Die Reisenden - Celina Smith - E-Book

Die Reisenden E-Book

Celina Smith

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Beschreibung

Für Annabelle und Jason beginnt ein magisches Abenteuer als sie in die atemberaubende Welt von Eris gezogen werden. Sie sind Reisende und spielen damit eine wichtige Rolle zwischen den Fronten der Reinen und Gewandelten. Schnell bemerken sie, dass sie nicht alleine sind und sie um mehr als nur ihre Freiheit kämpfen.

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Für Peter, für Omi, für meine besten Freunde, ihr wisst, wer ihr seid, und für die, die das hier gerade lesen.

Inhaltsverzeichnis

Anna

Reise

Maverick Allonis

New York

Zurück

Flucht

Jack

Vertraut

Aufholende Vergangenheit

Flüchtige

Handel

Das Kristallfest

Klarheit

Antworten

Chaos

Verstärkung

Glaube

Frei

Anna

Das Ticken der Uhr über ihr machte Annabelle verrückt. Seit etlichen Minuten schon wartete sie auf Mister Cole. Punkt 12 Uhr, hatte er gesagt und seit fünf vor zwölf saß sie auf dem harten Plastikstuhl im kühlen Wartezimmer. Kein Personal in der Nähe, sicher war Mittagspause für die Belegschaft des Altersheims. Annabelle wippte ungeduldig mit dem Fuß und sah schon wieder zur Uhr. Vor zwei Stunden hatte Mister Cole sie angerufen und mitgeteilt, ihre seit einem knappen Jahr dort lebende Großmutter habe einen Pfleger angegriffen. Er hatte sie gedrängt, schleunigst vorbeizukommen. Details nannte er nicht, doch kannte sie den geistigen Zustand ihrer Großmutter nur allzu gut. Noch nie aber war sie gewalttätig geworden und Annabelle hoffte, es sei ein Missverständnis.

Eigentlich hätte sie jetzt auf dem Weg zum anderen Ende der Stadt sein wollen. Sie hatte Jason den Nachmittag versprochen, nachdem sie ihn die letzten Wochen vernachlässigt hatte. Das Treffen hatte sie per SMS um eine Stunde verschoben und hoffte, dann auch wirklich aus dem Heim heraus zu sein.

Schnelle Schritte auf dem Flur kamen näher. Sie schnappte ihre Tasche und schwang sie über die Schulter. Mit ernster Miene betrat der ältere, etwas hagere Mann den Raum.

»Miss Dumont. Es ist wunderbar Sie wiederzusehen. Wenn auch unter nicht so wunderbaren Umständen« grüßte er und schüttelte ihre Hand. Sein Händedruck war warm, doch sein Griff war fest. Wie immer trug er edle Schuhe zum dezenten, braunen Anzug mit Nadelstreifen, der an ihm ein wenig zu groß schien. Die Krawatte in passendem Dunkelbraun und Grau zierte seinen Hals und verschwand im geschlossenen Sakko. Er wirkte deplatziert und falsch an diesem Ort, als hätte man ihn aus einem idyllischen Dorf in die Großstadt New York gezogen. Mit steifem Schritt führte er sie in sein Büro nebenan. Dies spiegelte schon eher die Persönlichkeit des älteren Mannes wider. Ein alter, massiver Ebenholzschreibtisch nahm die Mitte des Raumes ein. Eine Vielzahl von Dokumenten und losen Papieren ragten über den Tischrand hinaus und drohten herunterzufallen. Ein Computer, der älter zu sein schien als Annabelle selbst, stand ausgeschaltet in der Ecke. Regale, überfüllt mit dutzenden Büchern und Ordnern verdeckten die von Zigarettenrauch unschön vergilbten Wände. Die Sonne schien durch die Ritzen der geschlossenen Jalousie. Seit fast einem Jahr hatte sich in diesem Büro nichts verändert und sie vermutete, der enge Raum sah seit Jahren schon so aus.

Sein Bürostuhl ächzte, als Mister Cole sich darauf fallen ließ und näher an den Schreibtisch rollte. Mit ausladender Handbewegung bot er ihr den durchgesessenen Ohrensessel vor sich an. Zögerlich nahm sie Platz. Es roch nach altem Rauch. Annabelle hatte es immer vermieden, sich länger als zehn Minuten in dem Zimmer aufzuhalten. Allerdings spiegelte Mister Coles Büro nicht den Rest des Altenheims wider. Wie auch er selbst, wirkte es fehl am Platz und hätte eher in einen Detektivfilm der zwanziger Jahre gepasst.

»Wie ich Ihnen schon mitteilte –«

»Sie können mich duzen«, unterbrach Annabelle ihn. Sie hasste es gesiezt zu werden. Nicht wegen ihres Alters, nein. Sie war erst vor wenigen Tagen siebzehn geworden. Vielmehr fühlte es sich falsch und distanziert an.

»In Ordnung. Anna ist in der Tat eine liebreizende Frau, doch heute sind ihre Träumereien ausgeartet. Ich hätte dich nicht kontaktiert, wäre ich nicht am Ende meiner Macht. Ich ließ sie in ein abgeschiedenes Einzelzimmer verlegen. Es kam schon einmal zu einem Vorfall, harmlos im Gegensatz zu diesem hier. Ich denke nicht, dass dies noch Träumereien sind. Sie attackierte einen Pfleger mit einem Messer und schrie, er sei Schuld. Einen Namen erwähnt erwähnte sie mehrmals, ich hoffe, du kannst etwas damit anfangen. Kennt Anna eine Person, die Maverick heißt?«

Annabelle verneinte und schüttelte den Kopf. Ihre Großmutter hatte wenige Freunde, Annabelle hatte sich nie weiter Gedanken darum gemacht. Anna war ein reservierter Mensch, ging wenig unter die Leute und mied öffentliche Veranstaltungen. Ihre Freunde kannte sie seit der Kindheit. Im Altenheim verstärkten sich diese Charakterzüge und sie zog sich noch mehr in sich selbst zurück. Sie sprach dort mit niemandem außer Mister Cole und gelegentlich mit Tilda, einer Pflegerin, die jedoch bald nach Kanada auswandern wollte.

»Ich habe Anna schon kennengelernt und weiß, dass dieses Verhalten für sie nicht normal ist, doch ich kann mir die plötzlichen Gefühlsausbrüche nicht erklären. Hat ihre Mutter schon einmal in Erwägung gezogen, Anna zu einem spezialisierten Arzt zu bringen? Die Träumereien und das Reden mit sich selbst sind uns natürlich schon länger bekannt. Auf längere Zeit, befürchte ich, wäre Anna in einer spezialisierten Klinik besser aufgehoben«, erklärte er und sah sie über den Bogen seiner runden Hornbrille bedauernd an.

»Sie möchten Anna aus dem Altenheim werfen?«, stieß Annabelle bestürzt hervor.

»Oh, nein, keineswegs. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass uns die Mittel fehlen, mentale Krankheiten zu behandeln. Du weißt, ihr Verhalten ist außergewöhnlich. Sie spricht mich noch immer mit ›Jack‹ an«, erwiderte Mister Cole sachlich.

Seine Worte beruhigten Annabelle kaum. Sie wusste von den Namen, die sie manchen Pflegern und Mitbewohnern gegeben hatte, und konnte sich keinen Reim darauf machen. Mister Cole war einer der Wenigen, die sie nicht verabscheute oder mied, den angegriffenen Pfleger sah sie wohl als Feind an.

»Sie sagten, dass das nicht der erste Vorfall gewesen war. Was passierte beim ersten Mal?«, hakte Annabelle genauer nach. Sie fürchtete um Annas Zukunft, denn sie konnten sich kein anderes Altenheim leisten. Annabelle ging selbst noch zur Schule, während ihre Mutter von morgens bis abends zwischen zwei Jobs hin und her sprang. Ihre Mutter war Sekretärin und Verkäuferin in einem kleinen Obstladen. Hinzu kam ihre Aufgabe als alleinerziehende Mutter, die Annabelle ihr so gut es ging vereinfachte.

»Nichts allzu Wildes. Jemand hatte für einen Tag eine Katze vorbeigebracht, um die Menschen etwas zu unterhalten und ihnen eine Freude zu machen. Anna verfolgte die Katze und beschuldigte alle, die Katze verzaubert zu haben. Sie hat vielen einen schönen Schreck eingejagt, als sie fast unbekleidet durch die Gänge lief und ein wenig aus der Fassung geriet. Wir haben sie natürlich in ihr Zimmer gebracht und Tierbesuche für’s Erste unterbunden«, erläuterte er und begann seine Unterlagen zu durchwühlen. Hier und da fiel ein Blatt zu Boden, bevor er mit leichtem Lächeln nach einem Papier griff.

»Können Sie mir genau sagen, was heute passiert ist?«, fragte Annabelle.

Sie plagte noch immer der bloße Gedanke, dass ihre sanftmütige Großmutter jemanden mit einer Waffe bedroht haben sollte. Sie erschauderte und lehnte sich in den Sessel, dessen grauenvoller Geruch sie umfing.

»Wie jeden Morgen brachte man ihr das Frühstück auf ihr Zimmer. Diesmal war es jedoch nicht Miss Woods, sondern Mister Gerald. Er wusste nicht darüber Bescheid, dass nur Miss Woods ihrer Großmutter das Essen bringt. Er schilderte mir, dass Anna ihn beobachtet hatte, als er ihr das Frühstück auf den Tisch stellte. Sie flüsterte mehrmals den Namen, Maverick und sagte dann, dass er Schuld sei, bevor sie zu dem Messer griff und es auf ihn richtete. Es war nur ein Buttermesser. Er wollte sie beruhigen, doch sie schien, als würde sie einen anderen Menschen sehen. Wir konnten die Situation natürlich entschärfen. Anna ist momentan auf ihrem Zimmer und es wird genauestens auf sie aufgepasst. Es war sein erster Tag und Mister Gerald verzichtete darauf, die Polizei zu rufen, doch ich kann keinen weiteren Vorfall dieser Art dulden. Ich bitte dich und Alice, Anna bald zu einem Arzt zu bringen, und habe mir die Freiheit genommen, einige vertrauenswerte Ärzte herauszusuchen. Hier«

Mister Cole überreichte ihr das Blatt Papier, nach dem er gesucht hatte. Es hatte ein paar Eselsohren, doch eine ordentliche Liste von Namen mit Adressen und Telefonnummern.

»Du darfst gerne meinen Namen erwähnen, wenn du die Ärzte anrufst. Die Chancen liegen dann höher, dass du innerhalb der nächsten Wochen einen Termin bekommst«, fügte er hinzu und rückte die Hornbrille zurecht.

»Darf ich zu ihr?«, fragte Annabelle, als sie sich vom muffigen Polster entfernte und die Tür ansteuerte.

»Ich denke, das sollte kein Problem darstellen. Zimmer 207. Ich wünsche dir noch einen schönen Tag.«

»Ihnen auch. Auf Wiedersehen«, verabschiedete sich Annabelle und schloss die Tür.

Das Papier faltete sie zusammen und steckte es ein, bevor sie die Treppe ein Stockwerk tiefer nahm. Auf dem Korridor zu Annas Zimmer spürte sie stechende Blicke in ihrem Rücken. Hungrige Gesichter lauerten in Rollstühlen und hinter den Ecken. Die meisten kannten Annabelle, doch kam keiner auf sie zu. Dutzende Menschen starrten sie nur abwartend an, als erwarteten sie eine Antwort auf Annas merkwürdiges Verhalten. Sie verabscheute Menschen, die allerlei Gründe suchten, um über eine Person zu lästern. Sie brauchten nur die nötigsten Grundinformationen, um schlecht über jemanden zu reden. Annabelle wusste, dass dieses Ereignis nicht in den Gängen des Altenheims verblassen würde, sondern sich bis auf die Straßen von New York ziehen würde. Diese Frauen waren trostlos und gelangweilt von ihren Leben. Sie konnten ihre Lippen keine Stunde geschlossen halten. Doch gab es genauso viele Frauen, die eben nicht in jenes Bild passten und ihr den Glauben an Ehrlichkeit und Akzeptanz zurückgaben.

Mister Cole hatte Recht. Zimmer 207 lag am Ende des Flurs. Die Sieben lehnte schief gegen die Null und auch die Zimmertür hatte ihre besten Tage hinter sich. Höflich klopfte Annabelle an, ehe sie die quietschende Tür öffnete und eintrat. Anna saß aufrecht im Bett. Eine blaue Decke mit weißen Streifen hing über ihren Beinen und passte farblich zu ihrem Nachthemd. Es war blass-blau und ließ die Frau fahler und weißer wirken. Annabelle schloss die Tür und ließ die Alten mit ihren wirren Gedankengängen zurück.

»Hey, Nana«

Annabelle rückte einen Stuhl vom mit Magazinen überfüllten Tisch und schob ihn zum Bett.

»Annabelle Chloe Dumont. Du müsstest in der Schule sein«, mahnte Anna sie an und wedelte drohend mit ihrem Finger.

Es war einer der wenigen Momente, in denen Anna klar war. Größtenteils verschwand sie in ihrem Kopf und nahm ihre Umgebung nicht auf die gleiche Weise wahr wie andere Menschen. Sie träumte von einer Welt und von Menschen, die nicht existierten. Deshalb hatte Annabelle die Geschichten aus ihrer Kindheit geliebt. Anna hatte ihr von einer Welt erzählt, die über das eigene Denken und die Fantasie hinausragte. Eine Welt, die sie verzaubert, doch ebenso das Fürchten gelehrt hatte. Dies war die Zeit gewesen, in der Alice sie gewarnt hatte, ihr weitere solcher furchteinflößenden Geschichten zu erzählen, die sie nachts wach hielten. An die meisten erinnerte sie sich jedoch nicht mehr. Zu viel Zeit war vergangen. Annabelles Mutter hatte weitere Gute-Nacht-Geschichten dann überwacht. Die guten Geschichten waren zauberhaft und magisch gewesen. Annabelle hatte jede Nacht auf eines dieser Abenteuer bestanden und gedroht, nicht einzuschlafen, sollte man ihr keine Geschichte erzählen. Spätestens dann war Alice eingeknickt und Anna durfte von magischen Abenteuern erzählen.

»Ja. Die letzten zwei Stunden fallen aus«, lächelte Annabelle.

Anna wusste nie, welcher Tag gerade war. Dutzende Male hatte Annabelle ihr erklärt, dass sie Samstag keine Schule hatte, doch die ältere Dame schien das nicht zu interessieren. Immer wieder fragte sie, falls Annabelle vor 13 Uhr vorbei kam. Sie hatte das Erklären aufgegeben und nutzte immer die gleiche Ausrede. In Wirklichkeit hatte sie fast nie Entfall. Ihre Lehrer gehörten zu der Sorte, die Tag für Tag kamen, ob sie krank waren oder nicht. Sie hasste vor allem die, die sich mit einer Erkältung aufrafften und mehr husteten als sie lehrten. Entfall war für sie ein Segen, denn das ermöglichte ihr und Jason einen Ausflug zu ihrem Lieblingsplatz. Sie waren seit dem Kindergarten immer zusammen gewesen. Man könnte sie als Sandkastenfreunde bezeichnen.

»Ach, diese Lehrer. Die machen wegen etwas Schnupfen krank«, schimpfte Anna, woraufhin Annabelle zustimmte, auch wenn diese Aussage nicht der Wahrheit entsprach.

»Wie geht es dir heute?«, fragte Annabelle und nahm die zitternde, knochige Hand ihrer Großmutter in ihre. Sie fühlte die hervortretenden Venen und die dunkellila Flüsse, die sie bildeten.

»Miserabel, wie immer. Ich will hier raus. Alles ist gleich. Tag für Tag vegetiere ich vor mich hin. Diese alten Schabracken rauben mir die letzten Nerven, davon habe ich sowieso nicht mehr viele. Auch Jack kann daran nichts ändern. Hast du ihn heute schon gesehen? Oder vergräbt er sich wieder in seinen Büchern?«, fragte Anna und lehnte sich gelangweilt zurück, die Hand jedoch in Annabelles verweilend.

Sie nannte Mister Cole Jack, das tat sie schon, seit sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Es war nicht sein Vorname, der war Benjamin. Trotzdem beharrte Anna darauf, ihn so zu nennen. Mister Cole hatte aufgegeben, sie zu korrigieren und nahm die Namensänderung hin.

»Ja, habe ich. Er vergräbt sich nicht in seinen Büchern. Er arbeitet dafür, dass du hier wohnen kannst. Er wird dich bald wieder besuchen, da bin ich mir sicher«, meinte Annabelle.

Mit wippendem Bein stieß sie gegen das Bett und ließ Annas Hand los. Zu gerne wäre sie länger geblieben, doch Jason war schon auf dem Weg und sie wollte ihn nicht unnötig warten lassen.

»Es tut mir leid, aber ich muss wieder los. Ich treffe mich mit Jason. Brauchst du noch etwas?«, fragte Annabelle und schob den Stuhl zurück.

Anna lächelte und schüttelte den Kopf.

»Nein. Das Mittagessen kam vor einer Stunde. Tilda wird das Tablett gleich abholen«, meinte sie und deutete auf den etwas größeren Tisch am Fenster. Sie hatte nichts angerührt außer den Schokoladenpudding, den sie bis auf den letzten Rest ausgelöffelt hatte. Nach einer Umarmung betrat Annabelle die Flure der lauernden Alten und flüchtete die Treppen hinunter. Im Laufen sah sie auf die Uhr und stellte erschrocken fest, dass sie nur noch knapp drei Minuten hatte, um ihre Bahn zu bekommen.

Gerade noch rechtzeitig hatte sie sich durch die Menge gedrängelt und war in die Bahn gestiegen, die sie wenige Straßen vor ihrem Ziel absetzte. Sie rannte über den nassen Asphalt und hoffte, es fing nicht an zu regnen. Von weitem sah sie schon die schmale Statur vor dem Haus stehen. Wie immer trug Jason Schwarz. Von Kopf bis Fuß, genau wie Annabelle. Er lehnte gegen die Hauswand und wippte im Takt zu seiner Musik, der er durch massige Kopfhörer lauschte. Sie verlangsamte ihr Tempo und drückte mit einem Quietschen das niedrige Tor auf, das im Grunde genommen niemandem den Zutritt verwehren könnte. Jason riss erschrocken die Kopfhörer herunter, ehe sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. Auch Annabelle grinste ihn an und zog ihn in eine feste Umarmung. Er roch auffallend nach dem Parfum, das ihm sein Vater geschenkt hatte und mehrere hundert Euro kostete. Allerdings war der Geruch weniger unangenehm als der Sessel in Mister Coles Büro.

»Pünktlichkeit ist nicht unbedingt deine Stärke«, scherzte er.

»Wenn du nur wüsstest. Komm, wir gehen erst mal rein. Du wirst es nämlich nicht glauben«, erwiderte Annabelle und schob sich mit dem Schlüssel in der Hand an ihm vorbei. Die massive Holztür knarrte, als sie sie öffnete und ein angenehmer Geruch von Lavendel und alten Büchern in ihre Nase stieg. Annas Haus stand leer, seit sie im Altersheim wohnte. Annabelles Mutter hatte überlegt, in das Haus zu ziehen, doch war es zu weit von der Innenstadt weg. Für Annabelle und Alice hätte es bedeutet, täglich mehrere Stunden in der Bahn zu sitzen, nur um zur Schule und zur Arbeit zu kommen. Ihre kleine Zweizimmerwohnung im fünften Stock war um einiges teurer, doch war die Lage perfekt.

Alice hatte sich erst nach längerem Zögern bereit erklärt, ihr Elternhaus zu verkaufen und Annabelles Aufgabe war es, die letzten Kisten vom Dachboden zu holen, um sie auszusortieren oder wegzuwerfen. Jason hatte sich bereit erklärt, ihr zu helfen, und hoffte munter, einen Schatz oder etwas ähnlich Wertvolles zu finden. Annabelle hatte bei seinen Vermutungen lachen müssen, da sie absurd und unrealistisch klangen. Anna war eine geizige Frau, die immer dreimal überlegt hatte, ob sie einen Pullover, den sie zum dritten Mal nähte, wirklich wegwerfen wollte, um sich einen Neuen zu kaufen, oder ihn erneut flickte. Als Witwe eines Mannes, der als paramilitärischer Kämpfer gestorben war, hatte es nicht an Geld gefehlt und doch hatte sie entbehrungsvollere Zeiten befürchtet, die niemals eintraten. Anna hatte kaum über ihren Mann geredet und auch Alice behielt das Stillschweigen. Annabelle wusste nur, das ihr Großvater Roman hieß, Ire gewesen war und während des Nordirlandkonflikts gestorben war. Sie hatte nie über ihr erstes Zusammentreffen gesprochen und auch nicht über Roman selbst. Immer war sie Annabelles Fragen ausgewichen und hatte schnell das Thema gewechselt.

»Also, was werde ich nicht glauben?«, wiederholte Jason ihren Hinweis und zog die Stiege zum Dachboden mit einem Ruck herunter. Mit einem Knall krachte die Holzleiter auf den Parkettboden. Staub rieselte aus der Luke auf ihre Köpfe und Annabelle hustete, bevor sie mutig die ersten Stufen nach oben kletterte. Das Holz war alt und morsch und sie fragte sich besorgt, ob es ihr Gewicht tragen würde. Vorsichtig auftretend schafften sie es ohne Unfälle nach oben, bevor sie zu erzählen begann.

»Anna hat einen Pfleger mit einem Messer bedroht«

Jason riss ungläubig die Augen auf.

»Du verarschst mich, oder?«, hakte er nach, doch Annabelle konnte nur den Kopf schütteln.

»Sie warf dem Pfleger vor, er sei Schuld, und nannte ihn bei einem merkwürdigen Namen«, erläuterte Annabelle und zog an der Schnur über sich, um die Deckenlampe einzuschalten. Sie tauchte den langen Raum, der sonst nur vom kleinen, runden Dachfenster beleuchtet wurde, in ein fahlgelbes Licht. Annabelle zog ein Leinentuch von einem Stapel Kisten. Staubwolken verteilten sich in dem kühlen Zimmer und setzten sich langsam auf ihr ab.

»Schuld an was? Gab es eine Scheibe Brot zu wenig?«, scherzte er und bekam sogleich einen Schlag gegen den Oberarm.

»Das ist nicht lustig. Ich weiß nicht, woran der Pfleger Schuld hat. Mister Cole meinte, dass sie vor ein paar Wochen auch einer Katze hinterher gerannt ist und meinte, sie sei verzaubert«, erwiderte Annabelle und öffnete einen Karton. Mehrere Kerzen lagen verstreut darin. Teelichter und Räucherstäbchen waren in der Kiste darunter.

»Vielleicht solltest du Anna zu einem Arzt bringen?«

Seine Idee klang wie eine Frage, doch sie musste ihm zustimmen. Auch Mister Cole hatte ihr geraten, professionelle Hilfe für sie zu suchen. Annabelle wusste, dass es so nicht weitergehen konnte. Anna konnte nicht weiterhin grundlos Menschen oder Tiere bedrohen. Sie brauchte Hilfe, bevor es zu schlimmeren Vorfällen käme. Bei dem Gedanken lief ihr ein Schauer über den Rücken. Sie konnte und wollte sich nicht vorstellen, wie Anna jemanden unwissentlich verletzte.

»Das hat mir Mister Cole auch geraten«, pflichtete sie ihm bei und schob die nächste Kiste in die Ecke.

»Hast du schon einmal mit ihr geredet?«, fragte Jason und hievte eine Kiste, die bis zum Rand mit ausgetrockneten Wandfarben gefüllt war, auf den Stapel, der auf der Müllhalde landen würde.

»Du weißt doch, dass sie sich nie daran erinnert. Sie weiß nie, dass sie diese Dinge tut. Es ist, als wäre sie in ihrer eigenen Gedankenwelt versunken und nähme ihre Umgebung wie in einem Traum wahr, an den sie sich nicht mehr erinnert«, erwiderte Annabelle und klappte den nächsten Karton auf.

Staunend erblickte sie ein großes Schmuckkästchen, das so gar nicht zu Annas Stil zu passen schien. Vorsichtig hob sie es aus der Kiste heraus und stellte es auf die staubigen Dielen. Es lag schwer in ihren Händen und wog mindestens drei Kilogramm. Das Kästchen war in dunklen Rottönen gehalten, über die sich eine Vielzahl goldener Ranken wandt. An deren Enden hing jeweils ein Strauch zierlicher Röschen. Den oberen Rand des weinroten Deckels schmückten verschlungene Gravuren, die sich wie ein X überschnitten, und zwei goldene Rosen ragten als Griffe heraus. Die Schatulle wirkte sehr edel, jeder einzelne Schliff war perfekt und Annabelle bestaunte die präzise Detailarbeit, auch Jason beugte sich fasziniert über den unerwarteten Fund.

Neugierig griffen seine Finger nach den beiden Rosen und hoben den Deckel zur Seite. Der Innenraum stand dem Äußeren in nichts nach. Dunkelroter Samt bildete den Boden und die Seiten des Kästchens. Es war gefüllt mit zwei Dutzend ineinander verwobener Ketten und Ringe, die golden und silbern funkelten. Farbenfrohe Edelsteine glitzerten inmitten des Metalls. Nie zuvor hatte Annabelle diesen Schmuck gesehen, noch hatte Anna je erwähnt, solch wunderschöne Stücke zu besitzen. Blindlings griff sie in den Schmuckhaufen und zog an einem der Edelsteine, der ihr ins Auge sprang. Sie zog dabei noch eine weitere Kette mit, die wieder im Kästchen landete. Der Stein, ein Opal, leuchtete in karibischen Blautönen und vereinte die Sprenkel einer Galaxie in sich. Zwei weißgoldene Stränge umschlangen ihn wie eine Natter und hielten ihn an der feingliedrigen Kette.

»Ich sagte doch, Anna versteckt hier einen Schatz«, murmelte Jason und hielt einen ebenfalls goldenen Ring in der Hand. Er bestand aus zwei ineinander verschlungenen Einzelringen.

»Sieh mal! Hier ist etwas eingraviert«, meinte Jason und hielt Annabelle den Ring entgegen. Durch das schwache Licht konnte sie nicht viel erkennen, doch es reichte, um den Buchstaben auf der Innenseite zu identifizieren.

»Es ist ein B«, sagte sie und inspizierte auch ihre Kette auf eine Gravierung.

»Bei mir ist auch ein Buchstabe. Ein A«, verkündete sie und zeigte mit dem Finger auf die Innenseite des Ovals, durch das die eigentliche Kette verlief.

»Das A könnte für Anna stehen, aber wer ist B?«, grübelte Jason und griff in die glitzernde Kiste, um auch die übrigen Schmuckstücke zu untersuchen.

Sie fanden ein weiteres A und viele weitere Buchstaben. Annabelle sah keine Verbindung mit den eingravierten Buchstaben und bezweifelte, dass das »A« für den Namen ihrer Großmutter stand.

»Aber wieso hat Anna so viel Schmuck, von dem niemand etwas weiß. Und wieso ist in jedem ein Buchstabe eingraviert. So viele Ex-Männer kann sie doch nicht haben«, scherzte Jason und schaffte es, Annabelle zum Lachen zu bringen. Sie hustete vom aufgewirbelten Staub, doch konnte sie nicht aufhören zu kichern.

»Nein. Das…glaube ich auch nicht«, japste sie und schnappte nach Luft.

»Ich denke, ich sollte mal meine Mutter anrufen. Vielleicht weiß sie etwas«, schlug Annabelle vor und kramte ihr Telefon aus ihrer Hosentasche.

»Mist. Der Akku ist leer«, rief sie enttäuscht.

»Ich habe nur meinen MP 3 Player dabei«, meinte Jason und zuckte mit den Schultern.

»Der Ring steht mir. Er betont meine feinen Finger«, lachte Jason, als er sich den ersten Ring spielerisch über den Ringfinger zog und ihn mit ausgestrecktem Arm begutachtete.

»Ja, er hebt deine Wurstfinger hervor«, lachte sie und legte sich die Kette um den Hals, deren Edelstein sie an ein Korallenriff erinnerte.

»Hey, die Kette bringt deine blauen Augen zur Geltung!«, rief er bewundernd und zeigte mit dem Daumen nach oben. Annabelle hatte keinen Spiegel zur Hand und vertraute seinem Urteil. Sie gab zu, ihr gefiel die Kette. Nie zuvor hatte sie ein so schönes Stück auch nur in den Schaufenstern der Juweliere gesehen, geschweige denn in den kleinen Modeschmuck-Läden. Sie verstand nicht, wieso Anna die Kette nie getragen hatte, und Ringe besaß, die viel zu groß waren und einfach von ihren Fingern rutschen würden.

»Oh, Mist! Es wird schon dunkel!«, rief Jason, als er Annabelle die letzte Kiste die Treppe herunter reichte. Sie hatten alles erfolgreich sortiert und den Müll von noch brauchbaren Gegenständen getrennt. Das Schmuckkästchen landete auf keinem der Haufen, sondern Annabelle verstaute es nachdenklich in ihrer Tasche. Sie hatten Kette und Ring nicht abgelegt, auch wenn sie nicht die Absicht hegten, den Schmuck ungefragt zu behalten.

Sie stellten die Kisten in die leere Eingangshalle, um sie am nächsten Tag wegfahren zu können. Die Tasche eng an ihren Körper gepresst, gingen sie die Auffahrt hinunter, nachdem sie die Tür doppelt abgeschlossen hatten. Jason trug seine Kopfhörer lässig um den Hals, als sie sich auf den Weg zur Bahnstation machten. Der Himmel über ihnen wurde dunkler. Die Straßenlaternen sprangen an und leuchteten ihnen den Weg. Kühler Wind schlich um ihre Beine und Annabelle zog die Lederjacke fester um sich. Mehrmals kamen ihnen zwielichtige Gestalten entgegen und Jason legte beschützend einen Arm um ihre Schultern.

Es war Samstag und diesmal konnten sie nach längerer Zeit wieder zu ihrem persönlichen Lieblingsplatz. Er war einst geheim gewesen, doch hatte Jasons Vater sie erwischt, sodass sie seitdem vorsichtiger waren.

Je näher sie der Innenstadt kamen, desto lauter wurden die Geräusche der Menschen und Maschinen. Die wütenden Autofahrer, die hinter ihren Scheiben meckerten und auf ihre Hupen schlugen, die Menschen, die sich auf den Straßen aneinander vorbei drängten und dabei ihre Telefone fest an die Ohren pressten, um das Gesprochene am anderen Ende der Leitung zu verstehen, und die Musik, die aus allen Geschäften und Straßenecken dröhnte, sind nur ein Bruchteil des Lärms, der täglich die Stadt erfüllte, die niemals schläft.

Die goldenen Buchstaben und hell erleuchteten Fenster des Wolkenkratzers schienen ihnen schon von weiter Ferne entgegen. Noel Perez’ Grand Royal Hotel, war keins für den normalen Arbeiter. Es war für Menschen, die Luxus liebten und sich ihn leisten konnten. Annabelle hätte in ihrem Aufzug nicht einmal durch die Tür treten können, ohne höflich gefragt zu werden, ob sie sich verlaufen habe. Sie beabsichtigten jedoch nicht, durch die edlen Eingangstüren zu schleichen, sondern wollten sich Pablos Schlüssel leihen, der im Gegensatz zu den meisten Angestellten, seit mehreren Jahren als Page arbeitete. Noel Perez war kein Mann, der Fehler duldete, und oft hielten die Arbeitsverträge der Angestellten nur mehrere Wochen. Auch bei Jason machte er da keine Ausnahme, bloß konnte er seinem Sohn nicht einfach kündigen, weshalb er seine Erziehungsmethoden verschärfte.

Pablo Pintos dunkelrote Uniform stach zwischen den Anzugträgern und dezenten Kleidern hervor. Er hatte graues Haar und einen ebenso grauen Bart, der seine faltigen Lippen verdeckte. Leicht lächelte er, als er die beiden bekannten Gesichter zwischen den Passanten entdeckte. Annabelle und Jason spazierten am Hoteleingang vorbei und ließen sich Zeit, als sie an Pablo vorbeigingen. Geschickt übergab er Jason die Schlüssel, ohne dass der breitschultrige Türsteher davon Wind bekam. Seit mehreren Jahren lieh Pablo den beiden seinen Schlüssel für den Abend und manchmal auch für die ganze Nacht.

Unauffällig bogen sie in die wenig befahrene Seitenstraße ein und liefen zur Metalltür inmitten der Gebäudewand. Mit einem Klicken drückten sie die schwere Tür auf und huschten in den kleinen Vorraum mit marmornem Boden, teils mit rotem Teppich ausgelegt, und elfenbeinfarbenen Tapeten. Zu ihrer Rechten führte die Treppe hinauf ins erste Stockwerk. Sie konnten nicht schon im Erdgeschoss mit dem Aufzug fahren, da sie dazu durch die Eingangshalle gemusst hätten und man sie augenblicklich zu Noel bringen würde. Auf solch ein Treffen konnten sie verzichten.

Gespräche im Foyer und die sanften Töne eines Pianos verloren sich gedämpft hinter ihnen, als sie die vertrauten Stufen hinaufstiegen. Jason lief voraus und bog durch einen Zwischenraum in den verwinkelten Korridor ein. Sie hörten niemanden, bis sie an der nächsten Ecke dumpfe Schritte vernahmen.

»Oh nein, Miss Blake, Sie sind noch immer nicht fertig! Haben sie keine Augen im Kopf? Der Staub auf dieser Fensterbank lacht mich ja geradezu aus. Sind Sie nicht einmal in der Lage, ein Zimmer ordentlich zu reinigen? Wieso habe ich Sie überhaupt eingestellt? Nun machen Sie schon, oder erwarten Sie, dass ich Ihre Arbeit auch noch übernehme?«, donnerte die Stimme von Noel Perez aus dem Zimmer auf dem Eck, in dem Annabelle und Jason standen. Abrupt hielten sie inne und warteten leise ab. Noel Perez zügelte seine Lautstärke, als er weiter sprach, und sie verstanden den Rest seiner Vorwürfe nicht mehr.

Miss Blake, das Zimmermädchen, stammelte eingeschüchterte Worte, während Noel Perez das Zimmer wieder verließ. Zu ihrem Glück ging er in die Richtung, aus der er gekommen war. Jason schielte um die Ecke und ein Scheppern durchbrach die Stille.

Das Zimmermädchen fluchte und man hörte noch ein genervtes Schnaufen von Noel Perez, der den Knopf für den Aufzug am Ende des Ganges betätigte. Annabelle und Jason schlichen um die Ecke, als sie das Schließen der Aufzugtüren hörten, und huschten an der geschlossenen Zimmertür hinauf zum Dach.

Die letzten Sonnenstrahlen verschwanden gerade hinter den massiven Wolkenkratzern, als sie die Eisentür zum Dach aufstießen und ihnen die frische Abendluft entgegen wehte. Annabelle und Jason liefen über den knirschenden Kies zu dem rostigen Container hinter der geöffneten Tür. Jason öffnete ihn, kramte mehrere Decken hervor und ließ ihn zu fallen. Schon zu Beginn ihrer beiden Treffen auf dem Dach hatten sie Decken hinauf geschmuggelt, denn auch im Sommer konnte es abends recht kühl werden. Über und über mit Stoff beladen, gingen die beiden zur kleinen Grünfläche, die aus kratzigem, künstlichem Rasen bestand. Dennoch war das künstliche Gras bequemer als die Kieselsteine, die sich in ihren Schuhen sammelten. Die Decken, die sie um ihre Körper wickelten, fühlten sich durch die Kälte feucht an. Annabelle lehnte ihren Kopf auf die Schulter von Jason, während er seinen Arm um ihre Schultern legte und sie in eine zusätzliche Schicht Stoff hüllte.

Sie konnte sich nicht erinnern, wie oft sie schon auf diesem Dach gesessen und den Sonnenuntergang beobachtet hatten. Sie mussten nicht miteinander reden, auch wenn sie es meist trotzdem taten. Unzählige Male saßen sie aneinander gekuschelt in angenehmer Stille da, während sich Autos und Menschen weit unter ihnen geräuschvoll fortbewegten.

»Glaubst du, Anna wird wieder gesund?«, flüsterte Annabelle.

»Bestimmt«, erwiderte Jason. Er war nie gut darin gewesen, jemanden aufzumuntern. Vielmehr besaß er das unselige Talent, die Situation zu verschlimmern, so dass man niedergeschlagener und hoffnungsloser aus dem Gespräch ging. Er war halt kein Mensch, der mit Worten jonglieren konnte. Beim Thema Gefühle spielte er lieber die Rolle des passiven Zuhörers und nicht den Tröster. Er selbst empfand es als inneren Kampf, über seine eigenen Gefühle zu reden, weshalb er viel zu oft schwieg und die Emotionen hinter einer Maske der Unbewegtheit versteckte. Annabelle jedoch konnte er nicht täuschen, darum setzte er bei ihr diese Maske nie auf. Sie würde ihn nie zwingen, etwas preiszugeben, für das er nicht bereit war, und das schätzte er sehr.

Annabelle nickte und starrte gedankenverloren in den Sternenhimmel.

»Ich habe dir noch gar nicht gratuliert«, bemerkte Jason schockiert und zog sie nah an sich.

»Alles Gute zum Geburtstag, Belle«, murmelte er in ihr Ohr, während sein heißer Atem sie kitzelte.

Annabelle lächelte. Sie war froh, dass er sich an ihre Abmachung hielt. Beide hatten darauf bestanden, sich keine Geschenke mehr zu kaufen, sondern ihre bloße Anwesenheit als Geschenk anzusehen. Annabelle empfand es als sinnlos, ihren Geburtstag mit Geschenken und Kuchen zu feiern, und hatte Jason und ihre Mutter lange überreden müssen, ihr keine geheime Geburtstagsfeier zu organisieren.

Sie legte die Arme um seinen Hals und lehnte den Kopf gegen seinen. Seine kürzeren, struppigen Haare, mit einer Schicht Haargel überzogen, piksten gegen ihr Ohr, doch sie ließ nicht locker.

Reise

Ein tiefes Brummen und Gestampfe drang an Annabelles Ohren. Sie hörte panisch zwitschernde Vögel und heftige Flügelschläge, die das Weite suchten. Der Boden unter ihr schien zu vibrieren, als sie die Augen aufschlug. Sie saß inmitten einer Lichtung und sah geradewegs in ein Dickicht von dunklen, saftigen Laubbäumen. Verwirrt runzelte sie die Stirn. Das war nicht das Dach des Grand Royal Hotels! Annabelle richtete sich auf und das Beben verstärkte sich, dazu ein Geräusch wie tausende Hufe. Sie sprang erschrocken auf, als ein fußballgroßes Insekt an ihr vorbei huschte. Blitzschnell zog sie den Fuß zur Seite und sah, wie sich der übergroße Käfer in den Boden einbuddelte und das Loch mit Erde bedeckte. Die Büsche wackelten und tausende Kriechtiere flüchteten. Sie alle flohen in eine Richtung, direkt auf Annabelle zu und an ihr vorbei. Die Insektenflut strömte über den moosbewachsenen Erdboden und Annabelle stolperte rückwärts, als eine Horde farbenfroher Tiere auf sie zu raste. Reflexartig rannte sie in die gleiche Richtung wie die fliehenden Tiere. Sie war perplex über die Größe der verschiedenen Arten. Nie zuvor hatte sie einen so kleinen Hirsch gesehen. Er wand sich um ihre Füße und sprang davon. Eine meterlange Riesenlibelle schwirrte heran. Die dunkelblauen Flügel schimmerten grünlich, als sie in Sekundenschnelle an ihr vorbei huschte und Annabelle versehentlich schnitt. Der dünne Flügel glitt durch ihre Lederjacke, als wäre sie aus Papier. Erschrocken sprang sie zur Seite und stolperte gegen weiches Fell. Eine riesige, kupferfarbene Maus sah sie verschreckt an. Mit weit aufgerissenen Augen starrten sie sich für den Bruchteil einer Sekunde an. Keiner verlangsamte seinen Schritt und mühelos überholte der Nager Annabelle. Kurz entschlossen sprintete sie los, holte die Maus ein und sprang ihr auf den Rücken. Ihre Finger glitten durch den Pelz und Annabelle schlang ihr die Arme um den Hals. Mit jedem Sprung wurde sie hoch geworfen und hatte Mühe, sich festzuhalten. Die Maus versuchte sie abzuschütteln, gab jedoch auf, als ein ohrenbetäubender Schrei das Getümmel erreichte. Annabelle zuckte zusammen und drehte sich um. Unzählige Tiere aller Art drängten sich und wirbelten Staub und Erde in die Luft.

In der Ferne bildete sich ein Nebel, in dessen Mitte eine dunkle Gestalt zu schweben schien. Unaufhaltsam kam sie näher. Die Äste knackten unter dem Gewicht der Fliehenden, die allmählich begannen, hektisch nach Luft zu schnappen. Annabelle schloss ungläubig die Augen und wünschte sich ein Ende des Horrors. Sie flüsterte, es sei nur ein Traum, jedoch zeigte ihr ein weiterer Blick, dass die Gestalt nun weniger als 30 Meter entfernt war. Entsetzen erfasste sie beim Anblick der Tiere, die der Nebel erreichte: Leblos fielen sie zu Boden, auch Bäumen und Pflanzen schien die Energie entzogen zu werden! Das saftige Dunkelgrün wurde blitzschnell zu grauem Braun und tot rieselten die trockenen Blätter zu Boden. Die rasch nahende Gestalt war nun klar sichtbar, eine Frau in schwarzer, zerschlissener Robe. Die Ärmel ihres Kleides waren zu lang und hingen in Fetzen von den knochigen Armen. Das Haar, schwarz wie das Kleid, bedeckten stumpf und glanzlos ihre Brüste. Das Gesicht der Frau glich einer Grimasse des Todes, die Züge markant und die Kiefer ausgeprägt. Ihre Augen, dunkler noch als die Kleidung, darunter die Haut, dunkellila und geschwollen. Die Wangenknochen standen weit hervor, sodass tiefe graue Schatten sie konturierten. Verfaulte Zähne lugten aus einem Loch in ihrer Wange. Völlig verängstigt wegen der Frau wollte Annabelle aufwachen, als sie sich unversehens von oben gepackt fühlte. Sie schrie im selben Moment wie die Frau in Schwarz.

Krallen umgriffen feste ihre Schultern und Achseln und zogen sie empor. Ihre Finger glitten aus dem Fell und sie schwebte in der Luft. Ein Adler, größer als ein Auto, hielt sie fest, während er steil nach oben flog. Sein Gefieder leuchtete feuerrot, sein Schnabel glänzte schwarz wie Obsidian. Unter sich sah sie, wie der Nebel die tapfere Maus einholte, die steif zu Boden fiel und noch wenige Meter über den Waldboden rutschte. Wenige Sekunden länger auf dem Nager – und Annabelle hätte ihr Schicksal geteilt!

Nie zuvor hatte sie einen Traum gehabt, der sich so realistisch und echt angefühlt hatte, noch nie dieses Ausmaß an Furcht und Angst verspürt, die zugleich mit dem Adrenalin durch ihren Körper rasten. Ihr Herzschlag beruhigte sich nur langsam, während sie durch die Lüfte baumelte. Die Bäume waren riesig und Zweige peitschten ihr ins Gesicht und gegen die Beine, bis der Vogel das breit gefächerte Dickicht durchbrach. Die kräftigen Flügelschläge rissen sie hin und her. Sie wollte sich festhalten, doch ihre Arme waren wie in Schraubstöcken verankert. Annabelle wollte schreien, doch krächzte sie nur. Sie hing hunderte Meter über dem Boden in den Griffen eines Adlers. Der Vogel überwand die letzten Meter in den dichten Baumkronen und flog auf einen Schwarm dunkelblauer Artgenossen zu. Der wolkenlose Himmel leuchtete in einem Blau, dessen Intensität ihr die Tränen in die Augen trieb. Fast wie Schnee schien das Blau die Sonnenstrahlen zu reflektieren. Je höher sie aufstiegen, desto besser sah Annabelle die schräg über ihnen kreisenden Adler. Menschen saßen auf den Rücken der Vögel und schienen sie wie Pferde zu führen. Die Federn ihres Retters glänzten golden im Sonnenlicht, als stünde er in Flammen. Es musste ein Traum sein! Die dichten Baumkronen erstreckten sich über mehrere Kilometer zu allen Seiten. Hinter ihr verunzierten den dunkelgrünen Teppich mehrere braun-graue Bereiche. Zu Fuß hätte es Stunden gedauert, das Ende des Waldes zu erreichen.

Annabelle vermutete auch auf dem Rücken ›ihres‹ Adlers einen Reiter. Dieser glitt mit einem weiteren Flügelschlag über einen seiner Artgenossen und lockerte seinen Griff. Mit einem Ruck fiel sie. Sie versuchte nach den Füßen des Tiers zu greifen, spürte jedoch, wie sie hart auf dem Rücken des darunter fliegenden Adlers landete. Sie krallte die Finger in das tiefblaue Gefieder und wagte nicht aufzusehen. Ihr war übel, sie spürte die Magensäure, die ihre Speiseröhre hinaufkroch.

Ein junger Mann, sie schätzte ihn auf Mitte zwanzig, saß hinter ihr und begann zu reden. Annabelle verstand jedoch kein Wort. Er hatte hellblonde Haare und graublaue Augen, die sie besorgt musterten. Mehrere Stimmen mischten sich unter seine und die Worte und Sätze klangen für sie wie eine erfundene Sprache. Es waren ausschließlich Männer, sie diskutierten laut, vor allem ein junger Mann mit schwarzen Locken gestikulierte wild mit Armen und Händen. Er ritt das feuerrote Tier, das sie gerettet hatte, und deutete immer wieder auf sie.

Annabelle wollte fragen, wo sie sich befände, doch begann sie zu würgen. Sie erbrach sich nicht, lehnte sie sich jedoch zur Sicherheit über die Schulter des Adlers. Ihre Haut war blass und ihre Lippen verloren den gesunden Rotton. Der Adler wehrte sich und wollte sie angeekelt von sich werfen, doch der Blonde streichelte sanft über den Kopf des Tiers.

Allmählich beruhigte sich ihr Körper und sie lehnte sich benommen gegen das feine Gefieder im Nacken des Adlers. Ihre Waden brannten und ihr Kopf dröhnte, während sie schweigend die Männer betrachtete, die sich zu einigen schienen. Bis auf ihren Retter trugen alle dunkelbraune, hautenge Lederrüstungen. Der Schwarzhaarige hingegen trug eine tiefschwarze, glänzende Rüstung mit dunkelroten Details zu beiden Seiten seiner Arme. Um die Hüften waren passende Gürtel gezogen, an denen je ein Schwert und eine Handfeuerwaffe hingen. Die Schwertklingen und Griffe der Pistolen leuchteten in fast durchsichtigem Hellblau, während der restliche Teil der Pistolen und der Griff der Schwerter von mattschwarzem, edel wirkendem Metall waren. Das Schwert wies am Griff einige eisblaue Details auf, die sich als kleine, aneinandergereihte Edelsteine entpuppten. Keines der Schwerter lag in einer Scheide, sondern sie hingen bereit an den Hüften. Annabelle erschauderte, als sie die alarmierend vielen Waffen sah.

Die Stimmen endeten abrupt und der Adler, auf dem sie saß, begann sich mit heftigen Flügelschlägen zu bewegen. Instinktiv schlang sie die Arme um den Hals, wie sie es bei der Maus getan hatte. Der Vogel krähte über den festen Griff, sodass sie die Hände lockerer an den Seiten seines Halses hielt. Annabelle fühlte jeden Muskel unter sich, als der Vogel an Tempo gewann. Ihre Haare peitschten durch den Wind. Der Blonde hinter ihr war weiter nach vorn gerückt und berührte mit der Brust bei jedem Flügelschlag ihren Rücken. In regelmäßigen Abständen riefen sich die Männer für Annabelle unverständliche Worte zu, während sie die Welt unter sich bestaunte. Hinter dem dichten Wald entdeckte sie eine grell-grüne Wiese, die an ein abgeerntetes Feld grenzte. Ein Bach floss zwischen den Grasflächen und mehrere kleine Punkte huschten darüber. Sie flogen leider viel zu hoch über dem Boden, als dass sie hätte erkennen können, ob es sich um Tiere handelte, oder Menschen dort liefen.

Eine kilometerlange Mauer erstreckte sich hinter dem Feld. Vier Ecktürme ragten in den Himmel und Annabelle staunte über die außergewöhnliche Architektur der Gebäude, die in den Mauern standen. Doch schien die Stadt wie in zwei geteilt. Eine Hälfte bestand aus Marmor und Glas, die andere aus einfachem Stein und Lehm. Sie näherten sich der Stadtmauer und die kleinen Punkte auf dem Asphalt stellten sich als Menschen heraus. Vor der Mauer verharrten die Adler in der Luft, denn auf dem Wehrgang patrouillierten in Weiß gekleidete Männer und Frauen, die die Ankömmlinge genau inspizierten, bevor sie sie passieren ließen. Von weitem hatten sie Engeln geähnelt, die mit glänzenden Schwertern in einen Krieg zogen. Die Tore, die den Eintritt in die Stadt aus Glas und Marmor erlaubten, bestanden wie die Umzäunung aus massivem Marmor. Die riesenhaften Ecktürme schätzte sie auf gut zweihundert Meter Höhe, durch ihre Glasscheiben konnte man weitere, in Weiß gekleidete Wachen sehen, die hektisch umher liefen.

An einem Ende dieser hochmodernen Festung ragte ein durch Marmorböden in mehrere Stockwerke unterteiltes, enormes Gebäude hervor, die Fassade spiegelte den klaren Himmel wider und die hochstehende Sonne. Auf einem großen Platz vor dem Glaspalast tummelten sich unzählige Menschen, um die beste Sicht auf die Neuankömmlinge zu haben. Unterschiedlichste Farben hatte ihre Kleidung, doch trug keiner von ihnen zwei verschiedene Farben zugleich.

Elegant setzten die Vögel inmitten der ausweichenden Menschenschar auf dem Platz auf und wurden neugierig gemustert.

Die breite Menschenmasse teilte sich auf einer Seite und ließ eine Dreiergruppe weiß gekleideter Wachen hindurch, die einen älteren Mann geleiteten. Er hatte einen kurzen, weißgrauen Bart und ebenso helles Haar. Sein beeindruckender, dunkelroter Umhang schwang bis hinunter zu den Knöcheln um seinen in Schwarz gehüllten Körper. Majestätisch schritt er über den Platz zu ihnen.

Der Schwarzhaarige rief etwas, dass dem Wort »Vater« ähnelte. Er glitt elegant vom Rücken des Adlers. Mit ausgebreiteten Armen schritt er auf den älteren Mann zu und umarmte ihn kurz. Der Alte warf einen Blick auf die Gruppe, die nacheinander von ihren Vögeln stieg. Die Reiter landeten leichtfüßig, während Annabelle langsam an den Flügeln herunterkletterte und schlussendlich auf den Knien aufkam. Der Blonde half ihr auf und lächelte sie freundlich an. Er war der Erste. Zuvor war sie gemustert worden, als sei sie eine Schwerverbrecherin.

Der Alte deutete auf sie und begann zu schimpfen. Annabelle verstand nicht, worüber er mit dem Schwarzhaarigen redete, doch er war offensichtlich verärgert. Mit einem Mal hörte die Tirade des Älteren auf und er schritt zügig zu Annabelle, die erschrocken zurück stolperte, als zwei Finger grob ihr Kinn umfassten und es ruckartig nach oben drückten.

Die eisblauen Augen des Alten bohrten sich die Ihrigen und er inspizierte jeden Winkel ihres Gesichtes, während sich seine Finger in ihre Kiefer pressten. Seine Stirn war gerunzelt und auch die Mundpartie mit Falten überzogen. Die schmalen Lippen presste er fest aufeinander, man konnte sie nur noch erahnen. Ein Geruch von Anis stieg Annabelle in die Nase. Stumm stand sie da und wurde von dem ihm wie eine zukünftige Sklavin begutachtet. Sie fühlte sich unwohl, ohne dem unnachgiebigen Griff entkommen zu können, als er sie plötzlich wieder frei gab und hastig zurück tretend die Hand weg zog, als habe er sich die Finger verbrannt. Er hatte kein Wort mit ihr gewechselt, es nicht einmal versucht. Mit einem Winken beorderte er einen der Wächter zu sich. Fremde Worte kamen aus seinem Mund, während der Wächter stumm nickte und zu Annabelle schritt. Seine Hand legte sich sanft und doch bedacht um ihren Oberarm, um sie in Richtung des Palastes zu ziehen. Sie sah hilflos zu dem Schwarzhaarigen und dem Blonden, die ihr nur versichernd zunickten.

Bestimmend schob der Mann sie vorwärts durch die geteilte Menge. Sie spürte die fragenden Blicke der Menschen, die sie neugierig anstarrten.

Zu gern wollte Annabelle schreien und fragen, wo sie war und was mit ihr passieren würde, doch sie nahm an, man würde sie nicht verstehen. Sie musterte den Mann neben sich, dessen Griff lockerer wurde. Er war rund einen Kopf größer als Annabelle und hatte dichtes, rotbraunes Haar. Sie schätzte ihn auf Mitte dreißig.

Sie wurde in den prachtvollen Palast aus Marmor und Glas geführt, in dem sie nicht weiter beachtet wurde. Dutzende Wachen in weißen Uniformen huschten durch die hellen Gänge. In der Eingangshalle tummelten sich die Menschen, während der fremde Mann seinen Griff sicherheitshalber verstärkte, als sie sich durch die Masse drängelten. Gelegentlich sah Annabelle noch farbige Uniformen, die zwischen all dem Weiß hervorstachen. Auch sie fiel mit den schwarzen Jeans, Lederjacke und Sneaker auf. Bisher hatte sie keine Person gesehen, die Schwarz trug, außer dem Alten und dem Schwarzhaarigen.

An der hohen Decke in der Eingangshalle klebten Spiegel, die den Trubel reflektierten. Die Wache führte Annabelle in einen der vielen Korridore, die ebenfalls marmorne Böden und Wände hatten. Zu beiden Seiten der Wände leuchtete grünes und gelbes Licht, das aus runden Löchern nahe der Decke kam. Die Türen waren aus milchigem Glas, das keine Blicke ins Innere erlaubte. Ihre Schritte hallten auf dem glatten Boden und die Geräusche aus der Eingangshalle verblassten, als sie um die nächste Ecke in eine kleine Halle mit marmornen Treppen traten. Eine Hand drückte zwischen ihre Schulterblätter und führte sie hinunter. Die grünen und gelben Leuchten zogen sich auch ein Stockwerk tiefer durch die Gänge. Sie begegneten nur wenigen Menschen, sie trugen pastell-blaue Kittel und huschten zwischen den Milchglastüren umher. Sie erinnerten Annabelle an Ärzte und sie begann sich zu fragen, was mit ihr passieren würde. Nach einem möglichen Fluchtweg Ausschau haltend, erkannte sie, dass jeder Gang gleich aussah und sie nicht einmal mehr zur Treppe zurück finden würde. Die Korridore waren wie Wege in einem Labyrinth, bei dem sie nicht über die Hecke sehen konnte, wo sich der Ausgang befand. Sie wusste nicht, wie lange sie den endlosen scheinenden Weg gegangen waren, als die Wache abrupt vor einer der Glastüren stoppte und sie mit dreifachem Klopfen öffnete. Grelles Licht blendete sie, bevor sie sich im Raum umsehen konnte. Panisch stolperte sie zurück. Weit kam sie jedoch nicht, da sie gegen den harten Oberkörper der Wache prallte. Der Raum glich einem Operationssaal, in seiner Mitte eine erhöhte Liegefläche, mit mehreren Hebeln und Knöpfen an der Seite. Eine besondere Leuchte, in Form eines Hexagon ragte wenige Zentimeter über dem Kopfende auf und schien direkt auf die lederne Fläche. Von allen Seiten glänzte silbernes und weißes Metall. Auf einer Ablagefläche lagen metallene Instrumente bereit, während ein Mann, wenig älter als Annabelle, auf einem Hocker saß, den er vor und zurückrollte. Ihre Augen wurden groß, während sie ängstlich hinter sich sah, nur um die Wache zu entdecken, die beruhigend lächelnd den Kopf schüttelte. Sie wollte auf der Stelle umkehren oder schlichtweg aus diesem Albtraum aufwachen. Die zwei Männer tauschten sich kurz aus, bevor die Wache hinter der Tür verschwand und sie im Operationssaal zurück ließ. Sie sah noch den Schatten der Wache, die im Gang vor der Tür stand und offensichtlich achtgab, dass sie keinen Fluchtversucht unternahm.

Der jüngere Mann im blass-blauen Kittel stand auf und näherte sich Annabelle langsam. Sie wich so weit zurück, bis sie wahrlich mit dem Rücken zur Wand stand. Ungeachtet ihrer Angst trat er näher und lächelte freundlich. Der Mann hatte kurzes, dunkles Haar, das gewellt nach oben stand, und musterte sie aus grünen Augen. Sie bemerkte eine Narbe, die sich wenige Millimeter über seine Oberlippe zog. Der Mann hob die Hand und zeigte mit dem Finger auf seine Brust.

»Lucas«, sagte er und lächelte.

Annabelle verstand und tat es ihm gleich, als sie auf sich selbst zeigte und flüsterte:

»Annabelle«

Er nickte und zeigte auf die Liege. Als sie sich nicht rührte, legte er sich selbst kurzerhand auf die Liege und bedeutete Annabelle sich darauf zu legen. Die Liege war etwas geneigt, so dass Lucas sie aufmunternd ansehen konnte. Annabelle staunte, wie viel Geduld er aufbrachte, da sie seit ihrer Ankunft von keinem Menschen wirklich beachtet worden war, sondern nur von einem Ort zum Nächsten geschoben, ohne eine Wahl zu haben. Sie zitterte, als sie sich aus ihrer Starre löste und sich misstrauisch auf die Liege setzte, von der Lucas herunter sprang. Er zog den Stuhl an die Liege heran und verdeckte die silberne Ablagefläche mit seinem Oberkörper. Annabelle lehnte sich trotz ihrer Bedenken zurück und die sechseckige Leuchte ließ sie kleine tanzende Formen vor ihrem Auge sehen. Lucas drehte ihren Kopf von sich und inspizierte ihr linkes Ohr. Seine kalten Finger hielten ihren Kopf bestimmend nach rechts, als er mit der Hand hinter seinen Rücken griff und die metallenen Instrumente schepperten. Der erheiternde Ausdruck verschwand nicht aus dem Gesicht des jungen Arztes, als er Annabelle das silberne Ding vor die Nase hielt. Das Werkzeug glich einer winzigen Pistole, die weiß und silbern glänzte. Unwillkürlich spannte sie sich an und sie wollte den Kopf zu Seite drehen, als sie spürte, wie er die kühle Mündung in ihren Gehörgang drückte. Ein dumpfer Schuss ließ sie zusammen zucken und ein stechender Schmerz durchdrang ihr Hörorgan. Sie schrie auf, stellte jedoch fest, dass der Schmerz so schnell verklungen war, wie er gekommen war. Lucas legte die Pistole zur Seite. Annabelle hielt aus Reflex die Hand über ihre Ohrmuscheln und rieb vorsichtig darüber. Die Behandlung fühlte sich an wie damals, als sie sich mit sieben Jahren ein Ohrloch hat schießen lassen.

»Siehst du, es ist schon vorbei«, sprach er und Annabelle schreckte verwirrt von der Liege auf.

Sie konnte ihn verstehen. Sie verstand die Worte, die aus seinem Mund kamen. Völlig perplex deute sie mit dem Finger auf ihr linkes Ohr und stotterte:

»Das … Was ist … Was ist das? Ich kann … kann Sie verstehen«

»Das ist ein Sprachmittler. Er ist in der Lage, sämtliche Sprachen zu übersetzen. Mit Ausnahme weniger, nicht übersetzbarer Worte, wird jede Sprache dir wie deine eigene erscheinen«, erklärte er und schob den metallenen Tisch an die Wand zurück.

»Was…Aber wie? Wo… Bin ich?«, stellte sie die wichtigere Frage, als sie behutsam aufstand.

Schnell bereute sie diese Entscheidung, als sich ihre Sicht trübte und sich ein Tunnel vor ihren Augen weiter verengte. Annabelle sank auf die Liege zurück und blinzelte verwirrt.

»Hier, iss das«, empfahl Lucas und legte ihr eine kleine Kugel in die Hand.

Zögernd kostete Annabelle die süßlich schmeckende Kugel. Die cremige Masse klebte an ihren Zähnen, bevor sie langsam schmolz und wie Saft ihre Kehle hinab floss.

Die zuckrige Süßigkeit half ihr wieder auf die Beine und verdrängte das Schwindelgefühl.

Ein Klopfen ertönte, der Wächter betrat den Raum und lächelte zufrieden, als er sie sah, die sich langsam aufrichtete.

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, bemerkte Annabelle und sah zu Lucas.

Dieser schüttelte den Kopf und meinte mit einem Lächeln:

»Das kann Maverick Allonis sehr viel besser. Du kannst mich außerdem duzen«

Ihre Gedanken rotierten regelrecht. Maverick, den Namen hatte Anna geschrien, als sie den Pfleger angegriffen hatte. Sie fragte sich, ob es Zufall war, dass sie von einem gleichnamigen Mann träumte, oder ob sich dieser Name unterbewusst in ihre Träume geschlichen hatte. Sie ließ sich jedoch nichts anmerken und nickte Lucas dankbar zu.

»Ich bin übrigens James«, bemerkte die Wache und deutete in Richtung der offenen Tür.

»Es gibt noch vieles zu besprechen. Ich bringe dich zu Maverick«

Annabelle folgte James zur Tür und wandte sich noch einmal an Lucas:

»Danke, schätze ich«

»Das ist meine Aufgabe. Bis zu unserem nächsten Treffen, Annabelle«, erwiderte er und schloss hinter ihnen die Tür.

Erneut liefen sie durch das unterirdische Labyrinth und stiegen die endlosen Treppen hinauf. Annabelle wusste nicht, in welchem Stockwerk sie sich befanden, wünschte sich jedoch einen Aufzug, denn ihre Beine wurden schwach. Schwer atmete sie, als sie die scheinbar letzten Treppenstufen nach oben stiegen. Die Außenwände des Gebäudes waren aus Zentimeter dickem Glas und die Sonnenstrahlen schienen auf den glatt polierten Marmor. Sie sah winzige Staubpartikel, im Sonnenlicht tanzend durch die Luft schweben, als sie einen langen Korridor entlang schritten.

»Sie werden mir auch nicht sagen, wo ich bin, oder?«, fragte Annabelle und drehte den Kopf zur Seite, sodass sie James’ Profil sah und seine Mundwinkel, die sich leicht nach oben zogen.

»Da hast du Recht«, stimmte er ihr zu und sah weiter geradeaus zum Ende des Korridors.

»Aber es ist ein Traum?«, hakte sie nach.

»Nein«, erwiderte er und bog scharf nach rechts, als der Korridor in einem weiten Raum mündete an dessen gegenüberliegenden Ende eine weitere Treppe anstieg.

Annabelle zog verwirrt die Brauen zusammen, stöhnte jedoch auf, als sie die unzähligen weiteren Stufen sah. Sie konnte nach draußen nicht viel sehen, einzig dass sie das Hauptgebäude des Palastes verlassen hatten und weit über den Dächern der Häuser liefen, die sie tief unten als kleine Vierecke wahrnahm.

»Sie liegen falsch. Es ist ein Traum!«, beharrte Annabelle.

Stark zweifelte sie jedoch an ihrer Behauptung, sobald sie sie ausgesprochen hatte. Der Schmerz und ihre Umwelt fühlten sich so real an, dass sie begann an ihrer Wahrnehmung zu zweifeln.

Sie erklommen die letzten Stufen und standen vor einer breiten Glastür, durch die man, im Gegensatz zu den Restlichen, hindurchsehen konnte. Zwei Wachen, ein Mann und eine Frau, standen zu beiden Seiten und musterten Annabelle kritisch, bevor sie die Türen zu einem weiten Saal aufsperrten und James und sie passieren ließen.

Annabelle staunte, als sie im Saal stand und nach oben sah. Sie stand unter einer massiven Glaskuppel, in deren Mitte ein Trichter aus Spiegeln sie unzählige Male reflektierte. Die Kuppel reichte dreißig Meter über ihren Kopf. Auf einer Seite stand ein weißes Tischchen, eingerahmt von Polstersitzen. Maverick Allonis saß dort und musterte sie aufmerksam. Er wartete scheinbar auf sie und hielt eine Tasse in der einen Hand, während seine andere das Kinn stützte. Zur anderen Seite entdeckte Annabelle eine Theke vor einer Küchenzeile. James gab ihr einen sanften Schubs in Richtung Maverick Allonis. Der Alte deutete mit seiner Hand auf das Polster neben sich. Erschöpft sank sie auf das weiche Leder.

Maverick wandte sich zu James, der Annabelle nur wenige Meter in den Saal gefolgt war.

»Sie hat den Sprachmittler?«, stellte er sicher, woraufhin James nickte.

»Gut. Du kannst gehen«, wies Maverick ihn an.

Zügig lief er hinaus und ließ Annabelle alleine mit dem Alten.

»Wo bin ich? Wer sind Sie?«, platzte sie heraus und gestikulierte wild mit Händen und Armen.

»Mein Name ist Maverick Allonis, Herrscher von Alyntos, dem Reich und der Stadt, in der du dich gerade befindest. Und du bist eine Dumont, doch deinen Vornamen kenne ich nicht«, stellte er fest.

»Woher kennen sie meinen Nachnamen?«, fragte sie.

Maverick lächelte gezwungen, bevor er ihre Frage ignorierte und eine Gegenfrage stellte, die mehr nach einer Feststellung klang.

»Anna Camille Dumont ist mit dir verwandt?«

»Ja, sie ist meine Großmutter, doch ich verstehe nicht, was sie damit zu tun hat. Woher kennen sie Anna überhaupt?«, schoss sie hervor, ihr Gesichtsausdruck voller Fragen.

Maverick lehnte sich nach vorn und griff nach ihrem Kragen, um ihn zur Seite zu klappen. Die Kette vom Dachboden hing noch um ihren Hals und strahlte im hellen Licht noch klarer.

»Die Kette war in Annas Besitz, sie ist der Grund, weshalb du auf Eris gelandet bist. Die Kette ist nicht das einzige Stück, das du trägst, habe ich Recht?«, hakte Maverick nach.

»Nein … Woher?«, stammelte sie und schob den Ärmel ihrer Lederjacke zurück.

Das silberne Armband mit metallenem Flügel umgab ihr Handgelenk.

»Hätte Anna dich aufgeklärt, wüsstest du, dass du niemals zwei Portalträger tragen solltest«, erwiderte Maverick und lehnte sich wieder zurück.

»Warten Sie, was sind Portalträger?«, unterbrach Annabelle ihn, bevor er weiter reden konnte.

»Richtig, die Anderen wurden aufgeklärt. Portalträger sind Objekte, wie diese Kette oder das Armband, die es dir erlauben, zwischen dieser Welt und deiner zu reisen. Alyntos liegt nicht auf deiner Erde«, erklärte Maverick und nippte an seinem Tee.

»Was?«, platzte Annabelle ungläubig hervor und musste unwillkürlich grinsen. Sie hatte den Vorfall im Wald, die Adler, auf denen Menschen flogen und den sogenannten Sprachmittler schon als äußerst merkwürdig empfunden, doch diese Aussage klang für sie am unwirklichsten. Sie hatte die Frau in Schwarz gesehen, die beeindruckenden Vögel und das Instrument, das den Sprachmittler in ihren Kopf schoss, doch sie glaubte nicht, zwischen zwei Welten gereist zu sein. Sie wollte fest daran glauben, dass dieses Erlebnis ein Traum war, und nicht, dass sie eine unmögliche Distanz mithilfe einer Kette überschritten hatte.

»Nein. Das ist ein Traum. Das ist nicht echt. Sie sind nicht echt«, beharrte sie und schüttelte den Kopf.

»Das hatte Anna auch gemeint«, lachte Maverick.

»Du siehst ihr ähnlich«, fügte er nachdenklich hinzu und musterte sie von Kopf bis Fuß.

»Euer Modegeschmack hat sich zum Glück verändert«, bemerkte er mit einem Schmunzeln.

»Wie alt war sie denn, als sie sich kennengelernt haben?«, fragte Annabelle.

»Sie war 17, zumindest laut eurer Zeit«, erläuterte Maverick, wobei Annabelle zwei Fragen in den Kopf schossen.

»Unserer Zeit?«

»Auf Eris vergeht die Zeit anders. Ein Tag auf Eris entspricht zwei Tagen auf der Erde«, erklärte er.

Für Annabelle klang jede Antwort absurder, doch bezweifelte sie zunehmend, zu träumen. Es fühlte sich zu real an, stellte sie fest. Ein Teil von ihr versuchte dennoch, weiterhin an einen Traum zu glauben, um im Notfall einfach aufwachen zu können.

Annabelle rechnete auf Mavericks Aussage die Zeit zurück, in der Anna 17 gewesen war und musste ihm zustimmen. Die Sechziger waren merkwürdige Modezeiten gewesen.

»Wenn ich wirklich mit dieser Kette nach Eris gereist bin, wieso bin ich dann nicht gereist, sobald ich mir die Kette umlegte?«, erwiderte Annabelle. Für sie klang seine Erklärung, als sei die Kette magisch und jeder könne sich einen solchen Portalträger umlegen, um zwischen den Welten zu reisen.