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Trotz zahlreicher Aktivitäten, die auf eine langsame Anpassung der Gesellschaft an die Herausforderung des Klimawandels schließen lassen, reagiert die Gesellschaft allem Anschein nach zu langsam. An welcher gesellschaftlichen Struktur liegt das und welche Akteure versprechen unter Umständen eine beschleunigte und angemessene Reaktion? Im Anschluss an Helmut Willkes Werk »Klimakrise und Gesellschaftstheorie. Zu den Herausforderungen und Chancen globaler Umweltpolitik« (2023) setzen sich die Autor:innen mit verschiedenen Formen von Krisen und Krisenbewältigung auseinander. Wie kleinteilig muss und darf man sich die Reaktion auf eine so umfassende Bedrohung wie die der Klimakatastrophe vorstellen? Welche Rolle spielen Funktionssysteme wie die Politik, das Recht, die Wirtschaft? Gibt es sinnvolle Vorstellungen zu einer weltweit hilfreichen Form von Solidarität? Welche theoretischen Annahmen liegen einer Wissenschaft zugrunde, die zum Handeln auffordert? Welches politische Handeln überwindet den zu engen Rahmen einer nationalen Ordnung, deren Eigeninteressen sich im Wettbewerb behaupten müssen? Der Band greift Helmut Willkes Fragen auf und diskutiert sie in einem soziologischen und politikwissenschaftlichen Zusammenhang.
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Seitenzahl: 588
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Dirk Baecker, Karl-Heinrich Bette, Maren Lehmann (Hg.)
Die Rettung des Planeten
Wie reagiert die Gesellschaft auf die Klimakatastrophe?
Eine Gedenkschrift für Helmut Willke
Campus VerlagFrankfurt/New York
Über das Buch
Trotz zahlreicher Aktivitäten, die auf eine langsame Anpassung der Gesellschaft an die Herausforderung des Klimawandels schließen lassen, reagiert die Gesellschaft allem Anschein nach zu langsam. An welcher gesellschaftlichen Struktur liegt das und welche Akteure versprechen unter Umständen eine beschleunigte und angemessene Reaktion?Im Anschluss an Helmut Willkes Werk »Klimakrise und Gesellschaftstheorie. Zu den Herausforderungen und Chancen globaler Umweltpolitik« (2023) setzen sich die Autor:innen mit verschiedenen Formen von Krisen und Krisenbewältigung auseinander. Wie kleinteilig muss und darf man sich die Reaktion auf eine so umfassende Bedrohung wie die der Klimakatastrophe vorstellen? Welche Rolle spielen Funktionssysteme wie die Politik, das Recht, die Wirtschaft? Gibt es sinnvolle Vorstellungen zu einer weltweit hilfreichen Form von Solidarität? Welche theoretischen Annahmen liegen einer Wissenschaft zugrunde, die zum Handeln auffordert? Welches politische Handeln überwindet den zu engen Rahmen einer nationalen Ordnung, deren Eigeninteressen sich im Wettbewerb behaupten müssen? Der Band greift Helmut Willkes Fragen auf und diskutiert sie in einem soziologischen und politikwissenschaftlichen Zusammenhang.
Vita
Dirk Baecker ist Seniorprofessor für Organisations- und Gesellschaftstheorie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen am Bodensee. Karl-Heinrich Bette ist Professor i.R. für Sportsoziologie am Institut für Sportwissenschaft der Technischen Universität Darmstadt. Maren Lehmann ist Professorin für Soziologische Theorie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen.
Cover
Titel
Über das Buch
Vita
Inhalt
Impressum
Vorwort
Klaus P. Japp: Ein Häretiker auf U4
I.
II.
III.
Maren Lehmann: Was war »Umwelt«?
Literatur
Uwe Schimank: Gesellschaftliche Integration und politische Gesellschaftssteuerung in Krisen- und Wendezeiten
Einleitung
Der gesellschaftliche Kontext: Das Austarieren dreier Integrationsprobleme
Die politische Herausforderung: Die Gleichzeitigkeit von akuten Krisen und großer Wende
Schluss
Literatur
Rudolf Stichweh: Klimawandel in einer funktional differenzierten Gesellschaft: Zu den Überlegungen von Helmut Willke
I.
Helmut Willke Klimakrise und Gesellschaftstheorie (2023)
II.
Codes und Programme in Funktionssystemen
III.
Weltprobleme und globale Funktionssysteme
IV.
Biodiversität
V.
»Mitigation« und »Adaptation«
VI.
Die Rolle des Wissenschaftssystems
Literatur
Dirk Baecker: Solidarität, systemisch
1.
Solidarität als Affektmedium
2.
Solidarität in der Weltgesellschaft
3.
Systemische Solidarität
4.
Solidarität im Formkalkül
5.
Willkes Plädoyer für Mikroartikel
Literatur
Fritz B. Simon: Der kommende Autoritarismus – Ein Worst-case-Szenario
Vorbemerkung
Klimaschutz in der Wirtschaft der funktional differenzierten Gesellschaft
Die Umweltpolitik in der funktional differenzierten Gesellschaft
Unsicherheitsabsorption: Attraktion und Funktionalität autoritärer Herrschaft
Nach Überschreiten von Kipppunkten: Diktatur und Klimafaschismus
Nachbemerkung – Was tun?
Literatur
Claus Leggewie: Für ein Parlament der Dinge
I.
II.
III.
Literatur
Adrienne Héritier: The Governance of Energy Transition: A Multipronged Approach
1.
Introduction
2.
Analytical framework
2.1
The problem
2.2
Strategies and their governance structure
2.2.1
Hierarchy
2.2.2
Polycentrism and Experimentalism
2.2.3
Market-based strategies
2.2.3.1
Green finance
2.2.3.2
Public-private partnerships
2.2.3.3
Creating new markets and networks
3.
Conclusion
References
Christoph Beier: Vom Nutzen der Systemtheorie in der praktischen Entwicklungszusammenarbeit
Der Umgang mit Komplexität
Das Managementmodell Capacity WORKS
Ein Blick auf das Gesamtsystem
Globale Klima- und Umweltpolitik
Literatur
Matthias Kussin und Sven Kette: Gesellschaftliche Steuerung im Medium der Krise. Systemtheoretische Überlegungen zu Formen der Krisenbeobachtung und -bewältigung
1.
Einleitung
2.
Krise als Teil und Folge gesellschaftlicher Evolution
3.
Krise als Form gesellschaftlicher Selbstbeobachtung
4.
Der Strukturbegriff von Krisen unter dem Eindruck aktueller Geschehnisse
5.
Die Beobachtung semantischer Fluchtpunkte zur Krisenbewältigung in der Gesellschaft
6.
Systemtheoretische Ansatzpunkte zur gesellschaftlichen Steuerung von Krisen
Die Steuerung von Vulnerabilität: Immunisierung
Die Steuerung von Anschlussfähigkeiten: Risikogewinne und Flexibilität
Die Steuerung von Zukunftshorizonten: Strategiefähigkeit
Organisationen als Infrastrukturen gesellschaftlicher Steuerung
7.
Fazit
Literatur
Karl-Heinrich Bette: Wettkampf als Krise: Eine sozialökologische Herausforderung
Konkurrenz als Krise
Krisen- und Bewährungsräume
Krisenzeiten
Körperkrisen
Sozialökologische Kollateralschäden
Soziologische Reflexionsangebote
Literatur
André Brodocz und Hannah Vermaßen: Klimaschutzpolitik vor dem Bundesverfassungsgericht: Wie die Zivilgesellschaft über den Umweg des Rechts in das politische System interveniert
1.
Einführung: Klimaschutzpolitik und Klimaklagen
2.
Umwege über das Recht: Das Klimaschutzgesetz und Helmut Willkes Konzept der Kontextsteuerung
3.
Resonanzfähigkeit: Wie beobachtet das Rechtssystem die Klimakrise?
4.
Resonanzen: Wie verändert sich das Rechtssystem angesichts der Klimakrise?
5.
Ausblick: Grenzen rechtlicher Interventionen ins politische System
Literatur
Rudolf Wimmer: Sind Unternehmen geeignete Adressaten für die Bewältigung der Folgen des Klimawandels?
Zur Ausgangslage
Auf welche Akteurskonstellationen richten sich heute die primären Gestaltungserwartungen und wo werden deren Grenzen gesehen?
Zum Stellenwert von Unternehmen im Kontext sich verschärfender ökologischer Gefährdungslagen
Die Funktion von Staat und Politik für den ökologischen Strategiewechsel von Unternehmen
Literatur
Heiko Hilse: Organisationen systemisch beraten in der Nachhaltigkeitstransformation
Einleitung
Nachhaltigkeit im Selbstversuch: Die beginnende Transformation der osb international
Nachhaltigkeitstransformation von Organisationen
Exkurs: Kontextsteuerung und Nachhaltigkeitstransformation
Nachhaltigkeitstransformation: Systemische Praktiken und Vorgehensweisen
Rolle des Nachhaltigkeitsmanagements
Rolle des Führungssystems
Rolle der Gesamtorganisation und ihrer Mitglieder
Rolle organisationsübergreifender Kooperationen und Ökosysteme
Zusammenfassung
Literatur
Peter Lenco: Systems, Climate change and the future of theory
Introduction
The Limits of Theory
Assemblage theory
Quantum mind
Relationalism
Willke’s systems-theoretical approach
Conclusion: The Future of Theory
References
Helmut Willke: Schriften
Bücher
Herausgeber-Bücher
Aufsätze
Autor*innen
Helmut Willke war ein juristisch und politikwissenschaftlich gebildeter Soziologe. Daraus ergab sich die leitende Paradoxie seines Lebenswerks. Wie können wirksame Gesetze und Verfahren gefunden werden, die mit der Freiheit der Menschen kompatibel sind? Und schärfer noch: Wie kann die Freiheit der Menschen derart gesteigert werden, dass Gesetze und Verfahren wirksam werden, die einen Ausweg aus der drohenden Klimakatastrophe weisen? Freiheit ist nur in Gesellschaft möglich. Das war sein Leitsatz, dem er unter dem Titel Komplexe Freiheit ein ganzes Buch gewidmet hat. An welche Art von Gesellschaft dachte er? Und welche Art von Freiheit stellte er sich vor? Mit seinem Buch Klimakrise und Gesellschaftstheorie (2023) werden diese Fragen noch einmal sowohl theoretisch als auch empirisch scharf gestellt. Der vorliegende Band greift sie auf. Sicher ist ja bislang nur, dass jeder einzelne von uns die Möglichkeit hat, sich frei für ein Verhalten zu entscheiden, das beim Wohnen, im Konsum, im Verkehr, im Beruf und in der Freizeit so nachhaltig wie möglich ist. Und sicher ist auch, dass Politik, Wirtschaft und Wissenschaft seit dem Bericht des Club of Rome 1972, der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro und der UN-Biodiversitätskonferenz in Montreal im Dezember 2022 die Zeichen der Zeit erkannt haben. Mehr als fraglich ist jedoch, ob mit den bislang noch nicht einmal eingehaltenen Zielvorgaben das Jahrhundertprojekt eines Ausstiegs aus fossilen Energien gelingen kann.
Die Antwort auf beide Fragen ist zum einen überraschend einfach und zum anderen durch und durch soziologisch. Es muss sich um eine Gesellschaft handeln, die die Probleme, die sie auf der planetaren Ebene hat, auch auf dieser Ebene löst. Und es muss eine Freiheit sein, die sich sehenden Auges diesen Problemen stellt. So weit, so einfach. Es ist der soziologische Anteil an dieser Antwort, der die Sache komplizierter macht. Denn nur global arbeitende internationale Organisationen, zivilgesellschaftliche Nichtregierungsorganisationen und nichtgewinnorientierte Organisationen sind Kandidaten für eine Arbeit auf einer planetaren Ebene, wenn die bislang politisch dominante Ebene der Nationalstaaten wegen des dort vorherrschenden Wettbewerbs um wirtschaftliche Macht den Lösungen des Klimaproblems eher im Wege steht. Und nur global arbeitende Organisationen und Initiativen haben die Freiheit, die lokal allerorten sichtbar werdenden Probleme nicht zu übersehen, sondern zum Ausgangspunkt für eine Suche nach Lösungen zu nehmen. Geradezu philosophisch ist an dieser soziologischen Einsicht, die zudem die aktuelle Praxis der vielen kleinen, wenn auch unzureichenden Lösungen ernst nimmt, dass sie auf schwache Akteure setzt. Staaten und Konzerne sind starke Akteure, deren Schwäche darin besteht, dass sie jederzeit um ihre Stärke fürchten müssen und daher für ein business as usual optieren. Schwache Akteure hingegen haben wenig zu verlieren und können es sich daher leisten, die Probleme beim Namen zu nennen und nach Lösungen zu suchen, die nicht unbedingt herrschenden Interessen entsprechen.
Das klingt nach einem dialektischen Trick und das ist es vielleicht auch. Aber es bringt einen weiteren Akteur ins Spiel, dessen Schwäche ebenfalls ins Auge springt, der jedoch der einzige ist, der die lokale Freiheit auf einer planetaren Ebene tatsächlich zu nutzen versteht. Dieser Akteur ist der Experte. Helmut Willke hat sich unbeliebt gemacht, als er der Demokratie in der Schweiz in einem 2014 erschienenen Zeitschriftenbeitrag bescheinigte, überfordert zu sein. Die Verfahren einer direkten Demokratie, so merkte er an, sind geeignet, Probleme vor der Haustür zu lösen, doch sie verfügen nur über die Mittel der eigenen Nation. Experten hingegen sind in der Lage, die Probleme vor der Haustür in den Zusammenhang ihrer globalen Verursachung zu stellen und globale Gegenmittel zumindest zu diskutieren. Den Bürgern, die vor einem Referendum stehen, gilt die ganze Aufmerksamkeit der Politik, während den Experten niemand zuhört. Doch das ändert nichts daran, dass das Problemwissen bei Letzteren zu suchen ist, nicht bei Ersteren. Wie also kann man die einen mit den anderen kombinieren und welche Art von Politik würde auf sie aufmerksam?
Man versteht, welcher Stachel in diesem so fraglos scheinenden Begriff der Freiheit steckt, sobald die Freiheit mitgemeint ist, auch auf die unlösbaren Probleme hinzuweisen. Helmut Willke nahm sich die Freiheit, diese Freiheit mitzumeinen. Wenn er auf die Chancen einer globalen Umweltpolitik hinweist, die aus einer konzertierten Aktion von zivilgesellschaftlichen und internationalen Organisationen resultieren können, wusste er, dass die meisten seiner geneigten Leserinnen und Leser abwinken werden. Diese Akteure sind zu schwach. Und selbst wenn man annimmt und hier und da auch beobachten kann, dass sich Staaten und Konzerne anschließen, dass Justizsysteme umdenken, ganze Bildungssysteme neu gepolt werden, die Künste mitspielen, die Massenmedien die passenden Nachrichten verbreiten und sogar die Religion vom Schutz der Erde (vor den Menschen) spricht, bleibt es bei Initiativen, die dem gigantischen Problem des Ausstiegs aus einem System der Ausbeutung fossiler Energien, von dem die Existenz ganzer Industrien, Städte und Bevölkerungen abhängt, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gewachsen sind.
Helmut Willke wusste um diese Zange einer doppelten physikalischen Zwangsläufigkeit des Energiesystems der menschlichen Gesellschaft auf der einen Seite und der Zerstörung der natürlichen Umwelt, des Erdklimas und der Biodiversität auf der anderen Seite. Aber er wusste auch, dass noch so eindrückliche Beschreibungen der Lage dieses Planeten seine Wirklichkeit möglicherweise verfehlen. Nicht umsonst hat er außerordentlich einflussreiche Einführungen in eine soziologische Systemtheorie geschrieben, die sich um zwei Grundgedanken dreht, den Gedanken der Komplexität und den Gedanken der Selbstreferenz sozialer Systeme. Beide Gedanken sind dafür verantwortlich, dass man sich nicht für die starken Akteure interessiert, die ihr Auskommen unter den herrschenden Verhältnissen bereits gefunden haben und ihre Reduktionen der Komplexität für die bewährten halten, sondern für schwache Akteure, denen auffällt, was anderen nicht auffällt, und die den Preis nicht übersehen, den die Scheuklappen der Selbstreferenz unweigerlich in Kauf zu nehmen zwingen.
Es gibt keine physikalische Zwangsläufigkeit. Es gibt nur mächtige Kraftfelder, Raumzeitkonstellationen, die für den Moment keine andere Orientierung kennen als die fatale. Ihre Parameter sind jedoch weder in Stein gemeißelt noch historische Gesetze. Sie hängen davon ab, dass sie wieder und wieder bestätigt werden, von denselben Kräften, die von ihnen abhängen. Also muss man sich um diese Parameter kümmern, nicht nur um die Kipppunkte, mit denen Unwiederbringliches verloren zu gehen droht, sondern auch um die Randbedingungen, die gerne für selbstverständlich gehalten werden, aber es nicht sind.
Helmut Willke hat lange genug die Entwicklungszusammenarbeit im Globalen Süden mitverfolgt und beraten, um sich angesichts lokaler Interessen und behördlicher Eigendynamiken keinerlei Illusionen hinzugeben. Aber er wusste auch, dass nur der Zwang den Zwang begründet und dass selbst die sparsamste Injektion von Freiheit genügt, um den Blick für jene Abweichung zu öffnen, die einen Ausweg weist. Er wusste, mit welcher Panik Institutionen aller Art, bis hin zur Universität, diese Injektion zu verhindern wissen. Aber auch dagegen setzte er nicht die Stärke, sondern die Schwäche, die Schwäche eines ceterum censeo.
Die Religion der Gegenwart ist die Wissenschaft. Grund genug für einen Soziologen, erneut auf der Hut zu sein. Für sie gelten dieselben Gesetze wie für alle starken Akteure. Längst hat sie zu viel zu verlieren. Sie muss sich darum bemühen, schwach und wach zu bleiben. Andernfalls verpasst sie die nächste Abzweigung.
Wir haben für den vorliegenden Band Kolleginnen und Kollegen von Helmut Willke gebeten, sich mit seinem Buch über Klimakrise und Gesellschaftstheorie auseinanderzusetzen, seine Ideen zu überprüfen und ihnen eigene Ideen entgegenzusetzen. Wir freuen uns, im Gedenken an Helmut Willke einen Band vorlegen zu können, der einen großen Teil des Spektrums der Debatte abbildet. Es findet sich eine Überprüfung der Idee der funktionalen Differenzierung ebenso wie eine Einschätzung der Funktion von Krisen. Es findet sich die Warnung vor der großformatigen Lösung aller Probleme ebenso wie das Werben für die kleinformatigen Lösungen. Es findet sich der genaue Blick für lokale Handlungsmuster ebenso wie der kritische Blick auf unzureichende Theoriepräferenzen an Universitäten. Und während die einen davor warnen, die Krise allzu ernst zu nehmen, zeigen die anderen, dass es darauf ankommt, sie an den richtigen Punkten zuzuspitzen. Wir beschließen den Band mit einem Verzeichnis der Schriften von Helmut Willke.
Wir widmen diesen Band der Erinnerung an Helmut Willke und wir bedauern, seine Überlegungen und die hier präsentierten Ideen nicht gemeinsam weiterentwickeln zu können. Vertrauen wir darauf, dass sich die Selbstreferenz der fossilen Systeme nicht gegen eine Komplexität durchsetzt, die dem Planeten ebenso Raum und Zeit gibt wie dem menschlichen Leben.
Helmut Willke, Sils-Maria/Engadin, 3. März 2008 (Foto: Karl-Heinrich Bette)
Klaus P. Japp
Mit Helmut Willke habe ich seinerzeit das Sekretariat (Frau Worley) geteilt; unsere Büros lagen nebeneinander im Geschoss U4 im alten Gebäude der Universität Bielefeld, das einen Teil der soziologischen Fakultät beherbergte. Wir sahen uns mehr oder minder täglich und unterhielten ein freundlich kollegiales Verhältnis. Ich habe ihn als einen selbstbewussten, optimistisch aktiven Menschen in Erinnerung. Zu gesondert kooperativen Formen in Lehre und Forschung ist es damals nicht gekommen, außer im Hochschulsport. Das hatte seinen Grund in einer für die damalige Bielefelder Soziologie typischen Theoriedifferenz, die aus dem jeweiligen Verhältnis zur Luhmann’schen Systemtheorie resultierte: Neben anderen Positionen (von sozialphänomenologischem Eigensinn bis zur quantitativ orientierten Ablehnung; Qualies und Quanties) gab es diese Differenzierung zwischen eher orthodoxer Übernahme und heterodoxer Abweichung. Deren produktive Weiterung hatte seinerzeit Willke mit seiner Idee der Kontextsteuerung betrieben, wobei er selbst nicht von Abweichung, sondern von Ausbau oder Weiterentwicklung gesprochen hätte. In seinen vielen Publikationen zu modernen Steuerungsformen (Ironie des Staates) bis hin zu seiner letzten Buchveröffentlichung über Klimakrise und Gesellschaftstheorie lässt sich das nachlesen. An dieser Stelle interessiert die Frage, ob diese auch biografisch besondere Theoriesituation auf U4 sich instruktiv beschreiben lässt. Also so, dass nicht nur Theoriearbeit einerseits und nicht nur Biografie andererseits zu Wort kommen.
Wer Helmut Willkes Arbeiten kennt, der weiß, dass es ihm um die Steuerbarkeit sozialer Systeme ging. Im Unterschied – oder Gegensatz? – zu Niklas Luhmann, der Evolution, das muddling through (Charles E. Lindblom) am Werk sieht, zielt der Begriff Kontextsteuerung auf eine zurückgenommene, indirekte Art der (primär politischen) Einflussnahme, die es gerade nicht der ›bloßen‹ Reaktion auf Störungen überlassen will. Kontexte (›Rahmenbedingungen‹) werden modifiziert, mit dem Ziel, kollektive Adressaten (Staaten, private und öffentliche Organisationen) zu Verhaltensänderungen zu veranlassen. CO2-Steuern, Strukturhilfen, Konzertierte Aktionen und das Europäische Asylsystem sind Beispiele, die vor allem sichtbar machen, wie auf diesem Wege nicht nur Steuerung in hochkomplexen Systemen ›trotzdem‹ möglich werden soll, sondern auch: wie auf diesem (durchweg auch normativen) Wege die ganze Last der akteurstheoretischen Ambition der Steuerungstheorien (Fritz Scharpf, Renate Mayntz, Uwe Schimank u.v.a.) politikwissenschaftlicher Provenienz reimportiert wird. Reimportiert insofern, als ja auch Willke grundsätzlich systemtheoretisch, also fern von Akteurs- und nahe an Systemkategorien argumentieren will (besonders nachdrücklich in Ironie des Staates). Weite Passagen seiner Schriften sind deshalb der Absicherung einer theoretischen Option gewidmet, die Akteurskategorien (Handlungsziele, bewusste Intervention, Staat als Akteur) mit der Systembegrifflichkeit Luhmann’scher Herkunft (kommunikative Selbstreferenz, operative Geschlossenheit, Autopoiesis) kompatibel zu machen sucht.
Deren Begriff struktureller Kopplung, etwa Steuern und Vertragsrecht zwischen Wirtschaft und Politik oder Verfassungen zwischen Politik und Recht, ist ihm zu abstrakt, insofern er ohne Akteure auskommt. Es geht bei struktureller Kopplung ja ›nur‹ um Irritation von Systemen und deren je systemspezifische Reaktionen darauf. Man kann also nicht wissen, ob angestrebte Steuerungsziele wirklich erreicht werden. Insofern erschien ihm diese Art der Systemverknüpfung auch zu ineffektiv, da keine Form zuverlässiger Steuerung – sondern nur Kopplung mit je eigenen Ursachen und Wirkungen im partizipierenden System – verlangt wird. Man kann diese Zweifel als nur normativ inspiriert zurückweisen. Jedenfalls ist es aus systemtheoretischer Sicht doch die Frage, inwieweit die Idee der Kontextsteuerung sich jenseits normativer Intuitionen von der Beschreibung struktureller Kopplungen wirklich unterscheiden lässt. Auf die Verfassung als strukturelle Kopplung zwischen Politik und Recht etwa reagieren diese mit je eigenen, nicht (kausal) vorhersehbaren Bordmitteln. Kontextsteuerung verfolgt die (normative?) Ambition, diese Reaktionen weiter einzuschränken und zu verdichten. Und dies nicht nur graduell, sondern durchaus grundsätzlich.
Es geht an dieser Stelle nicht darum, ob diese Deutungsstrategie erfolgreich ist oder überhaupt sein kann. Denn Willke ist sich ja der paradoxen Problematik von Selbststeuerung durch Fremdsteuerung durchaus bewusst; deshalb der hohe Aufwand jener Absicherung durch Kritik sowohl an Systemtheorie als auch an Akteurstheorien, um dann im Konzept der Kontextsteuerung eine Synthese zu finden. Sich selbst und Anhänger jedenfalls hat er von deren Erfolg überzeugt. In seinem seinerzeitigen Bielefelder Umfeld ist er jedoch auch auf Skepsis gestoßen, die sich vor allem auf den normativen Zug der Kontextsteuerungstheorie bezog. Interessanter als diese Kritik scheint die Frage nach dem Status dieser Idee im Rahmen einer Theorie des politischen Systems.
Dies umso mehr, wenn man die Situiertheit seiner Theorie der Kontextsteuerung zwischen Ortho- und Heterodoxie durch Bezug auf den systemtheoretischen Begriff der Selbstbeschreibung des politischen Systems spezifiziert. Die Identität des (politischen) Systems, auf die solche Selbstbeschreibungen zielen, referiert neben dem Machtcode des Systems vor allem auf die Semantik, die Idee staatlicher Steuerung anderer Funktionskontexte und das Plausibilitäts- und Motivationskontinuum zwischen Reflexionstheorie und reflektiertem System (André Kieserling). Die Idee der Kontextsteuerung lässt sich von daher unschwer als Programm einer elaborierten Selbstbeschreibung, einer Reflexionstheorie des politischen Systems decouvrieren. Dieser Theorietypus sichert die Identität des Systems durch eine »handhabbare Selbstbeschreibung« (Armin Nassehi). Diese zieht dafür die Zentralstellung des politischen Funktionskontextes heran (Steuerung) sowie das Kontinuum von Plausibilität politischer Ideen und deren Motivkraft für das (auch akademisch sozialisierte) Systempersonal. Die politikspezifische ›illusio‹ der grundsätzlichen Steuerbarkeit von Adressaten in der Umwelt des politischen Systems wird in dessen Selbstbeschreibung trotz aller systemtheoretischen Vorbehalte ausgeflaggt. Und die Motivkraft politischer Ideen wird nicht nur für das politische Personal, sondern gleichfalls für dessen akademisches Personal, die Reflexionstheoretiker unterstellt. Sonst wäre es kein Kontinuum der praktischen Plausibilität und Motivkraft politischer Ideen sowie deren theoretischer Reflexion. Und wenn Bourdieu sagt, dass die ›illusio‹ keineswegs illusionär ist, dann meint er damit, dass sie nützlich im Sinne operativer Wirksamkeit ist. Sie ermöglicht eine Praxis, die sonst nicht zustande käme. Es ist diese Praxis, die Willke als Kontextsteuerung beschreibt und deren theoriegeleitete Beobachtung sie (die Theorie) als (handhabbare) Selbstbeschreibung decouvriert. Das heißt natürlich nicht, dass keine wirklichen Operationen beschrieben würden, aber auch keine außerhalb der theoriegeleiteten Selbstbeschreibung des politischen Systems.
Was hier interessiert, ist die Vorstellung einer positiven Rückkopplung zwischen (politischer) Reflexionstheorie und (Bourdieu würde sagen: scholastischem) Habitus. Und zwar auch des individuellen Habitus im Sinne einer personalen Verdichtung des ›homo academicus‹ als Strukturhabitus des wissenschaftlich-universitäten Feldes. Es ist dieser Luhmann und Bourdieu gemeinsame Begriff einer operativen Praxis, der an personale Relevanz zwischen Habitus und System (oder Feld bei Bourdieu) denken lässt. Während Luhmann Personen auf die Ereignisbasierung sozialer Praxis und hier auf die selbstreferentiellen Operationen der Kommunikation bezieht, verankert Bourdieu deren Handlungsdimension im Habituskonzept. Willkes Theorie der Kontextsteuerung lässt sich so als ein Effekt des Strebens nach symbolischem Kapital (durch ›Häresie‹) und der Selbststeuerung des Wissenschaftssystems (durch Reputation) lesen. Ein Häretiker auf U4.
Bourdieus Begriff der sozialen Praxis schließt über das Habituskonzept die sozial generierte Person ein. Bei Luhmann ist sie das Produkt der Verkürzung, der Vereinfachung von Kommunikation auf Handlung. Dafür braucht es eben deren Zurechnung von Mitteilungen auf Personen, die sich auf diese Weise als kommunikative Adressen ermöglichen. Der Begriff des Akteurs, der für Willkes Arbeiten maßgeblich ist, denn es geht ja um bewusste, um gezielte, wenn man so will: um bewusst gewollte Steuerung, wird demgegenüber nicht eigens eingeführt. Außer eben für das Anliegen der Steuerungstheorie angepasst im Sinne eines korporativen Akteurs, der – als organisiertes System – die Eigenschaften des individuellen Akteurs, des Subjekts, teilt. Er hat Ziele, er will sie durchsetzen. Aus der Perspektive soziologischer System- oder Praxistheorie, die auch Handlungen noch dekonstruiert, nimmt Willke eine principio principii in Kauf: es gibt Akteure und der Staat ist ein korporierter Akteur. Der Staat des politischen Systems wird also letztlich als korporativer Akteur beschrieben, damit und weil er auf diese Weise in eine Selbstbeschreibung des Systems passt. Gibt es einen Ausweg für eine soziologische Fremdbeschreibung?
Es interessiert also die Frage, wie sich diese akteurstheoretischen Engführungen vermeiden lassen, ohne die Willke’schen Ambitionen der Handlungsperspektive aus den Augen zu verlieren. Es liegt nahe, hier an die Stelle der (gewissermaßen voreingestellten) Unterscheidung von System und Akteur die (tieferliegende) Unterscheidung von Kommunikation und Handlung zu wählen. Damit wird eine akteurstheoretische Voreinstellung vermieden, ohne dass deren Kern – der Handlungsbegriff – irgendwie benachteiligt würde. Denn Willke schiebt in seinen Arbeiten ein Problem vor sich her, das in der Gleichzeitigkeit von System- und Akteursbegrifflichkeit verborgen liegt. Ein gemeinsames Merkmal mit politikwissenschaftlichen Ansätzen der Steuerungsthematik, die ohnehin mehrheitlich dem Selbstbeschreibungstypus politischer Systeme zuzurechnen sind. Systemtheoretisch gesehen, muss die gewählte Unterscheidung eigens beobachtet werden, wenn sie nicht im Paradox der Einheit ihrer Seiten entweder steckenbleiben oder durch eine andere, weniger paradoxieanfällige Unterscheidung ersetzt werden soll. Die Theorie der Kontextsteuerung ist von ihren Ansprüchen her eigentlich nicht geeignet, diese letztere Alternative zuzulassen, denn die Primärunterscheidung zwischen System und Akteur wird gerade nicht der Reflexion ausgesetzt. Welche aber dann? Willke selbst optiert hier pragmatisch für einen Staat, der als System zugleich Akteursqualität, i.e. Handlungsfähigkeit, vorweisen kann. Der Hiatus zwischen System und Akteur wird dadurch zwar überbrückt, aber eben doch pragmatisch, denn der Staat ist zwar korporierter Akteur, wird aber als Akteur nicht eigens hinterfragt. Dadurch wird der Begriff anfällig für Unbestimmtheiten aller Art bis hin zur Vereinnahmung durch Politikwissenschaft und ›akteurzentrierten Institutionalismus‹ (Renate Mayntz, Fritz W. Scharpf). An seinen eigenen Ansprüchen gemessen, würde Willke das vermeiden wollen.
Es liegt nahe, hier an Selbstreflexion zu denken, als einer Operation des Systems, mithilfe derer es sich seiner kommunikativen Identität versichert, ohne den Kontakt zur Handlungsdimension zu verlieren. Die dazu nötige Selbstbeobachtung des Systems erfolgt über die Unterscheidung von Kommunikation und Handlung, die als Unterscheidung auf der Seite der Kommunikation wiedereintritt. Mit diesem re-entry (Niklas Luhmann) verbürgt sich ein System, in diesem Fall der Staat des politischen Systems, seiner autopoietischen Herkunft und Reproduktion. Der Code politischer Kommunikation, Macht versus Nichtmacht, Regierung versus Opposition, ermöglicht die Ausdifferenzierung des Systems und stützt zugleich dessen Handlungsfähigkeit durch die Kommunikation entsprechender Zurechnungen auf Handlungsadressen. Ohne diesen selbstreflexiven Operations- und Beobachtungszusammenhang, von Zurechnungen und deren Kommunikation, lässt sich die akteurstheoretische Häresie von Helmut Willke schwerlich denken. Jedenfalls im Kontext einer systemtheoretischen Fremdbeschreibung des politischen Systems, die ihre Begriffe differenziert. Andere Anwendungskontexte für dieses Argument lassen sich etwa im modernen Umweltrecht (individuelle Haftung versus Kollektivhaftung) oder im globalen Rechtssystem (konventionelle Normhierarchie versus Rechtssetzungen in globalen Netzwerken) finden (Gunther Teubner). In jedem Fall muss die jeweils maßgebliche Unterscheidung wiedereingeführt werden, wenn sie als Ganze (also ihre Einheit!) asymmetrisch (also nicht einheitlich) wirksam werden soll. Aus der bloßen Vorstellung dieser Einheit würde keine Operation resultieren, sie, die Einheit, muss in der Unterscheidung operativ gespiegelt (beobachtet) werden. Diesen Zusammenhang von Operation und Beobachtung umgeht Willke. Und wenn man sich fragt, was er dadurch verliert, würde man sagen können: systemtheoretisch orthodoxe Anschlussfähigkeit. Und wenn man fragen würde, was er dadurch gewinnt, würde man sagen können: häretische Anschlussfähigkeit an (politikwissenschaftliche) Akteurs- und Handlungstheorie. Ein Gewinn an praktischer Relevanz also.
Welche Einstellung hat es dem Wissenschaftler Helmut Willke erlaubt, den von ihm selbst evozierten Schwierigkeiten einer akteurstheoretischen Kontextuierung des systemtheoretischen Paradigmas standzuhalten? Wie weiter oben bemerkt, war Helmut Willke ein optimistisch aktiver und selbstbewusster Mensch – und Wissenschaftler. Der ›Habitus‹ des Wissenschaftlers i.S. des ›homo academicus‹ (Pierre Bourdieu) dürfte ihn also in eine Spannung zwischen Uneigennützigkeit und Originalität (Robert K. Merton) gebracht haben, die zwar für alle (akademisch sozialisierten) Wissenschaftler gilt, in unserem biografischen Fall darüber hinaus auf einen individuellen Habitus stößt, der die Bielefelder Situation von Helmut Willke zwischen Ortho- und Heterodoxie beleuchtet. Orthodoxie im konventionellen Sinn hat ihm offenbar nicht gelegen. Zwar dürfte keiner dieser Umstände ihn zu irgendetwas getrieben oder gar gezwungen haben. Aber man kann es verstehen.
Und er war ein erfolgreicher Häretiker. Gemeinsam mit Adrienne Windhoff-Héritier hat er damals (1994) über den Leibnizpreis viel Forschungsgeld eingesammelt, während wir Anderen im Begriffsuniversum von Niklas Luhmann ein vergleichsweise angepasstes Dasein fristeten. Vergleichsweise, denn Systemtheorie war damals (in den neunziger Jahren) und ist heute umso mehr ihrerseits ein häretisches Unternehmen – im universitären Regelbetrieb. Sie findet ihre reflektierte Identität dann im ›re-entry‹ von Häresie und Orthodoxie – nach dem Wiedereintritt der Unterscheidung in der Orthodoxie. Auch für diese Theorieoperation hat Helmut Willke (staatstheoretisch) eine eigene Beschreibung entwickelt – die der ironischen Distanziertheit. Der Staat wird ironiefähig, er reflektiert seine Relativität im Konzert anderer Systeme. Die (ganz unironische) Akteursqualität dieser Beschreibung rechtfertigt Willke durch deren Transfer auf kollektive Einheiten wie Organisationen, Korporationen und eben den Staat. Es ›sind‹ allesamt Akteure. Während auch diese Übertragung systemtheoretisch noch operativ (qua kommunikativer Zurechnung auf Adressen) oder bei Bourdieu durch den Primat der Praxis gewonnen wird, hängt sie bei Willke am vorausgesetzt bleibenden Begriff des Akteurs. An dieser Stelle schließt sich der Kreis von akteursorientierter Reflexionstheorie und Häresie: Diese ›letzte‹ Ironie eines selbst noch operativen (kommunikativ gestützten) Akteursbegriffs macht Willke nicht mit. Die Freiheit der Häresie (Steuerungsoptimismus) führt bei ihm in die Orthodoxie der (reflexionstheoretischen) Akteursbegrifflichkeit. Dieser Preis einer eigenen (häretischen) Theorie schien ihm erschwinglich – gestützt durch seine ganz persönliche Auslegung des ›homo academicus‹, der er nun einmal war. Und der Erfolg hat ihm darin auf seine praktische Weise Recht gegeben.
Maren Lehmann
Ich war Hamlet.
Heiner Müller
Umwelt sei ein »Modewort«, das erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts »durchdringt«, stellt Friedrich Kluge (1912: 125) erstaunt fest. Er findet dann zwar sogleich etliche ältere Belege. Aber tatsächlich greifen diese Fundstücke nicht weiter aus als bis an den Anfang seines Jahrhunderts. Das lässt die Frage danach interessant werden, was das Problem gewesen sein könnte, das durch diesen Ausdruck beschreibbar wurde. Es muss ein sehr beständiges, überlebensfähiges Problem gewesen sein. Denn anders, als bei einer Mode zu erwarten, verlor sich das Wort keineswegs bald wieder, sondern wurde zu einem alltäglichen Ausdruck von so hoher Plausibilität, dass Nachfragen und Erklärungen verzichtbar geworden sind. Angesichts der ›Alles nur Wetter‹-Gelassenheitstheatralik in der Szene der Klimawandelleugner (zeitweilig in einer Reibungslosigkeit, die in unser Thema gehören könnte, ersetzt durch ›Bloß eine Grippe‹ bei den Corona-›Skeptikern‹) lohnt sich das Nachfragen aber doch. Geht es um Grenzen, die das Eigene als Anderes eines Außen erfahrbar machen und es als gefährdet, anfällig, brüchig erscheinen lassen? Man würde dann in jedem Moment, da man erführe, was Umwelt ist, zugleich vergessen, was es eben noch gewesen war – weil es jetzt eigenes Anderes geworden ist. Dann war Umwelt das, was jetzt, und damit ersetzt ein neueres Modewort das ältere, Brüche sind.
Helmut Willke eröffnet sein jüngstes Buch mit dem dramatischen Satz »Die Welt ist aus den Fugen« (2023: 71). Damit zieht er auch die aussichtslose Aufgabe der rettenden Wiederherstellung an sich. Er spricht ausdrücklich im Moment einer erstickenden Vielzahl von Prognosen, die der ökologischen Krise »eine Anmutung von Apokalypse« (7) vor allem deshalb geben, weil sie auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen sind als eben den des Zerfalls, des Endes, der Aussichtslosigkeit. Die Anspielung des ersten Satzes wehrt sich gegen diese Hingabe an »Endzeitszenarien« (7), sie ist Ausdruck einer Immunreaktion gegen eine Bedrängnis. Die Abwehr (das heißt: der Überdruss, der Ekel) gilt nicht der Komplexität der ökologischen Krise, sondern einerseits der Simplifizierung durch Verfallsprognosen und andererseits der sinnlos-repetitiven Vielstimmigkeit: so zahlreich die Perspektiven auch sind, so sicher nehmen sie »für sich in Anspruch, ›das Problem‹ hinreichend thematisiert und verstanden zu haben« (9). Es wird zu viel thematisiert und zu wenig problematisiert, oder anders und vielleicht etwas freundlicher gesagt: auf die Thematisierung wird zu viel Energie verwendet, auf die Problematisierung zu wenig. Allen ist alles klar, und darin bestätigen sich alle unermüdlich. Der Entscheidungs- und Handlungsdruck – der jede Krise ausmacht2 – wird dadurch ins Gemütvoll-Grabesruhige übersetzt. Das ist unerträglich, und dagegen wehrt sich Willkes Buch.
Die Einleitung lässt ein Manifest erwarten, eine prophetische Warnung. Sie ist aber kein Kassandraruf, denn sie rechnet nicht etwa damit, nicht verstanden zu werden, sondern dramatisiert das Gegenteil. Das Problem der ökologischen Krise, so liest man (so lese ich) hier, besteht im Verstehen, nicht im Nichtverstehen. Die Warnung ist etwas, an das das Publikum sich längst gewöhnt hat, sie bietet nichts Überraschendes, sie ist keine Information, keine Nachricht, weil sie zu oft wiederholt wurde. Man glaubt ihr, aber sie erscheint als geläufige Zweitfassung dessen, was soziologisch unter dem Namen der Unwahrscheinlichkeit sozialer Ordnung schon sprichwörtlich ist, und sie erscheint alltäglich als resignierte Akzeptanz der Unvermeidlichkeit von Gewalt, Armut und »Ignoranz« (39).3 Ein habitueller Nebel, in dem der rauschhafte Moment an fatalem Reiz gewinnt, in dem die Katastrophe endlich geschehen würde. Wirtschaft, Politik, Wissenschaft stehen in ihren je eigenen Selbstreferenzhorizonten wie unter Höhensonnen und halten, berauscht und verblendet, das Wetter mal für gut, mal für schlecht, immer jedenfalls für nichts Aufregendes. Klima eben. Diese Polemik durchzieht das ganze Buch, und Willke gibt sich keine Mühe, die Verzweiflung zu verbergen, der sie sich verdankt. Er dekliniert seine Krisendiagnostik in jedem Kapitel auf’s Neue für Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, alle sind Fälle von polykontexturaler Spezialbeobachtung, und für alle diese Fälle kommt Willke zur Diagnose der Verblendung durch Selbstreferenz. Von gelegentlichen Spitzen gegen die Universität und einer durchgängigen Aversion gegen neoliberale Marktideologien abgesehen, ist der gesamte Text aber ein Angriff auf den aktuellen Zustand der Politik; die Klimakrise ist ihre Krise.
Das hängt mit einer spezifischen Hypostasierung der Politik zusammen. Die üblichen Verdächtigen – Presse, Fernsehen, soziale Medien – diskutiert Willke allenfalls beiläufig und in einem eher instrumentellen Sinne; er verweist auf Akteure, die die klassischen Medien nutzen und benutzen, und er verweist auf die neuen ›sozialen‹ Medien, die ihm wegen ihrer Mobilisierungskapazität interessant zu sein scheinen. Unberücksichtigt bleibt dabei, dass sowohl klassische als auch neue Medien die Erwartung normalisieren, der Katastrophe als Zuschauer begegnen zu können, »als ob es von außen wäre« (Luhmann 1997a: 853). Dieses Als-ob-Außen entlastet davon, seinen Ort angeben zu müssen; man kann aus dem Off, aus dem Nichts beobachten und urteilen. Für diese Rückzugsoption in ein instrumentalisiertes, fiktionales Außen (die Umwelt als, mit einem noch immer beliebten Ausdruck, ›private Nische‹, vgl. zuerst Gaus 1983) interessiert Willke sich jedoch kaum. Das ist keine belanglose Indifferenz, weil er dadurch auch den, wenn man so will, passiv-konsumistischen Begleitumständen der ökologischen Krise nicht nachgehen kann. Das aber hat textstrategische, systematische Gründe.
Denn Willke fordert eine Abweichung von den Gepflogenheiten der ökologischen Debatte, die eben gerade nahezu vollständig auf aktiv-konsumistische Begleitumstände im Sinne von notwendigen Rahmenbedingungen fokussiert sind, ganz so, als seien Individuen an irgendeiner Stelle die entscheidenden Handlungsebenen. Darin liegt für ihn »die vielleicht folgenträchtigste Illusion« (68) der modernen Gesellschaft und damit auch der Umweltdebatte. Auch wenn sich immer wieder Rückfälle im laufenden Text finden (vgl. nur, als Andeutung möglicher »Wirkungsketten«, »›von unten‹«, 147), und auch wenn ein polemischer Ärger über allfällige individuelle Dumm- und Trägheiten dominiert: Argumentativ geht es darum, den an personale Verhaltensmoralität appellierenden Ton wegen der krassen Simplifizierungen, die er mit sich bringt, zu verwerfen. Das ökologische Problem soll nicht in Konsumregeln übersetzt und nicht in Singularitätskitsch aufgelöst werden. Auf die Leute, auf ihre Einsicht und auf ihre Entschlusskraft hofft Willke einfach nicht.
Er hofft überhaupt nicht. Seine Überlegung gilt möglichen selbstberuhigenden, sedierenden Effekten funktional ausdifferenzierter Polykontexturalität, und sie gilt den Schwierigkeiten, diese Polykontexturalität in politisches Handeln zu übersetzen. Er beobachtet, wie das politische System »von der lokalen Ebene bis zur Global Governance« (11) die Gesellschaft beobachtet. Die Vermutung ist, dass es diese Beobachtungen sind, die die ökologische Krise zum Fatum machen. Die Rede ist von »Ausblendungen« (v.a. Kap. 2), also von Selektivität, und von »Einblendungen« (v.a. Kap. 5), einer Metapher für Verknüpfungen, Überschneidungen und Subversionen. Beiden steht die »ökologische Verblendung« (86 ff.) auf der Ebene der Gesellschaft gegenüber, die selbst kein Funktionssystem ist, sondern sich als polykontexturale Einheit der Differenz der Funktionssysteme versteht – was, wie gesagt, kein durchdringendes Verständnis oder Begreifen impliziert, sondern ein hingenommenes Fatum sein kann. Daraus entstehen die Lähmungen der Krise. Was Willke sich nun fragt, ist, ob sich die Ebene des notwendigen Handelns und der Verantwortung für das Notwendige auf die Ebene der Gesellschaft verlegen ließe – und das wiederum kann nichts anderes heißen, als dass das Problem funktionaler Codierung und organisationaler Programmierung den funktionssystemspezifischen Binnenhorizonten entzogen und beobachtet, behandelt, gemanagt, organisiert wird, »als ob es von außen wäre« (Luhmann 1997a: 853). Diese spekulative Reinvestition des Außen ins Innen ist dann kein Spezifikum politischen Protests mehr, ohne deswegen ein Merkmal jeder Selbstbeobachtung von Systemen und vor allem jeder Funktionssystemselbstbeobachtung zu werden. Für Willke bleibt sie unter dem Namen Global Governance ein Spezifikum der Politik, das er als Form von »Weltinnenpolitik« (Habermas 2004) konkretisiert: einmal utopisch, in Gestalt des Entwurfs eines »Weltkongresses für globale Ökologie« (162), und einmal provisorisch, in Gestalt eines »Zwischenschritts« namens »Kontextsteuerung« (164 f.). Was heißt das, was folgt daraus?
Der Ausgangspunkt ist die, wenn sich das so sagen lässt, Umfassungsgewalt der Krise – sie ist mehr als ein irgendwie kleinarbeitbares Problem, sie wächst über die Problematisierungs- und Problemlösungsroutinen der modernen Gesellschaft hinaus. Um dieser ohne Zweifel katastrophalen Lage nicht anheimzufallen und sich auch keiner apokalyptischen Sprache zu bedienen, beginnt Willke ihr mit dem vertrauten Besteck auf den Grund zu gehen. Er konstatiert die funktional ausdifferenzierten Selektivitäten der Funktionssysteme und diskutiert deren Beobachtungs- und Reflexionsformen. Er sucht nicht nach den blind spots der Funktionssysteme und ihrer Organisationen (die setzt er vielmehr voraus), sondern nach spezifischen Verengungen der Blickfelder bzw. der Beobachtungsräume. Dabei irritiert der sehr stark an Durkheim (1996) und dessen Arbeitsteilung erinnernde Differenzierungsbegriff. Ausdifferenzierte Systeme seien »Spezialisten«; sie »fokussieren sich auf eine Teilaufgabe und verlieren das Ganze aus den Augen« (Durkheim hätte daraus eine anomische Tendenz geschlussfolgert)4 – ließen aber einen »Spezialisten für das Ganze« oder, als dessen Äquivalent, »ein von Interdependenzen orchestriertes Zusammenspiel« der Teilsysteme zu (13). Zieht man das vom allzu einfachen Arbeitsteilungs- bzw. Spezialisierungsbegriff wieder in Richtung polykontexturaler Systemdifferenzierung, dann lautet Willkes Vorschlag: Funktionssysteme differenzieren in sich selbst ihre Spezialfunktion und ein Umfassungs-, Ganzheits- oder Weltäquivalent aus, und sie sind in beiden Fassungen sie selbst – aber es gibt ein Funktionssystem, dessen Spezialfunktion nichts anderes als eben diese vielleicht umfassende, vielleicht zusammenhängende, vielleicht vernetzte, vielleicht organisierte Ganzheit selbst ist. Dieses Funktionssystem – nach Willke: die Politik – dürfte sich dann nicht als Spezialist verstehen, sondern als Universalist (oder ›Globalist‹), und es würde sowohl Zuständigkeit als auch Verantwortlichkeit für den Zusammenhang bzw., wieder mit Durkheim, die Integrität aller Funktionssysteme einschließlich seiner selbst beanspruchen. Es stünde also vor einem Ordnungs-, einem Organisationsproblem, das seine spezifische Komplexität daraus bezöge, eine Vielzahl von Systemreferenzen miteinander ins bindende Benehmen setzen zu müssen, deren keine ihrerseits auf Mitwirkung oder Verlässlichkeit verpflichtet werden könnte – mit dem Effekt, dass dieser Ordnungsversuch vor allem sich selbst binden würde und umso gebundener, gelähmter, untätiger erschiene, je erfolgreicher er in seinem Vernetzungsbemühen wäre.
Das Ergebnis ist unter dem Zornes- und Schreckensruf des ›bürokratischen Filzes‹ nur zu gut bekannt. Womöglich führt dieser Verdichtungseffekt – also nichts anderes als eine Form, Komplexität in Verbindlichkeit zu übersetzen – zu dem Eindruck, Umwelt sei schlicht das jegliches Handeln umstellende Dickicht politischer Regulierung. Alle übrigen Funktionssysteme erscheinen demgegenüber beweglich, und sie erschienen nicht nur so, sondern wären es auch tatsächlich – schließlich sind die Freiheitsgrade dessen, der keine Rücksichten nehmen muss, zuverlässig größer als diejenigen, der Rücksichten nimmt.
In diesem Sinne versteht Willke die Politik. Sie sei »Primus inter pares« der Funktionssysteme: sich unterscheidend und auszeichnend als »das einzige System, das Verantwortung für das Ganze der Gesellschaft trägt« (34; vgl. dazu knapp Luhmann 1990: 167 f.). Differenzierungstheoretisch leuchtet dieser Gedanke nicht ein, weil ja doch jedes Funktionssystem Spezifik und Universalität, Spezialfunktion und Weltäquivalent ausdifferenzieren und also seine spezifische Variante des Gesellschaftsganzen bilden und behaupten wird. Aber Willke argumentiert nicht differenzierungstheoretisch, sondern verantwortungspraktisch. Ihn interessiert die Zuständigkeit der Politik für dieses Ganze, für die Gesellschaft als nicht bloß behauptete, sondern erfahrbar verlässliche soziale Ordnung. In diesem Sinne wäre die Politik, strenggenommen, gar nicht funktional ausdifferenzierbar, weil sie sich eben nicht auf einen Ausschnitt oder Aspekt gesellschaftlicher Beobachtungen kaprizieren kann; sie müsste sich aber dieser Unmöglichkeit zum Trotz auf einen Spezialcode und dessen Medium (Macht) beschränken und die Aufgabe verantwortlicher Integration alles dessen, was eben nicht Politik ist, gleichwohl immer als politisches Problem ausweisen. Sie müsste (immer in Willkes Terminologie) das Gesellschaftsganze, das alle anderen Funktionssysteme aus den Augen verloren haben und auch mehr oder weniger folgenlos aus den Augen verlieren können, im Blick behalten. Anders formuliert: Politik könnte sich nirgends auf Beobachtungen erster Ordnung zurückziehen (nie fragen, was los ist im Staate), sondern bestünde in Beobachtungen von Beobachtungen (darunter zahllose, die ihr die Möglichkeit voraushaben, zu fragen oder zu behaupten, was los sein könnte oder sollte), in Beobachtungen zweiter Ordnungen. Nur in diesem Sinne lässt sich die These bestätigen, es ginge der Politik um das Ganze der Gesellschaft, um verantwortliche Wiedereinblendung der Ausblendungen aller beobachtenden Systeme einschließlich der Politik selbst. Dieses Ganze der Gesellschaft wird politisch in Form von Krisen problematisiert, weil Krisen den Kontingenzen und Ambivalenzen (der Verunsicherung) Kontur verleihen, die durch Beobachtungen zweiter Ordnung produziert werden. Willke folgert daraus eine Zurechnung politischen Handelns nicht auf isolierte individuelle oder korporative Akteure, sondern auf deren Kontexte. Entsprechend könnten politische und ökologische Kommunikation in der Form kontextuell verteilter – i.e. kritischer – Intelligenz identisch sein. Kollektivbindungen politischer Entscheidungen sind nur dann im Sinne der Krisenbewältigung leistungsfähig, wenn sie kontingent, genauer: als kontingent anerkannt sind und diese Kontingenz im Medium kontextueller Intelligenz reflektieren.
Diese Intelligenz stellt sich Willke genauso wie die Sozialordnungen, die sich aus ihr ergeben können, als leistungsfähige Gegenentwürfe sowohl zum habituell trägen Nationalstaat als auch zu unvermeidlich kleinteiligen Umweltinitiativen vor. Er formuliert scharf; der »jämmerliche Zustand der Welt« werde weder durch »Myriaden von Betroffenengruppen« (142) behoben noch durch »umstrittene Großveranstaltungen mit immensem Aufwand und geringem Ertrag« (147), bei beiden seien »Zeichen von kollektiver Intelligenz (…) kaum zu erkennen, dafür eine Fülle von Zeichen für kollektive Ignoranz« (145). Man mag einwenden, dass die Annahme einer in dieser Weise urteilenden Autorität mindestens in ihrer auf idiosynkratische Härte vertrauenden Intelligenz dem Argument widerspricht. Aber entscheidend ist etwas anderes, dem sich diese Härte denn auch verdanken dürfte: was Willke attackiert, ist eine auf ihrer organisationalen Ebene drastisch unter ihren Möglichkeiten bleibende Politik. Die Klimakrise ist eine Krise der Organisation von, genauer: der Politik. Die Umwelt, um die es in diesem Buch geht, ist daher weder Natur noch Landschaft noch Klima, sondern das politische System in seiner hier behaupteten funktionalen Zuständigkeit für ›das Ganze der Gesellschaft‹. Die Vorschläge zur Reorganisation, die Willke macht, wechseln nicht die Systemreferenz – diese bleibt vielmehr die Differenz Politik/Gesellschaft –, aber die Seiten: Organisiert werden muss, Willke zufolge, die Gesellschaft selbst, und dies nicht einfach mit politischen Mitteln, sondern als Politik, in Form der Politik. Keinem anderen Funktionssystem könne dies gelingen, der Wirtschaft nicht (die von ihren Wachstumsideologien nicht herunterkäme) und der Wissenschaft nicht (die von Karriere- und Statusinteressen ihrer personalen und organisationalen Akteure verzehrt würde), und angesichts der Auslassungen des Textes kann ergänzt werden: auch dem Recht nicht, der Erziehung nicht, der Religion nicht, der Kunst nicht. Und der Politik könne es ebenfalls nicht gelingen, solange sie sich zwar als »laterales Weltsystem« ausdifferenziere (83), organisational aber in den Grenzen des Nationalstaates einhegen lasse.5 Die »Herausforderungen und Chancen globaler Umweltpolitik«, die der Buchtitel beschwört, liegen in der politischen Organisation der Gesellschaft.
Von dieser Seite aus könnte es sich umso mehr lohnen zu fragen, ob das, was Umwelt war – ob der Sinn, der dem Ausdruck ›Umwelt‹ in verschiedenen Epochen und sozialen Zusammenhängen zugeschrieben worden war und wird – mit einer so starken politischen Rahmung zu fassen ist. Dafür ist hier nicht genug Platz. Immerhin lässt sich nach einem Blick in die historischen Wörterbücher nicht bloß die eingangs schon erwähnte etymologische Jugendlichkeit des ›Modeworts Umwelt‹ festhalten, sondern auch die unzweifelhaft soziale und eben nicht naturale Rahmung des Begriffs Umwelt. Umwelt bezeichnet das, wovon die moderne, neuzeitliche Welt (die sich als Gesellschaft versteht) meinte, sich unterscheiden zu müssen – weil es das Unbeherrschte und Unbeherrschbare ist, das nicht Steuerbare, nicht unbefangen zu Ordnende, und vor allem: weil es als solches erlebt und erfahren wird.
Diese Unterscheidung, wenn sie getroffen wird, trägt seit Luhmann (1993) den Namen System, und als Selbstunterscheidung der Gesellschaft nicht von, sondern in der Welt ist dieses System eine System/Umwelt-Differenz – die Unterscheidung wird getroffen und vollzogen, um sich abzugrenzen, um die Grenzen der eigenen Ordnungs- und Kontrollmöglichkeiten zu markieren und das Ungeordnete auszuschließen, aber sie wirkt sich nicht als Ausgrenzung aus, sondern als Verwicklung (vgl. Fuchs 2001, Baecker 2002). Weniges führt diesen Effekt so klar vor Augen wie die stets zu Idealisierungen und Romantisierungen verführende Biografie des Lebenswelt-Begriffs, der in einschließender, reservierender, geradezu kuratorischer Absicht gegen den System-Begriff ins Feld geführt wird. Er muss mal als In- und mal als Gegenbegriff von Umwelt herhalten und hält die Hoffnung hoch, dass jene ausschließende Abgrenzung doch noch gelingen möge (vgl. Braun 1978, der den konturierten Begriff nicht bei Husserl, sondern bei Simmel entstehen sieht). Dass diese aus- und einschließende Abgrenzung niemals gelungen ist und deshalb umso hartnäckiger tradiert wurde, was die ganze Lebenswelt-Erzählung zur Trotzideologie macht, hat auch nicht erst Latour (2008) gezeigt. Denn schon Luhmann macht deutlich, dass die System/Umwelt-Differenz ein »und« prozessiert, ein »Verhältnis«, das »funktionale Substitutionsmöglichkeiten im System als Erfordernis seiner Beziehung zur Umwelt« sowohl ermöglicht als auch voraussetzt (Luhmann 1993: 242 und Fn. 2 ebd.). Ein System ermöglicht sich selbst durch sein »Umweltverhältnis«, das daher »konstitutiv« und nicht »›akzidentiell‹« wirksam ist (ebd.). Es handelt sich mitnichten um eine »funktionale Verklammerung der Organismen mit ihrer als Welt erlebten Umgebung«, wie Braun (1978: 501) in einer ausführlichen Paraphrase Uexkülls darlegt (vgl. nüchterner Müller 2001 und kritisch klar Schnödel/Sprenger 2021). Es handelt sich auch nicht, wie Uexküll (1921: 5) selbst meint, um den »Bauplan« dessen, was dann als innere und äußere Eigenwelt erlebt werden kann (derartige Einbauten des Eigenen ins Fremde zum Zwecke seiner zuverlässigen Auffindbarkeit und Erfahrbarkeit wären nichts als eine identitäre Schublade). Selbst wenn die ökologische »Nische«, von der Maturana (1982: 34 ff.) spricht, als ein solcher sich selbst in eine als seine Welt eingrabender Bau (Soentgen 1992) gemeint gewesen sein sollte: nach Luhmanns Begriff des Systems als einer kontingenten (für Latour womöglich: mannigfaltigen) System-Umwelt-Differenz kommt – aber ich spekuliere – eben nicht das System, sondern nur die Umwelt als eine solche ›Nische‹ in Frage; das System ist nur die Differenz, die diese Nische beobachtet, unterscheidet und trifft, also (mit Willkes Zyklopenmetapher): ›sieht‹. Wenn »alles, was vorkommt, immer zugleich zugehörig (ist) zu einem System (oder zu mehreren Systemen) und zugehörig zur Umwelt anderer Systeme« (Luhmann 1993: 243, Hhg. i.O.), und wenn »jede Änderung eines Systems Änderung der Umwelt anderer Systeme (ist)« (ebd.) – dann wird die Umwelt nicht bloß vom System »erlebt«, sondern als System »erhandelt« (Luhmann 1993: 104).6
Dieser Punkt trägt Willkes Konzept der »Kontextsteuerung« hier (164 ff.) und in zahlreichen früheren Arbeiten (vgl. grundlegend Willke 1994: passim, explizit 239 ff.). Das Gesellschaftsganze, von dem er mit so viel Vehemenz (und doch, ich habe es angemerkt, missverständlich und irritierend) spricht, ist nicht einfach die Umwelt der Politik, sondern die Politik selbst als Umwelt ›anderer Systeme‹. Er muss dafür eine zurechenbare, handelnde Zweitversion der Politik entwerfen, die sich nicht darauf zurückzieht, gesellschaftlicher Horizont oder eben Zweitversion der Gesellschaft zu sein. Willke konstatiert den exponentiellen Komplexitätszuwachs der polykontexturalen Gesellschaft, und er konstatiert ihn (entgegen dem Eindruck, den sein affektiv geladener Stil macht) ohne jeden Fatalismus. Im Gegenteil. Denn wenn »jeder Komplexitätszuwachs an einer Stelle (…) die Komplexität der Umwelt für alle anderen Systeme (vergrößert)« (Luhmann 1993: 243), dann bietet sich an prinzipiell jeder ›einen Stelle‹ die Chance auf einen strategischen Komplexitätszuwachs. Willke macht sich zunutze, dass der Systembegriff, da er eine System-Umwelt-Differenz als beobachtendes und beobachtetes Verhältnis beschreibt, ein empirischer Begriff und auch ein pragmatischer Begriff ist. Weder normativ noch instrumentell ergibt er irgendeinen Sinn; die entsprechend scharf munitionierten Angriffe (vgl. Habermas/Luhmann 1990) überrennen eine Barrikade, die sie eigens zu diesem Zweck selbst errichten mussten. Immerhin war aber dieser Guerillakampf für ein ganzes Netz von Autor:innen Anlass und Gelegenheit, die attackierten Begriffe so scharf wie möglich zu stellen. Keine:r von ihnen hat in irgendeiner Form soziologischer negative partisanship eine aussichtsreiche Theoriestrategie gesehen, auch Helmut Willke nicht. Stattdessen unterscheidet er die Systemebenen und entwirft sein Konzept politischer Kontextsteuerung (global governance) als Entfaltung der Differenz von Organisation und Gesellschaft bzw. (denn in seiner Abwehr korporativ-nationaler Restriktionen ist er überdeutlich und scharf) der Differenz von politischer Entscheidung und politischer Kommunikation. Damit gelingt es ihm auch, das Problem der Differenz von System und Umwelt (und eben nicht irgendeiner territorial oder korporativ umschlossenen Einheit von System und Umwelt) nächstmöglich zum Problem der ökologischen Krise zu bringen. Die Differenz von Entscheidung und Kommunikation ist, wenn sie zurechenbar sein und deshalb als Entscheidungsproblem beobachtet werden soll, der Inbegriff dieser Krise. Anders gesagt: die Klimakrise, wie Willke diese Krise nennt, ist ein Entscheidungsproblem, das als Kommunikationsproblem erlebt, aber durch Entscheidung erhandelt wird. Es muss folglich nicht einfach anders entschieden werden, sondern Entscheidungen müssen anders beobachtet werden, sie müssen – ich überziehe Willkes These erneut auf spekulative Weise – durch Entscheidungen so provoziert werden, dass sie sich nicht laufend kommunikativ verlieren oder, als Variante dessen, zu einem Konfliktfilz verdichten, sondern als Entscheidungen selektiv verschärfen und deshalb vernetzbar werden. Politik ist ein solcher sich selbst durch eigene Entscheidungen herausfordernder und reproduzierender kommunikativer Kontext. Dieser Kontext, dieses System der Politik, konfrontiert sich selbst mit eigener Unsicherheit und entwickelt auch die organisierten Formen der Unsicherheitsabsorption selbst.
Damit dominieren politisch nicht die Kommunikationen, sondern die Entscheidungen. Willke leitet diese jeder populistischen Ekstase nüchtern entgegentretende pragmatische Sicht offenbar mühelos – tatsächlich aber jahrzehntelang trainiert – aus Luhmanns Systembegriff ab. Aus den enttäuschenden Hemmnissen einer zu immer neuen Krisenzyklen führenden, sich selbst womöglich eher lähmenden als bewegenden, ›zyklopisch‹ verengten Politik – die ihm nicht bloß Thema und Problem stellt, sondern auch Zorn und Verzweiflung verursacht – kann er mittels eines überraschend einfachen Vorschlags herausfinden. Dieser Vorschlag lautet, Luhmanns systemtheoretischen Grundriss (1993) um das Kapitel Organisation/Gesellschaft zu ergänzen (das dort fehlt; es gibt nur ein Kapitel Interaktion/Gesellschaft). Dieses Kapitel fehlt nicht, solange es um eine Systemtheorie der Kommunikation geht; es fehlt aber (und Luhmann 1997a ändert das denn auch), sobald es um eine Systemtheorie der Gesellschaft geht. Was wird aus der System-Umwelt-Differenz, die das System ist, wenn sie sich als Organisation-Gesellschaft-Differenz realisiert? Willke identifiziert hier eine Schwäche sowohl der politischen Theorie als auch der politischen Praxis: der Kommunikation wird zu sehr, den Entscheidungen zu wenig vertraut, und aus diesem Grunde trauen auch beide Seiten (Theorie wie Praxis) der Kommunikation zu, die Defizite und Durchsetzungsschwächen der Entscheidungen auszugleichen. So kann die fixe Idee entstehen – und Willke kritisiert, ja verhöhnt das scharf –, Governance als unpolitischen Begriff von Politik zu verstehen, als organisational-bürokratisch-technokratisch-expertokratische Ebene, die irgendwie beflissen-narrativ oder engagiert-aktivistisch zu untergraben, zu umgehen oder zu überwinden sei. Stattdessen käme es darauf an, die organisationale Ebene der Politik, ihre Entscheidungsnetzwerke, erheblich komplexer und auf diese Weise (›Änderungen eines Systems führen zu Änderungen in der Umwelt anderer Systeme‹) erheblich verbindlicher anzulegen.
Der Ausdruck Ökologie beschreibt dann kein aus den Augen verlorenes Ganzes mehr, sondern einen Sinnhorizont möglicher Entscheidungen, der im politischen System (und nicht irgendwie vage in der Welt) gleich mehrfach wieder vorkommt – als hartnäckige Ausblendung und als episodische Einblendung. Das verlorene Ganze ist also nicht gelöscht, sondern desintegriert – es verliert sich im Schatten genauso wie im Geflecht der selektiven Perspektiven. Der Vorschlag gewinnt nur Kontur, wenn man ihn auf die organisationale Ausdifferenzierung der Politik in sich selbst betrachtet und die Einblendungen nicht, wie Willke es tut, auf andere funktionale Codes bezieht. Während diese sich zu »zyklopischer Verengung« (84) und »einäugig verblendeten Visionen« (94) steigern, geistert die Politik in ihrem eigenen System. Die »Tragik der ökologischen Ausblendung« (11), dieser gespenstische Spuk des Systems im System ist womöglich die Gegenwartsfassung dessen, was Umwelt gewesen war. Und erst in dieser Fassung ist sie etwas, wofür Politik Verantwortung übernehmen muss: für sich selbst, für ihre eigenen Entscheidungen, und dies durch ihre eigenen Entscheidungen. Dass sie daran scheitert, steht für Willke fest, und es wäre eine Tragödie, wenn er recht behielte. Umso wichtiger ist es, den tragischen Gestus pragmatisch zu wenden – denn anderenfalls liefe man in jene Rettungsemphase hinein, die Luhmann (1997b: 18) an Husserl kritisiert hatte.7 Willke vermeidet das, nicht immer erfolgreich, und umso wichtiger ist es, seine Pointe zu sehen: die Ebene, auf der sich das Schicksal des Planeten wenden ließe, ist nicht die Ebene der aktivistisch oder populistisch ausufernden Kommunikation, so sehr die Affekte in der einen oder anderen Richtung dazu Anlass geben mögen. Das Vertrauen in Kommunikation ist verführerisch, aber polemogen; Krisen variiert und verschärft es, löst sie aber nicht. Stattdessen kommt es auf die Ebene der organisierten und deshalb auf ihre Verantwortlichkeit hin beobachtbaren Entscheidungen an.
Helmut Willke setzt damit für die Klimakrise fort, was Luhmann spätestens Mitte der 1960er Jahre zum Verständnis der Entstehens- und Bestehensbedingungen des Nationalsozialismus einschließlich seiner bornierten Folgezeit zu erarbeiten begonnen hatte. Beide beobachten eine erschütternde Bereitschaft der Politik zum Selbstruin, und beide sehen sie als Folge einer Formschwäche der organisationalen Ebene der Politik, von der überdies beide konstatieren, dass sie im Gewand einer Selbstüberschätzung auf die Bühne tritt. Als Sportler, der Helmut Willke war, gibt er uns eine klare Empfehlung, wie mit solchen Formschwächen umzugehen ist. Es wartet Arbeit, wir müssen sie nur tun.
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Uwe Schimank
Helmut Willke war derjenige soziologische Systemtheoretiker, der sich eine entscheidende Frage der westlichen Moderne nicht so einfach gemacht hat wie Niklas Luhmann: Ist blinde Evolution alles, was gesellschaftliches Geschehen bestimmt, oder gibt es Möglichkeiten gelingender intentionaler Gestaltung von Gesellschaft? Weil Willke diese Möglichkeiten sieht, ist für ihn die Politik kein Teilsystem der funktional differenzierten modernen Gesellschaft wie jedes andere, sondern »Primus inter pares« (Willke 2023: 34, Hervorheb. weggel.). Mehr noch: Politische Gesellschaftssteuerung stellt Willke nicht nur als Möglichkeit, sondern als notwendig zur Wahrung gesellschaftlicher Integration heraus. Zwar werden die meisten Probleme gesellschaftlicher Integration vorpolitisch in und zwischen den involvierten gesellschaftlichen Teilsystemen selbst bearbeitet. Doch immer dann, wenn Integrationsprobleme so nicht bewältigt werden können, fallen sie in die Zuständigkeit der Politik, die somit letztinstanzlich verantwortlich für gesellschaftliche Integration ist. Politische Gesellschaftssteuerung kann und darf sich dabei Willke zufolge nicht in einer reaktiven Bearbeitung bereits aufgetretener Integrationsprobleme erschöpfen, sondern muss immer wieder auch antizipativ und präventiv dahingehend gesellschaftsgestaltend wirken, dass bestimmte Probleme erst gar nicht auftreten.
In früheren empirischen Studien beschäftigten Willke die gesamtgesellschaftlich desintegrativen Auswirkungen globaler Finanzmarktkrisen, und wie die Nationalstaaten sowie supranationale Institutionen damit umgehen können (Willke et al. 2013). Seine letzte größere Arbeit widmete er dann einer wohl noch folgenträchtigeren und noch schwieriger politisch zu handhabenden gesellschaftlichen Integrationsproblematik: der Klimakrise (Willke 2023). Er zieht dazu den analytischen Werkzeugkasten heran, den er in jahrzehntelanger eigener Arbeit bestückt hat. Damit wird die Studie zur Klimakrise auch eine Art Quintessenz von Willkes gesellschaftstheoretischen Überlegungen, die ja von Anfang an um gesellschaftliche Integration und deren Wahrung durch Politik kreisten (Willke 1983). Seine Deutung der Klimakrise und der Schwierigkeiten ihrer politischen Bearbeitung lässt sich in drei Punkten resümieren:
Er erklärt beides auf der Grundlage einer spezifischen gesellschaftstheoretischen Perspektive – der Theorie funktionaler Differenzierung, wie sie auch schon von Luhmann (1986) für die Analyse ökologischer Probleme herangezogen wurde. Demgemäß blenden die Eigenlogiken der verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme – Willke spricht vor allem die Wirtschaft, die Wissenschaft und die Politik an – ökologische Belange aus, sofern sie sich nicht als relevant im jeweiligen teilsystemischen binären Code darstellen lassen; und ein für die gesellschaftlichen Naturbezüge zuständiges Teilsystem, das ökologische Nachhaltigkeit als binären Code ins Konzert funktionaler Differenzierung einbringen könnte, gibt es nicht.
Als zusätzlichen Erklärungsfaktor für die bislang zu konstatierenden sehr geringen Erfolge der politischen Bearbeitung der Klimakrise führt Willke vor allem das Fehlen eines handlungsfähigen globalen politischen Systems an: Die Klimakrise muss weltweit mit konzertierten Maßnahmen angegangen werden; doch die Nationalstaaten sind auf ihr jeweiliges Territorium beschränkt und lassen sich nur schwer in verbindliche internationale und supranationale Steuerungsaktivitäten einbinden. Insbesondere die Tatsache, dass die Wirtschaft längst in hohem Maße globalisiert ist, beschert der nationalstaatlichen Politik nicht nur, aber auch in ökologischer Hinsicht immer wieder Ohnmachtserfahrungen.
Weiterhin kommt Willke, wiederum vor allem zur Erklärung der Schwierigkeiten wirksamer Maßnahmen gegen die Klimakrise, an vielen Punkten, aber ohne theoretische Systematik, sondern mit Common-sense-Hinweisen, auf Interessenunterschiede und Einflusspotentiale verschiedenster Akteure, deren Handeln intentional oder transintentional klimabezogene Implikationen hat, zu sprechen8 – etwa unterschiedliche Bevölkerungsgruppen eines Landes oder die Bevölkerungen verschiedener Länder, Unternehmen verschiedener Branchen, Politiker verschiedener Länder und innerhalb eines Landes verschiedener Parteien und ideologischer Ausrichtungen, Vertreter internationaler Organisationen oder verschiedenste soziale Bewegungen mit ihren ökologischen Agenden.
Diese drei Kernargumente kombiniert Willke zu einer insgesamt sehr plausiblen Diagnose der Klimakrise. Natürlich fehlen Erklärungsfaktoren oder werden nur ad-hoc am Rande angesprochen. Das ist bei einem so groß angelegten Thema unvermeidlich. Ich will daher nun nicht – was schnell einen besserwisserischen Tonfall bekäme – nachtragen, was man noch alles erwähnen könnte, sondern enger an Willkes theoretischem Instrumentarium bleiben und zwei Vorschläge zu dessen weiterer diagnostischer Schärfung machen:
Der eine buchstabiert das für Willke zentrale Konzept der gesellschaftlichen Integration weiter aus und gelangt dabei zu einer von ihm hier und da flüchtig gesehenen, aber nicht theoretisch durchdrungenen Kontextualisierung der ökologischen Problematik als einem von drei Integrationsproblemen, mit denen jede Art von Gesellschaft – und die moderne Gesellschaft in besonderer Zuspitzung – dauerhaft konfrontiert ist. Eine auf die ökologische Integration der Gesellschaft ausgerichtete politische Steuerung, der Willkes Überlegungen gelten, muss dieses Integrationsproblem im Kontext der beiden anderen sehen, die in der soziologischen Gesellschaftstheorie seit langem als »Sozial-« und »Systemintegration« bekannt sind.
Mein anderer Vorschlag greift eine von Willke wiederum nur als Randbemerkung eingebrachte Beobachtung auf, die aber wichtig genug für eine weitere Fundierung seiner Analyse ist und daher eine zumindest skizzenhafte Ausarbeitung verdient: Die besondere Schwierigkeit, die sich einer auf die Klimakrise ausgerichteten politischen Gesellschaftssteuerung gegenwärtig und, wie man annehmen kann, auch zukünftig stellt, besteht darin, dass nicht nur Krisenzeit herrscht, sondern auch noch unter diesen ohnehin erschwerten Bedingungen eine große Wende – die Nagelprobe jedes Steuerungshandelns – in Gestalt der ›Energiewende‹ vollbracht werden muss.
Nicht zu sprechen komme ich im Folgenden auf Willkes Vorschläge, wie Steuerungsmaßnahmen ausgestaltet sein müssten, die unter den diagnostizierten Bedingungen der Klimakrise erfolgversprechend sind. Hier bietet Willke gegenüber seinen eigenen früheren Überlegungen wenig Neues, bleibt vor allem zu allgemein, so dass es viele Fragezeichen gibt, wie realistisch es ist, dass sich maßgebliche Akteure zum Beispiel auf einen »Weltkongress für globale Ökologie« einlassen (Willke 2023: 162–164).9 Dieses Manko der Therapievorschläge kann aber – so meine Einschätzung – in dem Maße behoben werden, wie die Diagnose weiter präzisiert wird, was ich mir hier vorgenommen habe.
Willkes Insistieren auf gesellschaftlicher Integration als analytischem Bezugspunkt gesellschaftstheoretischer Betrachtungen ist gut begründet. Wer alltagssprachlich etwas als wohlintegriert bezeichnet, will damit sagen, dass sich die Bestandteile einer Einheit – also etwa die einzelnen Räume eines Gebäudes oder die Komponenten einer gesellschaftlichen Ordnung – ohne Friktionen zusammenfügen und ineinandergreifen. Eine Gesellschaft ist in dem Maße integriert, in dem die in ihr stattfindenden Aktivitäten einander zumindest nicht in die Quere kommen, sondern einander vielleicht sogar wechselseitig befördern und so das gesellschaftliche Ganze tragen.
Als Systemtheoretiker versteht Willke gesellschaftliche Integration in erster Linie als »Systemintegration«,11 die – gemäß Luhmann (1977: 242–248) – dann gewahrt ist, wenn kein Teilsystem durch seine Operationen anderen Teilsystemen unlösbare Probleme beschert. Prinzipiell kann jedes Teilsystem sich selbst und jedem anderen Teilsystem Knüppel zwischen die Beine werfen – also etwa das Familien- dem Bildungssystem oder das Wissenschafts- dem Wirtschaftssystem. Doch dasjenige gesellschaftliche Teilsystem, das in dieser Hinsicht besonders problematisch ist, ist die kapitalistische Wirtschaft.12 Willke (2023: 40/41) bringt das auf den Punkt: »Seit Beginn der Moderne (…) tobt der Kampf zwischen Politik und Ökonomie um den Primat in der Gesellschaft. Formal steht er der Politik zu, faktisch übt ihn die Ökonomie aus.« Die Sonderstellung der Politik, die Willke gegen Luhmann reklamiert, ist also keine, die sich in faktisch gegebenen Einflusspotentialen zum Ausdruck bringt – sondern es geht dabei um Erwartungen, an denen die Politik gemessen wird. Anders als Marxisten, die solche Erwartungen als bloße Ideologie abtun, stuft Willke sie – mit Ernst Bloch (1959) gesprochen – als »konkrete Utopien« ein, also als etwas Erreichbares – wenn die gesellschaftlichen Bedingungen, insbesondere die Kräfteverhältnisse, stimmen und wenn diejenigen Akteure, die eine solche Politik wollen, sich ins Zeug legen.