Die Rollen und ihre Darsteller. Roman - Pétur  Gunnarsson - E-Book

Die Rollen und ihre Darsteller. Roman E-Book

Pétur Gunnarsson

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Beschreibung

Über das Buch »Die Rollen und ihre Darsteller«, der dritte Teil von Pétur Gunnarssons Roman-Tetralogie, der auch ohne Kenntnis der beiden ersten Teile gelesen werden kann, ist ein weiterer Roman um den jungen Andri Haraldsson, der im Island der 50er und 60er Jahre aufwächst. 1968, inzwischen 19 Jahre alt, ist er fest entschlossen, Schriftsteller zu werden. Aber wie macht man das, wenn man dauernd Halldór Laxness und Ernest Hemingway vor Augen hat? Und auch noch unsterblich verliebt ist? Auf der Suche nach der allumfassenden Inspiration fährt Andri nach Paris. 1987 war der Roman für den Literaturpreis des Nordischen Rates nominiert. Pétur Gunnarsson zählt zu den wichtigsten isländischen Autoren. »Weniger was Gunnarsson erzählt, macht seine Texte so faszinierend, inspirierend und hochamüsant, sondern viel mehr wie er es erzählt: Voller treffender Bilder und Vergleiche, und in kurzen, wahren Sätzen, die man sich übers Bett hängen möchte.« Antje Deistler, WDR Über den Autor Pétur Gunnarsson wurde 1947 in Reykjavík geboren. Nach einem Literatur- und Philosophiestudium in Frankreich etablierte er sich in Island als Schriftsteller und Übersetzer. »punkt punkt komma strich« war sein erster Roman, er erschien 1976 und ist heute ein Klassiker der isländischen Literatur. Das Buch wurde 1981 von Þorsteinn Jónsson verfilmt. Der erste und zweite Band der Tetralogie um Andri Haraldsson sind ebenfalls bei CulturBooks als eBook und als Printversion im Weidle Verlag erhältlich. Gunnarsson übersetzte u. a. Marcel Proust, Gustave Flaubert, Georges Perec, Claude Lévi-Strauss, Peter Handke. Auf Deutsch erschien 2011 außerdem sein Buch über seine Heimatstadt, »Reykjavík« (Suhrkamp).

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Über das Buch

Der Roman »Die Rollen und ihre Darsteller«, der auch ohne Kenntnis der beiden ersten Teile gelesen werden kann, ist der dritte Teil der Roman-Tetralogie um den jungen Andri Haraldsson, der im Island der 50er und 60er Jahre aufwächst. 1968, inzwischen 19 Jahre alt, ist er fest entschlossen, Schriftsteller zu werden. Aber wie macht man das, wenn man dauernd Halldór Laxness und Ernest Hemingway vor Augen hat? Und auch noch unsterblich verliebt ist? Auf der Suche nach der allumfassenden Inspiration fährt Andri nach Paris.

1987 war der Roman für den Literaturpreis des Nordischen Rates nominiert. Pétur Gunnarsson zählt zu den wichtigsten isländischen Autoren.

»Weniger was Gunnarsson erzählt, macht seine Texte so faszinierend, inspirierend und hochamüsant, sondern viel mehr wie er es erzählt: voller treffender Bilder und Vergleiche, und in kurzen, wahren Sätzen, die man sich übers Bett hängen möchte.« Antje Deistler, WDR

Über den Autor

Pétur Gunnarsson wurde 1947 in Reykjavík geboren. Nach einem Literatur- und Philosophiestudium in Frankreich etablierte er sich in Island als Schriftsteller und Übersetzer.

»punkt punkt komma strich« war sein erster Roman, er erschien 1976 und ist heute ein Klassiker der isländischen Literatur. Das Buch wurde 1981 von Þorsteinn Jónsson verfilmt. Der erste und zweite Band der Tetralogie um Andri Haraldsson erscheinen sind ebenfalls bei CulturBooks als eBook und sind als Printversion im Weidle Verlag erhältlich.

Gunnarsson übersetzte u. a. Marcel Proust, Gustave Flaubert, Georges Perec, Claude Lévi-Strauss, Peter Handke. Auf Deutsch erschien 2011 außerdem sein Buch über seine Heimatstadt, »Reykjavík« (Suhrkamp).

Pétur Gunnarsson

Die Rollen und ihre Darsteller

Roman

Aus dem Isländischen von Benedikt Grabinski

CulturBooks Verlag

www.culturbooks.de

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2014

www.culturbooks.de

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Die Originalausgabe, »persónur og leikendur«,

erschien zuerst 1982 bei Punktar.

Deutsche Printausgabe: © Weidle Verlag 2013

Lektorat: Ursula Giger

Korrektur: Caroline Rixen

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

Erscheinungsdatum: 13.6.2014

ISBN: 978-3-944818-51-1

Inhaltsverzeichnis

I. Kapitel
II. Kapitel
III. Kapitel
IV. Kapitel
V. Kapitel
VI. Kapitel
Zur Aussprache des Isländischen
Anmerkungen

I

1 Er lief durch London – Paris – Rom. Jeder Millimeter wimmelte von Sendern: Gesänge auf italienisch, Nachrichten auf französisch, schreiende Diskjockeys und plärrende Werbesprüche:

FOUR KINDS OF SUNSILK SHAMPOO – ONE IS FOR YOU!

Im nächsten Atemzug war dieser Optimismus verflogen und Wehklagen auf arabisch an seine Stelle getreten. Einen Zentimeter später legte er auf der falschen Seite des eisernen Vorhangs einen Spurt hin. Mit den Wachhunden auf den Fersen warf er sich über die Mauer und landete in Luxemburg: Penny Lane!

Lehnte sich im Stuhl zurück und nahm das Lied entgegen wie warmen Sonnenschein: Schlummernde Zellen formierten sich zu Heerscharen, das elektrisierte Gehirn füllte sich mit Sonnensystemen. Wo üblicherweise nur eine unscharfe Nasenspitze war, eröffnete sich ein Gedankenuniversum: Er war in Siglufjörður, er war in Uppsala, eines Tages stellte er seine Schreibmaschine im Kreishaus in Helsinki auf, an Weihnachten war er im Osten in Tiflis und im April wieder in Schweden, wo er das letzte Kapitel seines neuen Romans ins Reine schrieb.

Sobald das Lied zu Ende war, verebbten die Sinneseindrücke, und die Bilder verblaßten. Der Sucher tastete sich weiter durch das All, die Sender verschwammen ineinander. Er war 19 Jahre alt. Befand sich im Jahre 1921 der Epoche Halldór Guðjónsson von Laxnes. Eine Auslandsreise stand an, die Vorgeschichte zum Großen Weber von Kaschmir, mit Stippvisiten bei Am heiligen Berg und Von daheim ging ich fort.

Wie einfach, sich diese ungeschriebenen Werke anzueignen, im Gegensatz zu jenen, die er schon verpaßt hatte: Kind der Natur und Laxness’ Jugendschriften.

Zuhause auf Laxnes schrieb ich Tausende von Seiten, hatte kistenweise vollgeschriebene Notizblöcke – Romane, Kurzgeschichten, Gedichte, Zeitschriften und Zeitungen (die ich für mich selbst herausgab), Aufsätze über Religion, Politik, Philosophie – alles zwischen Himmel und Erde und nicht zuletzt Tagebücher.

Hätte er sich doch nur frühzeitig auf sein Schriftsteller­leben vorbereitet. Auf dem Land hatte er Verse über Hund und Katz geschmiedet. Irgendwo mußte noch eine selbstgezeichnete Bildergeschichte mit eigenen Textzeilen sein. War irgendein Schriftsteller mit weniger angetreten?

Um sich maßgeschneiderte Kleider leisten zu können, schuftete er den ganzen Sommer im Langifjörður. Das erste Buch, das er nach seiner Rückkehr zu Hause aufschlug, war Von daheim ging ich fort:

Es ist, als wäre mir eine strikte Abneigung gegen schwere Arbeit angeboren. Nun bin ich fast zweiundzwanzig und habe bis heute niemals eine nützliche Handbewegung gemacht ...

Welches war die Formel für Halldór Kiljan Laxness? Wie sollte man in seine Fußstapfen treten?

Er versuchte, allen Einflüssen, die Halldór offenlegte, nachzuspüren. Ackerte sich durch das Daodejing, Thomas von Kempen und die Selbstbetrachtungen von Mark Aurel. Verglich Kindheit und Jugend mit seiner eigenen.

Halldór: »Meine Eltern kamen gut miteinander aus.«

Seine waren geschieden.

Halldór: »Mein Vater war ein gutsituierter Mann und bei allen beliebt. Er hatte ein besonderes Talent dafür, die Achtung der Menschen für sich zu gewinnen.«

In Andris Augen war Haraldur wie jede andere Maschine, die ausrechnete, wie ein seelenloses Unternehmen den größten Gewinn erzielen konnte. Seitdem er den Großen Weber von Kaschmir gelesen hatte, kam es ihm nicht mehr in den Sinn, seinen Vater für etwas anderes als einen Volltrottel zu halten.

Halldór: »Meine Mutter war eine äußerst temperamentvolle Frau, vor allem in jüngeren Jahren.«

Andri konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es sich mit Ásta genau umgekehrt verhielt. In letzter Zeit wurde sie immer bärbeißiger.

Sistas Zimmer war zu vermieten. Pausenlos Telephon. Leute, die zur Besichtigung kommen wollten, gleichzeitig schneiten Gäste herein. Magnea und Ágústa mit Chesterfield und Camel. Sista schaute in Uppheimar vorbei, um durchzuatmen. Keli war jeden Abend beim Kelleraushub. Die Kinder liefen ihrer Oma in die Arme, Sista nahm Andri beiseite.

»Wir kommen unter den Hammer.«

Andri ließ sofort einen Offenbarungseid folgen.

»Willst du mir etwa weismachen, daß du deinen ganzen Sommerlohn schon verpulvert hast!?!«

»Es war kaum was, jetzt ist alles weg.«

»Du hast abtreiben lassen«, sagte Sista bedeutungsschwanger.

»Ich, der noch nicht einmal seine Tage bekommen hat«, antwortete Andri. In diesem Augenblick klingelte es an der Tür.

Ein Mann mit Samthut und Feder musterte sie anklagend.

»Klein, aber zweckmäßig«, ließ Ásta verlauten, aber der Mann schien erst einmal den Hausstand unter die Lupe nehmen zu wollen: fünf Erwachsene, drei Kinder, ein klingelndes Telephon, wo war der Hausherr?

»Ich wohne hier mit meinem Sohn, er geht noch aufs Gymnasium.«

»Ja, noch«, knurrte Sista.

»So stattlich«, bühnenflüsterte Ágústa.

»Mensch sei still«, entgegnete Magnea aus voller Kehle.

»Hreggviður«, stellte er sich vor. Er war aus Akureyri geflohen, als die Keksfabrik Lorelei bankrott ging. Nun hatte er Arbeit im Kraftwerk am Búrfell bekommen und brauchte ein Zimmer für Weihnachten und die Wochenenden.

»Perfekt«, sagte Ásta und wedelte mit den Händen, ohne darauf zu achten, ob sie auf die Zimmertür oder auf das Küchenfenster zielte.

»Willst du einen Kaffee, Andri?«

»H2O für mich.«

»H zwei was? Du trinkst, was auf den Tisch kommt«, sagte Ásta und versuchte, die Herrenlosigkeit ihres Haushaltes zu kompensieren.

»Er will nach dem Abitur Medizin studieren«, erklärte Ágústa und zwinkerte Hreggviður zu.

»Will er nicht mehr Schriftsteller werden?« fragte Sista.

»Slaughter war doch auch Schriftsteller«, fügte Ágústa eilig an.

»Trotzdem nicht nötig, Latein mit uns zu reden«, sagte Magnea, »wir sind nur die breite Masse.«

»Ist es nicht die breite Masse, die all die Ärzte und Priester, ja sogar Schriftsteller mitgetragen hat?« fragte Hreggviður und tastete sich vorwärts wie ein Mann auf dünnem Eis.

Dann begannen sie Isländisch zu reden:

»Akureyri! Kennst du den Ísak?«

»Das ist mein Bruder«, antwortete Hreggviður.

Andri zog sich in sein Kabuff zurück und dachte weiter über seine Position als Schriftsteller nach. Die Rangordnung in der isländischen Literatur schien sich bei den Großmüttern zu entscheiden. Wer die älteste Oma hatte, trug den Sieg davon. Halldór war auch hier unschlagbar: Seine Großmutter reichte in die Zeit der irischen Mönche zurück und sprach »die Sprache einer achthundert Jahre alten Kultur der isländischen Binnenlandbewohner«. Andri erinnerte sich vage daran, daß ihm seine eigene Oma mit Hilfe von Tarzan-Comics im Vísir Lesen beigebracht hatte. Aber sprach sie irgendeine Sprache? Er wußte noch, daß sie südisländischen Dialekt gesprochen und »Händ« und »Zähn« gesagt hatte. Für so etwas bekäme niemand den Nobelpreis. Vielleicht war er einfach nur ein Prolet, zusammengeschustert aus Vísir, Donald Duck und Superheldencomics.

»Was mich besonders betrübt, ist, daß ich keine Sätze formulieren kann. Ich habe das Gefühl, fortwährend Seile aus Sand zu flechten. Ich kann auch kein Isländisch ; nein, das weiß derjenige, der alles weiß, ich kann absolut nichts auf isländisch«, schrieb Halldór Kiljan Laxness in einem Brief aus Clervaux im Jahre 1923. Daraus konnte man den Schluß ziehen, daß er nicht von Geburt an in der fertigen Kiljanshaut gesteckt hatte. Sie war erarbeitet. Der Kopfschmerz zerlegte die Formel in Einzelteile und versuchte zu erfassen, wie sie zusammengesetzt war. Um einen Anfang zu machen, wollte er das Isländische Wörterbuch exzerpieren. All diese großartigen Wörter lernen:

Aalraupe (ein dem Aal ähnlicher Fisch), abachen (sich durch Ächzen abmatten), abäußern (den Bauern vom Hofe setzen), Abhub (was abgehoben wird, zumal die Speise von der Tafel) ...

Der Sendung Alltagssprache im Radio lauschen. In letzter Zeit hatte viel zum Thema Selbstmord in den Zeitungen gestanden. Der Sprecher setzte bei der Redewendung »Selbstmord begehen« ein und behauptete, diese sei dänisch und englisch, wenn die Worte auch isländisch waren:

Auf isländisch verkürzen wir uns das Alter, töten uns, sterben von eigener Hand, werden uns selbst zur Todesursache oder bringen uns um. Die Verantwortung derer, die ›Selbstmord begehen‹, ist groß, wenn die isländische Sprache über einen derartigen Reichtum derselben Bedeutung verfügt. Leben Sie wohl!

2 In Writers at Work waren Anleitungen zu Schriftstellern zu finden. Hemingway kam in Gang, indem er Bleistifte spitzte. Zwischen den Sätzen sprang er in den Pool, die Dialoge schrieb er in einem Turmzimmer. Faulk­ner empfahl Türstehen im Puff: ruhig von morgens bis nachmittags, danach stetig zunehmender Verkehr, der in abendlicher Ausgelassenheit seinen Höhepunkt erreichte.

Aus offensichtlichen Gründen war er mit der Anleitung zum Faulknern überfordert, hingegen hatte er versucht, im Morgengrauen aufzustehen und auf nüchternen Magen Bleistifte zu spitzen. Schwimmbad und Turm fielen flach, da sie zu weit voneinander entfernt waren.

Odin hing neun Nächte lang in einem Baum, oder war das Snorri? Andri machte den neunten Tag blau. Lag im Bett und wartete darauf, daß die Dichterader zu sprudeln begann.

Als Ásta ihn mittags weckte, war sie überzeugt, daß er sein Leben ruiniert hatte. Der Radiosprecher leierte das Wetter in Europa um sechs Uhr heute morgen herunter, Andri schaute gähnend einem Auto nach, das sich durch eine Schneewehe kämpfte. Er ergriff die Gelegenheit, als Ásta den Schellfisch aus dem Topf zog und mit der anderen Hand in der Geldbörse kramte. Wie üblich war sie prall gefüllt mit Rechnungen, Quittungen, Kosmetika und Büroklammern.

»Ich habe nicht mehr genug Geld für Kaffee«, sagte er entschuldigend, als Ásta sich umdrehte.

»Ich habe dir vor dem Wochenende 100 Kronen gegeben. Ich kann deine ständigen Kino- und Taxiexzesse und deinen ewigen Tabak nicht mehr finanzieren.«

»Tabak!«

»Mein Lieber, es gibt ja auch Rauchschwaden draußen auf der Straße.«

»Straße.«

»Hör auf, mich nachzuäffen!«

»Ich habe mir nur eine Streifenkarte gekauft.«

»Streifenkarte!« lachte Ásta theatralisch. »Einer, der sich nur noch mit dem Taxi fortbewegt.«

Jeder Zoff zwischen Mutter und Sohn landete unweigerlich an diesem Punkt: daß Andri einmal mit dem Taxi heimgekommen war.

»Wir hatten zu sechst zusammengelegt. Der Bus fuhr nicht mehr.«

»Ich werde nicht mehr lügen, daß du Ohrenschmerzen hast. Wenn die Schule das nächste Mal anruft, sage ich die Wahrheit.«

»Daß du in den Wechseljahren bist!«

Ab und zu hob er einen Schatz in der Landesbibliothek und betrachtete die Meister, auf die Hemingway verwiesen hatte.

Dort war Joyce. Dies war der Ulysses. Er wog so schwer.

Im Lesesaal saßen die Philosophen des Abendlandes mit der Faust unter der Wange. Viktorianische Oberklasseeinrichtung, mit Schnitzereien verzierte Tische, Stühle mit Lederbezug und Kronleuchter. Vollgestopfte Regale vom Keller bis unter den Dachstuhl. Complete Works of Immanuel Kant, Das Erlegen des Lachses und die Verarbeitung des Rogens, Frauen und Schicksalsmächte.

Der Bibliothekar blickte angeekelt in den Saal. Es ging das Gerücht um, er schreibe an einem Roman, der einen Punkt hinter alle Geschichten setzen sollte, so daß man danach nie mehr Romane zu schreiben brauchte. Er unterbrach seinen Endpunkt, welchen Guðbergur Bergssons Tómas Jónsson schon einmal auf den Nullpunkt zurückgeführt hatte, nahm den Bestellschein entgegen und sah Andri vorwurfsvoll an.

»Morgunblaðið 1954?«

Andri nickte, um nicht gegen das Schweigegebot, welches in der Landesbibliothek herrschte, zu verstoßen. Als der Bibliothekar keine Anstalten machte, sich in Bewegung zu setzen, flüsterte Andri:

»Ich schreibe einen Aufsatz.«

»Über das Morgunblaðið 1954?«

»Über Hemingways Anfänge.«

»Und die sind im Morgunblaðið? Wollen Sie vielleicht ­einen ganzen Jahrgang unter dem Ellbogen haben?«

»Da ist ein Artikel über Hemingway drin.«

»Wollen Sie so gut sein und den Monat angeben, dann muß ich mich nur mit fünf Kilo abmühen und nicht mit sechzig«, sagte der Bibliothekar verbittert.

Die Bibliotheksuhr schlug den Takt der Stille. Als der nächste Besucher anrückte, war Andri bereits Mitglied in der Akademie Islands, die entnervt aufschaute und aus Studenten bei Bachelor-Arbeiten, einem die Lebensgeschichte des Geächteten Fjalla-Eyvindur verfassenden Hafenarbeiter, Gymnasiasten und einem Mann bestand, der dazu neigte, ununterdrückbare Lachanfälle zu bekommen, da er über der Vorbereitung für das Propädeutikum durchgedreht war.

Garðar gab Andri ein Zeichen zu einer Zigarettenpause. Er war einer jener Studenten vom Land, denen nichts geschenkt wurde. Er mußte Unterkunft und Lebensmittel bezahlen und sich Unterhosen und Socken selber waschen. Letzten Frühling war er von der Polizei aufgegriffen worden, als er »GO HO« an das Weiße Haus auf dem Laufásvegur gemalt hatte. Daraufhin hatten er und der Rektor das »Gentlemen’s agreement« geschlossen, daß Garðar Einmischungen in den Vietnamkrieg unterlasse oder dem Unterricht von zu Hause aus weiter folge.

Sie standen da und rauchten, jeder in seiner Welt. Garðar Trotzki breitete die linke Neisti auf der Vitrine mit raren Ausgaben von Hallgrímur Péturssons Passions­psalmen aus.

Ich nahm ihr das jüngste Kind ab und machte mich auf die Suche nach den anderen. Es gelang mir, die Überreste von vieren zusammenzutragen. Die Leiche des fünften fand ich Tags darauf im Garten des Nachbarn.

Andri Hemingway spähte auf Garðars Handrücken, den heller Flaum bedeckte. War es vielleicht der Film, der Personenbeschreibungen aus der Literatur verdrängt hatte?

Svanur steckte den Kopf durch den Türspalt, gerade aus der Theaterprobe entkommen. Er hatte Engelshaar und trug einen Umhang. Genoß es, Passanten den Hals umzudrehen. Svanur war ein Rimbaudjünger, der verkündete, daß nur eine systematische Verwirrung aller Sinne das Dichterbewußtsein erwecke. Dementsprechend war seine Anwesenheit eine stete Herausforderung. Kaum hatte ihnen die Bedienung im Café Tröð Kaffee gebracht, schon griff Svanur nach dem Zuckerstreuer und leerte ihn über Andris Tasse aus.

Doddi war ein Bewunderer Godards und wollte Andri und Svanur dazu kriegen, in einem 8-mm-Streifen über die Dichter der isländischen Romantik mitzuspielen.

»Filme sind so ein Aufwand«, monierte Andri und verfolgte das verzweifelte Ringen des Kaffees mit dem Zucker, bis der Zuckerschlamm allein herrschte.

»Stift und Papier ist alles, was ein Schriftsteller braucht.«

»Stoff und Papier«, verbesserte Svanur.

»Die Filmkamera ist der Stift und das Papier der Neuzeit«, sagte Doddi.

»Und wo willst du Reykjavík 1840 aufnehmen?«

»Ich nehme die Stadt, wie sie heute ist. Jónas Hallgrímsson kommt im blauen Anzug anspaziert, es wird gerade asphaltiert, er latscht über den feuchten Asphalt und hinterläßt in der ganzen Stadt Fußspuren.«

»Bei einem Roman muß man niemals über die Kosten nachdenken«, sagte Andri. »Willst du eine Gefechtsszene von 1500 auf 15000 Leute erweitern, häng einfach eine Null an.«

»Diese Romane sind eben nur eine zusätzliche Null«, sagte Doddi. »Kiljan Laxness setzte 1960 einen Punkt hinter den Roman, aber die Leute richten sich einfach nicht danach.«

Drei Jahrzehnte lang hatte Kiljan das Volk mit einem Buch pro Jahr bombardiert, bis die übrigen Autoren beschlossen, als Leuchtturmwärter oder Nachtportiers unterzutauchen. Nun war zum ersten Mal eine siebenjährige Pause ohne Buch entstanden, und die Manuskripte begannen aus Türmen und Hotels zu strömen.

Sie wollten es mit dem Strippenzieher höchstselbst aufnehmen: Volkssport der werdenden Cafégenies war es, »Kiljan auf die Schliche zu kommen«. Alle wußten, daß er Ólafur Kárason für Weltlicht aus der Landesbibliothek entliehen hatte. Für Das wiedergefundene Paradies verwendete er Eiríkur frá Brúnum als Modell. Außerdem ging das Gerücht um, sein Freund, der Dichter und Volkskundler Jón Helgason, habe ihm die Islandglocke beschafft.

Mit jedem Treffer stiegen sie weiter in ihrer Selbstachtung, und nach ein paar Beutezügen in der Weltliteratur fehlte nicht mehr viel, und sie hätten das Schwedische Königreich geplündert und sich mit dem Nobelpreis davongemacht.

Parallel zur Analyse der Gegenspieler verglich sich Andri mit den Kameraden. Svanur war Nachkomme seiner Sippe. Er hatte einen Beamten in den Chromosomen. Wie auch immer er sich dagegen wehrte und Zuckerstreuer auskippte, er würde doch als Beamter enden.

»Woher kann Andri die Veranlagung zum Schriftsteller haben?« pflegte Ágústa zu fragen. In ihren Augen war das Leben ein für allemal, und niemand konnte über Fähigkeiten verfügen, die nicht in der Samenbank angelegt waren. Als einziges fielen ihr Ástas Jugendversuche in der Malerei ein, die nichts anderes waren als das Stickereierbgut der Schwester ihrer Mutter ; eine weitere Erscheinungsform desselben war dann also die Schriftstellergestalt des Sohnes der Nichte der Schwester der Mutter.

Doddi war so sippenlos wie Andri. Trotzdem zweifelte niemand an seinem Genie. Seitdem er sich im Dichterklub zu Wort gemeldet hatte, herrschte Einigkeit darüber, daß es sich bei Doddi um den Kronprinzen Kiljans handelte. Bloß ein glücklicher Zufall, daß er Literatur verachtete und seine Nische im Film suchte.

»Es ist so absurd, daß sich Schriftsteller, jeder allein in seiner Ecke, damit schinden, alte Bücher und Ideen abzuschreiben«, sagte Doddi. »Quetschen sich schöngeistige Sätze ab über Haus und Leute, Geschlechtsverkehr und Schafe. Das Fernsehen ist das Leben, nach dem der isolierte Mensch von heute lechzt.«

Andri schoß scharf gegen das Fernsehen und zeigte auf, wie das Weltbild der Isländer mit der Einführung des Fernsehers zusammengeschrumpft war. Aus der Weite der Literatur waren sie abgestürzt auf eine Abendration Nachrichten, Diskussionsrunden mit den Generalsekretären der Regierungsparteien und einen Kurzfilm des Vertriebsausschusses der Schutztruppengüter.

Svanur stieß ins selbe Horn. Ihm graute vor der is­ländischen Filmindustrie mit der einen Kulisse am Gullfoss, einer zweiten in Ásbyrgi, und dann schmisse man Seife in den Geysir, um den Schluß auf die Leinwand zu kriegen.

»Die Kunst ist lange tot«, sagte Doddi. »Oder was sind ›happenings‹ und ›action painting‹ und ›body art‹ anderes als verzweifelte Versuche, Kunstwerken Leben einzu­hauchen. Allein schon die Tatsache, daß Kiljan eine uralte Darstellungsform benutzt, macht all sein Gewese zunichte.«

»Kiljan ist der Autor eines Buches«, entgegnete Andri. »Des Großen Webers von Kaschmir. Punkt.«

»Ihr solltet euch schämen«, sagte die Bedienung im Vorbeigehen. »Er, der noch aus dem Telephonbuch einen Roman machen könnte.«

»Hemingway mußte all das, worüber er schrieb, selbst erlebt haben«, setzte Andri wieder ein.

»Was hast du da in der Schachtel?« fragte die Frau im Gegenzug.

In der Hitze der Diskussion hatte Andri alles um sich herum vergessen und immer wieder den Teelöffel in die Kuchenbox gesteckt, die er mit hineingemogelt hatte.

»Schmuck für meine Mutter, ein Weihnachtsgeschenk«, sagte Andri hastig.

»Würdest du bitte die Schachtel aufmachen?«

»Ich will den Schmuck hier nicht so vorzeigen!«