das ist ungewöhnlich. Hätte der Alte nicht gemacht.«

»Neue Besen kehren eben gut, und Herr Bronnen wirbelt mächtig Staub auf«, lautete Inges Urteil über den jungen Sendeleiter, der erst vor wenigen Monaten seine Stelle angetreten hatte. Sein Vorgänger hatte sich nicht besonders hervorgetan, wenn es um Neuerungen ging. Womöglich war das auch der Grund, aus dem die Position frisch besetzt worden war. Radio Frankfurt war nicht irgendeine Hobbyfunkanstalt, sondern konkurrierte mit dem Sender der Hauptstadt um den Spitzenplatz in Deutschland. Da durften sie nicht auf der Stelle treten. Die SÜWRAG brauchte Ideen, die Radio Berlin noch nicht gehabt hatte, und jemanden, der dazu bereit war, etwas zu riskieren. Albert Bronnen steckte seine Nase mit Vorliebe in sämtliche Abteilungen des Senders, von der Sportberichterstattung über die Nachrichten bis hin zum Rundfunkorchester. Und bei der Produktion von Hörspielen legte er gern selbst mit Hand an. Bisher hatte Gesa noch nicht viel mit ihm zu tun gehabt, aber das würde sich mit dem heutigen Tag ändern. Sie fand seine Einstellung gut.

»Hast du wieder bei Willi übernachtet?« Inge wechselte mit einem anzüglichen Augenzwinkern das Thema. »Ich mache mir Sorgen, wenn du nicht nach Hause kommst, weißt du.«

»Ja, Mutter.« Gesa grinste. Sie lebte zur Untermiete bei Inge und ihrem Bruder Rolf. Anfangs lediglich ein Arrangement, das beiden Parteien gelegen kam, waren die jungen Frauen mittlerweile zu besten Freundinnen zusammengewachsen. »Ich wollte dir nur kurz guten Morgen sagen, bevor ich ins Studio gehe. Heute ist der große Tag.« Vorfreude breitete sich in Gesas Magen aus. Allein das Wort Studio verursachte ein Kribbeln bei ihr.

»Hat Willi dir viel Glück gewünscht?«

Sie schüttelte den Kopf. »Momentan beschäftigt ihn sein Manuskript. Und ein Werbeauftrag. Er textet für Khasana. Da hat er keine Gedanken für andere Sachen übrig.«

»Wenn du mich fragst – er ist wirklich ein Windhund, Gesa, und verdient dich nicht. Hat er dir dein Geld zurückgezahlt?«

»Er musste sich konzentrieren, als ich los bin.«

Inge verdrehte die Augen. »Klar. Weil sein Geschreibsel wichtiger ist als dein Beruf. Hilf mir auf die Sprünge – wer hat ein regelmäßiges Einkommen? Der Herr Autor oder du?«

»Er ist halt Künstler.«

»Das bist du auch, meine Liebe. Eine Schauspielerin.«

»Hörspielsprecherin«, verbesserte Gesa.

»Das ist dasselbe. Du schlüpfst in eine Rolle, die du glaubwürdig verkörpern musst, um das Publikum in deinen Bann zu ziehen. Du unterhältst Menschen, erlaubst ihnen, sich für eine Weile aus ihrem armseligen Leben in andere Welten zu flüchten und den Alltag zu vergessen. Und im Gegensatz zu Bühnenschauspielern steht dir dafür lediglich deine Stimme zur Verfügung. Wenn das keine Kunst ist, weiß ich auch nicht.«

So betrachtet, klang das in der Tat famos. Aber Gesa musste nicht überzeugt werden, für sie war ihr Beruf die Erfüllung sämtlicher Träume. Wer hätte das gedacht? Gesa Westhof, Tochter aus gutem Hause, aus einem kleinen Ort im Teutoburger Wald, tat etwas, das nichts mit Haushaltsführung zu tun hatte. Und wurde dafür auch noch bezahlt.

»Wird sie heute dabei sein?«, fragte Inge.

Gesa nickte. »Heute lerne ich sie endlich kennen. Wir gehen das Skript durch, und morgen beginnen die eigentlichen Proben.«

»Na, da bin ich mal gespannt, ob sie eine so tolle Frau ist, wie du sie dir vorstellst.«

»Mit Sicherheit.«

Inge sah auf die Uhr. »Du, ich muss wieder rein. Nur noch ganz kurz – hast du schon von der Neuen gehört?«

»Nein.«

»Ihr Name ist Margot Mikola, sie wurde als Cellistin im Rundfunkorchester eingestellt. Angeblich auf ausdrücklichen Wunsch von Horst Sachs persönlich.«

»Der musikalische Leiter engagiert eine Frau für Bienefelds Herrenkapelle? Na, das schmeckt ihm sicher nicht. Das arme Ding wird keinen leichten Stand haben. Sie tut mir fast ein wenig leid. Bienefeld wird auf ihr herumhacken und sie drangsalieren. Nur weil sie eine Frau ist. Und wahrscheinlich doppelt so gut wie seine Männer, sonst wäre sie niemals verpflichtet worden. Meinst du, sie kann das verkraften?«

»Keine Sorge. Ich habe Margot bereits kennengelernt, sie macht einen patenten Eindruck. Wir werden uns sicher gut mit ihr verstehen.«

»Ich würde sie auch gerne treffen.«

Inge grinste. »Das habe ich mir schon gedacht. Wir Mädels müssen schließlich zusammenhalten. Deswegen habe ich sie für heute Abend gleich mal eingeladen.«

»Bestimmt fällt ihr der Einstieg leichter, wenn sie merkt, dass sie nicht allein ist. Ich erinnere mich gut daran, als ich neu in die Stadt kam. Und was für ein Glück es war, dass ich dich gleich getroffen habe. Da ging es sofort bergauf.«

»O ja«, Inge strich sich den Rock glatt. »Aber jetzt muss ich wirklich. Und du solltest dich ebenfalls sputen, nicht dass du ausgerechnet heute zu spät kommst.«

Die Freundinnen verabschiedeten sich, und Gesa stieg in einen Omnibus, der sie vom Bahnhofsviertel in die Innenstadt brachte, zum Frankfurter Postscheckamt. Sie stieg in die oberste Etage hinauf und betrat den Flur, von dem ein paar kleine Aufnahmestudios abgingen sowie ein bescheidenes Künstlerzimmer, das den Ansprüchen prominenter Schauspieler zumeist nicht gerecht wurde. Gesa vermutete, es würde relativ bald notwendig werden, dass Radio Frankfurt ein eigenes Funkhaus baute. Die unpraktischen Entfernungen zwischen den Abteilungen in der Stadt sowie die provisorische Sendezentrale konnten kein Dauerzustand für ein aufstrebendes Medium sein. Nicht wenn sie hoch hinaus wollten.

Atemlos kam Gesa an, schlüpfte im Gehen hastig aus dem Mantel und hängte ihn zusammen mit ihrem beigen Glockenhut, der zu allem passte, an die Garderobe. Dann betrat sie den Probenraum mit seiner altmodischen Rankenmustertapete. Repräsentativ war das nicht, aber für die Mitarbeiter reichte es. Das Zimmer diente zudem als Aufbewahrungsort für jene Requisiten, die nicht mehr in den Schrank auf dem Flur passten. Also die ganz großen Geräte, wie zum Beispiel eine Tür mit Rahmen, mit deren Hilfe Geräusche wie In-den-Angeln-Knarzen oder Laut-ins-Schloss-Fallen erzeugt wurden. Und die »hauseigenen« Sprecher wie Gesa durften sich dort in den Pausen aufhalten. Das Künstlerzimmer blieb ausschließlich für die Stars reserviert.

Einige ihrer Kollegen waren bereits anwesend, Peter Nagel, Ernst Gehring, die Geschwister Kai und Harro Hoppe und Annegret Meyer. Sie hatten ein Sammelsurium unterschiedlicher Stühle und Sessel zu einem Kreis aufgestellt, das sie auf der gesamten Etage zusammengetragen hatten. Sobald Gesa neben Ernst Platz genommen hatte, flog die Tür auf und Sendeleiter Albert Bronnen marschierte herein, gefolgt von einer Dame und einem Herren.

»Die Prominenz tritt auf«, raunte Ernst, ein erfahrener Schauspieler. Leider auf den Bühnen Frankfurts nicht besonders erfolgreich, dafür seit der ersten Stunde Sprecher beim Radio. Er trug eine runde Brille mit dünnem Goldrand und sein Haar exakt gescheitelt und verbrachte als Junggeselle ohne private Steckenpferde die meiste Zeit im Sender. Gelegentlich verlas er die Nachrichten oder Hörereinsendungen, wurde aber hauptsächlich in Hörspielen eingesetzt. Daneben legte er Schallplatten im Musikprogramm auf, das einen Großteil der Sendezeit ausfüllte. Für Gesa war er eine Art väterlicher Freund.

»Guten Morgen, Herrschaften«, begrüßte sie der Intendant. »Es ist mir eine große Freude, dass wir heute gemeinsam ein ganz besonderes Projekt starten. Ein Kriminalhörspiel in acht Episoden, aufwendig, abendfüllend und noch nie da gewesen. Wir konnten zwei bekannte Namen für uns gewinnen, die ich Ihnen sicher nicht mehr vorstellen muss. Frau Simonetti, Herr Conrad, ich danke Ihnen für Ihre Zusage.«

Alle Anwesenden applaudierten. Gesas Herzschlag beschleunigte sich. Sie befand sich im selben Raum mit Carla Simonetti, der großen Mimin, die sie flammend bewunderte. Seit Wochen fieberte sie der Begegnung entgegen. Ohne lange nachzudenken, sprang sie auf und stürzte auf die Schauspielerin zu.

»Frau Simonetti, was für eine Ehre! Ich freue mich wahnsinnig drauf, mit Ihnen zu arbeiten.« Sie griff nach der Hand ihres Gegenübers, schüttelte sie enthusiastisch, bis Albert Bronnen sie mit einem amüsierten Lächeln unterbrach: »Danke, Fräulein Westhof, für diese außerordentlich herzliche Begrüßung.«

Verlegen ließ Gesa Carla Simonettis Hand los. Aus der Nähe sah die Frau noch eleganter aus als auf der Bühne. Der lange Hals, die schmale Nase und die dünnen, exakt gezeichneten Brauenbögen waren schlichtweg Perfektion. Zwar hatte Gesa sich die Schauspielerin größer vorgestellt, aber das tat ihrer Bewunderung keinen Abbruch. Nach der neuesten Mode gekleidet, das kinnlange dunkle Haar glänzend und aufwendig frisiert, wirkte sie alterslos wie eine Statue. Dass sie Mitte vierzig war, hätte Gesa ihr nicht angesehen.

Carla Simonetti nickte knapp, trat an ihr vorbei und nahm graziös auf einem gepolsterten Lehnstuhl Platz, als wäre es ein Thron. Verlegenheit stieg in Gesa auf wie Sodbrennen. Was für ein peinlicher Gefühlsausbruch.

»Auch ich freue mich auf unser gemeinsames Projekt«, kam Theodor Conrad zu ihrer Rettung und schüttelte Gesa ebenfalls die Hand. Der Schauspieler war nicht nur bekannt vom Theater, sondern aus Filmproduktionen und, obwohl wahrscheinlich zehn Jahre jünger als die Simonetti, ein alter Hase im Geschäft. Er überragte Gesa um einen Kopf, und wenn er lächelte, wirkten seine hellen Augen überraschend warm. Was sich allerdings schlagartig änderte, als die Simonetti mit einem »Ja, ja, schon gut, Theo, setz dich endlich« dazwischenfunkte. 

Er verzog die Lippen und machte eine höfliche Geste, mit der er Gesa den Vortritt ließ. 

Der Einzige, der stehen blieb, war der Intendant. Albert Bronnen, nicht einmal dreißig Jahre alt, sah mit seinen hohen Wangenknochen, dichten, geraden Brauen und entschlossenem Blick geschäftsmäßig ernst drein, als er die Skripte für Episode eins von Kommissar Feldmann und der Fall Aurora verteilte. Gesa hatte zwar schon mit ihm zu tun gehabt, wunderte sich jedoch, dass er ihren Namen behalten hatte. Nun, wenn er derart jung bereits die Funktion des Intendanten innehatte, musste er wohl über herausragende Qualitäten verfügen – und ein gutes Gedächtnis schien zweifellos dazuzugehören. Er hatte seine Stelle vor vier Monaten angetreten und war quasi der Neue. Bis jetzt, da dieses Attribut an die Cellistin Margot weitergereicht worden war, von der Inge erzählt hatte. Gesa nahm ihr Skript entgegen, dabei berührten ihre Finger die von Albert Bronnen, und ihre Blicke begegneten sich für einen Moment.

Theodor Conrad würde im Stück den Ermittler geben, das passte fabelhaft zu ihm. Mit seiner sonoren Stimme, für die ihn das Bühnenpublikum liebte, würde er zugleich seriös und attraktiv klingen. Und wie er dasaß, entspannt im gut geschnittenen karierten Straßenanzug, ein Bein lässig über das andere geschlagen, kam er Gesa fast ein wenig amüsiert vor. Bestimmt war er für seine Proben eine Umgebung gewohnt, die weniger behelfsmäßig zusammengezimmert war. Mit Verlegenheit bemerkte Gesa den vollgestopften Aschenbecher, der sich nicht von alleine ausleerte und für den sich anscheinend niemand zuständig fühlte. Ein Teller mit hart gewordenen Keksen stand daneben, über den gerade eine Ameise krabbelte. Was musste sich Herr Conrad denken?

Carla Simonetti spielte als weibliche Hauptrolle die Frau des Mordopfers, eine reiche Industriellengattin. Und Gesa hatte die Rolle ihrer Hausdame bekommen. Erfreulicherweise hatte sie einiges an Text. Das fiel ihr gleich beim ersten Durchblättern auf.

»Na toll«, murmelte Ernst Gehring neben ihr leise.

Mit hochgezogenen Augenbrauen sah sie ihn an.

»Minirolle«, flüsterte er. »Chauffeur Laurenz.« Dann blätterte er um. »Ach nein, warte. Den Pfarrer darf ich auch lesen.«

»Und vergiss nicht die Geräuschkulisse, für die wir allesamt zusammen helfen.« 

Gesa wusste, worauf er anspielte. Während die Hauptdarsteller üppige Gagen erhielten, wurden die Nebenfiguren weniger gut entlohnt. Die meisten ihrer Kollegen arbeiteten deswegen zusätzlich zur Tätigkeit für den Sender noch auf den Bühnen Frankfurts oder versuchten sich beim Film. Gesa hingegen konzentrierte sich voll auf ihre Rundfunkkarriere. Sie war in der glücklichen Lage, über finanzielle Mittel zu verfügen, die ihre Eltern ihr hinterlassen hatten. Nichts Üppiges, zumindest nicht mehr. Aber sie kam mit wenig aus und lebte bescheiden. Ihre Tante hatte dafür gesorgt, dass Gesas Erbe in den letzten zehn Jahren spürbar geschrumpft war. Doch darüber mochte sie jetzt nicht nachdenken. Lieber konzentrierte sie sich auf das, was vor ihr lag. Zudem war sie davon überzeugt, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis man sie für eine Hauptrolle einsetzen würde.

Direkt nach ihrer Ankunft in Frankfurt hatte Gesa als Servierkraft in einem Café angefangen. Dort hatte sie Inge kennengelernt. Eine schicksalhafte Begegnung, die Gesa neben einer Wohngelegenheit und einer loyalen Freundin auch den heiß ersehnten Zutritt zum Radio beschert hatte. Als hätte die Vorsehung es so gewollt, dachte sie bisweilen. Denn Inge hatte ihr die erste Stelle im Sender verschafft. Als Springer, also für alles, was eben anfiel.

Frau Simonetti fischte eine Zigarette aus ihrem goldfarbenen Etui, steckte sie auf eine ebenfalls goldene Zigarettenspitze und wartete, bis der Intendant ihr Feuer gab. Auch die Hoppes zückten ihre Feuerzeuge, Albert Bronnen war schneller.

Dann blätterte sie die Seiten ihres Skripts durch und klappte es wieder zu. »Diese reiche Ehefrau, wieso heißt die Frieda? Das passt überhaupt nicht. Sie braucht einen gediegeneren Namen, etwas Elegantes, Helena zum Beispiel.«

Albert Bronnen räusperte sich. »Sie war ursprünglich ein Zimmermädchen, das sich den Industriellen geangelt hat.«

»Ach. Und wie alt soll sie sein?«

»Zum Zeitpunkt, als der Gatte ermordet wird, Ende dreißig. Steht hier.« Bronnen deutete auf eine Randbemerkung.

»Und wie stellen Sie sich das vor, dass ich eine Frau derart fortgeschrittenen Alters spielen soll? Dazu müsste ich mich verstellen, um älter zu klingen.«

Aus dem Augenwinkel bemerkte Gesa, wie Theodor Conrad schmunzelte. Alle anderen studierten ihren Text, warteten aber zweifelsohne gespannt auf Herrn Bronnens Antwort.

»Das dürfte bei Ihrer schauspielerischen Kunstfertigkeit kein Problem sein, gnädige Frau. Der Hörer sieht Sie nicht, und mit Ihrer geschulten Stimme können Sie alles spielen, wie mit einem gut gestimmten Instrument.«

Ein dünnes Lächeln belohnte seine Diplomatie. 

Den restlichen Vormittag über machten sich die Sprecher mit ihren Rollen vertraut. Nach einer kurzen Mittagspause, die manche mit Schnittchen im Probenraum, andere rauchend auf einer Art Terrasse oben auf dem Dach und die beiden Hauptdarsteller im Künstlerzimmer verbrachten, wurden bereits erste Szenen gelesen.

»Lassen Sie uns von Anfang an das richtige Ambiente schaffen«, bat der Intendant, »und so tun, als ob wir auf Sendung wären.« Er deutete zu Annegret Meyer. »Ich weiß, Sie haben eine Doppelrolle – die Sekretärin des Ermordeten und dann noch Frau von Abt, eine Dame der besseren Gesellschaft. Die müssen natürlich vollkommen unterschiedlich klingen. Deswegen habe ich Sie ausgewählt, weil ich weiß, dass Sie das können, Frau Meyer.«

Annegret lächelte geschmeichelt. Und Gesa wunderte sich, woher Herr Bronnen seine Informationen hatte. Es stimmte in der Tat, Annegret Meyer war eine Art Stimmzauberin. Sie konnte perfekt alle möglichen sprachlichen Färbungen imitieren, nicht nur regionale Dialekte, sondern auch vornehmes Näseln bis zum Gassenjargon. Der Chef hatte sich anscheinend schlaugemacht. Was ihn in Gesas Augen schon jetzt weit über seinen Vorgänger hinaushob. Die Qualität des Stücks, die Proben und bestimmt auch die Aufführung konnten nur überzeugen, wenn der Spielleiter mit solcher Akribie und solchem Einsatz bei der Sache war.

»Na, wie hätten Sie’s denn gern, Herr Bronnen?«, fragte Annegret mit verstellter Stimme.

»Ganz genau so – passt eins a für die Sekretärin.«

»Und was Frau von Abt betrifft, so lege ich auf Wunsch eine besondere Eleganz in meinen Ausdruck.« Seidenweich hatte sie das gesagt.

Carla Simonetti riss die Augen auf, und auch Herr Conrad wirkte überrascht. Klein und untersetzt, mit einer altmodisch gesteckten Tolle auf der Stirn, die hin- und herwippte, sobald sie den Kopf bewegte, sah Annegret auf den ersten Blick wenig beeindruckend aus. Öffnete sie den Mund, änderte sich das schlagartig.

Gesas Herz hüpfte. Momente wie diese liebte sie. Zusammen legten sie ein Puzzle aus Stimmen und Geräuschen, das sich in den Köpfen der Zuhörer zu einem Bild zusammensetzen würde. Und sie gehörte zu den Klangakrobaten, deren gemeinsames Spiel dies möglich machte. Begeistert strahlte sie Annegret an, dann Ernst und Peter, die der Kollegin spontan Szenenapplaus spendeten. Auch Albert Bronnen lächelte. In seinen Augen stand die gleiche Begeisterung, die in Gesa brannte.

Die Sprecher stellten sich im Kreis auf, als befände sich in ihrer Mitte ein Mikrofon. Beim Lesen bemühten sie sich, die Seiten möglichst geräuschlos umzublättern. Niemand zu Hause an den Geräten würde ihnen abnehmen, dass sie gerade im Restaurant saßen oder einen Tatort untersuchten, wenn mitten im Satz das Papier raschelte.

»Gut, Fräulein Westhof«, lobte der Intendant, als Gesa gelesen hatte. »Wo es in der Szene heißt, die Hausdame ruft über die Schulter zurück nach dem Chauffeur, schlage ich vor, dass Sie sich wirklich umdrehen, also weg vom Mikrofon, und nach hinten sprechen. Auch jetzt schon, damit es Ihnen in Fleisch und Blut übergeht.« Das war ein sinnvoller Vorschlag und würde sich später sehr realistisch anhören.

Als Albert Bronnen die Probe schließlich beendete, war Gesa überrascht, dass es schon achtzehn Uhr durch war. 

»Sie sehen zufrieden aus, Fräulein Westhof?«, fragte der Intendant.

»Ach, es war ein toller Tag. Das Stück ist spannend, es wird sicher ein Erfolg werden, und ich freue mich, dabei sein zu dürfen.«

»Schön.« Er nickte ihr zu und wandte sich zum Gehen.

»Herr Bronnen – wer war es denn nun? Ich meine, wer hat den Industriellen ermordet?«

Einige der Kollegen hielten im Zusammenräumen ihrer Sachen inne und horchten auf.

»Ja genau«, sagte Ernst Gehring, nahm den übervollen Aschenbecher und leerte ihn in den Mülleimer in der Ecke. »Das wäre wirklich interessant zu wissen.«

Albert Bronnen grinste schelmisch. »Deswegen verrate ich es Ihnen noch nicht. Wer der Übeltäter ist, bleibt ein Geheimnis bis zum Schluss. Ehrlich gesagt, weiß ich es selber nicht. Der Autor des Stücks besteht darauf, uns den Mörder noch eine Weile vorzuenthalten. Erst wenn wir das Skript zur letzten Episode bekommen, werden wir es erfahren. So bleibt die Produktion für uns alle aufregend.«

»Und auf diese Weise ist sichergestellt, dass sich niemand vor der Presse verplappert«, fügte Theodor Conrad hinzu und klopfte dem Sendeleiter auf die Schulter. »Geschickt, Herr Intendant.«

Auf dem Nachhauseweg grübelte Gesa über dieses ungewöhnliche Vorgehen nach. War es nicht eigenartig, dass die Darsteller den Schluss der Produktion nicht kannten? Allerdings hatte sie natürlich noch nie bei einem derart groß angelegten Kriminalhörspiel mitgewirkt, vielleicht machte man das so. Ihre Erfahrung beschränkte sich auf wenige Stücke, und die waren unter Albert Bronnens Vorgänger zudem kurz gewesen. Manche hatten eine halbe Sendestunde gedauert, andere eine ganze, aber stets waren sie in sich abgeschlossen. Gesa erinnerte sich gut an das erste Mal, als sie eine kleine Rolle hatte lesen dürfen. Ihr Herz hatte vor Aufregung so laut gepocht, dass sie befürchtet hatte, es wäre über das Mikrofon zu hören. Lediglich zwei Sätze hatte sie sagen müssen, sich hinterher aber atemlos gefühlt wie nach einer Bergbesteigung. Und ebenso in Hochstimmung.

»Ich glaube, du hast dich gerade mit dem Schauspielvirus angesteckt«, hatte Ernst Gehring sie geneckt und damit Gesas verklärtes Strahlen richtig gedeutet.

Der neue Sendeleiter baute anscheinend darauf, die Zuhörer über Wochen hinweg zu fesseln, und dafür musste es spannend zugehen. Daher hatte er sich für einen Krimi entschieden. Acht Teile waren eine Menge, durchaus verständlich, dass Bronnen nicht riskieren wollte, dass der Mörder vorab bekannt wurde. Durchströmt von Vorfreude auf das neue Rundfunkabenteuer, marschierte Gesa beschwingt durch die Altstadt.

GESA

Radionachrichten 1927: »Die in England lebende Tschechin Vera Menchik wird erste weibliche Schachweltmeisterin.«

In den Folgejahren wurde sie zu wichtigen internationalen Turnieren eingeladen und von ihren männlichen Kollegen zunächst nicht ernst genommen. Bis sie zahlreiche Schachmeister besiegte. Ihren Weltmeistertitel verteidigte sie alljährlich bis zu ihrem Tod. Vera Menchik starb zusammen mit ihrer Schwester und ihrer Mutter 1944 bei einem Bombenangriff in ihrer Wohnung in London.

Der Fußweg vom Sender bis in die Ziegelgasse, einen Steinwurf vom Liebfrauenberg entfernt, dauerte nur etwa zehn Minuten. Um kurz nach halb sieben stieg Gesa die Treppe in den zweiten Stock eines alten Mehrparteienhauses hinauf. Inge und Rolf Jacobs hatten die Wohnung von ihren Eltern geerbt. Dank Gesas Untermiete konnten sie die Immobilie halten, allein mit Inges Sekretärinnengehalt und Rolfs magerem Einkommen als Maurergeselle wäre das nicht möglich gewesen. Nachdem sie einander in dem Café kennengelernt hatten, in dem Gesa Kuchen servierte und Inge zur Nachmittagsunterhaltung der Gäste sang, waren sie schnell darauf gekommen, wie praktisch es wäre zusammenzuziehen. Die schäbige Pension in Offenbach, in der das Zimmer mehr kostete als bei Inge mitten in der Altstadt, hatte Gesa nur zu gern hinter sich gelassen.

Ihre Unterkunft verfügte über eine geräumige Küche und ein Badezimmer mit Abort. In den meisten Wohnungen gab es lediglich ein Waschbecken an der Wand und ein Gemeinschaftsklo im Flur oder draußen auf dem Hinterhof. Gesa schätzte sich glücklich. Die Möbel waren schlicht, aber in gutem Zustand. Mittlerweile betrachtete sie die Geschwister mehr als Ersatzfamilie denn als Vermieter, und Inge war zu ihrer besten Freundin geworden. Die drei jungen Leute trafen einander in der Küche zu gelegentlichen gemeinsamen Essen oder für ein Feierabendbier, respektierten aber ebenso die Privatsphäre der anderen. 

In den engen, von hohen Gebäuden gesäumten Altstadtgassen war es stets schattig. Sogar an sonnigen Tagen musste Gesa Licht machen, auch tagsüber. Durch die Fenster fiel jetzt, am frühen Abend, kaum welches herein. Sie zog sich rasch um und schlüpfte in ein knielanges dunkelgrünes Kleid, an dessen Saum sie kürzlich eine Stoffdrapierung genäht hatte, damit es zipfelartig verlängert und modern wirkte. Es passte zu ihren Augen, deren Farbe je nach Lichteinfall zwischen Petrol und Grün changierte.

»Das steht dir fantastisch, und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, das Teil ist brandneu. Ich wünschte, ich könnte ebenso gut mit Nadel und Faden umgehen wie du«, ertönte Inges Stimme von der Tür her. 

Mit einem Glas in der Hand lehnte sie im Rahmen, die Lippen dunkel geschminkt, die Augen auch. Der schwarze Stoff ihres Flapper-Kleides bildete einen starken Kontrast zum wasserstoffblonden Lockenbob. Inge war eine schöne Frau und spielte gern mit dem Image einer Femme fatale. Selbstredend nur privat. Im Büro sah sie stets korrekt-adrett aus. Wenn es ans Ausgehen ging, legte sie eine mächtige Schippe drauf.

»Danke, es ist ganz gut geworden. Das Jumperkleid von heute Morgen hat mein Budget erschöpft, neue Sachen sind in nächster Zeit keine mehr drin. Aber ich wollte in Qualität investieren, die ich bei der Arbeit tragen kann. Das macht einen guten Eindruck.«

»Du überlässt bei deiner Karriere aber auch nichts dem Zufall.«

»Das kann ich mir nicht erlauben, Inge. Du weißt, wie wichtig es für mich ist, bald größere Rollen zu bekommen, um mehr zu verdienen. Nur wenn ich auf eigenen Füßen stehen kann, bin ich sicher.« Gesa deutete auf einen Umschlag auf dem Bett. »Und das da zeigt mir, dass ich in meinem Bemühen nicht nachlassen darf.«

»Was ist das?«, fragte Inge.

»Von meiner Tante.« Gesa fühlte einen Druck auf der Brust. Sie setzte sich auf die Bettkante und strich über das Papier, dabei versuchte sie das Zittern ihrer Finger zu unterdrücken.

»Seitdem du hier wohnst, hast du noch nie Post bekommen.«

»Eben. Dass sich das geändert hat, ist nicht gut.«

Mit besorgt gerunzelter Stirn stellte Inge ihr Glas auf dem Nachttisch ab, setzte sich neben sie und lehnte ihre Schulter an die der Freundin.

»Was ist passiert? Ist deine Tante krank?«

Gesa schüttelte den Kopf, sie schluckte. »Nein, das ist nicht das Problem. Wir verstehen uns nicht besonders, und ich hatte gehofft, dass sie mich nicht findet.«

»Wie bitte? Bist du von daheim ausgerissen? Gesa Westhof, so was kannst du doch vor mir nicht geheim halten.«

»Quatsch. Ich bin kein Backfisch mehr. Mit Mitte zwanzig haut man nicht mehr ab, man zieht aus.«

»Wenn du ihr nicht gesagt hast, wohin du gehst, wie hat sie dann deine Adresse herausgefunden? Nach über einem Jahr.«

»Das würde mich auch interessieren. Egal, reden wir nicht mehr davon.« Gesa riss den Brief in zwei Teile, dabei nagte sie an ihrer Unterlippe.

»Dann bringe ich dich besser mal auf andere Gedanken. Bist du fertig? Wir müssen nämlich zuerst ins Café in der Hauptwache, dort treffen wir uns mit Margot.«

Die rot-weiß gestreiften Markisen in den Rundbögen der ehemaligen Frankfurter Hauptwache wurden gerade eingeholt, als die beiden das Lokal betraten. Es war ein beliebter Treffpunkt für Kinogänger, Theaterbesucher und Verabredungen aller Art. Tagsüber ebenso wie abends pulsierte hier das Leben, und Stimmengewirr erfüllte den Raum. Sie mussten kurz warten, bis ein Tisch frei wurde, und kaum hatten sie sich gesetzt, erschien Margot.

Die Musikerin war in ihrem Alter, schätzte Gesa, möglicherweise ein wenig jünger. Groß und schlank, mit schmalen Hüften und brünetten Haaren, die länger über die Schultern fielen, als es der Mode entsprach. In ihren braunen Augen lag etwas Verträumtes, Melancholisches, das Gesa auf Anhieb interessant fand. 

»Hier geht es zu wie in einem Taubenschlag«, bemerkte Margot und deutete auf die Menschen um sie herum. »Ich komme aus einem Dorf in der Eifel, in dem wahrscheinlich weniger Einwohner leben, als sich Leute hier im Café aufhalten.«

»Daran wirst du dich gewöhnen müssen.« Inge schlug die Beine übereinander und nippte an ihrem Kaffee. »Warte nur, bis du das richtige Nachtleben kennenlernst.«

»Wer kommt noch?«, fragte Margot.

»Heute Abend sind nur wir drei unterwegs.« Inge sah auf die Uhr. »Und gleich müssen wir los in die Erebos Bar, sonst komme ich zu spät.«

»Nur wir drei?«

Gesa, die ebenfalls vom Land stammte, verstand, weshalb Margot verwundert nachfragte. Sie waren anders aufgewachsen als die selbstbewussten Stadtmädchen. Es gehörte sich nicht, dass junge Frauen ohne Anstandsdamen oder männliche Begleitung in Cafés herumsaßen, womöglich noch rauchend, und alleine Bars und Tanzlokale besuchten.

»Ich habe mich auch erst an die neue Freiheit gewöhnen müssen, weißt du«, sagte sie. »Und es hat eine Weile gedauert, bis das nagende Gefühl verschwunden ist, etwas Unschickliches zu tun.«

»Du bist auch nicht von hier?«

»Nein. Inge ist die einzige Stadtpflanze am Tisch. Aber ich lebe schon ein wenig länger in Frankfurt. Du wirst sehen, bald kannst du deine Unabhängigkeit genießen.«

In Margots Blick lag mehr als nur der Zweifel an diesen Worten. Etwas Wehmütiges, das Gesa schon zuvor bemerkt hatte und nach dessen Grund sie sich nicht zu fragen traute.

»Das kann ich mir noch nicht wirklich vorstellen. Außerdem bin ich zum Arbeiten hier.«

»Wir doch auch«, mischte sich Inge ein und zwinkerte schelmisch. »Aber so ein bisschen Vergnügen darf schon sein.«

Gesa verstand Margot nur zu gut. Aufmunternd lächelte sie die neue Kollegin an. »Was hat dich nach Frankfurt gebracht?«, fragte sie.

Margot zögerte einen Augenblick mit ihrer Antwort. »Das dauerhafte Engagement im Rundfunkorchester. Kein Musiker, der von seiner Kunst leben muss, würde zu so etwas Nein sagen. Für mich ist es eine riesige Chance. Ich muss meine Sache gut machen, besser als die Männer, das ist mir schon bewusst. Der Dirigent scheint mich nicht zu mögen.«

»Willkommen im Club.« Gesa klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter. »Wir Mädels sind die Exoten im Sender. Es gibt nicht viele von uns, und diejenigen, die sich halten wollen, müssen mit Leistung punkten.«

»Fair ist das nicht«, warf Inge ein. »Ich könnte euch auf Anhieb mehrere Herren aufzählen, die ganz kleine Lichtlein sind, wenn ihr versteht, was ich meine. Trotzdem sitzen sie fest auf ihren Posten und verdienen wesentlich mehr, als wir jemals kriegen werden, egal wie gut wir sind.«

»Meine Mutter war sechsmal schwanger und hat unser Dorf noch nie verlassen. Sie hat mich immer dazu ermutigt, es zu versuchen. Margot, hat sie gesagt, es wäre eine Schande, wenn du deinTalent nicht nutzt. Kinder kriegen kann jede, was aus sich machen nur die Allerwenigsten. Wir haben jetzt die Chance dazu. Ich werde meine auf jeden Fall nutzen.«

»Das sehe ich auch so. Warum sollte es uns nicht zustehen, unsere Träume zu verwirklichen? Und ich merke schon, an ehrgeizigen Zielen mangelt es uns dreien nicht.« Inge nahm noch einen Schluck Kaffee. Sie blickte in die Runde. »Stellt euch vor, es ist genau ein Jahr später, und wir sitzen wieder hier. Was wollen wir uns dann erzählen? Also, ich werde euch von meinem gut bezahlten Plattenvertrag berichten. Und davon, dass ich einen ausverkauften Auftritt in Berlin habe.«

Gesa grinste. Ihre Gedankenspielerei mit dem Konzertplakat samt Ausverkauftschild hatte Inge also verinnerlicht. »Wieso Berlin?«

»Weil es die Hauptstadt ist und jeder, der es geschafft hat, dort singt. Jetzt du.«

Was wollte sie in einem Jahr erreicht haben? Diese Frage zu beantworten fiel Gesa leicht, kreisten ihre Gedanken doch tagtäglich um nichts anderes. »Ich werde für Hauptrollen im Rundfunk eingesetzt und eine bekannte Hörspielstimme sein.«

Zwei Augenpaare richteten sich auf Margot. Die rutschte auf ihrem Stuhl herum. »Also, ich habe mir noch nicht überlegt, wohin genau ich will. Wir Musiker hangeln uns meistens von Engagement zu Engagement. Fixpunkte gibt es nicht viele. Außer eben, man spielt in einem Orchester, und ich kenne keine anderen Frauen, die das tun.«

»Na – da hast du doch schon deine Antwort.« Verschwörerisch beugte sich Gesa über den Tisch. »Wir haben uns einen Platz bei Radio Frankfurt erkämpft – und den werden wir nicht nur behalten, sondern festigen. Also?«

»Also … in einem Jahr wird das Rundfunkorchester vielleicht schon ein ganz anderes Format haben. Und ich werde die erste Cellistin in einem großen Rundfunkorchester sein«, sagte Margot mit fester Stimme.

In diesem Satz steckte reichlich Zukunftsmusik. Denn das, was bisher als Rundfunkorchester bezeichnet wurde, war nicht viel mehr als eine Kapelle. Ein Kammerorchester, maximal. Wie Gesa den Intendanten einschätzte, würde er es über kurz oder lang zu einem Sinfonieorchester ausbauen wollen. Welches wiederum größere Räumlichkeiten für Proben und Aufnahmen bräuchte. Die es noch nicht gab …

Margots Traum war damit ein extrem ehrgeiziger, der nur wahr werden konnte, wenn er mit Albert Bronnens Vorstellungen übereinstimmte. Und der ein neues Sendegebäude voraussetzte. Aber warum nicht?

»Die erste Cellistin in einem Sinfonieorchester«, flüsterte Gesa anerkennend. »Ein famoser Plan.«

»Und ich als bekannte Sängerin werde für gemeinsame Auftritte gebucht«, setzte Inge noch einen drauf.

»So machen wir’s.«

Die drei stießen über den Tisch hinweg mit ihren Kaffeetassen an, und Gesa bemerkte, dass sie alle ein wenig atemlos waren.

»Das ist mein voller Ernst«, sagte Inge. »Wir können erreichen, was immer wir wollen. Jetzt ist unsere Zeit.« Die beiden anderen nickten feierlich, und Gesa schwor sich, diesen Moment in Erinnerung zu behalten.

»Gut. Dann sind wir uns einig.« Inge wechselte das Thema: »Bist du verheiratet?« Sie warf einen Blick auf Margots unberingte Finger. Schnell nahm diese die Hände vom Tisch und wischte damit über ihren Rock. Sie trug ein schlichtes dunkelblaues Kleid, das nur am Ausschnitt eine kleine Verzierung in Form von zarter Lochstickerei aufwies.

»Nein. Ich lebe allein. Glücklicherweise konnte ich bei Verwandten hier unterkommen, das spart Miete.«

»Gut. Wenn wir vorankommen wollen, ist es besser, wenn wir ungebunden sind. Keinen familiären Ballast mit uns herumschleppen, wie zum Beispiel einen Ehemann.«

»Inge!« Gesa lachte auf. Sie dachte an Willi. Und daran, dass sie ihn niemals als Ballast betrachten würde. »Wie kannst du so was sagen? Wenn man dir zuhört, könnte man meinen, du hast kein Herz.«

»Habe ich wohl. Aber auch einen Plan. Wir drei werden zusammenhalten, ja?«

»Natürlich«, lautete die einstimmige Antwort.

Obwohl sie Margot noch nicht gut kannte, wusste Gesa instinktiv, dass sie die Zurückhaltendste von ihnen war. Margot schien erleichtert, schnell Anschluss gefunden zu haben. Sie mussten ihr ein wenig Zeit geben, dann würde sie bestimmt mit dem Geheimnis herausrücken, das sie zweifelsohne hütete. Nachdem sie ihre Tassen geleert hatten und die Bedienung den Tisch abräumte, fragte Margot: »Wo ist die Erebos Bar?«

»Nicht weit von hier. Wir können zu Fuß gehen.«

Gesa war erleichtert, nicht noch etwas konsumieren zu müssen. Es wäre verführerisch und allzu einfach, sich im vergnüglichen Treiben der Hauptwache zu vergessen und ein Getränk nach dem anderen zu bestellen. Aber ohne die Einladung eines männlichen Kavaliers ging so was ordentlich ins Geld. Und wie sie soeben bekräftigt hatten, waren sie allein für Schicksal, Finanzen und Karriere verantwortlich, also mussten sie mit ihren Mitteln haushalten.

Vom Café in der Hauptwache liefen sie ein paar Schritte hinüber zum Beginn der Großen Eschenheimer Straße, in der sich Bar an Kaffeehaus an Tanzcafé reihte. Nach Sonnenuntergang war dort allerhand geboten. Die Menschen saßen in der milden Abendluft an Tischen vor den Lokalen oder flanierten schick aufgemacht die Bürgersteige entlang in Richtung Eschenheimer Turm, der die Amüsiermeile am anderen Ende begrenzte. Die Erebos Bar lag im Untergeschoss eines schmalen, alten Hauses. Das passte gut für Erebos, den griechischen Gott der Finsternis, dessen modern interpretiertes Gesicht als Schild über dem Eingang prangte. Drinnen war nicht viel Betrieb, Gesa vermutete, das lag am schönen Wetter und der frühen Stunde. Es war nicht einmal neun Uhr. Dennoch hatte Inge darauf gedrängt hierherzukommen. 

Die Bar bestand aus einem einzigen lang gestreckten Raum, den man an der vorderen Schmalseite über eine steile Wendeltreppe aus Metall betrat, die sich wie ein Wurm unter das Straßenniveau wand. Es gab einen verspiegelten Tresen mit einer Reihe Barhocker und zahlreiche runde Tische. In der hinteren Hälfte lagen die Bühne und eine kleine Tanzfläche.

Gesa war vorher nie aufgefallen, wie schäbig das Interieur eigentlich war. Die Abwesenheit dichten Zigarettenrauchs, der in wenigen Stunden den Raum gänzlich weichzeichnen würde, erlaubte einen ungehinderten Blick auf die Stockflecken an den Wänden. In der Luft stand der säuerliche Geruch verschütteten Alkohols. Was mochte Margot denken? Bereute sie es, für diesen Abend zugesagt zu haben?

Inge huschte zu dem dürren Herrn, der hinter dem Tresen Gläser polierte – mit einem schmutzigen Lappen, der Gesa am Erfolg seines Vorhabens zweifeln ließ –, und hauchte einen Kuss auf seine Wange.

»Hallo, Fred, ich bin doch nicht zu spät?« Sie deutete auf die einzigen drei besetzten Tische. »Sind noch nicht mehr Leute da?«

»Gehoppt wie gedoppt, jeden Abend, solang die da oben uff habe. Die Gäst kommen schon noch. ’S Café nebenan schließt gleich, dann drücken sich alle hier rein, wirst sehen.« Er musterte sie kritisch. »Schaust gut aus, Mädsche. Wenn du die Töne einigermaßen triffst und noch e bissi mit’m Bobbes wackelst, wird dein Auftritt sicher bombe.«

Als hätte er ihr ein Kompliment gemacht, strahlte Inge ihn an. »Danke, Fred. Das sind meine Freundinnen, Gesa kennst du schon, und Margot ist neu in der Stadt.«

Der Barmann legte den Lappen weg und schüttelte mit klammen Fingern Hände. Er hatte einen lang gezogenen Kopf mit hoher Stirn und tief liegenden, großen Augen. Eine Schönheit war er gewiss nicht, aber er begrüßte sie herzlich, schob einer jeden ein Glas Bier hin und nickte in Richtung Bühne. »Ihr könnt den üblichen Tisch haben, dann kriegt ihr Inges Auftritt gut mit.«

»Habe ich was verpasst? Wovon hat der Mann gesprochen?«, flüsterte Margot Gesa zu, nachdem sie Platz genommen hatten.

»Fred gehört die Erebos Bar. Er ist immer auf der Suche nach neuen Talenten – vermutlich, weil die weniger kosten als etablierte Künstler. Und Inge hat gleich einen Auftritt.«

»Sie ist tatsächlich Sängerin?«