Die Reiter der Albatrosse - Elena Bank - E-Book

Die Reiter der Albatrosse E-Book

Elena Bank

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Beschreibung

Vor langer Zeit wachte das sagenhafte Volk der Reiter der Albatrosse über das Land Apoliton. Sie waren die Hüter der vier Elemente Wasser, Erde, Feuer und Luft und mit ihrer Macht bewahrten sie den Frieden im Land. Über Jahrhunderte blühte Apoliton unter ihrem Schutz, bis eines Tages ein Schwarzer Magier, besessen von dunklen Dämonen, die Herrschaft in dem Land an sich reißen wollte. Die Reiter stellten sich ihm in einem langen Kampf, dem Apolitonkrieg. Danach verschwanden sie auf unerklärliche Weise und keiner weiß, was aus ihnen wurde. Nun rühren sich die Dämonen aus vergangenen Zeiten wieder und es heißt sogar, der Schwarze Magier würde sich von neuem erheben. Zwei Kinder, Lynn und Jay, müssen sich auf den Weg machen, um die verschollenen Reiter zu finden. Doch auch sie selbst scheinen das Interesse der dunklen Mächte geweckt zu haben.

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Seitenzahl: 413

Veröffentlichungsjahr: 2023

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INHALT

Die Hütte an der Klippe

Die Verfolgung

Ein Eichhörnchen stellt sich vor

Eine Bekanntschaft

Der Sturm

Anis Traum

Sar Nero

Elementmagie

Ein Entschluss wird gefasst

Die Wüstenstadt

Katz und Maus

Das Buch der Vergangenheit

Dunkle Tage

Etwas Schreckliches geschieht

Getrennte Wege

Aufbruch

Elementaria

Der geheimnisvolle Bote

Eine unangenehme Begegnung

Verrat

Die Zeit wird knapp

Kampf mit einem Dämon

Die Wahrheit der Prophezeiung

1. DIE HÜTTE AN DER KLIPPE

Die kleine Hütte stand auf einer Klippe. Unter ihr toste das Meer und brach sich schäumend an dem harten Stein. Hinter der Hütte erstreckte sich ein breiter Waldstreifen und das Häuschen befand sich genau dazwischen. Es lag wie in einer Sackgasse: Auf der einen Seite der Wald, auf der anderen die Klippen. Nur ein schmaler, gefährlich abschüssiger Weg wand sich am Felsen entlang und führte zu einer kleinen Bucht, neben der sich links und rechts ebenfalls Felsen erhoben. An einigen dicken Pfählen waren schmale Ruderboote befestigt, in denen Netze und lange Angeln lagen. Landeinwärts erhoben sich nach wenigen Metern erneut hohe Felsen. Bei Flut füllte sich dieses Becken und alles stand unter Wasser. Im Moment war der Meeresspiegel jedoch niedrig und man sah frische Spuren im weichen Sand.

Zwei Geschwister saßen schweigend mit dem Rücken zur Felswand. Der Junge trug eine lange abgewetzte Hose. Er hatte kurze, braune Haare und tiefblaue Augen. Das Mädchen neben ihm hatte langes, hellblondes Haar und leuchtende Augen. Sie trug eine enganliegende Hose und ein einfaches Hemd, das vorne wie eine Bluse geknöpft war. Beide waren damit beschäftigt, ein Netz zu flicken, das ein großes Loch aufwies.

Oft sahen sie von ihrer Arbeit auf und blickten nervös auf die schwarzen Wolken, die den Himmel bedeckten. Sie schienen auf etwas zu warten.

Nach einiger Zeit ging in der Hütte über ihnen ein Licht an und ein langer Pfiff erschallte.

„Endlich!“, murmelte das Mädchen und streckte sich, um die steifen Muskeln zu bewegen. Der Junge nickte zustimmend und verschwand. Das Mädchen packte das Werkzeug zusammen und legte das Netz vorsichtig in eines der Boote. Wenige Augenblicke später erschien ihr Bruder wieder. Er trug zwei bis an den Rand mit Fisch gefüllte Netze. Sie nahm eines davon und schweigend machten sie sich auf den beschwerlichen Aufstieg zur Hütte.

Vorsichtig erklommen die Kinder eine schmale, glitschige Treppe und sprangen über eine fehlende Stufe auf einen sandigen Weg, der sich die Klippen hinaufwand. Keuchend erreichten sie schließlich die Hütte.

Im selben Moment, in dem sie anklopfen wollten, öffnete sich die kleine Tür. Eine alte Frau stand im Rahmen und nickte den beiden zu.

„Jay, Lynn, kommt schnell herein. Es kann jede Sekunde zu regnen beginnen!“, rief sie mit brüchiger Stimme.

„Wir dachten schon, du hättest uns vergessen!“, antwortete Lynn und huschte an der Frau vorbei ins Haus. Diese lächelte und folgte ihr. Bevor Jay es ihnen gleichtat, hielt er einen Moment inne. Er schlang die Arme um sich und blickte in den Wald. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Wieso hatte er das Gefühl, dass jemand aus dem Dickicht zurückstarrte? Schon vorher an den Klippen hatte er den Eindruck gehabt, beobachtet zu werden. Irgendetwas war seltsam an diesem Tag, aber er vermochte nicht in Worte zu fassen, was. Es lag eine Spannung in der Luft, die er nicht erklären konnte.

Langsam folgte Jay seiner Schwester und ihrer Großmutter durch die Tür. Dann schloss er diese vorsichtig und verriegelte sie umsichtig mit einer alten, rostigen Kette.

Er zog seine feuchten Stiefel aus und setzte sich dann zu den anderen an einen kleinen Tisch, auf dem schon das Essen bereitstand. Wie erwartet, tropfte wenige Minuten später schwerer Regen gegen das einzige Fenster im Raum.

Nach dem Essen, das aus einem reichhaltigen Fischeintopf bestanden hatte, entfachte Lynn ein Feuer. Niemandem fiel das so leicht wie ihr. Meistens brauchte sie nur ein einziges Streichholz, um das teilweise noch feuchte Holz anzuzünden. Dann stand sie auf und setzte sich zu ihrer Familie auf das Sofa. Sie fühlte sich durch das angenehme Licht aufgewärmt, welches das Feuer aus dem Kamin warf. Der feuchte Nebel schien nicht mehr an ihr zu haften.

Die Eltern der Geschwister waren vor langer Zeit verschwunden und seitdem nicht mehr gesehen worden. Lynn und Jay kannten keine anderen Verwandten als ihre Großmutter. Und diese war schon alt, wie alt genau, wussten sie nicht. Trotzdem hatte sie scharfe Augen, die alles durchschauten. Fast jedem fiel an ihr ein seltsames, silbergraues Licht auf, welches ihre Falten nicht etwa hervorhob, sondern eher verdeckte.

Der Regen hämmerte auf das Dach, doch in der kleinen Hütte war es warm und gemütlich. Während sie so beisammensaßen, fing ihre Großmutter an, eine Geschichte zu erzählen. Die Geschwister kannten viele ihrer Erzählungen noch von früher, als sie kaum laufen konnten, aber der alten Frau war es wichtig, sie immer wieder zu wiederholen und so hörten sie auch diesen Abend wieder zu.

„Manche kennen sie unter dem Namen Beherrscher des Feuers, andere unter dem Namen Beherrscher des Wassers, wieder andere behaupten, sie hießen Beherrscher der Erde und einige sagen, ihr Name sei Beherrscher der Luft. Euch wird sicher aufgefallen sein, dass ihre Bezeichnungen jeweils etwas mit einem der Elemente zu tun haben. Das liegt daran, dass ihre Macht auf diesen vier Kräften beruht. Doch sie haben auch einen gemeinsamen Namen, der etwas bekannter ist: Die Reiter der Albatrosse!

Über sie gibt es eine Legende, die sich vor tausenden Jahren zugetragen haben soll. Sie handelt von riesigen Albatrossen, auf deren Rücken sie als Wächter des Landes ritten. Sie wohnten weit weg, auf einer geheimnisvollen Insel und nur selten sah man einen von ihnen, aber immer, und das wussten die Menschen, waren sie für den Frieden im Land verantwortlich.

Doch dies sollte nicht so bleiben. Eines Tages kam ein schwarzer Magier. Er ritt auf einem Geier mit roten Augen und mit ihm kamen viele seiner geisterhaften Wesen. Sein Ziel war es, das friedliche Land zu erobern und zu unterwerfen und so war Apoliton gezwungen, in den Krieg zu ziehen. Auf Bitten des Königs hin kämpften auch die Reiter der Albatrosse an seiner Seite.“

„Der König?“, fragte Lynn. Die Großmutter nickte.

„Damals wie heute lebt er in unserer Hauptstadt Belvor, aber es wundert mich nicht, dass ihr nicht viel über ihn wisst. Sein Blick kommt nämlich nicht mehr über die Stadtmauern hinaus!“, sagte sie und man hörte eindeutig den Ärger in ihrer Stimme. Beunruhigt sahen die Geschwister auf.

„Wie meinst du das?“, fragte Jay.

„Als die Reiter der Albatrosse den schwarzen Magier besiegt hatten, war der Frieden für lange Zeit gesichert und die nachfolgenden Könige zogen sich über die Zeit immer mehr zurück. Sie sind heute nicht mehr aus demselben Holz geschnitzt wie früher. Der jetzige weiß nicht einmal, was in seinem Reich vor sich geht und alle Informationen laufen nur noch über seine Berater. Aber das ist nun unwichtig. Lasst mich lieber weitererzählen.“ Die Flammen des Feuers spiegelten sich in ihren Augen.

„Der dunkle Magier war der gefährlichste Gegner, dem die Reiter seit Jahrhunderten gegenüberstanden. Er war ein äußerst mächtiger Magier, der von einem noch mächtigeren Dämon besessen war. Mithilfe seiner Schattenmagie zerstörte er Wälder und Felder. Es gab eine große Schlacht, die fünf Tage andauerte. Danach war Apoliton nicht wiederzuerkennen. Alles war verbrannt oder zerfallen, der Himmel war mit schwarzen Wolken überzogen, das Meer toste und schäumte und an vielen Stellen war die Erde aufgebrochen. Erst nach Tagen konnte man wieder in den Himmel blicken. Der Magier war fort, doch auch die Reiter der Albatrosse wurden seitdem nicht mehr gesehen.“ Die Großmutter machte eine kurze Pause, holte tief Luft, als ob sie sich nicht sicher war, ob sie den Geschwistern davon erzählen sollte, und fuhr dann fort: „Man sagt, in der entscheidenden Schlacht gab es ein Zusammentreffen zwischen dem Anführer der Albatrosse und dem schwarzen Magier. Was auf der Felseninsel, wo dies geschah, genau passierte, wissen nicht mehr viele und auch das, was sie noch zu glauben wissen, ist oft nicht die ganze Wahrheit. Denn wenn etwas über viele Jahre weitergegeben wird, ist es am Ende nicht mehr so, wie es einmal war.

Obwohl der Krieg gewonnen war, kam nichts mehr zum Alten, denn die damals beschworenen Dämonen begannen, sich in Apolitons Ecken niederzulassen. Auch heute noch verbreiten sie Chaos und stiften Streit. Sie haben magische Kräfte und waren die wichtigsten Verbündeten des schwarzen Magiers und durch ihre Anwesenheit verweilt auch von ihm weiterhin ein Teil in Apoliton.“ Wieder trat eine Pause ein. Lynn zog die Augenbrauen hoch, als fände sie die Vorstellung von Dämonen nicht ganz überzeugend, doch Jay wollte es genauer wissen: „Kommen die Reiter irgendwann wieder? Oder sind sie für immer verschwunden?“, fragte er.

„Ich weiß es nicht.“ Ihre Augen glühten jedoch wissend bei diesen Worten.

„Und was ist mit diesem schwarzen Magier? Kommt der wieder?“, hakte Jay nach.

„Nein, ich glaube nicht.“ Doch sehr überzeugt klang sie nicht.

„Aber schlaft nun.“ Sie scheuchte die Kinder aus dem Zimmer und setzte sich dann wieder auf das Sofa. „Ihr wisst noch nicht, wie besonders ihr seid und müsst es auch vorerst nicht erfahren“, murmelte sie.

Irgendwann werden sie es herausfinden. Und auch, dass die Geschichten und Legenden alle wahr sind. Doch noch ist nicht die Zeit dazu, dachte die alte Frau im Stillen.

„Kannst du dir vorstellen, dass es Albatrosse gab, die so groß waren, dass man auf ihnen reiten konnte?“, fragte Jay und ließ sich auf sein Bett fallen. Lynn zuckte die Achseln, während sie die Zimmertür hinter sich schloss.

Sie hatte schon viele Stunden damit zugebracht, die Albatrosse, die hier an ihrer Küste lebten, zu beobachten. Äußerlich hatten die Meeresvögel eine gewisse Ähnlichkeit mit Möwen, waren aber um ein Vielfaches größer und um einiges schöner und majestätischer. Mühelos ließen sie sich vom Wind tragen und flogen oft stundenlang, ohne auch nur einmal mit den Flügeln zu schlagen.

Es waren faszinierende Vögel, aber mit den Geschöpfen aus Großmutters Erzählungen hatten sie trotzdem nicht viel gemein. Sie besaßen nicht die magische Aura, die den Albatrossen aus den Geschichten nachgesagt wurde. Und reden konnten sie auch nicht.

„Ja, wieso nicht“, antworte Lynn auf Jays Frage. „Ich stelle mir gerne vor, dass es Menschen möglich war, auf ihrem Rücken den Himmel zu erobern.“

Die Geschwister schwiegen einen Moment.

„Welches Element würdest du gerne nutzen können, wenn du es dir aussuchen dürftest?“, fragte Lynn schließlich und fügte gleich noch hinzu: „Also ich hätte gerne Wasser. Da hat man immer genug zu trinken!“

Sie schielte zu ihrem Bruder, der auf der anderen Seite des Zimmers in seinem Bett lag und an die Decke starrte.

„Aber du hättest Hunger!“, erwiderte Jay mit ernster Stimme. Lynn rollte die Augen.

„So realistisch darfst du das dann auch wieder nicht sehen, Jay!“ Sie drehte sich auf die andere Seite, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Der Regen prasselte dagegen und die Welt war grau und schwarz.

„Also ich fände Erde am besten!“, überlegte ihr Bruder laut.

Lynn grinste. „Da hättest du aber kein Wasser!“

„Aber Wasser kommt doch aus der Erde, oder?“, erwiderte er.

„Ach hör auf!“, murmelte sie und zog die Decke über ihre Ohren.

Es mussten einige Stunden vergangen sein, als Jay aufwachte. Er überlegte gerade, was ihn geweckt haben könnte, als er plötzlich ein schlurfendes Geräusch hörte. Schnell setzte er sich auf. Hatte er geträumt oder war da etwas an der Wand entlang gehuscht? Da! Da war es schon wieder. Normalerweise hörte man nur die Wellen, wie sie gegen die steilen Wände der Küste schlugen. Doch heute war dort noch etwas anderes. Ein leises Schaben ertönte und langsam wurde ihm mulmig. Was zum Teufel war das nur? Es war tiefe Nacht. Er konnte nicht einmal die Hand vor Augen sehen. Sollte es nur eine Maus sein, die ihn so erschreckt hatte, würde er sich für seine eigene Dummheit verwünschen, aber er hatte ein ungutes Gefühl und das täuschte ihn selten.

Da war das Schlurfen wieder. Schnell nahm er den Speer, der an der Wand lehnte. Er wusste genau, wo er stand, sodass er ihn auch im Dunkeln finden konnte. Der Speer war mit schönen Mustern verziert und eigentlich nur als Dekoration gedacht, doch im Notfall konnte man sich auch damit verteidigen.

Bei einem weiteren Geräusch zuckte er zusammen. Es musste sich um ein kleines Wesen handeln. Wenn es schon Morgen wäre, hätte er wenigstens Licht.

„Wer ist da?“, versuchte er mit fester Stimme zu fragen. „Zeige dich!“

Undurchdringliche Stille. Im Bett nebenan bewegte sich seine Schwester

Jay spitzte die Ohren. Da war es wieder, es kroch zum Bett!

„Ich muss Lynn warnen!“, war das Erste, das ihm einfiel. Langsam tastete er sich vorwärts. Jetzt, da das Mondlicht durch die Fenster schimmerte, sah er etwas, nicht viel, aber genug, um einen schattenhaften Umriss zu bemerken, der die Bettdecke hochkletterte. Irgendwie hatte er schon einmal so ein Wesen gesehen. In einem Traum, an mehr konnte er sich nicht erinnern. Das Wesen war nun fast an Lynns Gesicht. Es bleckte die Zähne.

Das war zu viel für Jay. Ohne an sich selbst zu denken, rannte er vorwärts. Das war ein Fehler, denn plötzlich kam das seltsame klebrige Wesen genau auf ihn zugeschossen. Bevor er irgendwas tun konnte, hing es an ihm und fletschte die kleinen, scharfen Zähne. Jay keuchte auf, als er einen stechenden Schmerz im linken Arm spürte. Er wollte noch schreien, aber bevor er es konnte, schien das Gift des Tieres zu wirken. Er sank ohnmächtig auf den Boden. Er konnte gerade noch das Wesen zur Tür huschen sehen.

Als Jay wiedererwachte, beugten sich Lynn und seine Großmutter über ihn, aber er sah sie nur verschwommen. Sein Kopf tat höllisch weh. Ein Verband war um die blutende Wunde an seinem Arm gewickelt.

„Was ist passiert? Wo ist das Tier? Was ist geschehen, nachdem es mich gebissen hat?“, fragte er erschrocken. Er machte den Versuch sich aufzusetzen, doch der Schwindel übermannte ihn und er legte sich schnell wieder hin. Langsam wurden die Umrisse schärfer. Seine Großmutter drückte ihm einen nassen Lappen auf die Stirn.

„Rede jetzt nicht. Du bist von einem XU angegriffen worden. Lynn, hol den Rucksack. Schnell!“ Sie beugte sich wieder über Jay. „Mach dir keine Sorgen, die Wunde wird schnell verheilen, ich habe das Gift herausgeholt, aber pass auf, dass kein Dreck darankommt!“

Jay wollte zu einer Frage ansetzen, aber ihm wurde das Wort abgeschnitten, als Lynn mit einem Lederbeutel, an dem zwei Schulterriemen befestigt waren, wiederkam. Auch sie wollte etwas sagen, bekam aber keine Gelegenheit. Der Blick ihrer Großmutter ging ängstlich zu den Fenstern.

„Es wird Zeit“, mahnte sie, zog Jay auf die Beine und lief mit energischen Schritten auf eine Falltür im Boden zu. Quietschend bewegten sich die Scharniere, als sie mit aller Kraft an einem kleinen Ring zog. Sie winkte den Geschwistern, ihr zu folgen und verschwand durch die Tür.

Sich immer wieder umsehend stieg sie, den beiden voran, eine schmale Treppe hinab. Der Weg führte in den Keller. Schon befanden sie sich in einem kleinen, runden Raum. Überall hingen Spinnweben, und an den Wänden standen Fässer. Es roch stark nach Fisch. Genau in diesem Augenblick war es ihnen, als hörte man von oben das Bersten von Glas und das Scheppern von Geschirr. Alle drei zuckte zusammen und die Hände der alten Frau begannen zu zittern.

„Kinder, ihr müsst fort von hier!“ Lynn öffnete den Mund. „Nein, keine Fragen! Geht nach Süden zu den Wasserfällen in die Stadt Elementaria und sucht die Reiter der Albatrosse. Bringt ihnen das hier, bevor es zu spät ist!“ Mit diesen Worten gab sie ihnen einen versiegelten Brief und eine Karte von Apoliton.

„Und nehmt auch das. Es wird euch den Weg erleichtern!“ Sie drückte Jay einen kleinen, mit Geld gefüllten Beutel in die Hand. Die Kinder wollten protestieren, doch ohne darauf zu achten, sprach die Großmutter weiter: „Ihr dürft den Brief auf gar keinen Fall öffnen oder verlieren! Die Karte zeigt euch den Weg. Geht durch die Hintertür!“ Sie hielt inne. Das Kratzen von Krallen auf Holz über ihnen ließ sie zusammenzucken.

„Beeilt euch!“

„Und was wird aus dir?“

„Ich komme schon zurecht!“ Plötzlich stieg weißer Nebel auf, der sie umhüllte, bis sie in einem Strudel aus weißen Schwaden verschwunden war. Kurz hörten die Geschwister noch eine schwache Stimme, die zärtlich flüsterte: „Habt keine Angst. Ich bin immer bei euch!“ Danach herrschte Totenstille. Wie gebannt starrten die beiden auf die Stelle, wo ihre Großmutter gerade verschwunden war. Doch das Knarzen von Holz ließ sie gleich darauf aus ihrer Starre hochfahren.

„Komm lass uns gehen!“, flüsterte Lynn verwirrt und ängstlich. Doch Jay dachte anders. Was würde geschehen, wenn er nun ging? Er konnte nicht von seinem Zuhause wegrennen. Der Junge fasste einen Entschluss: „Ich will nicht gehen“, antwortete er.

„Und was ist, wenn die kleinen Monster uns hier finden?“ Was wollte ihr Bruder noch hier? Sie hatte noch keines der Wesen gesehen, aber die Wunde am Arm ihres Bruders sagte genug. Jay war sonst nicht so; eher zurückhaltend und vorsichtiger. Sie konnte sich nicht vorstellen, was in ihn gefahren war.

„Ich werde kämpfen!“

„Oh, bitte, komm schon Jay!“ Von oben hörte man das Poltern von Möbeln, das Splittern von Glas und viele Stimmen.

„Wir können uns doch hinter diesen Fässern da verstecken!“, er deutete mit dem Finger auf vier Heringsfässer. Lynn merkte, dass er versuchte ruhig zu bleiben, doch auch in seiner Stimme lag Furcht.

„Spinnst du, die werden doch alles durchsuchen!“, flüsterte sie.

„Schau, die Speere. Glaubst du, wir können uns nicht wehren?“

„Gegen einen oder zwei von denen vielleicht, aber ich glaube nicht, dass dieses Tier allein gekommen ist! Lass uns gehen!“ Sie zog Jay mit sich. Wenn es nicht schon zu spät ist!

Selbst ihr Bruder schien langsam die aussichtslose Lage begriffen zu haben.

Schnell schlichen sich die beiden durch die Hintertür in den strömenden Regen. Schon hörten sie Schritte auf der Treppe.

„Das war knapp!“, murmelte Lynn. Plötzlich krachte die Hintertür und man hörte ein triumphierendes Heulen. Lynn funkelte ihren Bruder an. Der hatte erschrocken die Achseln hochgezogen. Dann rannten sie in Richtung Wald. Lynn zog Jay hinter einen großen Stein. Der Atem der Geschwister ging schnell. Angespannt lauschten sie in die Dunkelheit.

„Wir müssen den Waldstreifen durchqueren und Hilfe holen!“, sagte Lynn und verstummte sofort wieder. Ein Knacksen übertönte das Pling Plong des Regens, der auf die Steine prasselte.

Plötzlich öffnete sich knarrend die kleine Hintertür, durch welche die Kinder gerade gekommen waren, und seltsame Gestalten wurden sichtbar. In ihnen erkannte Jay die merkwürdigen Wesen, die schon in seinem Zimmer herumgeschlichen waren.

„Das sind sie!“, murmelte Jay. Die Gestalten wurden deutlicher und nun sahen die Geschwister im fahlen Mondlicht, mit welchen Monstern sie es zu tun hatten. Sie waren nicht besonders groß, mochten einem Menschen vielleicht gerade mal bis zum Knie reichen, aber es waren viele. Ein Rudel. Mindestens zwanzig an der Zahl. Ihre schmalen Körper hatten etwas echsenähnliches, obwohl ihre Haut nicht geschuppt, sondern makellos glatt und aschgrau war. Sie liefen auf vier Beinen, richteten sich aber auch oft auf ihren Hinterläufen auf. Wenn sie das taten, stabilisierten sie sich mit ihrem Schwanz, der mit scharfen Zacken besetzt war. Die Augen waren riesig, schwarz und wirkten irgendwie leblos. Als eines der Monster das Maul aufriss, sah man kleine scharfe Zähne, die Jay schmerzhaft an seinen verletzten Arm erinnerten. Ein leichter Geruch von Verwesung ging von ihnen aus.

„Igitt, schau dir das an!“, flüsterte Lynn und schnitt eine Grimasse.

„Sei still, sonst finden sie uns!“ Jay kroch langsam in die Sträucher, die den Waldrand säumten und bedeute Lynn ihm zu folgen. Der Stein bot ihnen Deckung. Noch jedenfalls. Die XUs begannen sich zu verteilen und schnüffelten am Boden, um ihre Spur zu finden. Fast hatten die Geschwister die Stelle erreicht, an der der Stein keinen Sichtschutz mehr bot und man ein kleines Stück Wiese ungeschützt überqueren musste. Den Atem anhaltend krochen sie ganz langsam auf die Bäume zu, als plötzlich ein krächzender Aufschrei ertönte.

Sie wussten nicht, was es war, dass die Aufmerksamkeit der XUs erregt hatte, ein Geräusch, eine Bewegung? Auf jeden Fall entdeckte sie eines der Monster und stieß ein furchterregendes Knurren aus. Die anderen wurden sofort aufmerksam und suchten mit ihren Blicken nach den Geschwistern.

„Lauf!“, schrie Jay. „In den Wald!“ Die beiden sprangen auf und stürmten in das Unterholz. Die XUs setzten sich in Bewegung und folgten ihnen, wobei ihre schauderhaften Schreie durch die Nacht hallten.

„Ich weiß, wo wir hinmüssen!“, keuchte Jay und übernahm die Führung. Gemeinsam preschten sie durch den Wald. Zweige und Nadeln zerkratzten ihnen das Gesicht. Einer der Äste verfing sich in seinem Ärmel und riss ihn abrupt zurück. Jay hörte schon die XUs hinter sich. In Panik rannte er weiter und hörte das Reißen von Stoff. In seinem Ärmel tat sich ein langer Riss auf. Bei einem Baumstumpf blieb er keuchend stehen und schob einige Farnblätter auseinander, hinter denen sich ein Eingang befand.

„Los, rein!“, schrie er. Lynn glitt durch das Loch und Jay folgte ihr. Die Farnblätter verbargen sie nun vor den Blicken der Ungeheuer, aber ihre Spuren waren noch da und ihr Geruch lag noch immer in der Luft. Auf Händen und Knien krochen sie einen schmalen Gang entlang

„Wohin führt der Tunnel?“, fragte Lynn leise nach ein paar Metern. Aber Jay konnte ihr keine Antwort geben. Es dürfte diesen unterirdischen Weg eigentlich gar nicht geben. Er hatte den Tunnel neben dem Baumstamm auf einem seiner Streifzüge entdeckt und war seitdem regelmäßig hier gewesen. Der Tunnel war nicht länger als ein Erwachsener gewesen und hatte in einer kleinen Höhle geendet. Aber die Höhle war verschwunden und der Tunnel zog sich, ohne ein Ende zu nehmen. Es war unmöglich.

Die XUs mussten bereits an dem Baumstamm angelangt sein und Jay hoffte inständig, dass sie den Eingang nicht gefunden hatten. Er kroch hinten und war immerzu besorgt, irgendein Geräusch wahrzunehmen oder eine Hand zu spüren, die seinen Knöchel packte.

Erst nach einer Weile, als klar wurde, dass kein XU ihnen folgte, beruhigte er sich. Wie lange sie schon krochen, wussten sie nicht. Zum wiederholten Mal fragte sich Jay, ob er sich tatsächlich geirrt hatte und durch Zufall einen neuen Eingang entdeckt hatte, der zu einem längeren Tunnel führte, aber eigentlich wusste er, dass es nicht so war. Etwas war hier nicht normal.

Die Zeit verstrich unglaublich langsam. Der Tunnel war sehr eng und die Geschwister hatten das Gefühl zu ersticken. Dreck fiel ihnen in die Augen, während sie sich zentimeterweise vorwärts schoben. Der Weg schien immer schmaler zu werden und sie fühlten das Gewicht von Tonnen von Erde über ihren Köpfen lasten. Sie waren schweißgebadet und dreckig, als Lynn am Ende des Tunnels endlich Licht sah.

„Jay, da hinten scheint der Ausgang zu sein!“ Neuer Lebensmut erwachte in ihnen und mit letzter Kraft kämpften sie sich ins Freie. Erstaunt sah Jay sich um, als er den Kopf aus dem Loch steckte.

„Wo sind wir hier? So weit sind wir doch nun auch wieder nicht gekrochen!“ Sie befanden sich noch immer in dem finsteren Wald, aber an einer Stelle, an der Jay noch nie gewesen war, obwohl er geglaubt hatte, den Wald wie seine Westentasche zu kennen.

„Ich weiß es nicht, aber ich glaube, wir haben sie abgehängt!“, keuchte Lynn. „Auf jeden Fall hat es aufgehört zu regnen.“ Sie blieb stehen und klopfte sich den Dreck von den Kleidern.

„Wir sollten trotzdem weiter!“, sagte Jay. „Wir müssen den Weg hier rausfinden.“

Sie versuchten geräuschlos und geduckt an Bäumen entlangzuschleichen, da sie immer noch glaubten, die XUs in ihrer Nähe zu spüren. Doch als nichts geschah, verflog ihre Angst und in einer Mulde ruhten sich die Geschwister aus. Um sie herum war nur der tiefschwarze Wald.

„Es ist zu dunkel, um weiterzugehen und hier finden uns die Monster sicher nicht. Wir müssen weit weg von zu Hause sein, wenn nicht einmal du dich auskennst!“, meinte Lynn. „Lass uns ein wenig ausruhen.“ Sie legte sich auf den federnden Nadelboden. Jay nickte. Die Geschwister waren so erschöpft, dass ihnen die Lider fast augenblicklich zufielen.

„Wie lang dieser Tunnel wohl war?“, murmelte Lynn noch, bevor Schlaf sie umfing.

Sie fühlten sich sicher, ahnten aber nicht, dass sie schon die ganze Zeit beobachtet wurden.

Der Lärm, welchen der XU verursachte, als er durch das Unterholz brach, ließ das Rudel aufblicken. Die meisten der Wesen hatten sich unter einem Felsvorsprung zur Ruhe gelegt, nur ihre Augen leuchteten und ihr Geifern war zu hören. All ihre Sinne waren die von Raubtieren und sie konnten nachts genauso gut sehen wie tagsüber. Ihre Ohren hörten jeden Laut in einem weiten Umkreis und ihre Nase nahm selbst die schwächsten Gerüche wahr. XUs waren zudem sehr gehorsam, wie ein Rudel gefährlicher Jagdhunde, das nie von seiner Beute ablässt. Dabei waren ihre Möglichkeiten, selbst Entscheidungen zu treffen und eigenständig zu handeln, äußerst begrenzt. Ihr Gehorsam übertraf sogar ihren Überlebenswillen und ihr ganzes Handeln richtete sich nach erhaltenen Befehlen. Sie waren das Ergebnis vieler Züchtungen und perfekte Jagdmaschinen.

Nur einem von ihnen, dem Rudelführer, hatte man etwas mehr Verstand gegeben. Er konnte denken und in Menschensprache reden; über ihn liefen die Befehle. Als nun einer der XUs von der Suche nach ihrer Beute zurückkam, richteten die Wesen ihre grausamen Augen auf den Ankömmling. Der Anführer sprang von seiner erhöhten Position hinunter und richtete erwartungsvoll den Kopf auf. Knurrend und keifend umkreisten sie sich, während sie in ihrer seltsamen Sprache kommunizierten. Auch der Rest des Rudels lauschte den Neuigkeiten aufmerksam. Nach einer Weile kehrte der Anführer zu seinem Platz zurück und unter den XUs erhob sich ein triumphierendes Jaulen. Die Nachrichten waren gut. Man hatte die Geschwister endlich gefunden. Es war ihnen nie zuvor passiert, dass ihre Beute verschwunden war, doch nun hatten sie die Fährte wiederaufgenommen und konnten die Jagd fortsetzen.

2. DIE VERFOLGUNG

Lynn setzte sich vorsichtig auf. Alle ihre Glieder schmerzten. Der Waldboden war nicht sehr weich gewesen, obwohl sie auf einer dicken Moosschicht geschlafen hatte. Sie stand auf und lief ein wenig herum, wobei sie versuchte, die Kälte und Steifheit aus Armen und Beinen zu schütteln, was aber nicht recht gelingen wollte. Neben ihr erwachte Jay. Auch er wollte sich aufsetzen, ließ sich dann aber zurücksinken. „Ich fühle mich, als wäre eine Horde wilder Tiere über mich hinweggetrampelt!“, stöhnte er.

Lynn ging nicht auf sein Jammern ein. „Wir sollten die Umgebung absuchen“, murmelte sie. „Wir müssen herausfinden, wo wir sind und ob wir diese Monster wirklich abgehängt haben.“ Sie griff nach Jays Hand und zog ihren Bruder unter gewaltiger Kraftaufbietung auf die Beine.

Doch als sie sich ein wenig umsahen, konnte man, außer ihren eigenen Spuren von gestern und einigen Beeren, die sie zum Frühstück aßen, nichts von ihren Verfolgern finden. Nur in der Nähe der Himbeerbüsche war Lynn so gewesen, als würde sie jemand beobachten. Etwas hatte sie im Nacken gekitzelt und sie hatte sich eingebildet, einen kleinen grünen Blitz davonschießen zu sehen. Einen Moment später hatte sie ein leises Kichern an ihrem Ohr gehört und, als sie danach geschlagen hatte, einen verärgerten Aufschrei. Das kommt davon, dass ich so wenig Schlaf hatte! redete sie sich ein und verdrängte die unsinnigen Gedanken.

„Ich habe keine Monsterspuren gefunden. Wir scheinen in Sicherheit zu sein“, sagte sie zu Jay, als sie sich wiedertrafen.

„Aber was nun?“, fragte ihr Bruder. „Wo sollen wir hingehen? Ich habe mich umgesehen, ich habe keine Ahnung, wo wir sind. Wie sollen wir nach Hause zurückfinden?“.

„Wir können nicht zurück Jay“, murmelte Lynn traurig.

„Aber wir müssen doch! Wir müssen herausfinden, was mit Großmutter passiert ist!“

Lynn blickte niedergeschlagen zu Boden und biss sich auf die Lippe. „Hat sie sich wirklich aufgelöst, oder habe ich mir das eingebildet?“, fragte sie.

Jays Blick nahm etwas Entmutigtes an. „Ich weiß nicht, was gestern passiert ist. Sie war plötzlich einfach weg. Aber kein Mensch kann sich einfach so in Luft auflösen. Sie muss noch dort sein!“ Seine Worte klangen mehr, als versuche er, sich selbst zu überzeugen und nicht, als glaube er selbst daran.

„Du meinst, sie war noch in dem Keller?“, hakte Lynn nach. Für einen Moment hatten beide bildlich vor Augen, was wohl passiert wäre, wenn ihre Großmutter wirklich noch in dem Haus gewesen wäre, als die XUs hineingestürmt waren. Sie wollten nicht darüber nachdenken. Lynn schüttelte energisch den Kopf.

„Du weißt genauso wie ich, dass sie nicht mehr da war. Wenn wir zurückgehen, werden wir sie nicht finden. Außerdem wäre es dumm, umzukehren. Diese Monster könnten genau das erwarten und uns auflauern.“ Sich machte eine Pause. „Wir würden doch auch gar nicht zurückfinden. Niemand kennt den Wald besser als du Jay und nicht einmal du weißt, wo wir sind“, sagte sie und ihre Stimme wurde immer wütender. Aber sie war nicht wirklich zornig, es war nur die angestaute Verzweiflung, der sie Luft machte. Mit niedergeschlagenen Augen stimmte Jay ihr zu.

Vorsichtig zog Lynn die Karte, die ihnen ihre Großmutter gegeben hatte, aus dem Rucksack. Ihre Hand zitterte ein wenig. „Großmutter…“, begann sie. Plötzlich hatte sie Probleme, die Tränen zurückzuhalten. „Sie hat gesagt, wie sollen zu den Wasserfällen gehen und den Brief den Reitern der Albatrosse geben.“ Sie fuhr mit dem Finger vom Meer Relada, wo ihre kleine Hütte stand, hinab, bis sie bei den gigantischen Wasserfällen angelangte. Sie würden fast ganz Apoliton durchqueren müssen. Apoliton, ein riesiges, ihnen völlig unbekanntes Land voller Gefahren.

„Wie sollen wir das jemals schaffen?“, fragte Jay leise. Plötzlich fühlten sich beide nur noch leer und elend. Sie hatten alles verloren, was ihnen lieb und teuer war, waren vor einer Horde Monster geflüchtet, die sie sich nicht einmal in ihren kühnsten Träumen hätten ausmalen können, waren hungrig, durstig und ohne Orientierung. Und alles, was sie jetzt noch hatten, war eine Karte und der Auftrag, eine Gruppe von Menschen zu finden, die sie nur aus Legenden kannten.

Lynn fühlte, wie sie den Damm, hinter dem die Tränen nur darauf warteten, hervorzuströmen, nicht länger aufrechterhalten konnte und begann zu schluchzen. Jay legte den Arm um sie, aber ihm ging es gleich. Sie sackten auf den Boden und saßen eine lange Weile nur da und ließen den Tränen freien Lauf.

Doch irgendwann war nichts mehr da, was sie hätten weinen können, und sie beruhigten sich. Obwohl sie sich noch immer leer fühlten, konnten sie immerhin wieder klar denken.

Wieder saßen sie eine ganze Weile am Boden, still und nachdenklich. Schließlich holte Jay tief Luft, stand auf und zog Lynn auf die Beine. Dann richtete er seinen Blick wieder auf die arte.

„Wir müssen nach vorne sehen, Lynn. Wenn wir zu den Wasserfällen wollen, müssen wir nach Omir, der Hafenstadt, und von dort ein Schiff nehmen.“ Seine Schwester beugte sich still neben ihn und folgte seinem Finger. Nach ein paar Sekunden nickte sie zustimmend.

„Ein Schiff ist wohl die einzige Möglichkeit, wenn man nicht fliegen kann. Zu Fuß sind die Wasserfälle noch unerreichbarer als Mimir und das liegt mitten in der Wüste. Wir würden Monate brauchen“, murmelte sie. Dann hob sie den Blick und sah sich um. „Aber Jay, wie sollen wir überhaupt aus diesem Wald herausfinden?“

„Wir müssen eine Lichtung finden, von der man die Sonne sehen kann. Zu Mittag steht sie im Süden und wir können zumindest die Himmelsrichtung bestimmen“, überlegte ihr Bruder

Daran hatte Lynn auch schon gedacht. „Aber was, wenn wir keine Lichtung finden? Wir haben keinen Proviant, nichts, um uns zu versorgen. Wir hatten keine Zeit uns vorzubereiten, bevor, bevor...“, ihre Stimme versagte. Es kam ihr immer noch wie ein Traum vor. „Glaubst du, es gibt die Reiter der Albatrosse wirklich?“, fragte sie.

„Ich…ich weiß nicht“, antwortete Jay zögernd. „Eigentlich habe ich Großmutters Geschichten immer etwas weit hergeholt gefunden, aber jetzt, irgendwie, ich weiß nicht. Ich glaube es war der Blick in ihren Augen. Sie hat es ernst gemeint.“ Lynn nickte zustimmend. „Falls es die Reiter gibt, werden wir sie finden. Und dann werden wir ihnen Großmutters Brief geben“, fügte Jay noch hinzu. Lynn schlug sich auf die Stirn. Genau, den Brief hatte sie ganz vergessen. Schnell holte sie ihn aus dem Rucksack hervor. Er war mit rotem Siegelwachs verschlossen und darauf war etwas abgebildet, dass sie an einen Luftwirbel erinnerte. Ein seltsames Symbol.

„Sollen wir ihn öffnen?“, fragte sie leise, aber gleich darauf bereute sie die Frage. Jay schüttelte den Kopf. Was auch immer auf dem Pergament stand, es war nicht für ihre Augen bestimmt. Ihre Großmutter hätte sich sonst nicht die Mühe gemacht, den Brief mit Siegelwachs zu verschließen. Sie würden nicht ihr Vertrauen missbrauchen, indem sie das Siegel brachen und den Brief lasen.

Die Geschwister hatten gerade alles zurück in den Rucksack gepackt, als plötzlich ein Blatt vor ihnen herunterfiel. Es schlug die Augen auf und sirrte dann um sie herum.

„Was ist das?“, rief Jay erschrocken und schlug nach dem Blatt. Es strauchelte etwas, fing sich aber wieder und drehte weiter seine Kreise. Dann lösten sich Nadeln aus dem Baum über ihnen und gesellten sich zu dem Blatt. Auch fliegende Rindenstücke und winzige Ästchen kamen dazu. Immer mehr der seltsamen Blätter tauchte auf und bald standen die Geschwister in einem wahren Herbstregen.

„Hilfe!“, rief Lynn und fuchtelte um sich. „Was ist das?“ Sie rannte aus der Kugel, die sich um sie gebildet hatte.

„Warte mal!“, sagte da Jay, griff seine Schwester am Handgelenk und zog sie zurück. Er streckte seinen Arm aus und eines der Blätter glitt auf seine Hand. Er hob es bis ans Auge und schnappte überrascht nach Luft. „Das müssen Waldelfen sein! Großmutter hat sie genau so beschrieben!“ Neugierig kam Lynn näher und spähte über die Schulter ihres Bruders.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich mal welche mit eigenen Augen sehen würde!“, murmelte Jay vor sich hin, während er die Elfe vorsichtig, ohne sie zu berühren, untersuchte.

Ich sehe nur ein Blatt, dachte Lynn, doch genau in diesem Moment öffneten sich zwei kleine, spitzbübische, pechschwarze Augen und funkelten sie an.

„Man muss sie sorgsam behandeln. Waldelfen sind stolze, leicht erzürnbare Geschöpfe und ihre magischen Kräfte sind relativ unerforscht.“ Lynn runzelte die Stirn. Dann hob auch sie die Hand und gleich zwei Blätter fielen darauf. Ob sie auf der anderen Seite auch wie Blätter aussehen? fragte sie sich und warf die Elfen leicht in die Luft. Eines von ihnen drehte sich um und lag nun auf dem Rücken. Auf einmal summte der ganze Blätterregen bedrohlich. Jay schreckte aus seinen Gedanken auf.

„Dreh es schnell wieder um!“, rief er erschrocken. Geschockt warf Lynn das Blatt noch einmal in die Höhe. Doch die wenigen Sekunden hatten genügt, dass sie auf der anderen Seite zwei hauchdünne Beine, die angezogen und fest an das Blatt gepresst waren, gesehen hatte. Der Oberkörper und der Kopf der Elfe war mit dem Blatt verwachsen. Die Arme hatten wild herumgeschlagen, wie ein Käfer, der auf den Rücken gefallen ist und sich nicht mehr aufrappeln kann. Die Elfe hatte winzige Augen und als Mund nur einen kleinen Kreis.

Das Wesen drehte sich in der Luft und ließ einen entrüsteten Aufschrei hören, bevor sie sich zu ihren Artgenossen gesellte. Die restlichen Elfen entspannten sich, surrten dann noch einmal und waren im nächsten Baum verschwunden. Lynn atmete erleichtert auf, begegnete dann aber dem wütenden Blick ihres Bruders.

„Du hattest Glück, dass sie dir verziehen haben!“

„Was wäre denn sonst geschehen?“

Sie erhielt keine Antwort, musste sich aber, als sie losgingen, seine Zurechtweisungen anhören. „Du darfst nie, niemals ein magisches Geschöpf gegen seinen Willen zu etwas zwingen!“ Nach ein paar Sekunden schaltete sie ab. Irgendwann hörte Jay mit seiner Predigt auf und sie gingen schweigend weiter. Nur manchmal stritten sie sich um die Richtung, die sie für die richtige hielten.

Sie liefen eine halbe Ewigkeit durch den Wald, doch eine Lichtung fanden sie nicht.

„Die Bäume nehmen kein Ende! Wie sollen wir jemals wieder hier rauskommen?“, fragte Jay. Den ganzen Tag hatten sie bis auf den Tau von Blättern nichts getrunken und der Durst war fast unerträglich.

„Könnten wir den Tunnel wiederfinden und zurück nach Hause kriechen?“, fragte Lynn und versuchte ihre Kopfschmerzen und ihren trockenen Mund zu ignorieren. „Ich könnte nicht zurückfinden, du?“ Jay schüttelte den Kopf.

Sie verbrachten die Nacht frierend unter einer Tanne und wurden noch vor Sonnenaufgang von einem knurrenden Magen geweckt. Bald nach dem Aufwachen machten sie sich wieder auf den Weg und hofften, auf eine Quelle zu stoßen. Gegen Nachmittag schwanden ihre Hoffnungen langsam und gehen wurde mit jedem Schritt schwerer. Als sie wieder einmal eine Pause einlegten, glaubt Jay jedoch, ein leises Quieken zu hören und ein Blatt bewegte sich vor seinen Augen. Er tippe Lynn an und beobachtete die kleine Waldelfe, wie sie sich auf sein Knie setzte.

„Sie sind uns gefolgt!“, meinte er überrascht.

Weitere Blätter lösten sich und die Elfen segelten zu Boden. Lynn nahm sicherheitshalber ein paar Meter Abstand von ihnen, doch die Geschöpfe ließen sie völlig außer Acht. Sie zogen Jay an den Ärmeln auf die Beine und er folgte ihnen.

„Sie helfen uns!“ Er konnte es kaum glauben. Surrend und summend deuteten die Elfen Jay den Weg. Sie mussten noch immer wütend auf Lynn sein, denn niemand beachtete sie und sie musste zusehen, den Anschluss nicht zu verlieren. Sie hielten sich nun weiter rechts als vorher und nach einer Weile wurde der Wald lichter. Durst und Hunger waren verschwunden und hatten der Erleichterung Platz gemacht. Je näher sie dem Waldrand kamen, desto mehr Elfen blieben zurück und der Schwarm, der zeitweise so dicht gewesen war, dass man Jay gar nicht mehr gesehen hatte, löste sich auf. Gegen Abend waren die Geschwister wieder allein und es war, als hätte es nie Elfen gegeben.

Sie folgten dem Gurgeln eines Bachs und nachdem sie sich durch ein dichtes Gestrüpp von Brenneseln gekämpft hatten, konnten sie endlich am Rande des Wassers niederknieten und ihren Durst stillen.

Danach erst bemerkten sie die breiten, menschlichen Fußabdrücke, die sich in den weichen Schlamm am Ufer eingegraben hatten. Sie waren noch nicht sehr alt, vielleicht ein paar Stunden. Beide überwältigte Freude. Sie hatten aus dem Wald herausgefunden und würden mit etwas Glück bald erfahren, wo sie waren und auch etwas zu Essen auftreiben. Frisch gestärkt von dem klaren Wasser richteten sie sich auf und liefen weiter, sehr darauf bedacht, die Fußspuren, die sie gefunden hatten, nicht mehr zu verlieren. Nicht aber darauf bedacht, ihre eigenen Spuren zu verwischen.

Nicht weit hinter ihnen näherten sich geräuschlos die XUs.

Ihnen rann der Geifer über die Lefzen und sie verschwammen so mit der Farbe des Waldes, dass man sie kaum sah. Die Waldelfen hatten sie bis jetzt ferngehalten und sie gezwungen im Hintergrund zu bleiben, denn im Gegensatz zu den Elfen, die so alt waren wie die Wälder selbst, waren die XUs jung und konnten auch nicht die Magie des Waldes nutzen. Sie hatten keine Macht zwischen den Bäumen gehabt, aber jetzt war ihre Chance gekommen - jetzt hatten sie offenes Feld erreicht.

Lynn und Jay folgten den Fußstapfen, die sich jedoch bald im hohen Gras eines Feldes verloren. Ein sanfter Lufthauch strich ihnen um die Nase. Vor ihnen stieg eine schmale Rauchsäule empor, die sich mit den wenigen Wolken, die am Himmel entlang schwebten, vermischte. Lynn mochte es, den Wolken zuzusehen. Der Wald kam ihr im Vergleich dazu stickig und beengend vor und sie war froh, wieder einen Lufthauch um die Nase zu spüren. Sie holte tief Luft und genoss den Wind, der durch ihr Haar strich. Die Wolken waren wie riesige weiße Bausche, die in der Luft zerrissen und sich dann wieder zu Wolkenbildern zusammensetzten.

Hoch über ihnen flog ein Raubvogel. Er war auf der Jagd und sein Blick ließ nichts unbeobachtet. In Spiralen flog er über den Himmel. Kurze Zeit später stieß er im Sturzflug auf den Boden zu und stieg gleich darauf wieder in die Lüfte empor, mit einer Eidechse in den Klauen. Jays Stimme schreckte sie aus ihren Gedanken.

„Wir müssen fragen, ob wir bei irgendjemanden übernachten können!“, sagte er mit einem Gähnen, denn die letzten Tage hatten sie nicht viel Schlaf bekommen und die Vorstellung eines warmen Betts ließ ihn müde werden.

Die Rauchsäule kam aus einem kleinen Tal, an dessen Rand sie standen. Obwohl sie noch nie hier gewesen waren, kam ihnen die Gegend vertraut vor. Überall standen Obstbäume, die bereits kleine Knospen trugen, Felder, auf denen Mais und Weizen gedieh und dazwischen vereinzelt Hütten. Sie begannen den Abstieg, eine saftig grüne Wiese hinunter. Die Hänge waren nach dem letzten Regen allerdings noch nass, sodass sie mehr schlitternd als laufend hinunterrutschten.

Unten angekommen, gingen die Geschwister auf den erstbesten Bauernhof zu, der in ihrer Nähe lag. Zaghaft klopften sie an die große, schwere Holztür, über welcher ein riesiger Ochsenschädel hing. Es handelte sich um einen kleinen Hof, vollkommen aus Holz gebaut, bis auf das Dach, das mit roten Ziegeln gedeckt war. Ein langer Zaun umgab das gesamte Grundstück, zu dem auch noch zwei großen Ställen gehörten. Einige Obstbäume standen in dem kleinen Vorhof, den sie gerade durchquert hatten.

Kurz nach ihrem Anklopfen hörte man Schritte. Knarrend öffnete sich die Tür und ein älterer Mann blickte auf sie herab. Er hatte viele Falten und einen weißen Bart, der auf der Brust zurechtgestutzt war. Einige dünne Haare bedeckten seinen ansonsten kahlen Schädel. Misstrauisch musterte er die Geschwister.

Jay mochte es nicht, wie er sie ansah.

Seine grauen Augen schienen starr durch sie hindurchzusehen. Er trug eine braune Hose mit Trägern und darunter ein gestreiftes Hemd. Über seine Schulter hing eine Wolljacke.

„Äh, guten Abend. Ich bin Jay und das ist meine Schwester Lynn. Wir haben uns verirrt und wollten fragen, ob es möglich wäre…“ Bei diesen Worten stockte er und sandte einen hilfesuchenden Blick zu Lynn.

„Könnten wir vielleicht für eine Nacht bei Ihnen ein Zimmer mieten?“, vervollständigte sie den Satz ihres Bruders.

„Woher kommt ihr?“, fragte der Mann und musterte sie eingehend.

„Von der Küste, wir sind Fischer.“

„Mhm, ihr müsst sehr weit gelaufen sein. Ihr seid weit ins Landesinnere vorgedrungen.“

„Wo sind wir denn?“, fragte Jay.

„In der Nähe von Ajor. Zu Pferd liegt das etwa eine Stunde westlich von hier.“

Die Geschwister warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Ajor lag mehrere Tagesreisen von ihrer Küste entfernt im Landesinneren. Es war unmöglich, dass sie so weit gelaufen waren. Und doch, irgendwie waren sie hierher gelangt. Ihre Gedanken huschten zu dem merkwürdigen Tunnel und zu den Waldelfen. Magie musste im Spiel gewesen sein, eine andere Erklärung gab es nicht.

„Und ihr sagt, ihr habt euch verirrt?“, hakte der Bauer nach.

„Wir leben bei unserer Großmutter. Vor ein paar Tagen gingen wir in den Wald, um Pilze zu sammeln. Leider verliefen wir uns und das hier ist das erste Dorf, auf das wir getroffen sind“, sagte Lynn.

Sie beweist wieder einmal ihren Einfallsreichtum, dachte Jay und musste ein Schmunzeln unterdrücken. Den alten Bauern schien ihre Geschichte umzustimmen und ein weicher Ausdruck trat auf sein Gesicht.

„Na dann will ich mal nicht so sein. Kommt rein, ich werde sehen, was ich für euch machen kann“, brummte er in seinen Bart.

Sie folgten ihm über die Türschwelle und traten in das alte Bauernhaus. In manchen Ecken hingen Felle von Tieren. Es war düster. Es roch muffig und seltsam, anders, als sie es kannten. Sie folgten ihm einen langen Flur entlang und kamen in einen gemütlichen Raum. Nicht weit entfernt stand ein großer, aus Steinen gefertigter Ofen. Ein munteres Feuerchen brannte darin und den Kindern wurde gleich viel wärmer. Sie setzten sich auf ein Sofa, dass ihnen zugewiesen wurde. Eine Kommode stand rechts neben dem Kamin. Darin befanden sich einige alte Bücher. Darauf stand eine Blumenvase mit längst vertrockneten Blumen. An den Wänden hingen verschiedene Getreidesorten mit verblichenen Schildern darunter. Links des Kamins war die Tür, die in den Raum führte. Auf dem Boden lag eine große Kuhhaut, die als Teppich diente. In fünf Haltern an der Wand steckten Kerzen, die teilweise heruntergebrannt waren. Drei waren vielleicht erst einmal benutzt worden. Der Bauer bemühte sich gerade, ein Streichholz anzuzünden.

„Soll ich Ihnen helfen?“, fragte Jay und sprang auf.

„Nein, nein, nicht nötig!“, meinte der Bauer, doch er sah erleichtert aus, als Jay ihm die Streichholzschachtel aus der Hand nahm und die verbliebenen Kerzen anzündete.

„Ihr habt sicher Hunger“, sagte der Bauer. „Kommt mit!“. Er führte sie in einen etwas kleineren Raum, der mit Kacheln ausgelegt war. Hier waren noch mehr Kerzen als im Wohnzimmer. Schnell bemühte sich Jay, auch diese anzuzünden. „Leider habe ich nicht viel, was ich euch anbieten kann“, sagte der Bauer. Er holte ein wenig Käse, Brot und Milch aus einem Vorratsschränkchen und stellte alles auf den großen Holztisch in der Mitte. Draußen wurde es dunkel. Der letzte Strahl der Sonne verschwand. Der Bauer schien bereits gegessen zu haben, denn er drehte sich um und sagte, er sei sofort wieder da. Während er weg war, zog Lynn den kleinen Geldbeutel ihrer Großmutter aus dem Rucksack und zählte die Münzen.

„Glaubst du, er erwartet, dass wir ihn jetzt gleich bezahlen? Wie viel kostet so eine Übernachtung?“

Genüsslich biss Jay von einem Stück Käse ab. „Ich habe keine Ahnung.“ Sie warf ihm einen finsteren Blick zu, als er sich auf das Brot stürzte.

„Hast du keinen Hunger?“, fragte Jay mit vollem Mund und schob ihr den Käse zu. Lynn rollte die Augen, griff dann aber doch zu.

Als sie gesättigt waren, kam der Bauer wieder. Als er aber das Geld sah, welches noch immer auf dem Tisch lag, schob er es von sich.

„Ihr seid heute meine Gäste“, sagte er und bedeutete ihnen, ihm wieder in das Wohnzimmer zu folgen.

„Ich habe euch ein Zimmer gemacht“, sagte er und ließ sich in einen Armsessel fallen.

„Vielen Dank“, murmelten die Geschwister. Eine Weile starrten alle ins Feuer und Stille kehrte ein.

„Dann erzählt mal. Wie sind eure Namen?“, brach der Bauer schließlich das unangenehme Schweigen.

„Wir heißen Lynn und Jayden“, antwortete Jay.

„Und was werdet ihr tun, nachdem ihr euch verirrt habt?“

Die Geschwister warfen sich einen Blick zu.

„Wir wissen es noch nicht genau“, meinte Lynn schließlich. Natürlich wussten sie, was sie tun wollten, aber es kam ihnen falsch vor, noch jemanden davon zu erzählen. Der Bauer nickte verständnisvoll.

„Das dachte ich mir. Nun ja, ich könnte euch morgen mit in die Stadt nehmen. Ich muss da sowieso hin und ihr findet sicherlich jemanden, der euch helfen kann.“ Die Geschwister tauschten noch einen Blick.

„Ja, das wäre wahrscheinlich sinnvoll“, begann Jay. „Wir kommen gerne mit.“

Nun lächelte der Bauer zum ersten Mal.

„Ihr seid wohl nicht sehr gesprächig, aber wer kann es euch verübeln. Ihr müsst sehr erschöpft sein. Mein Name ist Gorden. Wenn ihr wollt, zeige ich euch jetzt euer Zimmer.“

Der Raum lag genau unter dem Dach und hatte ein kleines Fenster in der schrägen Decke. Außer zwei schmalen Betten befand sich noch eine kleine Truhe im Raum. Die Ecken waren voll mit Spinnweben und Staub. Der Bauer stellte noch eine Lampe auf die Truhe, wünschte ihnen eine gute Nacht und ging dann.

„Was sollen wir morgen in Ajor machen? Ein Transportmittel kaufen?“, fragte Jay und starrte auf ein paar leuchtende Sterne, die am Himmel funkelten. Lynn zuckte die Schultern.

„Oder wir finden eine Mitfahrgelegenheit. Ich weiß nicht, ob unsere Münzen ausreichen, ein Pferd kaufen.“ Sie zählte noch einmal die Münzen. „Weißt du, was das kostet?“

„Nö.“ Jay verschränkte die Arme unter dem Kopf. Dann schloss er die Augen.

Er musste wohl kurz eingedöst sein, denn Lynn weckte ihn. Sie saß mit überkreuzten Beinen auf ihrem Bett und starrte beunruhigt die Tür an. Dann sprang sie auf und schob die Truhe davor. Genau in dem Moment, als sich die Tür öffnen wollte. Jay lauschte. Da war etwas. Ein kratzendes, schreckliches Geräusch.

„Was ist das?“, fragte er, obwohl er es wusste. Genau solche Geräusche hatten die XUs auch gemacht, als er ihnen das erste Mal begegnet war.

„Besser wir verschwinden“, meinte Lynn.

„Und was ist mit dem Bauer?“

„Die sind hinter uns her. Ihm werden sie nichts tun,“ sagte Lynn. Sie sprang auf und schwang sich den Rucksack über die Schulter.

„Wo willst du denn hin?“, fragte Jay, als seine Schwester auf das Dachfenster zuging und es öffnete. Die Geräusche vor der Tür wurden immer lauter.

„Wir müssen aufs Dach! Schnell! Die Tür wird nicht ewig halten.“ Jay sprang auf. Die Truhe bewegte sich bereits. Lynn bildete mit ihren Händen eine Räuberleiter unter dem Fenster. Ihr Bruder hielt sich an den Seitenrändern des Fensters fest und stemmte sich hoch, dann half er Lynn auf das rutschige Dach, genau in dem Moment als die XUs in den Raum stürmten. Sie trugen Dolche und Seile und sahen sich etwas verwundert um. Einer von ihnen schnappte noch nach Lynns Fuß, als sie ihn gerade durch das Fenster ziehen wollte, aber sie war schon außerhalb seiner Reichweite.

„Wie haben sie uns gefunden?“, fragte Jay panisch, doch Lynn achtete nicht auf ihn. Sie stemmte sich mit den Füßen an der wackeligen Regenrinne ab und versuchte auf den Schindeln Halt zu finden. Langsam bewegten sich die beiden vorwärts. Neben ihnen ging es einige Meter in die Tiefe. Springen konnten sie vergessen. Außerdem war es zu dunkel, als dass sie wüssten, wo sie landen würden. Sie mussten an irgendetwas hinunterklettern. Ihr Atem ging schnell. Ihre Hände waren nass von Regen und Schweiß.

Lynn wagte nicht, sich umzusehen und hoffte, dass Jay immer noch hinter ihr war. Nirgends war eine Dachrinne, oder etwas Ähnliches. Was würde geschehen, sollte es ihnen nicht gelingen zu fliehen? Was wollten diese XUs eigentlich von ihnen? Einige Minuten rutschten sie schweigend weiter. Immer noch nichts.