Die Rettung des grauen Ponys - Örjan Persson - E-Book

Die Rettung des grauen Ponys E-Book

Örjan Persson

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Beschreibung

Im Reitstall herrscht große Aufregung: Die zierliche graue Ponystute Amie soll zum Schlachthof gebracht werden. Die Reitermädchen – allen voran Malin – sind entsetzt und sich schnell einig, dass etwas dagegen unternommen werden muss. Doch was? Malin ist fest entschlossen das Pony Amie zu retten. Kurzerhand reißt sie zusammen mit dem Pony von zu Hause aus und macht sich auf den Weg in die Berge. Ein Abenteuer mit unerwarteten Gefahren beginnt...Rezensionszitat"Der größte Wert dieses Buches liegt in der wundervollen Beschreibung der Wanderung, die Milan und das Pony unternehmen. Es gibt viele Passagen in dem Buch, die mich an meine eigene Kindheit erinnern. Das Buch weckt in mir Bilder und Erinnerungen." – Svens Lärartidning"Eine spannende Geschichte und glaubwürdige Entwicklung der Hauptperson." – Birgitta Fransson, Göteborgs-PostenBiografische AnmerkungÖrjan Persson (*1942) ist ein schwedischer Schrifsteller. In seinen Büchern spielt immer auch das Thema Umwelt eine große Rolle. Themen sind hierbei unter anderem der Treibhauseffekt, der Schutz der Ozonschicht sowie Atomkraft.-

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Örjan Persson

Die Rettung des grauen Ponys

Deutsch von Angelika Kutsch

Saga

Plötzlich war es ganz still in der Klasse. Malin wand sich langsam in die richtige Haltung. Sie hatte halb heruntergerutscht auf dem Stuhl gesessen, den einen Ellenbogen auf den Tisch gestützt, den anderen locker überm Stuhlrücken. So saß sie eigentlich immer. Den Ahorn vorm Fenster betrachten, der ist so schön. Hoch und mächtig wölbte er seine Krone über den Schaukeln und hölzernen Klettergerüsten, auf denen die Schüler aus den unteren Klassen unermüdlich schaukelten und kletterten, Pause für Pause.

Es war verboten, im Ahorn herumzuklettern, denn die Schulleitung befürchtete einerseits, der Baum würde ruiniert, und andererseits, die Kinder könnten sich verletzen, wenn sie aus gefährlicher Höhe herunterfielen. Früher hatte Malin sich über das Kletterverbot geärgert, aber jetzt war sie froh darüber, denn sie konnte die Baumkrone betrachten, ohne daß ein Haufen Kinder da oben herumhingen und schrien. Heute waren nicht mehr viele von den Blättern da, die noch vor einigen Wochen rot und golden geleuchtet hatten. Aber Malin folgte gern der Form der Stämme von der Erde aufwärts hinauf zu den Zweigen, die sich in den Himmel, den Raum, die Freiheit reckten.

Sie riß den Blick von ihrem geliebten Baum los, um nachzuschauen, was in der Klasse vor sich ging.

Wie blaß hier drinnen alles war! Bläuliches Leuchtröhrenlicht gegen beigefarbene Wände und auf schmutziggrauem Boden. Trist! Trist! Trist!

Malin saß ganz vorn links, genau vorm Pult. Nachdem sie sich zurechtgesetzt hatte, sah sie die Schwedischlehrerin an, die sie eben angesprochen hatte. Das Gesicht der Lappenlisa, so nannten sie die Lehrerin, leuchtete wie eine reife Tomate im Treibhaus vor dem Hintergrund der grünen Tafel. Malin konnte sich das Lachen nicht verkneifen, als ihr der Vergleich mit der Tomate einfiel. Was für ein Bild, dachte sie, schade, daß ich keine Kamera habe!

„Hör auf zu lachen und nimm die Tüte weg!“ rief die Lehrerin. Sie stand so nah, daß Malin einen Speichelspritzer auf der Wange abbekam. „Nimm die Tüte weg, sonst gehst du raus!“

„Die gehört mir nicht!“ sagte Malin mit erzwungener Beherrschung. Nur Carina, die rechts von ihr am nächsten saß, bemerkte, daß ihre Hände zitterten, als sie die Tüte vom Tisch nahm und auf die Knie legte.

Aus einer der hintersten Reihen kam ein Kichern. Das Kichern verbreitete sich rasch noch vorn und ging bald in unterdrücktes Gelächter hinter vorgehaltenen Händen über.

„Die Tüte gehört mir nicht!“ wiederholte Malin.

„Du lügst! Das werd ich dem Direktor sagen, verlaß dich drauf, du! Daß es in dieser Klasse nicht möglich ist, Ordnung zu halten! Ihr redet während des Unterrichts, sitzt träge da, beteiligt euch nicht am Unterricht und seid aufmüpfig!“

Lappenlisa starrte Malin, die sich unwillkürlich zusammenduckte, entrüstet an.

„Ich lüge nicht!“ protestierte Malin beleidigt.

„Wer hat eine leere Bonbontüte auf Malins Tisch gelegt?“ Lappenlisa ließ ihren Blick über die Klasse schweifen, die jetzt still und unschuldig dasaß. „Niemand also! Jetzt gehe ich zum Direktor! Das lasse ich mir nicht gefallen!“ Die kleine, etwas dickliche Frau entfernte sich mit raschen Schritten zur Tür. Als das wütende Geklapper ihrer Holzschuhe erstarb, atmete die Klasse 8 C auf.

Malin spürte eine Hand auf ihrer Schulter.

„He, Malin!“ Es war Peter, der hinter ihr saß. „Toll, daß du die Alte rausgeekelt hast!“

„Gut, Malin! Spitze!“ Lob von allen Seiten.

„Wem gehört die Tüte?“ Malin bückte sich, sie hob den Gegenstand der Verärgerung auf und hielt ihn zur allgemeinen Betrachtung hoch.

„Das ist Sussis!“

„Ist sie nicht!“

„Ist sie doch! Ich hab gesehen, daß du in der Pause eine Tüte hattest. Also gib’s zu!“

„Ich hab’s auch gesehen. Wirklich gemein von dir, es nicht zuzugeben.“

Bei soviel geschlossener Einigkeit konnte Sussi nicht anders, sie mußte es zugeben. „Also, ich hab sie eben verloren“, sie zuckte die Schultern. „Das ist doch nicht so schlimm.“

„Ach, es macht nichts“, sagte Malin. „Die Lappenlisa kann mich so oder so nicht leiden. Sie kriegt schon die Wut, wenn sie mich nur sieht.“

„Da bist du nicht allein“, tröstete Peter. „Sie mag niemanden von uns. Auch in den anderen Klassen nicht.“

„Aber Malin hat sie am meisten auf dem Kieker“, sagte Carina. „Auf ihr hackt sie dauernd rum.“

„Hasse kommt!“

Innerhalb weniger Sekunden war die Ordnung wieder hergestellt. Nur ein paar Papierknäuel und zerschnittene Radiergummis sowie eine pornographische Zeichnung an der grünen Tafel zeugten von der Abwesenheit der Lehrerin.

Das anklagende Quietschen der Kreppsohlen des Direktors näherte sich schnell, und gleich darauf trat er ein, Hasse Ivarsson, und schloß die Tür hinter sich. Er stellte sich ans Pult und schaute über die ordentliche Klasse.

„Elisabet Fjällberg hat ernste Anschuldigungen gegen euch vorgebracht“, sagte er. „Ihr scheint euch in den Kopf gesetzt zu haben, ihr den letzten Nerv zu töten!“

„Schlimmer als in anderen Klassen ist es bestimmt nicht“, protestierte Carina. „Übrigens ist sie selbst schuld, nur in ihren Stunden gibt es Ärger.“

„Sie sagt aber, bei euch ist es am schlimmsten“, sagte der Direktor. „Na, sie ist jedenfalls nach Hause gegangen.“

„Jippiii!“ rief Anders von hinten.

Hasse Ivarsson warf ihm einen forschenden Blick zu.

„Na ja, sie ist wirklich verdammt anstrengend“, antwortete Anders auf die unausgesprochene Frage.

„Lest die Seiten 36 und 37 im Schwedischbuch“, sagte Hasse. „Ich hab keine Zeit, bei euch zu bleiben. Und haltet den Geräuschpegel in Grenzen. Denkt daran, daß ihr nicht allein im Haus seid.“

Er ließ die Tür offenstehen und quietschte auf seinen Kreppsohlen zum Sekretariat. In der Klasse brach Gemurmel los.

Walkman, Kaugummipakete, Zeitschriften mit Postern von Fußballmannschaften und Fotomodels tauchten aus den Taschen auf. Einige aus der Klasse verschwanden. Sie hatten Durst oder mußten zum Klo oder genossen nur allgemein die Möglichkeit, das zu tun, was sie wollten, da kein Lehrer sie daran hindern konnte.

Malin sank zurück in ihre gewohnte Haltung. Für einen Außenstehenden sah das unbequem aus, schräg auf einem normalen Schulklassenstuhl halb zu liegen, aber Malin war das so gewohnt und fühlte sich wohl. Wenn sie so dasaß, konnte sie von der Schule abschalten. Sie schaute hinaus zu ihrem Baum. Am liebsten hätte sie auf einem der obersten Äste gesessen. Hier drinnen war sie eingeschlossen, und die Luft war so stickig.

Malin hatte den Herbst gern. Besonders die klaren, sonnigen Tage, wenn es morgens kalt war und sie von ihrem Schlafzimmerfenster die Berge sehen konnte. Mehrmals in der Woche stand sie früh auf, vor sechs. Das Aufstehen selbst, sich von der kuschligen Bettwärme loszureißen und duschen zu gehen, war fast unerträglich. Aber an einem ruhigen, klaren Septembermorgen hinauszukommen, wenn noch niemand anders wach ist, belohnte sie für die Mühe. Natürlich regnete es manchmal, oder von Westen pfiff ein scharfer Wind, der auch durch die dickste Jacke drang.

Malin stand so früh auf, weil sie an mehreren Tagen der Woche die Pferde in Elofssons Stall fütterte.

Elofssons Stall war einige Kilometer von dem Dorf entfernt, in dem Malin wohnte. Gustav Elofsson war ein alter Junggeselle, der ein paar Traber hielt, die Halbblutstute Sara und das Welsh Pony Amie. Er hatte den früheren Kuhstall umgebaut, und außer seinen eigenen Pferden vermietete er sechs Boxen für Reitpferde, deren Besitzer im Dorf wohnten.

Im Preis, den die Mieter zahlten, waren das Futter und die morgendliche Versorgung enthalten. Aber damit er sich nicht um die Arbeit im Stall kümmern mußte, hatte Elofsson die Morgenfütterung mit Hilfe einiger Mädchen, die verrückt nach Pferden waren, organisiert. Und eins dieser Pferdemädchen war Malin. Dafür, daß die Mädchen Sara und Amie reiten durften, standen sie morgens abwechselnd sehr früh auf. Sie fuhren mit dem Fahrrad zum Stall oder gingen zu Fuß, wenn Winter war und sich keiner der Eltern erbarmte und sie hinbrachte. Sie versorgten die Pferde und brachten sie hinaus auf ihre Weideplätze, außer im strengen Winter.

Elofsson war mit dieser Abmachung zufrieden, und die Mädchen waren froh.

Malin hatte sich im Stall herumgetrieben, seit sie elf war und nach Hälledal gezogen war. Anfangs hatte sie nur manchmal zusammen mit den älteren Mädchen reiten dürfen, meistens hatte sie die Pferde geputzt und die Boxen ausgemistet. Eine ganze Woche war sie Tag für Tag im Stall gewesen und hatte auf den glücklichen Moment gewartet, wenn Amie plötzlich ohne Reiterin dastand, weil ihre Besitzerin krank geworden oder aus einem anderen Grund ausgeblieben war. Dann eilte Malin in die Sattelkammer, holte Sattel und Zaumzeug und stand mit der fertig gesattelten Amie auf der Stallgasse bereit, ehe die anderen überhaupt mit ihren Sachen herausgekommen waren.

Mit der Zeit war sie zur Pferdepflegerin mit Verantwortung aufgestiegen. Jeden Dienstagmorgen hatte sie Stalldienst, das ganze Jahr über, und manchmal noch öfter, ausgenommen einige Wochen im Sommer, wenn der Stall leer war, weil alle Pferde draußen auf der Weide waren.

Malin wuchs schnell; sie war die Größte unter den Mädchen in der Achten und wurde allmählich zu groß für das Pony Amie. Bald ritt sie dann Sara, aber Amie blieb Malins Liebling im Stall, auch nachdem sie über die kleine graue Ponystute hinausgewachsen war.

Malin hatte immer von einem eigenen Pferd geträumt. Sie wußte aber nach jahrelangen Diskussionen zu Hause, daß sie dafür in absehbarer Zukunft keine Chance hatte. Nicht mal Reitstunden in der Reitschule in der Stadt konnte die Familie sich leisten. Aber niemand konnte Malin daran hindern, so zu tun, als ob Amie ihr eigenes Pferd sei. Nach und nach waren die anderen Mädchen davon überzeugt, daß Malin die Hauptverantwortung für Amie hatte. Wenn Amie eine kleine Wunde am Bein hatte, wenn sie mal nicht fraß oder jemand fand, das Pony lahmte oder hatte Husten, dann sprach man mit Malin, die sich sofort um die Sache kümmerte.

Malin dachte an Amie, wenn sie hinaus zu ihrem Ahorn schaute. Vor genau zwei Wochen hatte sie Amie geritten, nur zum Spaß, um zu fühlen, wie das war. Eins der kleinen Mädchen, das sich nachmittags immer im Stall aufhielt, hatte Amie geputzt und sie sogar gesattelt und aufgetrenst, so daß Malin nur aufzusteigen und loszureiten brauchte. Die kleine Grauschimmelstute wirkte steif und klamm, und Malins erster Gedanke war, daß Amie einfach alt geworden war. Sie war sechzehn Jahre alt und hatte elf Fohlen gehabt, und natürlich war sie nicht mehr so geschmeidig und belastbar wie ein Jungpferd.

Fünfzig Meter vom Stall entfernt begann der Wald und mit ihm der „Galopp-Pfad“, eine Schleife von ungefähr einem Kilometer entlang der Forstwege im Tannenwald. Am Waldrand sprang Malin ab, ließ die Zügel auf dem Widerrist liegen und begann, das graue Pony zu untersuchen. Mit den Vorderbeinen fing sie an, sorgfältig tastete sie mit der Hand am linken Röhrbein entlang. Alles schien wie immer zu sein. Aber schon am Karpalgelenk reagierte Amie, indem sie das Bein zurückriß. Malin ließ sofort los, während die kleine Stute irritiert versuchte, sich von den neugierigen Mädchenhänden zu befreien: Sie schlug aus.

Malin richtete sich auf, und Amie stellte den Fuß wieder auf den Boden. Die Untersuchung des rechten Beins brachte das gleiche Resultat. Irgend etwas mußte mit Amie passiert sein! Obwohl ... wenn Malin genau nachdachte, hatte sie sich schon länger nicht mehr mit Amie beschäftigt. Sie war eine Woche erkältet gewesen, und außerdem hatten einige der jüngeren Mädchen die Pflege des Ponys übernommen, auch wenn Malin im Stall war.

Verflixte Mädchen! Daß sie nichts sagten! Wenigstens die Kleine, die sich eben noch um Amie gekümmert hatte, hätte merken müssen, daß etwas nicht in Ordnung war.

Malin führte Amie zurück zum Stall. Nachdem sie der zerknirschten Zehnjährigen, die Amie versorgt hatte, die Leviten gelesen hatte, ging sie über den Hofplatz zum Wohnhaus, in dem Gustav Elofsson wohnte.

Es dauerte eine Weile, ehe Elofsson herauskam, und als er in der Türöffnung stand, groß und dick, mit buschigen blonden Augenbrauen unter einem kahlen Schädel, roch Malin einen Hauch Essensdünste aus dem Haus. Elofsson wirkte gereizt, und Malin begriff, daß sie ihn beim Mittagessen gestört hatte.

„Amie lahmt auf einem Hinterbein“, sagte sie hastig. „Haben Sie mal Zeit, nach ihr zu sehen?“

Elofsson grunzte etwas Unverständliches und ging wieder ins Haus. Der Hofbesitzer war unverheiratet; er lebte allein und war kein besonders zuvorkommender Mann. Die kleineren Kinder fürchteten sich vor ihm. Die jüngeren Mädchen im Stall verzogen sich hinter Strohballen oder einen schützenden warmen Pferdekörper, wenn er sich im Stall zeigte. Er trainierte seine Traber nicht einmal selbst. Das machte ein junger Mann für ihn.

Nach einer Weile kam Elofsson heraus und tastete Amies Beine ab. „Es scheint im Röhrbein zu sitzen“, sagte er. „Das Gelenk ist geschwollen. Ist sie in den letzten Tagen viel gelaufen?“

„Nicht daß ich wüßte“, sagte Malin.

„Eva hat an mehreren Tagen viele Stunden lang Springen mit ihr geübt“, sagte eine dünne Stimme aus der Gruppe von Pferdemädchen, die sich vor Amies Box versammelt hatten.

„Eva, wer ist das?“ Elofsson starrte die Mädchen empört an.

„Eva Andersson, eben war sie noch da.“

Malin wußte, wer Eva war. Sie war das Mädchen, das Amie an diesem Tag versorgt hatte.

„Stimmt das?“ Elofsson sah Malin drohend an.

„Ich ... weiß nicht“, sagte Malin. „Ich bin nicht so oft hier gewesen. Ich war nämlich krank.“

„Eva ist furchtbar viel geritten“, sagte ein kleines Mädchen in hellgrauen Reithosen mit hoher Stimme. „Deswegen durfte ich fast überhaupt nicht reiten.“

„So geht das nicht“, brummte Elofsson mit seiner rauhen Stimme. „Die Stute ist überanstrengt!“

Das Mädchen, das zuletzt gesprochen hatte, versteckte sich erschrocken hinter den anderen.

Elofsson drehte sich zu Malin um. „Und ich hab gedacht, du kümmerst dich darum, wer Amie und Sara reitet“, sagte er. „Und du merkst, wenn mit den Pferden etwas nicht stimmt.“

„Ich?“ sagte Malin verdutzt. „Ich wußte gar nicht, daß ich dafür verantwortlich bin. Natürlich achte ich darauf ...“

„Man sollte doch meinen, daß du ein bißchen Verantwortung übernehmen kannst, nachdem du hier so viele Jahre reiten durftest“, sagte Elofsson. „Ich habe mich auf dich verlassen. Aber ich hätte mich wohl ein bißchen mehr darum kümmern müssen, wer sich hier rumtreibt. Schließlich hast du nichts fürs Reiten bezahlen müssen, oder? Da hättest du dich wirklich mehr einsetzen können! Außerdem dachte ich, daß du die Stute magst!“

Malin war so überrascht, daß sie einen Schritt rückwärts machte und eine Schaufel umriß, die gegen die Boxwand gelehnt stand. Rasch hob sie das Gerät wieder auf, und im gleichen Augenblick drängte sich Elofsson zwischen den versammelten Mädchen hindurch und ging zur Tür.

„Was ist denn nun mit Amie?“ rief Malin ihm nach. „Was sollen wir tun?“

„Gelenkschwellung“, antwortete Elofsson, ohne sich umzudrehen oder stehenzubleiben. „Sie muß absolute Ruhe haben. Und achte drauf, daß sie ordentlich frißt. Ich komme gleich zurück und mache ihr einen Umschlag.“

Malin hob Striegel und Hufkratzer auf, und auch die anderen wandten sich wieder ihren Beschäftigungen zu. Sie wischte sich eine Träne mit dem Jackenärmel ab und drehte dem Ausgang den Rücken zu, um den anderen nicht zu zeigen, wie traurig sie war. Blöder alter Kerl! Hätte er ihr nicht ein Wort sagen können! Noch nie hatte er geäußert, daß Malin die Verantwortung für Sara und Amie und alle Mädchen hatte, die seine Pferde hier ritten! Klar, sie hatte einen Großteil der Verantwortung übernommen, ohne daß sie jemand darum gebeten hatte, aber jetzt war sie schließlich krank gewesen! Wenn sie diese verflixte Eva erwischte! Die hätte unbedingt fragen müssen, bevor sie die arme Amie so hart rannahm! Das durfte sie gar nicht.

Malin war gekränkt und verletzt, aber mit dem grauen Pony hatte sie noch mehr Mitleid als mit sich selbst. Eine Gelenkschwellung war vielleicht nicht so gefährlich, aber sie tat bestimmt sehr weh. Amie konnte es ja kaum ertragen, wenn man ihr Bein nur streifte!

„Wirklich gemein von ihm“, sagte eine Stimme hinter Malins Rücken. „Du kannst doch nichts dafür!“

Malin schüttelte den Kopf, ohne sich umzusehen. Sie hörte ja, daß es Kattis war, der Silver gehörte, der New Forest Wallach.

„Mach dir nichts draus“, fuhr Kattis fort. „In ein paar Wochen ist Amie bestimmt wieder gesund. Vielleicht schon in ein paar Tagen.“

Der Tag, an dem Malin zu Unrecht beschuldigt worden war, daß sie eine leere Bonbontüte auf ihren Schultisch gelegt hatte, nahm endlich auch ein Ende. Nach der Schule fuhr sie mit dem Fahrrad direkt nach Hause, um sich umzuziehen und dann gleich weiter zum Stall zu fahren.

Die Familie wohnte in der ersten Etage eines der drei betongrauen vierstöckigen Mietshäuser nahe der beiden Supermärkte und dem Kiosk.

Malin rannte die wenigen Treppenstufen von der Haustür zur Wohnungstür hinauf, ließ den rosa Rucksack zwischen Stiefeln und Schuhen fallen, die links von den Jacken ordentlich aufgereiht standen. Ihre eigenen Turnschuhe warf sie mitten auf dem Fußboden von sich. „Hallo!“ rief sie. „Ist jemand zu Hause?“

Keine Antwort.

Von der Küche aus sah sie, daß die Tür zum Schlafzimmer der Eltern geschlossen war. Sie schlug die Tageszeitung auf und blätterte zerstreut. Mutter hatte also Migräne. Jetzt lag sie da drinnen hinter heruntergezogenem Rollo, ein Kissen auf dem Kopf, in den Ohren vielleicht die gelben Stöpsel aus der Apotheke. Die Familie Bergström-Johansson hatte dann trübe vierundzwanzig Stunden vor sich. Vielleicht zwei Tage lang. Ein Schleichen und Gezischel war das, keine Kassetten oder Radiomusik und die kleinen Geschwister, Emil und Karin, würden nicht drinnen spielen dürfen. Aus alter Gewohnheit blätterte Malin die Zeitungsseiten mit größter Vorsicht um, damit das Geraschel die Mutter nicht störte.

„Malin!“

Behutsam tappte Malin zur Schlafzimmertür. „Ja.“

„Komm ein bißchen herein.“

Vor dem Fenster hing eine Wolldecke.

„Hast du Migräne? Möchtest du etwas haben?“ fragte Malin.

„Nein.“

„Was wolltest du denn?“

„Der Direktor hat angerufen. Du hast also wieder mal etwas angestellt!“ Ein grauweißes Gesicht mit zwei blassen Augen, gepeinigt von Kopfschmerzen, wurde am Kopfende des Doppelbettes sichtbar.

„Aber Mama, ich hab nicht ...“

„Daß du nie erwachsen wirst! Der Direktor hat gesagt, du bist frech gegen eine Lehrerin gewesen. Du hast sie so beleidigt, daß sie nach Hause gehen mußte. Wie kannst du nur! Als ob man nicht schon genug Kummer hätte. Wenn du wüßtest, wie furchtbar das ist, Migräne zu haben, würdest du dich zusammenreißen.“

„Ja, aber Mama, ich hab wirklich nichts getan! Die alte Lappenlisa hat behauptet, ich hätte eine leere Bonbontüte auf den Tisch gelegt, so eine, die ordentlich knistert. Aber ich bin das nicht gewesen, Sussi hat sie aus irgendeinem Grund auf meinen Tisch gelegt. Und als ich klarstellte, wie es gewesen ist, drehte die Lappenlisa durch. Die spinnt doch. Ehrlich, ich hab die Wahrheit gesagt. Und was geht es übrigens sie an, ob da eine Tüte auf einem Tisch liegt? Aber die ist so, die kann nichts vertragen. Nie hört sie zu, wenn man was sagt, und sie wird schon verrückt, wenn man nur hustet. Das war so, sie hat gesagt ...“