Die Radioschwestern (3) - Eva Wagendorfer - E-Book

Die Radioschwestern (3) E-Book

Eva Wagendorfer

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Beschreibung

Zauber einer neuen Zukunft

Frankfurt, Mitte der 50er: Das Radio ist noch immer Massenmedium Nummer 1, doch auch das Fernsehen bahnt sich seinen Weg in die deutschen Wohnzimmer. Den Freundinnen Christel, Marianne und Nora stehen alle Chancen auf eine große Karriere beim Hessischen Rundfunk offen. Sie wollen hoch hinaus. Christel bringt mit Radiosprachkursen ein ganz neues Konzept auf den Weg, Marianne lebt ihre künstlerische Ader als Bühnenbildnerin aus. Und Noras Zukunft scheint als Sängerin und Filmstar gesichert. Doch dabei merken sie, dass die glänzende Welt der Unterhaltungsbranche manchmal doch mehr Schein als Sein ist. Und auch die Liebe nicht immer das hält, was sie verspricht …

Drei Freundinnen, die zusammenhalten wie wahre Schwestern – die Radiosaga findet mit der jungen Generation ihren rauschenden Abschluss!

Lesen Sie auch:
Band 1: Die Radioschwestern – Klänge einer neuen Zeit
Band 2: Die Radioschwestern – Melodien einer neuen Welt

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 505

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Eva Wagendorfer ist das Pseudonym einer erfolgreichen Autorin. Sie wuchs in Passau auf und studierte in Regensburg. In ihren Romanen verarbeitet sie gern Stoffe mit historischem Hintergrund, die von starken Frauenfiguren getragen werden. Die Radioschwestern-Saga wurde inspiriert durch ein altes Rundfunkgerät, das sich seit vier Generationen im Familienbesitz befindet – und noch immer im Einsatz ist.

Außerdem von Eva Wagendorfer lieferbar:

Die Radioschwestern – Klänge einer neuen Zeit

Die Radioschwestern – Melodien einer neuen Welt

www.penguin-verlag.de

EVA WAGENDORFER

DIE RADIO-SCHWESTERN

Tanz in ein neues Leben

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2024 der Originalausgabe by Eva Wagendorfer

Copyright © 2024 by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt

durch die Literarische Agentur Michael Gaeb

Redaktion: Hanne Reinhardt

Umschlaggestaltung: Favoritbuero

Umschlagabbildungen: Curly Pat, Anton Vierietin, sippakorn, Oleksandr Berezko, Rawpixel.com/shutterstock.com

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29875-3V001

www.penguin-verlag.de

Für Papa

Gesa

Frankfurt 1955

Radionachrichten 1955:

»Immer mehr unverheiratete Frauen möchten im Alltag nicht mehr mit Fräulein angesprochen werden. Aus diesem Grund haben die Innenminister der Länder entschieden, dass auch ledige weibliche Erwachsene im amtlichen Geschäftsverkehr mit Frau tituliert werden dürfen.«

Allerdings nur auf Antrag …

Bereits 1919 hatte ein Erlass bestimmt, dass die Bezeichnung Frau nicht mit Ehefrau gleichzusetzen wäre. Was zunächst revolutionär geklungen hatte, war im Alltag gänzlich verpufft. Schlecht bezahlte Sekretärinnen, Telefonistinnen oder Bedienungen waren und blieben das klassische Fräulein. Denn wären sie verheiratet und somit eine Frau, müssten sie schließlich nicht arbeiten. Sechsunddreißig Jahre später beschwerten sich derart viele Frauen darüber, kein Fräulein mehr sein zu wollen, dass die Regierung handeln musste. Den meisten ging es nicht nur um den Ausdruck der Verniedlichung, der zudem Herren suggerierte, dass man theoretisch noch zu haben war. Sondern auch um die Tatsache, dass es in der deutschen Sprache kein entsprechendes Pendant für ledige Männer gab. Also kein Herrlein.

Eine Woche war seit dem explosiven Aufeinandertreffen von Gesa Kellermann und den van Leeuwens im Frankfurter Hof vergangen. Vor acht Tagen hatte sie Rikard van Leeuwen, dem Vater ihres Enkels Peterchen, eine Tasse Kaffee ins Gesicht geschüttet. Das hatte er natürlich absolut verdient. Niemand durfte Gesas Tochter beleidigen. Dazu kam die Drohung von van Leeuwen senior, Thomas mit Vornamen, dem international bekannten Dirigenten, ihr den Enkel wegzunehmen und Gesas Karriere beim Hessischen Rundfunk zu zerstören. Lächerlich! Dieses lautstarke Säbelrasseln konnte sie nicht ernst nehmen. Doch das respektlose Verhalten der beiden Männer, das in seiner Arroganz an Verachtung grenzte, trieb Gesa auch Tage später noch die Zornesröte ins Gesicht, sobald sie nur daran dachte.

Leider konnte niemand etwas an der Vaterschaft von Rikard van Leeuwen ändern, das war eine bedauerliche, wenngleich unumstößliche Tatsache. Wobei der Begriff Vater jeglicher Grundlage entbehrte. Biologischer Erzeuger war treffender. Ein im Internat durch Täuschung und Schmeicheleien provozierter Beischlaf, anschließende Demütigungen, Spott und Häme – mit dem Resultat, dass die minderjährige Christel Bronnen schwanger die Schule abgebrochen hatte. Im Frühling vor fünf Jahren, gerade erst achtzehn und selbst fast noch ein Kind, hatte Christel Peterchen das Leben geschenkt und war seitdem die beste Mutter, die Gesa sich vorstellen konnte. Sie bewunderte ihre Tochter für deren Hingabe und den klaglosen Verzicht auf die Freuden der Jugend.

In den Augen von Rikard van Leeuwen, privilegiert aufgewachsen und durchaus gut aussehend, stand eine Leere, die Gesa erschreckte. Unmöglich zu sagen, ob er sich überhaupt für Peterchen interessierte. Nur zu gern wüsste sie, was seine Vaterschaft für den jungen Mann bedeutete. Wahrscheinlich würde sich nie die Gelegenheit dazu ergeben, ihn danach zu fragen oder ein offenes, ehrliches Wort mit ihm zu sprechen. Der alte van Leeuwen würde das zu verhindern wissen. Ein Gefühl sagte Gesa, dass sein eigener Sohn eine Enttäuschung für ihn darstellte. Nun erhob er einen aberwitzigen Anspruch auf den Enkel, wollte ihn mitnehmen, nach seinem Gutdünken formen und als Stammhalter großziehen. Eine gruselige Vorstellung. Genügte Rikard nicht den Wünschen des großen Übervaters? Sollte statt ihm nun Peterchen in seine Fußstapfen treten? Ausgeschlossen!

Zwar verurteilte Gesa, wie übel Rikard ihrer Tochter damals im Internat mitgespielt hatte. Dennoch kam sie nicht umhin, ein gewisses Maß an Mitleid mit ihm zu empfinden, nun, da sie seinen Vater getroffen hatte. In Gesa ruhte die tiefe Überzeugung, dass kein Kind grundsätzlich schlecht war. Wenn sich also ein Halbwüchsiger vermeintlich Schwächeren gegenüber derart auffällig verhielt wie Rikard und auch mit vierundzwanzig noch vor dem Herrn Papa kuschte, dann war sicher einiges dramatisch schiefgelaufen. Nach dem Treffen mit Thomas van Leeuwen wunderte sie sich nicht mehr über die Frauenverachtung seines Sohnes. Van Leeuwen senior triefte geradezu vor Selbstüberschätzung und Arroganz. Für ihn war es zu spät. Doch trotz aller Sorgen, die diese Familie ihr bereitete, hoffte Gesa ehrlich, dass Rikard sich würde freischwimmen können.

Sie für ihren Teil ließ sich schon lange von keinem Mann mehr einschüchtern, mochte er noch so wichtig und bekannt sein.

»Du glaubst nicht, was Herr Beckmann mir erzählt hat.« Die sonore Stimme von Gesas Ehemann Philip riss sie aus ihren Gedanken. Er klappte seine Morgenzeitung zu und sah sie an. Die beiden saßen am Frühstückstisch in Philips Haus in der Bruchfeldstraße. Seit ihrer Hochzeit im Sommer neunzehnhundertdreiundfünfzig wohnten sie ausschließlich hier, während Christel und Peterchen in der kleinen Villa in Sachsenhausen lebten, die Gesa vor vielen Jahren mit ihrem nun verstorbenen Mann Albert gekauft hatte. Und seit Kurzem hatten sie dort Gesellschaft. Julius, Gesas Erstgeborener, war in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus Berlin heimgekehrt und verkroch sich derzeit im Elternhaus.

Die räumliche Trennung von ihren erwachsenen Kindern war Gesa nur recht. Die Bruchfeldstraße lag zudem gleich im benachbarten Stadtteil Niederrad. Und hier ließ es sich zusammen mit Philip herrlich aushalten.

»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Eine Klatschbase ist unser Sendeleiter ja nun wirklich nicht, es muss also etwas Wichtiges sein, wenn er dich damit behelligt.«

»Thomas van Leeuwen war bei ihm.«

Stirnrunzelnd legte Gesa den Kopf schief. »Und? Was hat er Schlimmes gegen mich vorgebracht?« Sie versuchte ihrer Stimme einen verschmitzten Klang zu geben.

»Zuerst einmal hat er von seinem großen Können gesprochen und davon, wie glücklich sich der Hessische Rundfunk schätzen kann, für sein Sinfonieorchester einen Gastdirigenten wie ihn verpflichtet zu haben. Er hat gemeint, falls der Aufsichtsrat darauf besteht, könne er es einrichten, dauerhaft als Chefdirigent zu bleiben. Denn der Posten würde ja bald frei werden.«

Erstaunt hob Gesa die Augenbrauen, enthielt sich aber eines Kommentars. Es stimmte zwar, dass ein neuer Dirigent gesucht wurde, doch van Leeuwens Vorgehen war gelinde gesagt unüblich. Sicherlich konnte er nicht einfach seinen Wunsch äußern, die Stelle zu besetzen, und würde sie dann schwups bekommen. Von ihrer Freundin Margot Milanski, der ersten Cellistin des Orchesters, wusste Gesa, dass es einem diplomatischen Staatsakt gleichkam, bis ein neuer Chefdirigent eingesetzt wurde. Die Herren Orchesterleiter waren zum überwiegenden Teil wichtig und gefragt, wollten gebauchpinselt werden und wogen ihre Optionen sorgfältig ab. Ging es nach Gesa, sollte van Leeuwen schleunigst aus Frankfurt verschwinden und sich nicht dauerhaft hier einnisten. Sie presste die Lippen aufeinander.

»Ich denke nicht, dass Beckmann ihn halten will.« Philip legte seine Hand auf die von Gesa und umschloss sie sanft mit seinen Fingern. Die Berührung verscheuchte ihre aufsteigende Unruhe.

Nach dem Frühstück musste Philip in den Sender. Als Programmdirektor hatte er immer viel zu tun. Gesa wurde erst am Nachmittag für Proben zu einem Hörspiel gebraucht. Weil der Herbstregen in nassen Böen durch die Straßen peitschte, beeilte sie sich, in den Bus nach Sachsenhausen zu steigen. Normalerweise fuhr sie die Strecke am liebsten mit dem Fahrrad.

Natürlich waren Christel und Peter bereits wach, als sie ankam. Sie hatten ebenfalls schon gefrühstückt, saßen im Wohnzimmer auf dem Boden und legten ein Puzzle.

»Onkel Julius schläft noch«, informierte sie der Junge, gleich als sie eintrat. »Ich muss leise sein. Du auch, Oma.«

Hinter seinem Rücken verdrehte Christel die Augen. »Mein Herr Bruder ist erst vor ein paar Stunden heimgekommen. Der wird sich noch länger nicht zeigen.«

»Schade. Ich hatte gehofft, mit ihm reden zu können.«

Christel stand auf und ging mit ihrer Mutter hinüber in die Küche. Sie winkte Peterchen zu und bedeutete ihm, allein nach weiteren Puzzleteilen zu suchen.

»An deiner Stelle würde ich hochgehen und ihn aus den Federn werfen. Ehrlich, Mama, der führt uns doch alle an der Nase herum. Seitdem er wieder hier ist, schläft er entweder oder er geht aus. Hauptsache, er begegnet uns möglichst wenig, damit wir nur keine Fragen stellen. Ich bin das leid.«

Alles, was die beiden über Julius’ Scheitern in Berlin wussten, war, dass er zu viel gefeiert und Schulden gemacht hatte. Schließlich hatte er auch noch seine Arbeit beim RIAS verloren. Mit sechsundzwanzig hätte Gesa mehr Reife von ihrem Sohn erwartet, doch so war die Situation nun mal.

»Ich verstehe dich vollkommen«, antwortete sie leise, damit ihr Enkel nicht mithören konnte. »Und ich werde ihm das auch nicht viel länger durchgehen lassen. Julius muss wieder auf die Beine kommen. Er braucht eine neue Stelle. Dringend. Aber ehrlich gesagt bin ich froh, dass gerade jetzt ein Mann im Haus ist. Wo doch …« Sie verstummte und nickte hinüber in Richtung offener Wohnzimmertür.

»Du meinst, wo die van Leeuwens noch immer in der Stadt sind?« Christel nagte an ihrem Daumennagel. Wenn ihre Tochter das tat, war sie mehr als nervös.

»Was ist los?«, fragte Gesa.

»Rikard hat sich gemeldet. Er will seinen Sohn persönlich kennenlernen.«

Das hatte Gesa befürchtet. Jedoch – war es nicht verständlich, dass ein Vater sein Kind sehen wollte, von dessen Existenz er nur durch Zufall erfahren hatte?

»Das kann ich ihm schlecht verwehren«, fuhr Christel leise fort. »Nicht weil ich glaube, dass er wirklich Interesse an seinem Sohn hat. Sondern weil Peterchen es mir sicher später vorwerfen würde, wenn ich den Kontakt zu Rikard komplett abblocke.«

Aus dem Wohnzimmer kam ein Juchzen, bei dem Peter nicht auf die Lautstärke achtete. »Mama! Fertig!«

»Du lässt ihn keine Sekunde mit dem Kind allein, versprich mir das«, flüsterte Gesa.

»Natürlich nicht.«

»Wo trefft ihr euch?«

»Morgen soll das Wetter wieder besser sein. Wir sind im Zoo verabredet. Rikard wollte eigentlich hierherkommen, aber das erlaube ich nicht. Ein Treffen in der Öffentlichkeit erschien mir angebrachter. Falls es Probleme gibt, gehen wir einfach wieder.«

»Soll ich euch begleiten?«

Christel strich ihrer Mutter beruhigend über den Arm. »Julius kommt mit. Mach dir keine Sorgen, wir kriegen das schon hin. Außerdem, allzu lange werden die van Leeuwens sicher sowieso nicht mehr in Frankfurt bleiben.«

Gesa brachte es nicht übers Herz, ihr vom Vorschlag des Dirigenten an den Sendeleiter zu erzählen. Im Gesicht ihrer Tochter las sie Erschöpfung. Unter den dunklen Augen lagen lila Schatten, die von zu wenig Schlaf herrührten. Die Situation nahm Christel mit. Und nun stand auch noch ein Treffen mit dem jungen Mann an, den Gesa nicht einschätzen konnte.

Kurzerhand schritt sie die Treppe hinauf in den ersten Stock und klopfte vernehmlich an Julius’ Tür.

»Christel, wirklich, muss das sein?«, drang seine genervte Stimme dumpf zu ihr.

»Zeit aufzustehen, meine Lieber.« Gesa marschierte forsch ins Zimmer, öffnete die Vorhänge und das Fenster und blieb mit verschränkten Armen vor dem Bett ihres Sohnes stehen. »Wir müssen reden.«

»Nicht jetzt, Mama«. Demonstrativ legte sich Julius ein Kissen aufs Gesicht, als könne er damit die Welt ausblenden. Unter dem weißen Stoff lugten seine rotbraunen Locken hervor, exakt dieselbe Farbe wie Gesas Haare. Obwohl sich in ihre mittlerweile so viele graue einschlichen, dass sie es aufgegeben hatte, alle auszureißen. Überhaupt war Julius seiner Mutter sehr ähnlich. Lebhaft, umtriebig, widerspenstig. Wahrscheinlich hatte sie deshalb all die Jahre ein mitfühlendes Herz für seine Eskapaden aufgebracht, weil sie genau wusste, wie es in ihm aussah. Doch aus ebendiesem Grund musste sie nun Strenge walten lassen. Julius hatte endlich Verantwortung für sich selbst zu übernehmen.

Mit einem Ruck zog sie das Kissen weg und warf es ans Ende des Bettes.

»Du hattest Zeit genug, deine Wunden zu lecken«, verkündete sie. »Ich erwarte von dir, dass du dir eine Arbeit suchst. Wenn du weiterhin hier wohnen willst, wirst du deinen Beitrag leisten.«

»Ich soll Miete zahlen? In meinem eigenen Elternhaus?« In seiner Stimme lag so großes Entsetzen, als wäre das ein unmenschlicher Vorschlag.

Gesa verkniff sich ein amüsiertes Lächeln. »Davon rede ich nicht. Aber Strom, Wärme, Essen – das alles kostet Geld.«

»Christel arbeitet auch nicht.«

Sie würde sich nicht mit ihm auf eine Diskussion über seine Schwester einlassen. Die Kunst der Ablenkung beherrschte Julius hervorragend.

»Ab nächstem Monat erwarte ich von dir, dass du deinen Teil zum Leben in diesem Haus beisteuerst.«

Mit trotzig zusammengekniffenen Lippen setzte er sich im Bett auf und strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Sonst noch was?«

»Allerdings.« Ganz offensichtlich hatte er gehofft, sie würde ihm endlich wieder seine Ruhe lassen, aber Gesa ging zu Alberts altem Sessel, den Julius liebte und seit vielen Jahren in seinem Zimmer stehen hatte. Mit einem Anflug von Wehmut ließ sie sich darauf nieder. Wie würde ihr Leben heute aussehen, wäre Albert nicht am Ende des Krieges in Berlin verschollen und von den Amerikanern schließlich für tot erklärt worden?

Zehn Jahre waren seitdem vergangen. Wären sie eine andere Familie, zusammen mit ihm? Hätte Gesa die Kinder in den Notzeiten nach Kriegsende nicht ins Internat schicken müssen, damit sie genug zu essen bekamen, weg aus Frankfurt, weg von zu Hause? Wäre Christel dann nicht so früh schwanger geworden, und würde Julius mit mehr Ehrgeiz durchs Leben gehen? Müßig, darüber nachzudenken.

»Christel sagt, du begleitest sie morgen zum Treffen mit diesem Rikard van Leeuwen?«

»Sie wollte alleine hin, war allen Ernstes der Meinung, sie hätte das im Griff. Vielleicht war sie auch nur zu stolz, mich zu fragen, ob ich mitgehe. Es kommt auf jeden Fall nicht infrage, dass sie sich diesem Mistkerl alleine stellt.« Er nickte grimmig.

Gesa wusste, sie würde sich auf Julius verlassen können. Mochte er in manchen Dingen auch lockere Ansichten haben, wenn es um seine Familie ging, verstand er keinen Spaß.

»Es ist gut, dass das Treffen in der Öffentlichkeit stattfindet. Vor allem, weil ich befürchte, dass Rikard nicht ohne seinen Vater erscheinen wird. Thomas van Leeuwen ist extrem dominant und gewohnt, seinen Willen zu bekommen.«

»Nun, da wird er sich morgen wundern. Ich werde Christel und Peterchen nicht von der Seite weichen.«

»Das weiß ich.« Gesas Stimme klang sanft. »Seid vorsichtig.«

Julius

Radionachrichten 1955:

»Entgegen allen Spekulationen gewinnt nicht Judy Garland, sondern Grace Kelly den Oscar als beste Schauspielerin für ihre Hauptrolle im Broadwayfilm Ein Mädchen vom Lande. Diese Entscheidung der Jury kommt einer Sensation gleich, denn im vergangenen Jahr war Grace Kellys Name noch nicht einmal im amerikanischen Film-Almanach gelistet.«

Judy Garlands Sieg bei der Oscar-Verleihung 1955 hatte als sicher gegolten. Der Star aus Ein neuer Stern am Himmel war gerade Mutter eines Sohnes geworden und lag nach der Entbindung noch im Krankenhaus, vor dessen Fenster sich Kamerateams auf einem Gerüst platziert hatten, um die Überreichung der Trophäe an die Wöchnerin zu filmen. Mit Grace Kelly hatte niemand gerechnet. Die junge Frau war anders als die gängige Hollywoodschauspielerin. Keine ausladenden Kurven oder tiefen Dekolletés, auch kein androgynes Mädchen mit Kurzhaarschnitt, sondern kühle, zeitlos-klassische Eleganz. Hollywood hatte endlich wieder eine richtige First Lady.

Feuerrote Ahornblätter segelten von den Bäumen. Die schönsten hob Peterchen ebenso geflissentlich auf wie die glänzenden Kastanien ein wenig weiter die Straße hinunter. Er reichte sie seiner Mutter, die mit der Zeit Schwierigkeiten hatte, all seine Schätze in ihrer Handtasche zu verstauen. Es kam Julius vor, als brauchten sie eine Ewigkeit bis zum Zoo. Wie hielt Christel es nur aus, nichts jemals zügig erledigen zu können? Jedes Stöckchen war interessant, jeder Zaun, an dem man damit entlangscheppern konnte. Seine Schwester begegnete Peterchens Trödeln gelassen, und Julius bemühte sich nach Kräften, es ihr gleichzutun. Dann dauerte es eben. Sie hatten sich ordentlich, aber nicht übertrieben fein gekleidet. Der Junge trug eine neue dunkelblaue Jacke und polierte Schuhe, die allerdings schon wieder staubig waren, weil er damit durch das Herbstlaub streifte. Auf seinem Kopf saß eine Mütze, die Gesa gestrickt hatte. Christel hatte ihren Wollmantel fest um sich geschlungen und gegürtet, als würde sie eine Rüstung festzurren. Zum ersten Mal fiel Julius auf, wie erwachsen sie geworden war. Ihre kindlichen Gesichtszüge waren hohen Wangenknochen und einer scharfen Kinnlinie gewichen. Mit ihrem ernsten Blick unter den dunklen Brauen war sie eine klassische Schönheit. Irgendwann standen sie schließlich an der Pinguinanlage im Zoo, wo sie sich mit Rikard van Leeuwen verabredet hatten. Die Humboldt-Pinguine waren Peterchens erklärte Lieblinge. Sie kamen gerade rechtzeitig zur Fütterung, weshalb der Junge fasziniert an der Brüstung stand und über den Wassergraben auf die felsige Plattform sah, auf der die Tiere von einem Pfleger mit Fischen versorgt wurden.

Christels Blick schweifte nervös in die Ferne, plötzlich griff sie nach Julius’ Arm. Ihre Finger steckten in grauen Handschuhen, trotzdem sah er, wie sie zitterten.

»Da kommt er«, hauchte sie. Dabei hätte sie ihre Stimme nicht senken müssen. Peterchen, zusammen mit zahlreichen anderen Zoobesuchern, die sich um das Gehege scharten, hatte sowieso nur Augen für die Pinguine.

»Bleib du hier«, sagte Julius. »Ich werde ihn in Empfang nehmen. Der große Blonde? Mann, er und Peterchen sehen sich wirklich ähnlich.«

Festen Schrittes marschierte er auf Rikard van Leeuwen zu, der Christel bereits erspäht hatte und verwundert innehielt, als Julius ihm forsch den Weg versperrte.

»Guten Tag. Ich bin Julius Bronnen«, stellte er sich vor. »Ich glaube, wir haben einander auf dem Internat nicht mehr kennengelernt. Ich bin Christels älterer Bruder.« Tatsächlich war er damals bereits in Berlin gewesen, als das Unglück seinen Lauf genommen hatte. Allerdings machte sich Julius keinerlei Illusionen darüber, dass er irgendetwas hätte verhindern können. Seine Schwester hatte schon immer ihren eigenen Kopf, den sie durchsetzte, egal, was er dazu sagte.

Die Herbstsonne schien milde auf Rikards Gesicht. Obwohl die Hutkrempe einen Schatten auf seine Augen warf, fiel Julius ihr intensives Blau auf.

»Ach ja, der Bruder, von dem sie immer geredet hat, als wäre er ein Überflieger. Ich hatte Sie mir eigentlich größer vorgestellt.« Abschätziges Mustern folgte dieser Feststellung.

»Wie amüsant. Wir können uns gern einen verbalen Schlagabtausch liefern, falls Sie auf so was stehen. Dann würde ich als Nächstes anführen, dass man auch als großgewachsener Blondschopf eine herbe Enttäuschung für die Familie darstellen kann. Wie frustriert muss Ihr Herr Papa sein, wenn er sich einen Fünfjährigen unter den Nagel reißen will, weil der eigene Sohn rein gar nichts zuwege bringt. Das sagt einiges aus.«

Eine feine Röte breitete sich über Rikards hübsche Züge aus. Er versuchte sein Gegenüber beiseitezuschieben, um zu Christel hinüberzugehen, die die Szene unbewegt beobachtete. Aber Julius wich nicht aus.

»Lassen Sie mich Ihnen eines ehrlich sagen, Herr van Leeuwen. Wenn Sie Ihren Sohn gleich treffen, ist es völlig unwichtig, was Sie für Probleme haben. Weil es nämlich nicht um Sie geht, sondern um Peter. Christel ist eine fantastische Mutter. Sie erzieht ihn voller Hingabe und hat auf vieles verzichtet, um für ihn da zu sein. Wie soll er Sie nach diesem Tag heute in Erinnerung behalten? Als den großen, fremden Mann, der ihn eingeschüchtert hat und der patzig zu seiner Mutter war? Oder als jemanden, an den er gerne denkt und den er vielleicht sogar wiedersehen möchte?«

»Was erlauben Sie sich eigentlich? Ich werde das Kind mit zu meinem Vater nehmen …«

»Ausgeschlossen«, fuhr Julius ihm über den Mund. »Eher würde ich mich mit Ihnen bis aufs Blut prügeln, gleich hier und jetzt, als Ihnen meinen Neffen zu überlassen. Und glauben Sie mir, im Raufen habe ich Übung. Außerdem – Sie wollen doch eigentlich überhaupt nicht, dass Ihr Vater ihn unter seine Fittiche nimmt, wenn Sie ehrlich sind. Habe ich recht?«

Schlagartig verschwand die Röte von Rikards Wangen, und seine Augen weiteten sich. »Wie? Woher?«

Julius sah aus dem Augenwinkel, wie Christel nervös an ihrem Daumennagel kaute. Sicher fragte sie sich, was er so lange mit Rikard redete.

»Ich habe über Sie nachgedacht«, sagte er. »Auch ich habe eine gewisse Ahnung davon, wie es sich anfühlt, im Schatten eines Übervaters zu stehen. Selbst wenn meiner ein sehr liebevoller war. Aber wir sind jung, Herr van Leeuwen. Sie und ich, wir haben unser Leben noch vor uns. Und wir sollten den Anspruch erheben, es so zu gestalten, wie wir wollen. Wir und niemand anders.«

»Ich verstehe nicht …«

Julius wies auf Christel und Peterchen. »Das hier ist Ihre Chance. Eine kleine, gewiss. Aber die einzige, die Sie jemals bekommen werden. Sie müssen sich jetzt und hier entscheiden, ob Sie einen Platz im Herzen Ihres Kindes haben möchten.«

Hinter den kühlen blauen Augen arbeitete es. Ein Muskel an Rikards markantem Kinn zuckte. Schließlich nickte er, ohne den Blick von Christel und Peter zu wenden. »Also schön.«

Endlich trat Julius beiseite und erlaubte es dem jungen Mann, auf seine Schwester zuzugehen. Als er sie erreicht hatte, streckte er ihr förmlich die Hand hin.

»Guten Tag, Christel.«

Sie zögerte überrascht, ergriff dann aber die dargebotene Hand und schüttelte sie.

»Hallo, Rikard.«

Ihre Stimme klang fest, der Blick war sicher, und Julius hätte innerlich jubilieren mögen. Keine Spur mehr von dem schüchternen Mädchen. Das hier war nicht nur eine selbstbewusste Frau, sondern eine Mutter, die ihr Kind in Gefahr sah, eine Löwenmutter. Und mit denen war bekanntlich nicht zu spaßen.

Hastig zog Rikard den Hut von seinem Kopf. »Du siehst gut aus.«

Schweigen war die Antwort auf diese Feststellung. Peter hatte den Neuankömmling noch nicht einmal bemerkt, so fasziniert war er von der Pinguinfütterung. Sanft legte Christel ihrem Sohn die Hände auf die Schultern und flüsterte von hinten etwas in sein Ohr. Peter drehte sich um und sah Rikard an.

»Wir haben doch daheim darüber gesprochen, dass dein Papa dich gern kennenlernen würde«, sagte Christel. »Du weißt ja, dass er weit weg wohnt und dich deshalb nicht oft sehen kann, aber dass er jeden Abend vor dem Einschlafen an dich denkt, genauso wie du an ihn.«

Julius, der herangetreten war, konnte sehen, wie Rikard schluckte.

Peterchen musterte ihn eingehend von oben bis unten. »Ich habe dich beim Peter-und-der-Wolf-Konzert gesehen«, sagte er schließlich. »Dann bist du also mein Papa?«

Gesa und Christel hatten Julius natürlich vom unverschämten Auftreten der van Leeuwens im Frankfurter Hof erzählt. Auch von Rikards unanständiger Provokation in Bezug auf seine Affäre mit Christel. Im Moment schien er wenig tonangebend, dafür reichlich verwirrt. Besonders als Peterchen unvermittelt vortrat, seine Arme um ihn legte und sich an ihn schmiegte. Er stand kurz davor, komplett die Fassung zu verlieren, so viel war klar. Einen Moment lang rang er mit sich, dann erwiderte er die Umarmung, strich sogar zart über das blonde Haar des Kindes. Christel hatte die Hände so fest vor sich verschränkt, dass sich das graue Leder der Handschuhe spannte.

Die Szene kam Julius vor wie in der Zeit erstarrt. Keiner von ihnen bewegte sich, Rikard schien sogar nicht einmal mehr zu atmen. Bis Peterchen ihn wieder losließ.

»Schaust du jetzt mit mir zusammen die Pinguine an?«, fragte er, nahm auch gleich Rikards Hand und zog ihn die zwei Schritte weiter zur Absperrung des Geheges.

»Gerne. Von allen Zootieren mag ich Pinguine am liebsten. Immer schon.«

»Ich auch! Und dann die Seelöwen. Aber die stinken.«

So einfach ging das? Was hatte Julius erwartet? Dass ein Fünfjähriger seinen Vater beim ersten Aufeinandertreffen in ein tiefenpsychologisches Gespräch verwickeln würde? Für den kleinen Peter war die Sache mit einer Umarmung abgehandelt. Damit zeigte er seine Zuneigung. Sie war erwidert worden. Also passte es für ihn erst einmal. Und Rikard stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Vermutlich hatte er ebenfalls nicht mit Peterchens offener Herzenswärme gerechnet. Christel stellte sich auf die andere Seite ihres Kindes, kerzengerade, die Augen auf die Pinguine gerichtet. Zuerst sah ihr Sohn lächelnd zwischen seinen Eltern hin und her, dann warf Rikard ihr einen seltsamen Blick zu. Christel blickte starr geradeaus. Julius wusste, seine Schwester brauchte noch einen Moment, um sich in dieser neuen Situation zurechtzufinden.

Während Peter und Rikard miteinander plauschten, ließ er das Grüppchen nicht aus den Augen.

Und langsam, ganz langsam, dämmerte es Julius. »Dein Vater hat keine Ahnung von diesem Treffen, stimmt’s?«, raunte er Rikard zu und ließ das förmliche Sie gleich mal weg.

»Natürlich nicht. Aber ich musste meinen Sohn einfach kennenlernen. Und zwar ohne ihn. Er hätte alles ruiniert.«

Endlich löste sich Christel aus ihrer Starre.

»Peterchen, warum gehst du nicht mit Onkel Julius und holst dir ein Eis dort drüben? Ich möchte kurz mit deinem Papa reden.«

Das musste sie dem Kind nicht zweimal sagen. Es ließ Rikards Hand los, griff stattdessen nach der von Julius und zog ihn mit sich. »Ich nehm Schokolade und Vanille!«

Gerne hätte Julius gehört, was Christel und Rikard sprachen, aber er musste sich gedulden, bis sie wieder daheim waren.

Erst als sie sicher sein konnten, dass der kleine Peter in seinem Zimmer spielte und nicht mithörte, atmete Christel tief durch.

»Ich brauche jetzt einen Cognac. Du auch?« Sie griff nach zwei bauchigen Schwenkern vom Barwagen im Wohnzimmer und goss ein, ohne auf seine Antwort zu warten. Er nahm ihr sein Glas aus der Hand, und sie prosteten einander zu.

»Nun erzähl schon«, forderte er, sobald sie getrunken hatten.

»Da gibt es nicht viel zu sagen.« Sie streifte ihre Schuhe ab und ließ sich auf einem Sessel nieder. »Ich musste Rikard nur eines ganz deutlich klarmachen. Nämlich, dass es das naive Mädchen von damals nicht mehr gibt. Weil Peterchen das Wichtigste in meinem Leben ist und ich bis zum letzten Blutstropfen dafür kämpfen werde, dass es ihm immer gut geht. Und dass sowohl Rikard als auch sein polternder Vater mir keinerlei Angst machen.«

»So was Ähnliches habe ich ihm auch verdeutlicht.« Ehe er ebenfalls Platz nahm, goss Julius ihnen beiden nach. »Gut gemacht, Schwesterchen.«

»Wenn es darauf ankommt, halten wir zusammen, nicht wahr?«

»Wir halten immer zusammen, Christel.«

Sie strich sich eine Strähne ihres dunklen Haars hinters Ohr. Es war kinnlang geschnitten und in Wellen gelegt und erinnerte Julius an die Frisur von Gina Lollobrigida.

»Ich traue Rikard nicht«, verkündete sie dumpf. »Er hat zwar anders reagiert, als ich erwartet hatte, aber ob er tatsächlich so bewegt war, wie es den Anschein hatte …« Sie seufzte. »Ich weiß es nicht.«

»Wie ich ihn einschätze, hat er zwei Gesichter. Sein eigenes, das er heute gezeigt hat. Und dasjenige, das er vor seinem Vater zur Schau trägt, wenn er den präpotenten, arroganten Herrn gibt.«

»Ach, hast du ihn etwa psychologisch analysiert? Dann lass dir eines gesagt sein. Ich habe auch einmal gedacht, hinter Rikards hübscher Fassade würde ein Mensch mit Herz stecken. Das war mein größter Fehler.«

»War es nicht. Immerhin haben wir das Peterchen.«

Sie leerte ihr Glas in einem langen Zug. »Stimmt. Und so wird es auch bleiben.«

Margot

Radionachrichten 1955:

»Anita von Karajan begleitet ihren Mann nach New York, wo der berühmte Dirigent zum ersten Mal in seiner Karriere in Übersee am Pult stehen wird. Hatte Frau von Karajan zuvor bereits die Wogen für ihren Gatten und seine Berliner Philharmoniker in Amerika geglättet, kam es dennoch zu Demonstrationen gegen Deutschland und Herbert von Karajan.«

Anita von Karajan war eine geborene Gütermann aus der Nähseiden-Dynastie. Der unter den Nazis beliebte Dirigent heiratete die als »Vierteljüdin« eingestufte charismatische junge Frau 1942. Nach dem Krieg wurde Karajan mit einem Berufsverbot belegt, und es bedurfte der Fürsprache der Gütermanns, damit er seinen Beruf zwei Jahre später wieder ausüben durfte. Anita unterstützte ihren Mann, wo sie nur konnte, und brachte seine Nachkriegskarriere maßgeblich mit auf den Weg.

Als der alternde Karajan das achtzehnjährige Model Eliette kennenlernte, ließ er sich 1958 von seiner Frau scheiden.

»Was hat ihm denn an diesem herrlichen Tag die Laune vermiest?« Margot Milanski nickte unauffällig nach vorne in Richtung Dirigentenpult, wo Thomas van Leeuwen in der Partitur blätterte und verärgert vor sich hin grummelte.

Bodo Herzberg, der Cellist neben Margot, kratzte sein schütteres Haupthaar. »Es wird gemunkelt, dass ein sehr bekannter Gastdirigent für anstehende Uraufführungen engagiert werden soll und man kurz vor einem Vertragsabschluss steht. Das behagt ihm wohl nicht.«

»Kann ich mir vorstellen. Das bedeutet dann wohl, seine Zeit hier neigt sich dem Ende zu.«

»Ehrlich gesagt, hoffe ich das sehr. Aber – entweder das, oder sie heben ihn auf den Chefdirigentenposten. Das wäre meiner Meinung nach das Allerschlimmste.«

So ging es nicht nur Bodo Herzberg. Schon allein für Gesa und Christel wünschte sich Margot nichts mehr, als dass van Leeuwen Frankfurt endlich verließ. Aber auch für das Orchester wäre es ein Segen. Man harmonierte einfach nicht. In der Vergangenheit hatte es immer mal wieder schwierige Dirigenten gegeben, doch van Leeuwen war absolut grässlich. Er behandelte die Musiker wie eine Provinzkapelle, die seiner nicht würdig war.

»Frau Milanski, wenn Sie schwätzen wollen, warten Sie gefälligst bis zur Pause. Ich denke, ich habe wohl auch Ihre Aufmerksamkeit verdient«, schnappte der Dirigent prompt in Margots Richtung.

»Oje«, raunte Bodo Herzberg und schob seine Brille höher auf die Nase. »Auf dich hat er es aber echt besonders abgesehen.« Natürlich, immerhin wusste er, dass sie Gesas Freundin war.

»Glaub mir, da habe ich schon Schlimmeres erlebt.« Mit einem strahlenden Lächeln nach vorne hob Margot ihren Bogen an und wartete auf den Einsatz. Aber nicht einmal mit ihrem Spiel konnte sie es dem Dirigenten recht machen. Er kritisierte zuerst ihre Bogenführung, und anschließend die der gesamten Cellisten im Orchester.

Als Margot nach der Probe mit ein paar Kollegen beieinanderstand, während andere noch ihre Instrumente einpackten, nahm Herta Schlosser, die Bratsche spielte, sie beiseite.

»Hör mal, stimmt es wirklich, dass Gesas Beliebtheitswerte bei den Hörern so stark gesunken sind, dass sie keine Hauptrollen mehr sprechen soll? Das erscheint mir doch reichlich abstrus.« Herta war eine der ersten Frauen gewesen, die nach Margot ins Orchester aufgenommen worden waren. Sie kannte nicht nur Gesa, sondern auch Inge gut und war im Lauf der Jahre von einer reinen Kollegin zu einer lieben Bekannten geworden. Das lag zum Teil auch daran, dass die Sechzigjährige mit ihrer ruhigen, besonnenen Art weder etwas auf Klatsch noch auf Ellenbogeneinsatz gab. Wenn sie Margot bezüglich eines Gerüchts ansprach, beunruhigte sie das wirklich.

»Wer erzählt denn so was?«

Thomas van Leeuwen verließ den Probenraum und marschierte grußlos an ihnen vorbei den Flur hinunter.

»Na, er. Ich habe zufällig mit angehört, wie er es zum Konzertmeister gesagt hat.«

Verärgert runzelte Margot die Stirn. Der Konzertmeister war ein arges Tratschmaul. Sobald er etwas wusste, machte es zwangsläufig die Runde.

»Ich kann dir versichern, Gesa steht hoch oben in der Gunst der Hörer, wie eh und je. Gerade die Celias-Abenteuer-Reihe kommt irrsinnig gut an. Sie wurde kürzlich erst verlängert.«

»Da bin ich erleichtert. Aber es ist nicht in Ordnung, wenn dieser van Leeuwen so was in die Welt setzt.«

Margot gab der Kollegin recht. Es war sogar extrem unfair. Zwar hatte er Gesa angedroht, ihr beruflich schaden zu wollen, aber eine Schmutzkampagne gegen sie zu starten, war tief, sehr tief unter der Gürtellinie.

»Ach, weißt du, ich habe nichts anderes von van Leeuwen erwartet. Im Gegenteil, ein würdevoller Rückzug seinerseits würde mich mehr schockieren«, konstatierte Inge Conrad, als Margot ihr von dem Gespräch erzählte. »Er ist der Typ Mann, der seinen Willen auf Biegen und Brechen durchsetzen will und vor nichts zurückschreckt.«

Die beiden warteten in einem Probenraum des weitläufigen neuen Funkhauses am Dornbusch auf den Kinderchor. Nach und nach trudelten die jungen Sänger ein. Inge, als Leiterin des Kinderfunks, hatte einen Benefizauftritt für ihren Chor organisiert, bei dem für ein Waisenhaus gesammelt wurde. Seit einiger Zeit arbeitete Margot als erfahrene Musikerin mit den jungen Sängern und Sängerinnen – auf ausdrücklichen Wunsch von Inge. Mittlerweile hatte der Kinderchor des Hessischen Rundfunks einen ordentlichen Bekanntheitsgrad im Sendegebiet erreicht und trat nicht nur im Radio auf, sondern auch bei Veranstaltungen und für wohltätige Zwecke.

»Meinst du, wir müssen es ihr sagen?«, fragte Margot.

»Was sollte das bringen? Außer dass Gesa sich noch mehr über den alten Zausel ärgert. Nein, wir ignorieren diesen Schmutz.«

Nachdenklich verteilte Margot Notenblätter an die Kinder, die sich in ihren jeweiligen Stimmen aufstellten. Sobald alle da waren, begannen sie mit dem ersten Lied, und Margots Aufmerksamkeit gehörte voll und ganz den kleinen Sängern.

Nach der Probe, als sie das Funkhaus gerade verlassen wollte, hörte sie hinter sich jemanden heranlaufen, dessen Schritte auf dem Steinboden der Goldhalle laut klapperten.

»Margot! Warte bitte!« Ein wenig atemlos holte Nora Holden sie ein, Margots künftige Schwiegertochter. »Gehst du nach Hause?«

»Hatte ich eigentlich vor, ja. Warum? Du siehst beunruhigt aus, ist alles in Ordnung?«

Die hübsche Nora machte eine beschwichtigende Geste. »Ach, nichts, eigentlich. Es sind mal wieder meine Nerven.«

Nora war eine erfolgreiche Schlagersängerin, auf dem besten Weg dazu, auch noch Filmstar zu werden, und sie hatte sich ihre Karriere mit Fleiß, Talent und Disziplin erarbeitet. Nach anfänglichen Bedenken – immerhin, welche Mutter würde die künftige Gattin des einzigen Sohnes nicht kritisch beäugen? – hatte Marianne die junge Frau mittlerweile fest ins Herz geschlossen. Sie freute sich darüber, dass sie bald offiziell Teil der Familie werden würde. Wobei das Wort »bald« sehr relativ war, denn Egon und Nora hatten sich bisher nicht auf einen konkreten Termin für die Hochzeit einigen können. Das lag maßgeblich an Noras beruflichen Verpflichtungen.

Beruhigend streichelte ihr Margot über den Arm. »Erzähl. Ich habe Zeit, und wenn ich dir bei irgendwas helfen kann …«

»Oh, vielen Dank, du bist die Beste! Es geht um meinen neuen Schlager, den soll ich gleich beim Wunschkonzert live in der Sendung singen.«

Margot wunderte sich, dass Nora deswegen nervös war. Normalerweise liebte sie Radioauftritte.

»Es ist ein Bossa nova, ziemlich flott und rauf und runter in der Tonleiter. Und ich war erst kürzlich stark erkältet.«

»Und nun bist du unsicher?«

Nora nickte und blickte ihre künftige Schwiegermutter bittend an. »Du hast ein so gutes Gehör. Wenn ich dir den Song nur einmal vorsingen dürfte, würde ich mich sicherer fühlen. Ich kann einfach nicht einschätzen, wie meine Stimme derzeit klingt.«

»Klar, das mache ich gerne, komm.« Margot hakte sich bei Nora unter, und gemeinsam steuerten sie ein freies Aufnahmestudio an, in dem gerade ein Tontechniker seine Pause verbrachte.

Ertappt fuhr er herum, als die beiden Frauen eintraten.

»Ich weiß, ich weiß, Stulle essen am Mischpult ist verboten«, gab er sofort zu.

»Wir sagen es niemandem, Dietmar.« Margot lächelte ihn verschwörerisch an. »Aber du könntest uns einen großen Gefallen tun.«

Der Techniker sah auf die Uhr. »Ich habe noch fünfzehn Minuten.«

»Das reicht locker. Wärst du wohl so lieb und legst uns Noras neue Platte auf. Diesen Bossa nova …« Sie blickte fragend zur Sängerin.

»Italienische Baci d’Amore«, antwortete sie und sah dabei nicht besonders glücklich aus.

»Ah, die Liebesküsse. Toller Schlager, das wird sicher ein Riesenhit«, meinte Dietmar. »Den hab ich zufälligerweise hier und muss ihn nicht mal aus dem Archiv holen.« Er kramte in einem Plattenstapel und zog eine Hülle hervor, auf der Noras Gesicht prangte, neben einer Flasche Chianti und einer Palme, alles mit lockerer Hand ganz modern reduziert auf roten Grund gezeichnet.

»Wunderbar! Kannst du die bitte für Nora auf den Kopfhörer legen und sie singt dazu?«

»Aber gern. Ein Privatkonzert mit unserem Schlagerstar. So ne tolle Pause hatte ich noch nie.«

Nachdem er die Schallplatte angespielt und die Regler so eingestellt hatte, dass alles passte, rollte er mit seinem Stuhl vom Mischpult weg und griff erneut nach seinem Wurstbrot. Nora sang, Dietmar aß, und Margot lauschte ganz genau.

Wer Nora so gut kannte wie sie, der konnte möglicherweise erahnen, dass heute stimmlich nicht ihr bester Tag war. Aber das sagte sie der Sängerin natürlich nicht. Vermutlich würde sie kein zweistündiges Konzert durchstehen, aber für ein einziges Lied reichte es allemal. Nora traf die Töne exakt, legte auch den nötigen Schmelz in den Song, und Margot lobte sie.

»Du kannst unbesorgt sein, weil du es locker hinkriegen wirst.«

Erleichtert bedankte sich Nora beim Tontechniker, und die beiden Frauen verließen das Studio.

»Jetzt bin ich aber froh, Margot. Dein musikalisches Urteil bedeutet mir viel. Vergangene Woche hatte es mich ja arg erwischt. Ich bin drei Tage gelegen, einen davon war meine Stimme komplett weg. Mein Manager besteht darauf, dass ich den Auftritt heute absolviere, und dank dir freue ich mich nun sogar darauf.« Nora umarmte ihre Schwiegermutter in spe.

»Hörst du dir Egon später im Radio an?«

»Natürlich. Sobald das Wunschkonzert vorbei ist, fahre ich nach Hause, koche mir einen Tee und schalte mein Gerät ein. Ich bin immer so stolz, wenn ich ihn höre.«

»Da geht es ihm mit dir nicht anders, Nora.«

»Meinst du?«

Margot wusste, worauf Nora anspielte. »Er hat natürlich an den unverschämten Vertragsbedingungen zu knabbern, die du unterschrieben hast. Aber ihr beide werdet einen Weg zusammen finden, weil ihr euch liebt.«

Margot fuhr mit der Straßenbahn zur Zeil. In einem nagelneuen Tramwagen, auf dem in großen Lettern Reklame prangte: Kinderwagen nur von Thöt. Vor einem Jahr war das alteingesessene Unternehmen von der Hasengasse in die Kleinmarkthalle umgezogen. Margot erinnerte sich noch, wie sie zusammen mit Christel und Gesa in den alten Geschäftsräumen Kindersachen für Peterchen ausgesucht hatte. Insgeheim fragte sie sich, ob sie wohl in naher Zukunft auch für eventuelle eigene Enkel würde einkaufen dürfen. Mit Anfang fünfzig und zwei erwachsenen Kindern würde sie sich über Familienzuwachs freuen. Aber Tochter Marianne stand dafür noch nicht zur Verfügung. Sie genoss ihre ersten Berufsjahre als Bühnenbildnerin beim Hessischen Rundfunk und war nebenher künstlerisch tätig. Und Sohn Egon war zwar mit Nora verlobt, aber derzeit hing der Haussegen ein wenig schief, sodass ebenfalls nicht zeitnah mit Enkelkindern zu rechnen sein dürfte. Es eilte ja auch nicht.

Der Straßenbahnwagen war dicht besetzt, an der Haltestelle kamen noch mehr Leute dazu. Überhaupt hatte Margot den Eindruck, Frankfurt war voller denn je. Wo vor dem Krieg die verwinkelten Gässchen der Altstadt gewesen waren, führten nun breite, dicht befahrene Straßen um Plätze herum, und überfüllte Bürgersteige leiteten die Konsumwilligen von einem Kaufhaus ins nächste. Hingetupft im eilig hochgezogenen modernen Stadtbild behaupteten sich vereinzelte Überbleibsel von früher, eine Kirche, ein Brunnen, ein stehengebliebenes Haus.

Margot stieg an der Alten Hauptwache aus und überquerte die Straße in Richtung Kaufhof. Sie trug einen wadenlangen Bleistiftrock, Pumps und einen braunen Mantel mit farblich passendem Hut. Nach Jahren der Entbehrungen war es angenehm, wieder überall Kleidung, Lebensmittel und Alltagsdinge zu bekommen. Der erschlagende Anblick des neu gebauten Kaufhauses traf Margot aber jedes Mal hart. Zu gut hatte sie noch die schönen alten Gebäude vor Augen, die früher an ebendieser Stelle gestanden hatten. Das Fratzeneck mit seinen grotesken Köpfen am Gesims im zweiten Stock, die Buchhandlung Auffahrt und das Warenhaus Tietz. Die Nazis hatten der jüdischen Familie Tietz all ihre Kaufhäuser weggenommen und daraus die Westdeutsche Kaufhof AG gemacht. Und nun war der riesige, nagelneue Kaufhof das Sahnestück auf der Zeil am Eingang zur Großen Eschenheimer Straße. Hässlich und wuchtig beanspruchte er den einstigen Platz historischer Gebäude, lockte mit Sonderangeboten und Schlussverkäufen, und die Kunden gaben sich buchstäblich die Klinke in die Hand.

Margot seufzte. Auch sie betrat den Einkaufstempel, gab es doch hier alles, was sie brauchte, unter einem Dach. Bepackt mit zwei prall gefüllten Taschen fuhr sie dann nach Hause, vorbei am Eschenheimer Turm, einer uralten Konstante im Stadtbild, mittlerweile umzingelt von Hochhäusern und unschönen Straßenlampen, die aussahen wie fliegende Untertassen. Dass ihr diese Mischung aus alt und neu eines Tages nicht mehr unnatürlich vorkommen würde, bezweifelte Margot. Nicht nur als Musikerin hatte sie es lieber harmonisch, auch ihr Auge sehnte sich nach ansprechender Ästhetik, etwas, das Frankfurt wegen der verheerenden Kriegszerstörungen wohl für immer verloren hatte.

Daheim im Garten ihres Reihenhauses stand ein Nussbaum, der seine Blätter abwarf. Margots Mann Fritz, ehemals Sportreporter bei Radio Frankfurt, mittlerweile Buchautor und Vortragsreisender, fegte sie mit einem Laubrechen zu einem ordentlichen Haufen. Sie gesellte sich zu ihm. Das Geräusch der fächerartigen Metallzinken auf dem Gras und der Duft des Herbstlaubs ließen Margot wohlig lächeln.

Als Fritz seine Frau bemerkte, hielt er inne und breitete die Arme aus. Glücklich kuschelte sie sich an ihn. Der raue Tweedstoff seiner Jacke roch nach frischer Luft.

»Na? Wie war es im Sender?«, fragte er, neigte den Kopf und küsste sie.

»Anstrengend.« Sie lehnte sich gegen ihn. Auch nach vielen gemeinsamen Jahren, Höhen und Tiefen und einem kompletten kriegsbedingten Neuanfang war ihr Lieblingsplatz hier, in seinen Armen. »Van Leeuwen ist ein Ekel. Und er scheint eine Schmutzkampagne gegen Gesa vom Zaun gebrochen zu haben.«

Fritz schob Margot auf Armeslänge von sich, verdrehte die Augen und zog sie wieder an sich. »Wie kindisch. Um die große Gesa Bronnen – ach nein, die heißt ja mittlerweile Kellermann, daran gewöhne ich mich nie … Also, um die große Gesa Kellermann beim Hessischen Rundfunk aus dem Sattel zu stoßen, bräuchte es schon mehr als die kleingeistigen Intrigen eines selbstverliebten Gastdirigenten. Da muss sie sich keine Sorgen machen.«

»Hinterhältig ist das trotzdem.«

»Ach Margot, jetzt bist du schon so lange im Geschäft. So was dürfte dich eigentlich nicht mehr schockieren.«

»Ich stelle es mir schwierig vor für Gesa und Christel, solange die van Leeuwens in der Stadt sind.«

Fritz lehnte den Rechen gegen den Baumstamm und ging mit Margot ins Haus. Ehe er über die Schwelle der Terrassentür trat, schlüpfte er aus den schmutzigen Gartenschuhen.

Gleich begann die Übertragung des Fußballspiels. Die Eintracht spielte in London, und Egon war der Radioreporter vor Ort. Während Margot in der Küche noch schnell einen Kaffee kochte und den Kuchen, den sie gekauft hatte, auf zwei Tellern anrichtete, schaltete Fritz das Gerät ein. Es dauerte ja immer eine kleine Weile, bis es sich »aufwärmte« und der Ton startete.

Margot hatte ein schlechtes Gewissen, da sie ihrem Mann schon wieder gekauften, statt selbst gebackenen Kuchen auftischte, aber mit den vielen Proben momentan kam sie nicht zu hausfraulichen Tätigkeiten. Es schien ihn nicht zu stören. Schon ehe das Spiel angepfiffen wurde, hatte er seine Buttercremetorte aufgegessen und lehnte sich zufrieden im Sessel zurück.

»Herzlich willkommen aus dem Empire Stadium in Wembley, verehrte Hörer, wo unsere Eintracht heute in der Gruppe D gegen die Mannschaft aus London antritt. Es ist die erste Runde im Europäischen Messepokal, und es geht um viel für die Spieler von Trainer Windmann«, tönte Egons begeisterte Stimme aus dem Radio. In Margot regte sich mütterlicher Stolz, wie immer, wenn sie ihren Sohn hörte.

»Schiedsrichter Buchmüller aus der Schweiz pfeift an, und sofort versuchen unsere Jungs, Druck gegen die Engländer zu machen. Es fällt der erste Torschuss, eine Bombe …«

Aufregend war das. Sowohl Fritz wie auch Margot fieberten mit. Am Ende verlor die Frankfurter Stadtmannschaft mit zwei zu drei, aber es gab ja noch das Rückspiel, tröstete Egon die Zuhörer, das würde man bestimmt gewinnen.

»Na, mal sehen«, brummte Fritz. »Die Saison läuft bisher eher mittelmäßig für uns, trotz der vier Neuzugänge, von denen man sich viel versprochen hat.«

Margot schmunzelte. »Dieser tiefere Einblick fehlt mir. Ich höre nur wegen Egon zu.«

Seltsam, dass ihr Sohn so nah klang und doch aus einem anderen Land zu ihnen sprach. Erst am übernächsten Tag würde er wieder heimkommen.

Durch die offene Wohnzimmertür hörte Margot, wie die Haustür aufgeschlossen wurde, und gleich darauf steckte Marianne den Kopf zur Tür herein.

»Das neue Bühnenbild für die Aufzeichnung der Hesselbachs ist besser gelungen als alle anderen vorher«, verkündete sie stolz.

»Erst mal guten Tag, meine Liebe«, sagte Fritz spitz.

»Hallo, Papa.«

»Marianne, wie siehst du nur wieder aus? Warst du so im Sender?« Er schüttelte tadelnd den Kopf, als stünde ein kleines Mädchen vor ihm und keine erwachsene junge Frau. »Kannst du dich nicht ein wenig«, er suchte nach dem passenden Wort, »gefälliger kleiden?«

Ratlos sah die Zweiundzwanzigjährige an sich hinunter. Auf ihrer Latzhose prangten bunte Farbkleckse, ebenso wie auf der Schiebermütze, die auf ihren modisch kurz geschnittenen braunen Locken saß. »Gefälliger? Ich male Kulissen, das ist meine Arbeitskleidung. Wenn du Wert darauf legst, ziehe ich mir gleich ein hübsches Kleidchen an, Papa.«

»Kein Grund, schnippisch zu werden!«

Marianne wollte etwas erwidern, sah dann aber das dezente Kopfschütteln ihrer Mutter und verließ mit einem unverständlichen Murmeln den Raum.

»Musste das sein?«, sagte Margot zu Fritz und folgte ihrer Tochter hinauf in ihr Zimmer.

Von Anfang an hatte Fritz etwas dagegen gehabt, dass Marianne ihre künstlerische Begabung zum Beruf machte. Dabei war die Entscheidung, eine feste Anstellung als Bühnenbildnerin beim Hessischen Rundfunk einzugehen, eine sehr vernünftige, fand Margot. Marianne hätte auch darauf bestehen können, freischaffend tätig zu sein. Sicher wäre es ihr lieber, sich in ein Atelier zurückzuziehen und an Skulpturen und Gemälden zu arbeiten – nur leider recht brotlos. Margot war stolz auf das herausragende Talent ihrer Tochter und auf ihren Wunsch nach finanzieller Unabhängigkeit. Allein Fritz stellte sich Ehemann, Kinder und ein Hausfrauendasein wesentlich erstrebenswerter für sie vor. Nur so waren die Milanski-Frauen eben nicht gestrickt. Margot hatte Marianne vorgemacht, dass man seine Leidenschaften leben durfte, und die trat diesbezüglich in Mutters Fußstapfen.

»Er hat antiquierte Ansichten wie ein Neandertaler!«, schimpfte Marianne, schlüpfte aus ihrer Latzhose und in einen Rock. Das Oberteil mit den kurzen Puffärmeln behielt sie an, legte aber eine Perlenkette um den Rundhalsausschnitt.

»Sagen wir, er ist ein wenig konservativ.«

Marianne stieß die Luft hörbar aus. »Und du bist wie immer harmoniesüchtig. Bei dir hatte er auch nie was dagegen, dass du arbeitest. Warum benimmt er sich mir gegenüber, als würde ich Schreckliches tun?«

Sofort kamen Margot Szenen in den Sinn aus der Zeit, als sie und Fritz sich heftig gestritten hatten, weil er – im Gegensatz zu ihr – nach dem Krieg nicht in seinen alten Beruf beim Radio hatte zurückkehren dürfen. Margot hatte unter den Amerikanern sogar umgehend eine Stelle im neuen Rundfunkorchester erhalten, während Fritz mit einem zweijährigen Arbeitsverbot belegt worden war.

»Dein Vater und ich haben uns bei der Arbeit kennengelernt«, erklärte sie sanft. »Er musste sich von Anfang an damit abfinden, dass ich keine reine Hausfrau bin und das auch nie sein werde. Was dich betrifft, du bist sein Augenstern. Er will dich versorgt wissen und meint eben, ein konventionelleres Leben wäre besser für dich.«

Marianne drehte sich vor dem Spiegel und verzog das Gesicht. »Sehe ich gefällig genug aus?«

»Auf jeden Fall. Ach, du, übrigens …«

Der misstrauische Blick ihrer Tochter verriet Margot, dass sie herumdruckste. Ärgerlich. Eigentlich hatte sie gänzlich beiläufig erwähnen wollen, dass Fritz jemanden eingeladen hatte, aber nun war Marianne alarmiert.

»Was?«

»Herr Ballhaus kommt zum Abendessen. Du bist doch hier, oder?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht bin ich auch verabredet.«

»Untersteh dich!«

Marianne runzelte die Stirn. »Wieso? Wer ist denn dieser Herr Ballhaus?«

»Papa hat ihn bei einem seiner Vorträge kennengelernt. Er ist wohl ein großer Fußballfan und liest zudem alles, was Papa schreibt. Scheint so, als hätten die beiden sich angefreundet.« Margot bückte sich nach der Latzhose auf dem Boden, hob sie auf und legte sie sich über den Arm. »Ich stecke die mal eben in die Waschmaschine.«

»Moment, Mama.« Marianne stemmte die Hände in die Hüften. »Warum muss ich dabei sein, wenn sich die Gespräche nur um Sport drehen werden? Du weißt, dass mich das ebenso wenig interessiert wie Papa meine Skulpturen. Soll ich etwa wieder mal verkuppelt werden? Das könnt ihr ganz schnell vergessen. Alle beide. Nein, alle drei!«

Es war zwecklos, ihr etwas vorzumachen.

Margots Sauerbraten schmeckte Herrn Ballhaus vorzüglich, er ließ sich zweimal nachlegen. Er war ein ordentlich gekleideter Mann Ende zwanzig mit perfekten Manieren. Als Architekt arbeitete er für ein großes Büro in der Stadt und hatte bei all den Neubauten viel zu tun. Freundlich und interessiert unterhielt er sich mit dem Ehepaar Milanski. Ein wirklich netter Kerl. Margot mochte ihn auf Anhieb und fand seine Gesellschaft äußerst angenehm. Nur war sie dreiundfünfzig und nicht zweiundzwanzig, mit anderen Ansprüchen an Männer als ihre Tochter. Herr Ballhaus wäre der perfekte Versorger und würde einen guten Familienvater abgeben. Für Marianne eignete sich ihr ganz und gar unspektakulärer Gast hingegen leider überhaupt nicht, das musste Fritz sicher auch einsehen. Er würde sie innerhalb von fünf Minuten langweilen, weil er keinerlei Reibungsfläche bot. Fritz’ knallrotes Gesicht war ein deutliches Anzeichen dafür, wie sehr es ihn ärgerte, dass Marianne nicht zum Essen erschienen war. Nachdem er sie mehrfach gerufen hatte, war er hinauf in ihr Zimmer marschiert, nur um festzustellen, dass sie sich einfach verdrückt hatte. Nun ja, das hatte sie ja mehr oder weniger angekündigt. Wenn die Sache nicht so peinlich gewesen wäre, hätte Margot schmunzeln müssen.

Marianne

Radionachrichten 1955:

»Die Künstlerin Niki de Saint Phalle wird auf Mallorca Mutter eines Sohnes. Sie hat bereits eine gemeinsame Tochter mit ihrem Ehemann, dem Harvardabsolventen und angehenden Schriftsteller Harry Mathews.«

Niki, eigentlich Catherine Marie-Agnès Fal de Saint Phalle, geboren 1930 in Frankreich, lernte ebenfalls 1955 den Metallkünstler Jean Tinguely kennen, über den sie sagte: Er war die Person, die ich treffen musste. Für ihn trennte sie sich von ihrem Mann.

Erst drei Jahre zuvor hatte sie den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater in der Kindheit publik gemacht, den sie zeitlebens in ihren Werken zu verarbeiten versuchte.

Niki de Saint Phalle war Weltenbürgerin, Feministin und ist bekannt für ihre sogenannten Schießbilder und mehr noch für ihre Nanas. Diese bunten, voluminösen Frauenskulpturen wurden in den 1960er-Jahren zum Symbol selbstbewusster Weiblichkeit und Stärke. Die Künstlerin starb 2002 in Kalifornien.

In Carlo Bohländers Jazzkeller in der Kleinen Bockenheimer Straße 18a tropfte das Kondenswasser von den Wänden. Es war heiß und überfüllt. Der große Dizzy Gillespie trat auf, Inbegriff des Hipsters, König des Bebop, Meister der Trompete. Natürlich war der Laden brechend voll. Und für Marianne wäre es niemals infrage gekommen, den Abend daheim mit irgendeinem Langweiler zu verbringen, nur weil ihr Vater sie an den Mann bringen wollte, wortwörtlich. Schon gar nicht, wenn Dizzy in der Stadt war. Früher hatten Mariannes Mutter und ihre beiden Freundinnen Gesa und Inge den Jazzkeller regelmäßig besucht. Sie kannten Carlo Bohländer gut und waren gern gesehene Gäste. Seit ein paar Jahren kam auch Marianne immer öfter, und wenn sie es einrichten konnte, schloss sich Christel Bronnen an. So wie an diesem Abend.

Wahrscheinlich war es Margot gewesen, kurz nach dem Krieg im Gartenschuppen in Königstein, die den Funken in ihrer Tochter gezündet hatte. Dort hatte sie nämlich, heimlich und überraschenderweise, Jazz auf ihrem Cello gespielt, das sonst nur klassische Töne von sich gab. Als Zwölfjährige, schon damals stets zeichnend und malend, hatte Marianne der Mutter im Gartenhäuschen Gesellschaft geleistet. Sie hatten sogar beide laut beim Musizieren mitgesungen. Herrlich innige Momente waren das gewesen, die Erinnerung daran schenkte ihr noch immer ein warmes Gefühl. Sie liebte den Jazz. Und alles, was er verkörperte. Er war unangepasst, modern, veränderte sich ständig. Und jeder, der es draufhatte, durfte ihn spielen, egal ob alt, jung, schwarz oder weiß. Nur Frauen waren eindeutig in der Unterzahl, wie überall.

Christel saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Barhocker neben Marianne und wippte mit einem Fuß zur Musik. Der Stehtisch vor ihnen war wackelig, sodass ein Stapel Bierdeckel unter einem seiner Füße klemmte, damit er wenigstens einigermaßen stabil stand.

»Neue Schuhe?«, fragte Marianne.

»Nagelneu. Hätte ich besser erst einlaufen sollen. Aber ich wollte sie unbedingt heute tragen.«

Die hochhackigen Pumps mit den weißen Ripsschleifen vorne drauf waren extrem schick, doch Marianne würde es darin niemals einen ganzen Abend lang aushalten. Sie bevorzugte Ballerinas, die waren zwar nicht so elegant, dafür herrlich bequem.

Natürlich waren die beiden jungen Damen nicht alleine unterwegs. Mit am Tisch saßen zwei Studenten des Corps Austria, einer Frankfurter Studentenverbindung, die unter den Nationalsozialisten verboten gewesen war. Seit sechs Jahren gab es sie nun wieder, erst kürzlich hatte man ein herrschaftliches Corpshaus im Westend bezogen, eine alte Villa mit Stuckdecken und knarzendem Parkett. Christel hatte einen von ihnen, Herbert Arnhoff, als Couleurdame beim Tanz in den Gesellschaftsräumen der Verbindung kennengelernt. Er war groß und kräftig, mit dichtem dunklen Haar und einem lauten Lachen. Sein Freund Gerd Wahl sah mit spitzer Nase und schmalen Lippen aus wie Herberts genaues Gegenteil, was Marianne als Künstlerin spannend fand. Sie stellte sich vor, wie sie die beiden zeichnen würde. Im Profil, einander anblickend und ganz simpel mit einem weichen Kohlestift mit wenigen Strichen hinskizziert.

»Außerordentlich, dieser Gillespie, was?«, dröhnte Herbert über die Musik hinweg. »Er ist ja gerade mit seiner neuen Bigband auf Europatournee. Ich habe gehört, es hätte ihm bei seinem letzten Besuch in Frankfurt derart gut gefallen hier im Keller, dass er heute Abend sofort nach seinem offiziellen Konzert vorbeikommen musste.«

Mit prall aufgeblasenen Backen und dem für ihn typischen hochgebogenen Trompetentrichter stand Dizzy Gillespie auf der kleinen Bühne, kaum zu erkennen durch die dichten Rauchschwaden.

»Korrekterweise sollten die Wangen nicht derart überdehnt werden beim Spielen«, merkte Gerd an. »Das liegt daran, dass Dizzy sich das Trompetespielen selbst beigebracht und keine professionelle Ausbildung hat. Falsche Technik also.«

»Ach was«, sagte Marianne, die das nicht wirklich interessierte, weil sie einfach die Magie der Musik genoss. War doch egal, ob er seine Wangen aufblies wie ein Frosch. Es gab unzählige geschulte Trompeter, die technisch brillant waren und nicht einmal einen Hauch dessen rüberbrachten, was der Ausnahmetrompeter auszudrücken vermochte.

Tosender Applaus brandete auf, als Dizzy Gillespie sein Stück beendet hatte. Winkend stieg er von der Holzbühne unter dem Mauergewölbe und machte Platz für den nächsten. Im Jazzkeller war es üblich, dass die Musiker einfach vorbeischauten und mitspielten, wenn ihnen danach war. Alles ohne Gage, selbstredend. So ergaben sich oft fantastische Konstellationen und herrlich improvisierte Stücke, Marianne liebte das.

»Was denn?«, rief Gerd ungläubig aus. »Stellt er sich jetzt etwa hinter die Bar und schenkt aus? Da hole ich uns sofort Getränke! Komm mit, Herbert, das lassen wir uns nicht entgehen.«

Ohne die Damen zu fragen, was sie gerne hätten, drängten sich die beiden durch die Gäste, um bei Dizzy Gillespie persönlich zu bestellen.

Christel zwinkerte Marianne verschwörerisch zu. »Sollen wir ihnen sagen, dass er das eigentlich jedes Mal macht, wenn er im Keller ist?«

»Dann müssten wir ihnen auch verraten, dass er horrende Getränkepreise verlangt. Und wir wollen sie doch ihre eigenen Erfahrungen sammeln lassen, die Herren Studenten, oder?«

Amüsiert beobachtete Marianne Gerds Gesicht, als es ans Bezahlen ging. Zuckte er kurz zusammen, oder bildete sie sich das nur ein? Jedenfalls legte er, ohne zu murren, das Geld auf den Tresen und freute sich über einen Handshake des Bebop-Stars. Dann brachte er ihnen eine Runde Bier, gefolgt von Herbert, dem Dizzy ebenfalls die Hand geschüttelt hatte, und die vier prosteten einander zu.

»So.« Gerd stützte einen Arm auf den wackeligen Stehtisch und beugte sich näher zu Marianne. »Herbert sagt, du arbeitest beim Radio. Aber deine Stimme kommt mir nicht bekannt vor, und ich höre jeden Tag, seitdem ich in Frankfurt wohne.«

»Ja, aber nur den AFN«, feixte Herbert.

»Quatsch, den Amisender schalte ich nur ein, wenn nichts anderes läuft.«

»Kein Grund, sich zu schämen. Ja, ich arbeite beim hr, aber ich höre auch gerne AFN.«

Beim American Forces Network liefen nämlich, im Gegensatz zu den deutschen Sendern, die brandaktuellen Nummern aus den Staaten. Rock ’n’ Roll, Jazz, alles, was jungen Leuten gefiel. Weil das Corps Austria als konservative Studentenvereinigung Wert auf Tradition legte, war es Gerd vermutlich peinlich, laut zu sagen, dass er auf US-Musik stand. Aber Marianne fand nichts dabei, im Gegenteil. War es nicht offensichtlich, wo seine Vorlieben lagen, wenn er den Jazzkeller frequentierte? Oder wollte er nur den Anschein eines intellektuellen Hipsters erwecken? Seine Begeisterung für Dizzy Gillespie schien jedenfalls echt zu sein.

»Du kannst mich nicht im Radio gehört haben«, erklärte sie ihm. »Weil ich keine Sprecherin bin, sondern Bühnenbildnerin.«

Verständnislos runzelte Gerd die Stirn. »Aber im Hörfunk sieht man doch nichts.«

»Das stimmt. Aber Sendungen wie zum Beispiel Die Hesselbachs oder der Frankfurter Wecker werden oftmals vor Publikum aufgezeichnet. Und dafür gibt es eben richtige Bühnen inklusive Ausstattung. Hast du davon noch nichts gehört? Recht lange bist du wohl noch nicht in der Stadt, was?«

Gerd wurde rot, das sah Marianne sogar im schummrigen Licht. Er kramte eine Zigarettenschachtel aus der Tasche und hielt sie ihr hin. Verneinend schüttelte sie den Kopf. Nachdem er sich selbst eine angezündet hatte, sagte er: »Erst seit Semesterbeginn. Eigentlich komme ich aus der Nähe von Stuttgart. Und ehrlich gesagt habe ich noch nie darüber nachgedacht, wie Radiosendungen gemacht werden.«

Das klang erfrischend offen. Er war nett, dieser Gerd, und ebenso an Marianne interessiert wie Herbert an Christel, das merkte sie. Leider vermochten beide die Herzen der jungen Frauen nicht für einen einzigen Schlag aus dem Takt zu bringen. Mitten im Gespräch trat überraschend ein weiterer Herr zu ihnen an den Tisch.

»Dachte ich mir doch, dass du heute auch hier bist. Guten Abend, Marianne.«

»Hallo, Nick.«

Ohne auf eine Einladung zu warten, schob er Gerds Glas zur Seite, packte Tabak und Utensilien aus und begann seine Pfeife zu stopfen. Er trug ein übergroßes Sakko, das Hemd war nicht ordentlich in die Hose gesteckt, und an seinem Handgelenk glänzte eine dicke goldene Uhr. Mit einem Seufzen, das seine mangelnden Umgangsformen anmahnen sollte, stellte sie ihm die Anwesenden vor, die Nick wenig interessierten. Er hielt seinen Blick auf Marianne fixiert.

»Kommst du nachher noch mit ins Atelier?«, fragte er ohne Umschweife.

»Moment mal. Marianne ist mit uns hier«, mischte Gerd sich ins Gespräch, was eine eingehende Musterung durch Nick nach sich zog.

»Studenten, oder? Alle beide?«

Rasch schritt Marianne ein. »Herbert und Gerd studieren Jura. Sie gehören zum Corps Austria und sind Freunde von Christel. Nick und ich kennen uns noch von der Städelschule. Er war zwei Jahre über mir und ist mittlerweile ein bekannter Künstler hier in Frankfurt. Wir tauschen uns noch immer gerne aus.« Das war die Untertreibung des Abends. In Nicks Atelier fanden legendäre Treffen statt. Die junge Kunstszene Frankfurts ging dort ein und aus. Es wurde gefachsimpelt, diskutiert, getrunken, geraucht und bisweilen auch getanzt und wild geflirtet.

»Du warst auf der Hochschule für Bildende Künste? Braucht man das für den Kulissenbau?« Herbert, der sich anscheinend besser in der Stadt auskannte als sein Kommilitone, fragte derart erstaunt, dass Marianne fast ein wenig genervt war. Sie spürte Nicks Blick auf sich, und gleich darauf legte er den Arm um ihre Schultern und drückte sie, als wolle er ihr Kraft für eine nachsichtige Antwort spenden.

»Nein«, antwortete Marianne so würdevoll wie möglich. »Aber ich bin schließlich nicht nur beim hr beschäftigt, sondern auch noch als freischaffende Künstlerin tätig und bereite gerade meine erste eigene Ausstellung vor.«

Das war für Christel ebenfalls neu, bisher hatte sie der Freundin nichts davon erzählt. Doch Herberts Ungläubigkeit hatte Marianne provoziert, es zu verraten.

»Ausgezeichnet! Das ist genau der richtige Schritt«, fiel Christel ein. »Du bist so talentiert, höchste Zeit, dass das möglichst viele Menschen mitbekommen.«

Es entbrannte ein angeregtes Gespräch darüber, wann und wo Marianne ausstellen sollte und wie weit sie mit ihren Skulpturen und Gemälden war. Hauptsächlich redeten Christel und Nick. Als Gerd schließlich anmerkte, ihm wären eigentlich keine zeitgenössischen weiblichen Künstlerinnen geläufig, resignierte sie.

Später, als er und Herbert die Damen nach Hause bringen wollten, entschied sich Marianne, noch zu bleiben, und wechselte mit Nick an die Bar.

»Dass du nicht mitgehst, passt ihm jetzt aber überhaupt nicht«, konstatierte er mit einem Blick zur Treppe, auf der Gerd gerade aus ihrem Blickfeld entschwand. »Die sind nicht wie wir, diese Jurastudenten, das zeigt sich ein ums andere Mal. Viel zu spießig. Zu ordentlich. Da kannst du reden, was du willst, solche Leute werden dich nie verstehen. Besser, wir bleiben unter uns.«

Amüsiert prostete sie ihm mit dem Whiskey zu, den er bestellt hatte. »Soll das etwa heißen, wir sind unordentlich?«

»Du weißt genau, was ich meine.«

Erneut legte er Marianne den Arm um die Schultern, und sie hatte nichts dagegen. Als sie sich später voneinander verabschiedeten – Nick war nicht der Typ, der einen nach Hause brachte, er ging zurück ins Atelier und machte die Nacht zum Tag –, ließ sie sich von ihm küssen.

Warum auch nicht? Er war wesentlich amüsanter als Gerd.

Am folgenden Tag bei der Arbeit bereute Marianne den Whiskey. Ihr Kopf brummte, als würde darin ein Bienenschwarm randalieren, und sie schwor sich, künftig bei leichteren Getränken zu bleiben. Sogar die mintgrüne Wandfarbe der hesselbachschen Bühnenküche schmerzte heute in ihren Augen. Zu grell, viel zu grell. Dabei hatte Marianne den frischen Farbton gestern noch voller Hingabe angemischt. Statt richtiger Küchenschränke malte sie welche auf die Kulissenschiebewand. Dazu kniete sie auf einem Kissen und musste wenigstens nicht stehen.