The Great World Game - Örjan Persson - E-Book

The Great World Game E-Book

Örjan Persson

4,7

Beschreibung

Tobias entdeckt ein neues Computerspiel. Ein bisschen unheimlich ist ihm das unbekannte Spiel von Anfang an, doch weil die Neugierde grösser ist, probiert er es aus. Schob bald ist ihm klar, dass dieses Spiel nach Regeln funktioniert, die er nicht wirklich versteht, und dass er nicht der einzige Spieler ist. Es scheint als spielten nur Zufallsspieler in diesem Spiel mit und als spielte jeder gegen jeden. Tobias ist total fasziniert. Als er das Spiel jedoch beenden möchte, findet er nicht mehr heraus. Trotz jeglichen Bemühungen scheint Tobias keinen Ausgang zu finden... Wer könnte ihm dabei nur helfen?

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Örjan Persson

The Great World Game

Ein Cyber-Roman

Aus dem Schwedischen vonRegine Elsässer

Saga

1

Die einzigen Geräusche im Zimmer waren das leise Klicken der Maus und ein Rauschen vom Computer. Foxie lag neben Tobias’ Füßen und seufzte hin und wieder im Schlaf.

Es war ein dunkler Novemberabend, es schneite ununterbrochen und Tobias hätte eigentlich für die Mathearbeit am nächsten Tag lernen sollen. Das erste Halbjahr in der Neunten war für ihn nicht so prima gelaufen. Deshalb saß er mit schlechtem Gewissen vor dem Computer und surfte ein bisschen durchs Netz.

Er hatte gerade beschlossen, den Computer auszumachen und das Mathebuch herauszuholen, als es passierte. Ein paar Worte in riesiger, schwarzer Schrift bedeckten den Bildschirm: The Great World Game.

»Das große Weltspiel«, übersetzte Tobias. Ein Gratis-online-Spiel. Das war spannend. Er klickte sich ein. Aus den Lautsprechern kam ein leises Rauschen, wie wenn der Wind an einem dunklen Herbstabend durch die Bäume fährt, dann wurde der Bildschirm pechschwarz.

Plötzlich blitzte ihn ein weißer Text an: Danger!

Gefährlich. Aha. Was war denn gefährlich?

This is a Virtual Reality Game, stand als nächste Textzeile da.

Prima, dachte Tobias, da kann ich endlich die 3D-Maus einsetzen. Foxie war aufgestanden und knurrte den Bildschirm drohend an. Tobias spürte, wie es ihm kalt den Rücken hinunterlief und die Härchen an den Unterarmen sich aufstellten. Er befahl Foxie, still zu sein, und klickte mit gespannter Erregung auf das yes am unteren Rand. Ja, er war bereit. Es war richtig spannend!

Es dauerte eine Weile, bis etwas geschah. Tobias saß da und starrte konzentriert auf den leeren Bildschirm.

Allmählich baute sich ein Bild auf. Er befand sich in einem großen Raum mit Steinwänden. Tobias drehte sich um, und da das Spiel dreidimensional war, konnte er in alle Richtungen gehen. Kahle Wände. Worum es bei dem Spiel wohl ging?

Ammo 100%, Health 100%, Armor 100%.

Dann hielt er plötzlich eine Waffe in der Hand und hatte einen Helm auf und eine schusssichere Weste an. Ach so, diese Art von Szenario war ihm nur zu bekannt! Ein kleiner Lichtpunkt am Boden erregte sein Interesse, er ging hin und drückte auf die grüne Lampe. Eine schwere Steintür öffnete sich und vor ihm stand ein dunkelhaariger Soldat, der mit einem Maschinengewehr auf ihn zielte. Tobias gab rasch ein paar Schüsse ab und der Soldat sank stöhnend auf den Steinboden.

Ein typisches Shoot ‘em up-Game. Solche Spiele hatte Tobias schon unzählige Male gespielt, und er wusste genau, was er tun musste, um zu gewinnen. Man musste sich nur schnell und exakt durch das Fort schießen. Danach würde er Mathe lernen.

Die Grafik war erstaunlich gut gemacht und deutlich, das Blut, das dem toten Soldaten aus der Brust pumpte, war eklig lebensecht. Tobias ging weiter in den nächsten Raum. Aus einer Ecke stürzte sich ein großes, schwarzes Monstertier auf ihn. Er zielte und feuerte eine Salve ab. Scheiße! Er hatte daneben getroffen und das Tier warf ihn um. Auf dem Boden liegend, konnte er schließlich den Angreifer mit Blei abfüllen. Aber Tobias hatte 20% seines Health verloren und sehr viel Ammo, der Helm war ihm vom Kopf gefallen und rollte irgendwo in eine dunkle Ecke davon. Tobias stieg über das gefallene Untier. Er war überrascht, wie realistisch das Spiel war, er hatte das Gefühl, als würde er wirklich mit einer Waffe in der Hand dastehen.

Dann schaute er sich in dem neuen Raum um. Er sah genauso aus wie der erste. Vorsichtig suchte Tobias die Wände ab. Wo war die nächste Tür? Ja, da war ein Knopf. Er drückte ihn und stellte sich auf, bereit, alles zu töten, was sich bewegte. Ein Tor öffnete sich. Zwei Soldaten in den gleichen Uniformen wie der erste tauchten hinter einer Steinmauer auf und schossen auf ihn. Er erwiderte das Feuer und machte sie beide unschädlich.

Aber war es denn kein Internetspiel? Die Soldaten, denen er begegnet war, schienen zum Fort zu gehören. Irgendetwas an diesem Spiel war merkwürdig.

»Machst du einen Lärm«, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihm. »Kannst du bitte die Lautstärke ein bisschen runterdrehen?«

Sune, Tobias’ Vater, war ins Zimmer gekommen.

»No problem, Daddy«, sagte Tobias und drehte leiser.

»Hast du deine Hausaufgaben gemacht?«

»Alles unter Kontrolle. Ich habe ein saugutes Spiel aus dem Netz eingefangen. Es heißt ›The Great World Game‹. Ich spiele es nur noch zu Ende, dann lerne ich.«

»Ist gut. Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Sune ging zurück ins Wohnzimmer und sagte zu seiner Frau, dass er sich um Tobias ein wenig Sorgen mache. »Dieser Apparat schluckt ihn förmlich auf. Ich bereue fast, dass wir ihn gekauft haben.«

»Ich auch«, sagte Katarina. »Es scheint das Einzige zu sein, was ihn zurzeit interessiert. Aber ich denke, wir müssen einfach abwarten, irgendwann hat er auch wieder genug davon.«

Tobias war inzwischen im fünften Raum, hatte aber nur noch 60% Health. Wie viele Zimmer waren es wohl noch? Er musste sehr aufpassen, wenn er das Spiel gewinnen wollte.

Er öffnete die nächste Tür und stellte fest, dass er schon auf der anderen Seite des Forts war. Dort gab es viele Menschen. Sie hatten Feuer angezündet, um die Dunkelheit zu erhellen. Manche kamen mit verletzten, blutenden Menschen auf Bahren, manche schrien und heulten laut. Tobias erkannte den ersten Soldaten, den er getötet hatte, er lag auf einer Bahre und hatte einen blutigen Stofffetzen über der offenen Wunde in der Brust. Mausetot. Aber andere waren noch am Leben und jammerten laut. Die Sanitäter liefen barfuß zu den improvisierten Operationstischen.

Plötzlich schrie eine Frau und zeigte aufgeregt auf ihn. Sie redete in einer Sprache, die Tobias nicht verstand.

Dann brachen die Aktivitäten auf dem trockenen Sandplatz vor der Festung unvermittelt ab und die Menschen starrten ihn mit hasserfüllten Augen an.

Tobias drehte sich um und schaute in die Richtung, aus der er gekommen war. Es war wohl das Beste, den Rückzug anzutreten. Aber die Pforte hatte sich geschlossen, er stand auf einem schmalen Absatz vor der Wand, drei Meter über der Erde.

Die Leute unten näherten sich bedrohlich. Er zielte und schoss. Aber das Magazin war leer. Um der allergrößten Gefahr zu entgehen, warf er die Waffe gegen den ihm am nächsten Stehenden, einen kräftigen Mann in Uniform, der sich duckte und deshalb nicht getroffen wurde.

0% Ammo.

Tobias griff mit den Fingern in die steinerne Mauer über sich, fand jedoch keinen Halt. Er musste hinauf, weg von der Menschenmenge, sie würden ihn nicht entkommen lassen. Er zwängte sich aus der schweren, unbequemen Bleiweste. Mit der würde er niemals klettern können. Endlich fanden seine Finger Halt in den Ritzen zwischen den großen Steinblöcken der Mauer. Mit einer Kraft, die weit über den mageren 60% lag, die er gerade noch gehabt hatte, zog er sich nach oben, stieß mit seinem Fuß auf einen kleinen Vorsprung und war außer Reichweite der Menschen unter ihm. Aber warum trugen sie keine Waffen? Es wäre ein Leichtes gewesen, ihm eine Kugel zu verpassen, wie er da wehrlos an der Wand hing, er hatte ja überhaupt kein Armor mehr.

Als ob jemand seine Gedanken gelesen hätte, sauste ein Pfeil an seinem rechten Ohr vorbei und blieb in einer Ritze zwischen den Steinen neben seinem Kopf stecken. Die Soldaten in der Festung hatten doch Gewehre gehabt? Wenn er nur den kleinen Absatz einen Meter weiter rechts erreichen würde, wäre er vielleicht gerettet. Jedenfalls für den Moment. Ein weiterer Pfeil traf einen Stein und zersplitterte. Tobias packte den Schaft des ersten Pfeils, der sich tief in die Ritze gebohrt hatte, und für den Bruchteil einer Sekunde dachte er darüber nach, was passiert wäre, hätte er sein Ziel getroffen.

Tobias klammerte sich krampfhaft an den Pfeil. Hoffentlich hielt er! Tobias zog sich hoch, und es gelang ihm, auf den Vorsprung zu kommen. Gerade als er sich über den Rand rollte, hörte er eine Gewehrsalve und spürte ein Brennen im rechten Bein. Die Soldaten hatten offenbar ihre Maschinengewehre in Stellung gebracht. Er rollte sich noch weiter nach innen und bemerkte erleichtert, dass der Vorsprung so breit war, dass er nun außer Schussweite der Angreifer war.

Blut lief ihm die Wade herunter, und als Tobias das Hosenbein hochzog, stellte er fest, dass die Kugel auf einer Seite eingedrungen und auf der anderen wieder ausgetreten war. Aber zum Glück schien es nur eine Fleischwunde zu sein, der Knochen war offenbar unverletzt. Das Blut floss in Strömen. Tobias zog sein Hemd aus und versuchte, es in Streifen zu reißen, was gar nicht so einfach war. Aber schließlich gelang es ihm, einen halbwegs ordentlichen Verband anzulegen, den er so fest wie möglich zuzog. Dann erhob er sich auf die Knie und wollte vorsichtig über den Rand schauen. In dem Moment tauchte ein Gesicht hinter der Mauer auf, die Leute hatten offenbar eine Leiter angestellt. Blitzschnell war Tobias auf den Beinen. Er lief, so schnell er konnte, humpelte mit seinem verletzten Bein auf der Mauer entlang, bis zur Ecke der Festung. Er hörte die Leute schreien. Hatte er überhaupt noch eine Chance? Schnell drehte er den Kopf, um zu sehen, ob sein Verfolger bewaffnet war. Ein Sekundenbruchteil an Unaufmerksamkeit genügte, er stolperte über einen losen Stein und fiel über den Rand.

Er fiel und fiel, fiel immer tiefer.

2

Ammo 0%, Health 29%, Armor 0%. Keine Waffen, keine Munition und keinen Schutz mehr. Und mit der Gesundheit sah es sehr schlecht aus. Aber er lebte noch. Tobias spuckte den Sand aus, den er beim Aufprall in den Mund bekommen hatte. Er musste sehr tief gefallen sein, denn von der Stelle aus, an der er sich jetzt befand, konnte er das Fort nicht mehr sehen.

Es war immer noch ziemlich dunkel, aber sternenklar. In der Ferne war ein heller Lichtstreif zu sehen.

Als Tobias aufzustehen versuchte, spürte er ein Klopfen im rechten Bein. Schnell tastete er nach dem provisorischen Verband. Er war feucht, und Tobias schloss daraus, dass er blutdurchtränkt war. Die Wunde musste ordentlich verbunden werden, und dann würde Tobias versuchen, wieder nach Hause zu kommen. Verflucht, er hätte nicht so viele Schüsse auf das Monster im zweiten Raum vergeuden sollen. Zu Beginn hatte Tobias fünfzig Schuss Munition gehabt. Wenn er etwas sparsamer gewesen wäre, dann hätte er vielleicht noch die Maschinenpistole und die Munition. Was musste man tun, um noch mal von vorn anzufangen?

Er setzte sich wieder hin, der Schmerz im Bein ließ etwas nach. Direkt neben ihm war ein Rascheln zu hören, dann huschte etwas über sein Bein. Eine Maus. Wenn er sie nur erwischen und sich wieder an den Start klicken könnte! Tobias grapschte mit den Händen nach der Maus, bekam aber nur trockenen Sand zu fassen. Und überhaupt: Wie blöd war er eigentlich? Mit einer lebendigen Maus konnte man sich wohl nirgendwohin klicken! Er musste sich beim Fallen den Kopf gestoßen haben, dass er auf eine so bescheuerte Idee kam, und er war froh, dass niemand in der Nähe war und seine Hirnblockade beobachtet hatte.

Tobias fror. Es war nur wenige Grad über null und er hatte nur seine Jeans an. Aus dem Hemd hatte er ja den Verband gemacht. Er war barfuß, denn zu Hause trug er nie Schuhe.

Es wurde langsam hell. Nun konnte er schon sehen, dass der Verband ganz rot vom Blut war.

Tobias klapperte mit den Zähnen vor Kälte, aber als die Sonne endlich aufging, breitete sich ein befreiendes Wärmegefühl in seinem geschundenen Körper aus.

Tobias hatte schon viele Computerspiele gemacht, bei denen man schwierige Probleme lösen musste, und er konnte das ziemlich gut. Man musste nur logisch denken. Wenn seine Eltern meckerten, dass er so viel spielte, dann verteidigte er sich immer damit, dass man sehr viel dabei lernte.

Er analysierte also ganz ruhig die Situation.

Wie kommt man zum Start zurück? Dazu musste er wissen:

Wo war er? Und:

Wie bekam er Hilfe für sein verletztes Bein?

Um wieder mehr Health zu bekommen, mindestens 50%, brauchte er ärztliche Hilfe. Das war das Wichtigste. Der nächste Schritt war, sich wieder Ammo und Armor zu beschaffen. Um versorgt zu werden, musste Tobias freundlich gesinnte Menschen finden. Wenn es die nicht gab, war er verloren.

Er legte sich in der Sonne auf den Boden und versuchte, sich zu entspannen. Er vermisste Foxie.

Eigentlich war der kleine Terrier der Hund der ganzen Familie. Aber weil Tobias am meisten Spaß daran hatte, Foxie zu erziehen und ihm Kunststückchen beizubringen, war er faktisch sein Herrchen geworden. Foxie hieß ursprünglich anders, aber niemand wusste mehr wie; es stand bestimmt in seinem Papieren. Tobias hatte ihn so getauft, obwohl der Hund gar kein Foxterrier war, wie man vielleicht vermuten könnte, sondern ein Cairn Terrier. Foxie war graubraun, hatte eine kohlschwarze Schnauze und muntere braune Augen, die immer unter einem dicken Pony versteckt waren.

Wenn Tobias ganz ruhig lag, spürte er das verletzte Bein fast nicht. Die Sonne wärmte und taute seine durchfrorenen Glieder wieder auf. Nur noch ein Weilchen so liegen ...

Von einem plötzlichen Geräusch aufgeschreckt, zuckte Tobias zusammen, und er hielt die Hand über die Augen, um zu sehen, woher es kam.

»Du musst aufwachen«, sagte eine Stimme auf Englisch.

Tobias stütze sich auf die Ellenbogen und sah ein Mädchen neben sich knien.

»Die Sonne verbrennt dich sonst«, sagte sie.

Sie schien ungefähr so alt zu sein wie er, trug ebenfalls blaue Jeans und ein schmutziges, weißes T-Shirt.

»Wer bist du?«, fragte er verwirrt. »Und wo sind wir? Wie spät ist es?«

»Mittag, nehme ich an«, antwortete das Mädchen. »Seit wann bist du hier?«

»Seit heute früh. Es war noch dunkel.«

Sie sah nicht gefährlich aus. Aber man konnte nie wissen ...

»Steh auf und dreh dich langsam um«, sagte er bestimmt.

»Und warum?« Das Mädchen schaute ihn erstaunt an.

»Weil ich es sage.«

Sie tat, was er befohlen hatte. Ihre Jeans waren eng und unter dem T-Shirt konnte sie keine Waffe versteckt haben.

»Du kannst dich wieder umdrehen.«

»Du spinnst wohl ein bisschen«, sagte das Mädchen und schaute ihn nachdenklich an.

»Entschuldige«, sagte Tobias. »Ich wollte nur sehen, ob du bewaffnet bist.«

»Okay, ich verstehe. Ich heiße Brandi.«

Brandi hatte dunkle, schulterlange Haare und braune Augen, Tobias fand, dass sie sehr gut aussah.

»Und ich heiße Tobias«, sagte er. »Wo sind wir?«

»Du bist verletzt«, sagte Brandi, ohne seine Frage zu beantworten. »Wir müssen dich zum Tempel hinaufschaffen.«

»Zum Tempel? Zu welchem Tempel?«

»Da oben im Wald ist ein Tempel. Ich hole schnell eine Karre, damit ich dich hochziehen kann.« Brandi sprach amerikanisches Englisch.

»Aber wo sind wir?« Tobias bekam keine Antwort.

Wo er saß, gab es nur Wüstensand, an manchen Stellen wuchsen ein paar trockene Büsche. Aber ein Stück weiter oben begann ein dichter Laubwald, nur ein paar hundert Meter breit, der in einer schmalen Felsenschlucht endete. Es gab doch Wüsten in den USA? Dahinter lagen graubraune Berge. Ein paar große Raubvögel kreisten über den Gipfeln.

Einige hundert Meter entfernt lag ein Hof. Die Häuser waren aus Stein gemauert und unverputzt. Es waren keine Menschen zu sehen.

Nach einer Weile kam Brandi zurück, sie hatte einen Karren dabei, dessen zwei Reifen abgenutzt waren und einmal zu einem Auto gehört hatten. Sie half Tobias auf den Karren und begann, ihn den holprigen Weg zum Wald hinaufzuziehen.

Es ging die ganze Zeit bergauf, nicht sehr steil, aber das Ziehen der schweren Last war in der Wärme so anstrengend, dass Brandi immer wieder stehen bleiben musste, um zu verschnaufen und sich den Schweiß von der Stirn zu wischen.

Tobias saß auf dem Karren und fühlte sich erbärmlich. Es war ihm peinlich, dass er nicht laufen konnte und sich von einem Mädchen ziehen lassen musste.

Während einer Verschnaufpause fragte er Brandi, woher sie kam.

»Aus Florida«, antwortete sie.

»Und was machst du hier?«

»Das Gleiche wie du, nehme ich an. Und wo bist du her?«

»Aus Schweden. Sind wir jetzt in den USA?«

»Nein«, sagte Brandi. »Ich glaube eher in Asien. Aber es gibt hier keine Menschen, die man fragen könnte.«

»Seit wann bist du hier?«

»Seit zwei Tagen. Ich habe den Eindruck, als wären die Leute, die hier gewohnt haben, überstürzt geflohen. Es gibt noch ein wenig Reis und ein paar Kochtöpfe, aber wenn sie Haustiere hatten, dann haben sie sie mitgenommen.«

»Bist du ganz alleine?«

»Ja. Es ist gut, dass du gekommen bist. So kann ich mit jemandem reden und die Fortsetzung des Spiels planen. Es war ziemlich unheimlich, so allein zu sein. Besonders nachts. Deine Wunde blutet immer noch. Aber oben im Tempel gibt es eine Erste-Hilfe-Tasche. Wo bist du verletzt worden?«

»Als ich aus dem Fort kam«, sagte Tobias. »Gerade als ich auf den Vorsprung oberhalb des Eingangs gelangt war, traf mich die Kugel ins Bein. Sie ging durch. Bist du auch so gekommen?«

»Ja«, sagte Brandi. »Aber ich bin glimpflich davongekommen.« Sie zog das T-Shirt hoch und zeigte ihm eine lange Schramme auf ihrem Bauch.

»Wie ist das passiert?«, fragte Tobias.

»Ich kam mit einem solchen Tempo auf die andere Seite, dass ich nicht bremsen konnte. Ich fiel direkt in die Leute, die da standen. Und die Schramme bekam ich von einem Schwert«, sagte Brandi.

»Aber wie bist du denn von dort weggekommen?«

»Das erzähle ich dir später. Jetzt ziehe ich dich wieder ein Stück.« Sie packte den Griff des Karrens, und da merkte Tobias, wie ihm schwarz vor Augen wurde.

3

Als Tobias aufwachte, hatte Brandi ihn bis zum Tempel geschleppt. Sein Gesicht war nass, und er fürchtete zunächst, es sei Blut, aber dann wurde ihm klar, dass das Mädchen ihm Wasser ins Gesicht geschüttet hatte, damit er wieder zu sich kam.

»Du bist ohnmächtig geworden, weil du so viel Blut verloren hast«, sagte Brandi. »Komm, ich helfe dir beim Aufstehen. Du kannst dich auf eine Bank im Tempelvorhof legen, ich will sehen, ob ich dir einen ordentlichen Verband anlegen kann.«

Sie legte sich seinen Arm über ihre Schultern und half ihm die Stufen hinauf. Es war jetzt sehr heiß, aber im Schatten des Dachs war es kühl und angenehm.

»Leg dich hier hin, ich mache etwas Wasser heiß«, sagte Brandi und führte ihn zu einer Steinbank, auf der ein abgewetzter, hellroter Teppich lag.

Tobias gehorchte ihr dankbar und spürte schon bald den scharfen Geruch von Rauch in der Nase.

Tempel und Vorhof waren aus Stein, grau und rissig. In der Mitte des Vorhofs stand ein Tisch, Tobias vermutete, dass es ein Altar war. In kleinen Nischen an den Wänden hatten Laternen oder Kerzen gestanden. Man sah es daran, dass die Flammen die Wand darüber geschwärzt hatten. Die Tür zum eigentlichen Tempel war mit einer schweren Eisenstange und einem riesigen Hängeschloss verriegelt.

Brandi kam mit einem Becher Wasser und einer kleinen, mit einem roten Kreuz versehenen Holzkiste zurück. Sie stellte die Kiste auf den Boden neben Tobias und reichte ihm das Wasser.

»Trink das. Ich habe es sicherheitshalber abgekocht.«

Er setzte den Becher an und trank gierig. Brandi ging noch einmal fort, um heißes Wasser zu holen.

Als sie zurückkam, schnitt sie seinen provisorischen Verband auf, reinigte die Wunde und wusch das blutverschmierte Bein.

»Es sieht ziemlich gut aus«, stellte sie fest, als sie fertig war. »Ich lege dir einen Druckverband an, dann heilt es von selbst.«

»Kennst du dich mit so etwas aus?«

Brandi lachte.

»Meine Eltern sind beide Ärzte. Ich habe also wohl oder übel so manches mitbekommen. Dein Glück, nicht wahr?«

»Ja, wirklich«, sagte Tobias. »Jetzt kann ich vielleicht meinen Health-Speicher wieder auffüllen. Wie steht es mit deinem?«

»Der lag bei 80%, als ich herkam«, antwortete Brandi. »An den 20%, die fehlten, war bestimmt die Psyche Schuld. Hier allein zu sitzen und nicht zu wissen, was man machen soll, das geht an die Nerven. Aber jetzt habe ich wieder 100%.«

»Heute Morgen hatte ich nur noch 20%«, sagte Tobias. »Gar nicht schlecht, wenn man die Schussverletzung bedenkt, den Blutverlust und so. Außerdem war ich ordentlich durchgeschüttelt nach dem Sturz. Wie kriegen wir bloß wieder Armor und Ammo?«

Brandi seufzte tief. »Ich habe alles abgesucht«, sagte sie besorgt. »Hier oben im Tempel gibt es natürlich nichts. Die Priester hatten wohl kaum Waffen, und wenn, dann haben sie alles mitgenommen bei ihrer Flucht.«

»Was glaubst du, wohin sind sie geflohen?«

»Vermutlich hinauf in die Berge«, sagte Brandi. »Vielleicht sind sie sogar jenseits der Berge. Ich habe mich allein nicht getraut hinaufzugehen, um zu sehen, was auf der anderen Seite ist.«

»Und warum sind sie geflohen?«

»Ich hoffe, dass wir im Verlauf des Spiels eine Erklärung dafür finden. Wenn es überhaupt weitergeht.«

»Ich würde am liebsten zurückgehen und noch einmal anfangen«, sagte Tobias. »Mit diesem Bein weiterzumachen, das bringt nichts.«

»Du, Tobias«, sagte Brandi, »das hier ist kein normales Spiel. Dazu ist es viel zu realistisch. Ich glaube auch nicht, dass man wieder zurückgehen kann. Wir müssen uns bestimmt noch durch einige Hindernisse schießen, um weiterzukommen.«

»Und dazu brauchen wir 100% Ammo und 100% Armor«, sagte Tobias. »Noch besser wären jeweils 200%, wenn das geht. Und jede Menge Glück.«

»Und wo finden wir Waffen und Munition?«, fragte sie.

Tobias dachte nach.

»Wenn nicht hier, dann bei den Leuten, die das Fort verteidigt haben.«

»Genau«, sagte Brandi. »So weit bin ich mit meinen Überlegungen auch schon gekommen. Ich glaube, die einzige Möglichkeit ist, sich zum Fort durchzuschlagen und Ammo und Armor zu erobern.«

»Aber wie finden wir zum Fort zurück?«

»Wenn man den Weg, auf dem ich dich gezogen habe, weitergeht, kommt man zu einem Pass. Ich vermute, es sind nur ein paar Meilen bis dort hinauf. Und wenn man erst einmal dort ist, müsste man sehen können, was sich auf der anderen Seite befindet. Wenn wir Glück haben, ist das Fort dort. Wenn man nämlich in die falsche Richtung geht, läuft man sich zu Tode. Und das kann wohl nicht der Sinn sein. Dieses Tal ist ewig lang und die seitlichen Berge sind hoch. Ich wette um hundert Dollar, dass der Weg über den Pass der richtige ist.«

»Ich werde nicht mit dir wetten«, sagte Tobias. »Du hast bestimmt Recht. Aber warum hast du dich hier niedergelassen? Und nicht beim Hof unten im Tal?«

»Wasser«, sagte Brandi.

»Wasser?«

»Unten im Tal gibt es nur ein ausgetrocknetes Flussbett«, sagte sie. »Hier oben gibt es eine Quelle, die in ein großes Becken läuft. Von da verschwindet das Wasser wieder in der Erde. Ohne Wasser überlebt man hier nicht sehr lange. Die Leute, die den Hof im Tal bewohnt haben, schleppten es von hier oben hinunter, das sieht man an den Tonkrügen, die vor den Häusern stehen.«

Brandi hatte die ganze Zeit gekniet, jetzt stand sie auf und streckte den Rücken.

»Das war das. Ich sammle jetzt nur noch die Sachen wieder ein und deine blutigen Fetzen.«

»Gibt es etwas zu essen hier?«, fragte Tobias.

»Reis«, sagte Brandi. »Einen halben Sack. Wenn der Herr geruhen, eine halbe Stunde zu warten, werde ich Wasser für den Reis kochen.«

»Warum dauert das so lange?«

Brandi lachte. »Es geht hier nicht so schnell wie zu Hause, einfach was in die Mikrowelle stellen oder zu Wimpy’s oder MacDonald’s zu fahren«, sagte sie. »Die Feuerstelle besteht aus ein paar Steinen hinter dem Haus. Das hier ist die reine Steinzeit, verstehst du.«

»Meinst du, dass wir auch in einer anderen Zeit sind?«, fragte Tobias erschrocken.

Brandi zeigte auf die Erste-Hilfe-Box zu ihren Füßen.

»Die sieht doch ziemlich modern aus, oder nicht? Und der Karren, auf dem ich dich gezogen habe, hatte Autoreifen. Aber es gibt hier keinen anderen Herd als diesen Ring aus Steinen. Es sind übrigens zwei gleiche Ringe nebeneinander.«

»Okay, ich warte, bis du etwas zu essen gemacht hast«, sagte Tobias und versuchte, seine Stimme zu beherrschen, obwohl sein Magen so vor Hunger knurrte, dass man es auf dem ganzen Tempelvorhof hörte. »Ich kann ja inzwischen mal aufs Klo gehen«, fügte er hinzu. »Wo ist das denn?«

»Wenn du ein Klo fändest, wäre das prima«, sagte Brandi und lächelte mitleidig.

»Gibt es denn keins?«

Brandi schüttelte den Kopf.

»Das ist hier noch nicht erfunden. Aber nach den Spuren zwischen den Büschen zu schließen, setzt man sich irgendwohin.«

»Wie eklig«, sagte Tobias voller Abscheu.

»Finde ich auch«, sagte Brandi. »Geh einfach auf die andere Seite vom Weg.«

»Und was ist mit Klopapier?«

Brandi lachte.

»Wir sind hier in der Dritten Welt. Glaubst du wirklich, dass sie hier Klopapier haben? Nein, sie waschen sich den Hintern mit der linken Hand. Hast du noch nie etwas darüber gelesen? Und die rechte Hand nehmen sie zum Essen. Es gibt nämlich auch keine Gabeln.«

Brandi verschwand hinter dem Tempel und kam mit einer Colaflasche, die mit Wasser gefüllt war, wieder.

»Bitte schön. Soll ich dir helfen?«

Tobias setzte sich auf der Bank auf. Ihm war schwindelig.

»Du solltest nach Möglichkeit nicht herumlaufen«, ermahnte Brandi ihn. »Aber in die Büsche musst du natürlich.«

Er legte einen Arm um ihre Schultern, und sie half ihm, die Stufen hinunter und über den Weg zu gehen.

»Ruf mich, wenn dir ich beim Hinaufsteigen helfen soll«, sagte sie und ließ ihn allein.

Es gelang Tobias nur mit Müh und Not, sich mit seinem pochenden Bein hinzuhocken, aber er konnte sich mit dem Rücken an einen Baum lehnen, und so ging es.

Da ein leises Gurgeln zu hören war, nahm er an, dass er sich in der Nähe des Wasserbeckens befand. Er wusch die linke Hand mit dem restlichen Wasser aus der Colaflasche und rief Brandi.

Als sie wieder im Tempelvorhof waren, ließ Brandi ihn einfach stehen, und er musste sehen, wie er allein zur Steinbank kam. Er war erstaunt, wie gut es ging. Zwar zog er das Bein nach, aber mit einer Krücke würde er ohne Hilfe gehen können.

»Ich koche jetzt Reis«, sagte Brandi und verschwand hinter dem Tempel.