Die Rückkehr der Ahnen - G. Voigt - E-Book

Die Rückkehr der Ahnen E-Book

G. Voigt

4,9

Beschreibung

Die Folgen des vom Menschen verursachten Treibhauseffektes sind katastrophal und schlagen in einen ewigen Winter um... Die menschliche "Elite" - ein Team Wissenschaftler - erlebt in der Stadt Noah-City den Untergang der Welt. Voller Grauen müssen sie mit ansehen, wie die Natur erbarmungslos die auslöscht, die sich ihr gegenüber roh und genauso erbarmungslos zeigten. Ihre einzige Chance, das Inferno zu überstehen - ein Kälteschlaf, der Jahrhunderte überdauert. Hat der Mensch der neuen Zeit aus den Fehlern seiner Vorfahren gelernt? Bobak, Häuptling der Sonnenanbeter und sein Gefährte Goli, der Säbelzahntiger, werden die treuen Wegbegleiter in eine ungewisse Zukunft, in eine Welt voller Abenteuer...

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Inhaltsverzeichnis:

Erstes Kapitel: Ewiger Winter

Zweites Kapitel: Die Geburt der Götter

Drittes Kapitel: Die Expedition

Viertes Kapitel: Stadt des Todes

„Der Mensch erreicht immer, was er will – sogar seinen eigenen Untergang!“ Thomas Hugh

„Der Geist der Menschen wird einst alle Schranken überwinden – bis dahin wird sein Weg voller Dornen und Abgründe sein, der Tod sein ständiger Begleiter!“ (Spruch der Pikos)

Heiliger Abend im Jahre des Herrn 2035.

Was schon lange durch unheilvolle Boten angekündigt wurde, traf ein.

Die Folgen des seit Jahren anhaltenden Treibhauseffektes hatten ihren Höhepunkt erreicht.

Die Natur ertrug nicht länger die Schmach, sie schlug erbarmungslos zurück und vernichtete die Brut des Bösen, die Verantwortung trug für ihren systematischen Missbrauch, ihre permanente Vergewaltigung.

Die Menschheit zahlte den Blutpreis für Raffgier, Arroganz und Dummheit. Der ewige arktische Winter brach an…

Ewiger Winter

Schicksale…

Es schneite und schneite.

Das fortwährende Tosen und Heulen des Windes zehrte an den Nerven. Seit sieben Monaten, zwei Wochen und vier Tagen fiel ununterbrochen Schnee in Los Angeles. Nic stand am Fenster und hauchte an die Scheibe. Das Eis darauf war inzwischen so dick und undurchsichtig geworden, dass er mit den Fingern schaben musste, um überhaupt einen winzigen Sehschlitz zu erhalten.

Außer dicken, weißen Flocken, welche schräg im Wind trieben, konnte er nichts erkennen. „Verfluchte Sauerei, wann hört diese verdammte Scheiße endlich auf? Haben wir so viele Sünden auf uns geladen, dass Du uns unbedingt vernichten musst, oh Herr!“ fluchte er und hauchte noch einmal den Schlitz frei.

Obwohl die gegenüberliegende Hausfront nicht weiter als knappe zwei Dutzend Meter entfernt war, sah er nur eine rieselnde Wand. Nic rieb sich fröstelnd die Hände und schob sie unter die Achseln. Seine Mütze war beim Schauen verrutscht. Blondes, verfilztes Haar lugte hervor. Er fror erbärmlich, trotz der drei dicken Wollpullover und mehrerer Paar gefütterter Hosen, die ihn in seiner Bewegungsfreiheit behinderten. Wie eine Marionette stolzierte er mit steifen Gliedern durch das kleine Zimmer. „Müsste ja mal wieder raus und Brennmaterial besorgen“, stellte er mit einem bekümmerten Blick auf die Blechtonne fest, die von ihm einst zum provisorischen Ofen umfunktioniert worden war. Das verbeulte Rohr, welches ihm als Abzug diente, hatte er sich selber gebogen und angebaut. Damals hatte Ev, seine Frau, spöttisch über ihn gelacht. „Ein Meister ist jedenfalls nicht an Dir verloren gegangen, mein Schatz“, war ihr ganzer Kommentar gewesen, aber dann war sie froh und glücklich, wenigstens eine funktionierende Heizquelle in der Wohnung zu besitzen. Die grau gepinselten Heizkörper an den Wänden hatten sich als Attrappen erwiesen. „Lieber Gott, bitte mach, dass das Unwetter endlich aufhört und ich mich um einen Arzt kümmern kann. Ich flehe Dich von ganzem Herzen an, lass Ev nicht sterben! Sei barmherzig und verlasse uns nicht in dieser Not!“ Sein Gebet wurde durch leises Stöhnen aus dem Hintergrund unterbrochen. Besorgt schaute er in die Schlafecke, wo unter dicken Federbetten seine Frau Ev lag. Ihr Atem ging schwer, manchmal wimmerte sie im Schlaf. Sie war im achten Monat schwanger, ihr geschwollener Bauch wölbte die Decken zu einem kleinen Hügel. Liebevoll glitt sein Blick über das fast durchsichtig schimmernde Gesicht. „Es tut mir Leid, Liebling, dass ich Dir in dieser schweren Zeit nicht helfen kann. Ich wünschte mir, wenigstens einen kleinen Teil der Schmerzen lindern zu können. Wenn ich wüsste, was ich tun kann?“ Er schluchzte in seiner Hilflosigkeit. „Weißt Du noch, wie wir uns kennen gelernt haben?“ flüsterte der junge Mann leise, um sie nicht aufzuwecken. „Du warst ein verrücktes Huhn – und ich habe Dich vom ersten Augenblick an geliebt. Damals fühlten wir uns frei und ungebunden, der Truck war unser Heim und die Straßen führten uns durch das ganze Land. Du wolltest eigentlich nur, dass ich Dich ein Stück mitnehme, doch daraus wurde eine heiße und rasante Tour fürs Leben. Und ein halbes Jahr später hatte ich Dich endlich soweit, dass Du mir Dein Jawort vor dem Friedensrichter gegeben hast.“ Die Erinnerungen zauberten ein flüchtiges Lächeln auf seine hohlen Wangen. Seine Liebe und seine Leidenschaft für Ev war ungebrochen. Mit dem Ärmel wischte er sich die Tränen ab, bevor sie zu Eis erstarrten. Sein Blick kehrte zum Fenster zurück: Normalerweise herrschten um diese Jahreszeit dreißig bis fünfunddreißig Grad im Schatten. „Jetzt würde ich zu gern mit Dir am Strand liegen und die Sonne genießen. Ob unser Kind einmal in seinem Leben die Sonne sehen wird?“ Über seinen Rücken flutete eine Gänsehaut. Nic erhob sich schwerfällig und sah in allen Ecken nach, ob sich nicht doch irgendwo ein Stück Holz oder Papier oder anderes brennbares Material verborgen hatte. Ihre Möbel waren im Laufe der Wochen bereits Opfer der Flammen geworden; bis auf einen wackligen Hocker und ein Schränkchen war nichts mehr übrig geblieben. „Na ja, ich werde auf jeden Fall noch einmal die unbewohnten Nachbarhäuser inspizieren. Es liegt bestimmt noch genügend Zeug herum. Wenn nicht, werde ich einfach die Verkleidung abreißen und als Brennmaterial verwenden“, nahm er sich fest für den Abend vor. Er hauchte sich die klammen Finger. „Verfluchte Kälte!“ Ungelenk ließ er sich in den Liegestütz fallen und begann, bei jeder Beuge zu zählen. Früher machte es ihm nichts aus, vierzig oder fünfzig Liegestütze auf einen Ritt zu absolvieren.

Bereits nach der sechsten ging ihm die Puste aus. „Nichts zu fressen, nichts zu rauchen – Mensch, was ist das für ein beschissenes Leben!“ Ihm war nicht wärmer geworden, dafür begann sein Magen vernehmlich zu knurren.

Keuchend stand er auf und schleppte sich ins Bad. Aus dem blauen Eimer unter dem Waschbecken klaubte er sich ein Stück Eis heraus und schob es in den Mund. Vor ihm, im Spiegel, erblickte er das Gesicht eines grauhäutigen, gealterten Mannes mit dichten, rötlich schimmernden Bartstoppeln. „Du hast auch schon bessere Tage gesehen, mein Freund!“ sprach er zu seinem Konterfei und zog prüfend die schlaffen Wangen in die Höhe. „Was soll es, aus einem Wildschwein wird nun mal kein Pfau!“ versuchte er sich zu trösten und striegelte das fettige, kaum zu entwirrende Haar auf der Stirn. „Mann, was würde ich jetzt für ein heißes Bad mit duftendem Schaum geben“, sinnierte er still vor sich hin; einen winzigen Moment lang versuchte er sich vorzustellen, wie das dampfende Wasser prickelnd über seine Haut lief. Genüsslich stöhnte er auf, doch dann hatte ihn der Alltag wieder: Seit Monaten floss aus diesem verdammten Wasserhahn kein Wasser mehr, weder kaltes, geschweige denn warmes! Nicht einmal mehr die Feuerwehrhydranten konnten genutzt werden.

Der ewige Frost hatte alles erstarren lassen. Bei dem Gedanken an die Hydranten fiel ihm ein, wie an einem der letzten Tage nicht weit von hier ein Haus in Flammen aufgegangen war. Bis auf die Grundmauern brannte das übergreifende Feuer gleich mehrere benachbarte Häuser nieder und niemand konnte löschen. „Auf jeden Fall war es schön warm – oder? Und diese beiden Arschlöcher, die nicht abwarten konnten und sich vordrängelten? Wie Hamburger wurden sie gegrillt. Schadet ihnen auch gar nichts! Hätte nicht viel gefehlt und die Meute hätte sie danach auch noch aufgefressen!“ Er schüttelte den Kopf. Allein die Vorstellung, bei lebendigem Leibe zu verbrennen wie diese beiden Typen, jagte ihm einen Schauer über den Rücken. „Wie schmeckt eigentlich Menschenfleisch...? Vielleicht sollte man doch...?“ Erschrocken verdrängte er die Frage und versuchte, wieder auf andere Gedanken zu kommen. Doch so einfach gelang das nicht. Wenn er die Augen schloss, hörte er die verzweifelten Schreie der Männer, das Johlen der Gaffer, das Tosen der Flammen...

Verdrossen schlug Nic die Badtür zu und suchte seine Sachen zusammen. Unablässig brummelte er vor sich hin, dabei zwängte er sich in einen Pelzmantel. Ob er wollte oder nicht, er musste hinaus ins Freie. Seine Blase schien jeden Moment zu explodieren. „Nun mach schon und stell dich nicht so an!“ beschimpfte er einen Stiefel, der ihm immer wieder vom Fuß rutschte. Vor diesem Gang graute ihm jedes Mal, deshalb schob er ihn immer bis zur letzten Sekunde hinaus. Doch nun ließ sich das Bedrängnis nicht länger zügeln. Dick vermummt schlich er sich aus der Wohnung. Eisiger Wind riss ihm die Tür aus der Hand und ließ sie krachend gegen die Wand poltern, die Gewalt der Schneemassen warf ihn beinahe um. „Scheiße aber auch!“ fluchte er laut vor sich hin, stemmte sich mit aller Kraft dagegen und verschloss die Tür wieder.

Die Mantelzipfel flatterten um seine Beine; unsicher und ständig Halt suchend stakste er am Geländer entlang bis zur Treppe. Sie war kaum zu sehen und so glatt, dass er mehr schlitterte und fiel als ging. Endlich erreichte er halbwegs sicheren Boden. Erleichtert atmete er auf und kämpfte sich durch die Schneewehen. „Dieses Scheißspiel bringt mich eines Tages noch einmal um! Ich hasse Schnee – jawohl, ich hasse Schnee!“ Sein Zorn steigerte seine Kraft, mit hastigen Schritten und rudernden Armen erreichte er eine vom Wind geschützte Nische. Normalerweise schaffte er es immer bis zum nächsten Hauseingang, doch diesmal würde es schief gehen, das spürte er. Ohne sich länger zu besinnen, nestelte er Mantel und Hosen auf und hockte sich hin, um seine Notdurft zu verrichten. „Wie pinkelt ein Eskimo?“ Er konnte über diesen Witz schon lange nicht mehr lachen. Blau gefroren zog er die Hosen wieder hoch, die Knöpfe ließ er, um Zeit zu sparen, offen. Nur den Mantel schloss er ordentlich. Seine Hoffnung, dass der Wind für einen kurzen Moment nachlassen würde, erfüllte sich nicht. Eher schien er noch stärker zu werden.

Nic tastete sich an der Mauer entlang, kurz vor der Treppe blieb er hängen und stürzte kopfüber in den Schnee. „Mir bleibt heute auch wirklich nichts erspart! Verdammt, wo ist denn der Handschuh wieder abgeblieben?“ heulte er wütend. Sein Fluch wurde ihm vom Sturm von den Lippen gerissen und verschwand ungehört im Inferno. „Mein Handschuh, mein Handschuh! Tut die Kälte weh“, jammerte er. Mit steif gefrorenen Fingern suchte er verzweifelt auf einem der unzähligen Schneehaufen. Erschöpft hielt er einen Moment inne. „Nanu? Was haben wir denn hier?“ An einer Stelle war die Schneedecke aufgebrochen, darunter glaubte er etwas zu erkennen. Wie ein Besessener begann er zu schaufeln. Dann stieß er auf ein Hindernis. Er beförderte ein bleich schimmerndes Gesicht ins Freie. Es dauerte einige Zeit, bis es ihm dämmerte. „Wieder einer, der von uns gegangen ist. Gott sei seiner Seele gnädig.

Vielleicht ist es unser aller Schicksal, so zu enden“, flüsterte er betroffen und bekreuzigte sich. Dann bedeckte er das Gesicht des Mannes wieder mit Schnee und sah sich um. Sein Handschuh lag genau daneben. Während Nic die Treppe hinaufkletterte, überlegte er, wie er Ev das letzte Mal hier hoch schleppen musste. Sie war schwer gefallen, nur der Schnee hatte ihren Sturz ein wenig lindern können. Seitdem hatte sie ihr Bett nicht mehr verlassen. In der Wohnung angelangt, benötigte er einige Minuten, bevor er sich mit seinen klammen Fingern aus dem Mantel schälen konnte. Dabei sah er stets das Gesicht des Toten vor sich. „Das ist bestimmt ein böses Omen? Es ist alles zum Heulen!“ lamentierte er ununterbrochen. Nic schüttelte sich wie ein Hund, ungeduldig zupfte er an den steif gefrorenen Sachen herum. Endlich hatte er sich aus der Fellrüstung befreit. Deprimiert ließ er sich auf dem Hocker nieder.

„In welche Hölle sind wir da bloß geraten? Und natürlich ist niemand schuld! Niemand? Keiner hat es gewusst, keiner hat dergleichen gewollt! Wir alle haben uns wie Arschlöcher benommen. Die Politiker, diese Schwachköpfe – nur dummes Zeug haben sie erzählt, als es losging. Von wegen winzige Verstimmung der lieben Mutter Natur und es wird sich alles von selbst wieder einrenken. Wo seid Ihr denn, Ihr Einrenker? Einen Teufel kümmert Ihr Euch um uns!“ Er wusste nicht, ob er zu laut geworden war. Erschrocken sah er zu Ev, doch sie schlief zum Glück noch immer tief und fest.

Er gehörte eigentlich zu jenen, die sich nie zu viele Gedanken machten. Er hielt diese Naturschützer für ausgemachte Schwachköpfe und Dilettanten.

Manchmal, in Augenblicken wie diesen, schalt er sich nun selber Schwachkopf. Jeder normale Mensch hätte die untrüglichen Anzeichen erkennen können – vorausgesetzt, er hätte gewollt?

Heiligabend im Jahr 2035 – ein Datum, das in die Geschichte der menschlichen Zivilisation eingegangen war als der Tag, an dem die Natur zu ihrem entscheidenden Schlag gegen jene ausholte, die sie Jahrhunderte lang gepeinigt, vergewaltigt und skrupellos missbraucht hatten. Den Beginn der Katastrophe würde er, wie sicher die Mehrzahl seiner Landsleute, nicht vergessen. Nic klaubte die zerflederte Zeitschrift vom Tisch. Er hatte den Artikel bestimmt schon Tausende Male überflogen.

„...eine gewaltige Eisscholle, riesigen ungekannten Ausmaßes, hat sich in der Arktis gelöst und treibt ins offene Meer. Wissenschaftler aus allen Ländern und Nationen sind zutiefst besorgt und fordern sofortige Maßnahmen. Wie unser Reporter Jim Collins in Erfahrung bringen konnte, gab es bereits seit geraumer Zeit vielfältige Initiativen, einer solchen Katastrophe vorzubeugen. Doch wie immer haben unsere Regierungsmitglieder die Situation verniedlicht. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Lage in den nächsten Tagen entwickeln wird. Die Prognosen sehen eher düster aus. Professor Harry Taylor, Chef des Institutes für Globale Umweltentwicklung, sieht bedeutendste Wetterverschiebungen voraus. Die Auswirkungen werden auf der gesamten Erde verheerend sein...“ Nachdenklich schob Nic die Mütze in den Nacken und ließ die Zeitung sinken. Dabei strich er sich durchs Haar und schüttelte schließlich den Kopf. Er hat noch die Stimmen seiner Freunde im Ohr, als sich der Himmel allmählich verdüsterte und der erste Schnee in Kalifornien fiel.

„Kommt, lasst uns wetten! In zwei, drei Wochen ist der ganze Spuk hier vorbei und wir lächeln über die dummen Sprüche, die wir gemacht haben! Wann gibt’s in diesen Breiten schon mal einen richtigen Winter!? Lasst es uns genießen und eine Runde im Schnee surfen!“ Joe, der diesen Satz aussprach, war bereits vor Monaten gestorben. Erfroren! Wo Kim, Joes beste Freundin und Lebensgefährtin, Luder, Kelly und all die anderen abgeblieben waren, wusste heute keiner. Nic rieb sich die kalte Stirn. Das Atmen fiel ihm schwer.

Jedenfalls glaubte bald niemand mehr an eine „schnelle Überwinterung“, die Probleme der Eisherrschaft würden sich so bald nicht beseitigen lassen.

Dessen war er sich inzwischen völlig sicher. Ev hustete laut und anhaltend. Nic sprang von seinem Hocker und eilte an ihr Lager. „Hey, Schatz, wie fühlst Du Dich?“ Besorgt strich er ihr übers Gesicht. Dicke Schweißperlen standen seiner jungen Frau auf der Stirn, Dampfschwaden stiegen von ihrem Kopfkissen auf. Nic holte schnell ein Handtuch und rieb sie vorsichtig trocken. „Es geht schon. Wie spät ist es, Nic?“ fragte sie mit belegter Stimme. Er schaute auf seine Armbanduhr. „Gleich 11 Uhr, Liebling. Wie fühlst Du Dich, wie geht es unserem Baby?“ wiederholte er, ohne seinen Blick von ihr zu lassen. Ihr Zustand bereitete ihm ernsthafte Sorgen. Seit gestern klagte Ev verstärkt über Schmerzen in der Nierengegend. Und kein Arzt war erreichbar! Sie lächelte ihn tapfer an. „Keine Angst, mein Liebster. Ich schaffe es schon! Ich habe Durst.“ Nic atmete tief durch; er fühlte, dass Ev versuchte, ihm etwas vorzumachen. Am liebsten hätte er sie fest in seine Arme genommen und wäre mit ihr fortgeflogen. Weit weg, auf eine Insel, wo es warm, hell und trocken war... „Bekomme ich bitte einen Schluck Wasser?“

Er streichelte über ihre Wangen. „Sofort, ich bringe Dir ein Stück Eis. Es ist sowieso gleich Elektrozeit. Ich bereite inzwischen in der Küche alles vor und nachher essen wir eine Kleinigkeit. Du bleibst solange in Deinem Bett!“ Nic beugte sich zu ihr hinab, für einen kurzen Augenblick verlor er sich im Blau ihrer wunderschönen Augen. „Versuch, noch ein bisschen zu ruhen!“ Nic entschwand in die winzige Kochnische. Dort kramte er die erforderlichen Utensilien zusammen. Endlich fertig, eilte er ins Bad, brach einen Eiswürfel aus dem blauen Eimer und gab ihn Ev. „Hier hast Du etwas zum Lutschen. Sobald das Wasser kocht, bringe ich Dir eine Tasse Tee. Musst Dich noch etwas gedulden, meine Sonne!“ Er lächelte seiner Frau aufmunternd zu. Sie nahm den Brocken in den Mund und zutschte daran. Einige Wassertropfen liefen über ihre aufgesprungenen Lippen zum Kinn. Nic beugte sich zu ihr hinab und küsste sanft die Tropfen weg. „Habe noch zu tun. Deck Dich schön zu. Es dauert nicht mehr lange.“ Er angelte sich den alten Elektrokocher unterm Bett hervor und schloss ihn an der Steckdose an. Mit einem verbeulten Aluminiumtopf holte er Schnee vom Fensterbrett. „Es geht gleich los, mein Liebling. Jeden Moment müsste es Strom geben. Brauchst Du noch ein Stück Eis?“ Ev verneinte. „Okay, gleich gibt es etwas Feines zum Frühstück.“

Er rumorte eine Weile in der Kochnische herum. „Mann, Mann, die lassen sich aber heute wieder Zeit? Bei mir ist es schon lange Elf durch“, schimpfte Nic vor sich hin. Er konnte auf seine Uhr schauen, so oft er wollte: es passierte einfach nichts. „Sollte vielleicht Nachrichten hören. Wir bekommen ja sonst nichts mit in diesem Sauladen! Hoffentlich haben die sich nicht wieder etwas Neues einfallen lassen, womit sie uns schikanieren können?“ Er wollte den Transistor aus Omas Zeiten anschalten, doch das Gerät stand nicht an seinem Fleck.

Irritiert sah er sich um. „Ev, weißt Du, wo ich das verdammte Radio hin gekramt habe?“ fragte er schließlich. „Soweit ich mich erinnern kann, hast Du es doch in eine der oberen Schubladen im Küchenschrank getan!“ „Alles klar, ich habe es gefunden!“ meldete er kurz darauf und stellte den Taschenempfänger an, aber außer Rauschen war nichts zu vernehmen.

„Die Scheißbatterien sind auch schon wieder alle. Hoffentlich gibt es bald wieder welche!“ Er rüttelte und schüttelte das Radio. Wie von Zauberhand erscholl plötzlich Musik. Es war ein Oldie aus sonnigen Zeiten von den Beach Boys. „...then I kissed her...!“ summte er leise mit. Unverhofft wurde der Titel unterbrochen. Nic schüttelte das Radio erneut. „Verflixte Kiste! Ich drehe dir eines Tages den Hals um...!“ Lauschend hielt er inne.

„Liebe Hörer und Hörerinnen!“ Die Stimme des Moderators klang erregt. „Na bitte, wer sagt es denn. Nur ein bisschen drohen und es geht schon wieder!“ Behutsam stellte er den Transistor auf seinen Platz zurück. Dann wurde er vom Text der Ansage gefesselt und hörte aufmerksam zu. Bei jedem Satz runzelte er die Stirn. „Diese Regierung müsste man mitsamt dem Weißen Haus in die Luft jagen!“ ereiferte er sich zunehmend. „Tsst, das kann ja wohl überhaupt nicht wahr sein. Jetzt wollen die auch noch das bisschen Energie auf ein ‚verträgliches’ Mindestmaß reduzieren. Was ist denn für Euch verträglich?“ Er seufzte anhaltend. Irgendwie hatte er es geahnt!

„Ich verlese jetzt eine Erklärung des Krisenstabes, welche wir vor wenigen Minuten per Fax erhalten haben. Ich hoffe nur, dass es noch jemanden da draußen gibt, der mich hören kann? Also, dann will ich mal...“ Der Redner verhaspelte sich mehrmals, dann begann er die Erklärung flüssig vorzutragen.

„...sind wir aus gegebenem Grund nicht mehr in der Lage, die notwendigen Mengen an Öl, Kohle oder anderen Brennstoffen zu fördern! Die bestehenden Reserven werden nur noch zur Versorgung von öffentlichen Einrichtungen wie Krankenhäusern, Pflegeheimen und dergleichen verwendet. In den Bundesstaaten wurde der Notstand ausgerufen und Truppen der Nationalgarde wurden aktiviert, um Plünderungen vorzubeugen und solche notfalls mit Waffengewalt zu verhindern! Soweit unsere aktuelle Meldung. Und nun wieder Musik.“ Nic stellte empört den Sender ab. „Die haben echt ein Ding an der Schüssel. Waffengewalt! Dass ich nicht lache!“ stieß er grimmig hervor. „Bevor die aus dem Mustopf kommen, haben ganz andere das Feld schon abgeräumt.“ Bekümmert schaute er zum Bett. Ev hatte die Nachricht nicht mitbekommen; friedlich döste sie weiter vor sich hin.

„Jetzt wird es ja langsam!“ Die Kochplatte wurde heiß und begann schließlich zu glühen. Unter dem Topf zischte das Wasser und verdampfte. Nic holte ein zweites Geschirr und füllte auch dieses mit Schnee. „Lieber etwas mehr als zu wenig“, brummte er verdrossen, dann zog er die Handschuhe aus und hielt beide Hände in die aufsteigende Wärme. „Oh Gott, ist das ein Gefühl...“,

stöhnte er voller Wonne. Er liebte diese wenigen Minuten des Tages. Der Dampf stieg an der Wand empor, in Augenhöhe gefror er wieder und bedeckte die ganze Fläche mit einer spiegelnden Eisschicht. „Müsste eigentlich den Eispickel suchen und die Wand freilegen!“ sprach er zu sich selbst, doch im gleichen Moment hatte er den Gedanken schon wieder vergessen. Das Wasser begann zu brodeln. Aus dem Brotfach fingerte Nic einige Zwiebackstücke und bröselte sie in das siedende Wasser. „Und schwupp, fertig ist die Supp!“ reimte er, dann lachte er bitter. Was für eine Suppe war das schon? „Egal, Hauptsache etwas Warmes“, murrte er, schwenkte den Topf und rührte das Wasser um. „Au! Verdammt, ist das Ding heiß!“ schrie er auf und pustete, dann rieb er sich die verbrannten Fingerspitzen an den Ohrläppchen.

„Hast Du Dir etwas getan?“ hörte er Ev rufen. „Schon alles wieder okay. Habe mir nur die Finger verbrüht – ist nicht weiter schlimm“, beruhigte er seine Frau. Er griff nach einem Tuch, stellte den anderen Topf auf die Platte und setzte sich zu Ev aufs Bett. „Liebling, es ist soweit. Ich habe noch einen Topf auf dem Kocher. Nimm erst einmal das hier!“ Nic half seiner Frau auf und stützte ihren Kopf. „Sei vorsichtig! Es reicht, dass ich mir bereits die Finger verbrannt habe“, warnte er sie, als er sah, mit welcher Gier sich ihre Lippen dem heißen Getränk näherten. Ev schlürfte mehrere Schlucke, dann ließ sie sich ermattet zurücksinken. „Das tut gut! Die Wärme wird mir helfen!“ Auch Nic fühlte, wie sein Inneres bei jedem Tropfen mehr und mehr auftaute. „Jetzt noch einen schönen Tee mit richtig starkem Rum. Das wäre der Gipfel des Glücks“, schwärmte er. Ev hob abwehrend die Hand. „Du willst doch Dein Kind nicht zum Alkoholiker machen?“ fügte sie scherzend hinzu. Nic gab ihr einen flüchtigen Kuss. „Alles, nur das nicht! Aber für mich würde ich gern?“ „Schon gut, mein Schatz. Vielleicht gibt es mal wieder Rum zu kaufen? Dann bringst Du Dir eine Flasche mit.“ Nic nahm die Hand seiner Frau in seine Hände und streichelte sie. „Alles Quatsch. Ich pfeife auf den Rum. Viel wichtiger ist mir, dass Du wieder fit wirst. Und dass es dem Kind gut geht. Wenn ich doch nur einen Arzt erreichen könnte!“ Ev sah ihrem Mann in die Augen. Sie sah die Angst, sie wusste um die Sorgen, die er sich ihretwegen machte. „Du wirst schon noch einen Arzt erreichen. Wenn es soweit ist, werden sie kommen und mich in ein Krankenhaus bringen. Du wirst schon sehen, es wird schon gut gehen...“

Es war ein kläglicher Versuch, ihm Mut zu machen, trotzdem war Nic seiner Frau dankbar. „Du hast Recht. Kommt Zeit, kommt Rat!“ Mit einer hilflosen Geste schob er die unliebsamen Gedanken zur Seite. Nic gab ihr noch einmal zu trinken, dann schmolz er zwei weitere Töpfe mit Schnee auf und schüttete das Wasser anschließend in die noch intakte Thermoskanne, den Rest in den blauen Eimer. „Damit wäre unser Vorrat für die nächsten Stunden aufgefüllt!“ stellte er zufrieden fest. Die noch warme Kochplatte verpackte er in mehreren Tüchern und schob sie seiner Frau unter die Decke. „Du musst Dich ein wenig ausruhen. Ich kümmere mich jetzt um Nachschub. Das Brot ist alle und Tee haben wir schon seit Tagen keinen mehr. Ich werde mich zum Shop durchkämpfen und sehen, was ich ergattern kann. Du versuchst zu schlafen.

Es kann eine Weile dauern, bis ich wieder hier bin. Ich stell Dir die Thermosflasche ans Bett – für den Fall, dass Du Durst bekommst. Also, mein Liebling: Gib auf unser Baby Acht! Vielleicht gibt es etwas Besonderes“, versprach er ihr noch, dann bereitete er sich sorgfältig vor. Die Pelzkappe – ein Beutestück aus einer handfesten Prügelei, Mantel, dicke Socken und Stiefel. Eine Motorradbrille und ein Rucksack vervollständigten seine Ausrüstung.

„Also, ich bin dann soweit. Schlaf jetzt!“ Bevor er ging, schüttelte er das Bettzeug auf und verpackte Ev bis über beide Ohren. „Ich werde auf dem Rückweg Holz mitbringen. Also, dann tschüss!“ Er gab ihr einen langen Kuss zum Abschied. Nic sah ihre Angst, aufmunternd lächelte er ihr zu und wandte sich ab. Was würde mit ihr geschehen, wenn er eines Tages nicht wiederkam? Er brauchte doch nur unglücklich zu fallen – kein Schwanz würde sich um ihn kümmern. Ev wäre verloren! Er verscheuchte die unerfreulichen Vorstellungen.

„ ich verschwinde dann!“ Er winkte noch mal und ging.

Der Wind trieb ihn vor sich her wie einen Ball.

Schnee peitschte ihm ins Gesicht, er zog die Fellmütze noch tiefer und bedeckte die Brille mit einer Hand. Trotzdem war er nach wenigen Schritten blind. Er bemühte sich, die Schritte zu zählen, und lief vorwiegend in der Mitte der Straße – dort, wo der Sturm immer wieder Teile der Schneewehen losriss und in alle Himmelsrichtungen verstreute. Er vermied die unmittelbare Nähe der Häuser: ihm waren da einige Dinge zu Ohren gekommen! Mord und Totschlag herrschten in der Stadt; ein Krieg um jeden Krümel Brot, um jeden Fetzen Kleidung und erst recht um jedes Stückchen Brennmaterial war ausgebrochen, der tagtäglich seine Opfer forderte. So stampfte er, in Gedanken versunken, immer weiter. Schließlich erreichte er die nächste Straßenecke. „Und nun noch knapp tausend Schritte nach Westen, und wir haben es fast geschafft!“ schnaufte er und schüttelte sich den Schnee von den Schultern. Die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, schritt er mit gesenktem Blick seinem Ziel entgegen.

„Mensch, können Sie nicht aufpassen!“ keifte ihn eine erregte Stimme an. Vor ihm tauchten aus dem Nichts die Umrisse eines Menschen auf. Es war eine Frau; ebenso dick vermummt wie er, stand sie auf dem Weg.

„Verzeihen Sie bitte“, entschuldigte er sich. „Ich habe Sie nicht gesehen, deshalb habe ich Sie angestoßen. Können Sie mir bitte sagen, wo der Eingang zum Shop ist? Ich kann überhaupt nichts erkennen!“ Doch die Frau musterte ihn nur misstrauisch und reagierte nicht mehr.

„Blöde Kuh!“ Er tastete sich weiter vorwärts und erreichte auch bald ein schwach beleuchtetes und mit massiven Gittern verkleidetes Schaufenster. Daneben befand sich der Eingang. Erleichtert eilte er dorthin.

„Gott sei Dank, das hätten wir geschafft!“ Er hatte den Satz noch gar nicht richtig ausgesprochen, als ihn ein harter Griff im Genick packte. „He, Du Scheißkerl, hier wird nicht vorgedrängelt, ist das klar! Scher Dich gefälligst nach hinten, bevor ich Dir die Arschbacken aufreiße!“ Ein Kerl, groß wie eine Eiche, stand neben der Tür und musterte ihn mit funkelnden Augen. „Lass mich gefälligst los! Ich hatte nicht die Absicht, mich vorzudrängeln. Ich habe nur nicht gesehen, dass hier Leute stehen.“ Mit einem Ruck befreite sich Nic und wollte an dem Mann vorbeigehen. Dieser hielt ihn am Arm fest und brüllte in sein Ohr: „Das nächste Mal poliere ich Dir gleich die Fresse, Du Affenarsch. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?“ Dabei drückte er Nic den Lauf eines Gewehres in den Bauch. Nic wurde mulmig, beschwichtigend hob er die Arme. „Ist ja schon gut. Ich habe verstanden und gehe jetzt nach hinten. Alles klar, Mann, alles klar – wirklich!“ Langsam zog er sich aus dem Gefahrenbereich zurück.

Jetzt erst entdeckte er, was ihm vorher entgangen war. „Mann, das wird wieder dauern“, seufzte er missmutig. Ein endloses Band wartender, halberfrorener Menschen war neben ihn aufgetaucht.

„Das sind ja Hunderte!“ stöhnte Nic. Mühsam schlängelte er sich bis zum Ende durch. Am Schluss erwartete ihn bereits seine Bekanntschaft, die mit einer Freundin anstand. Die beiden Frauen drängten sich dicht aneinander, um sich gegenseitig vor dem eisigen Wind zu schützen. „Da ist er ja wieder, der Rammbock. Alte Leute von der Straße schubsen...“ giftete sie.

„Er hat sich doch bei Dir in aller Form entschuldigt“, mischte sich ihre Nachbarin ein, „Du solltest nicht so nachtragend sein!“ Damit war die Sache fürs Erste erledigt. Nic richtete sich auf eine lange Wartezeit ein; ab und an stampfte er fest mit den Füßen auf, um sich ein wenig zu erwärmen. Der Sturm zerrte an der Kleidung und ließ die schmalen Körper wie Schilfrohre hin und her schwanken. Die beiden Frauen vor ihm hatten sich unter einer Decke versteckt.

Manchmal bekam er einige Fetzen ihres Gespräches mit. „...gab es einen gewaltigen Knall und die Tür flog weg. Das war bestimmt eine Gasflasche, die da explodiert ist...!“

Hinter ihm tauchte eine weitere Gestalt aus dem Gestöber auf und stellte sich ebenfalls an. Es war ein älterer Mann Er hatte sich einen Schal als Kopftuch umgebunden und trug eine starke Brille, die er alle paar Minuten vom Schnee frei rieb. „Wartest Du schon lange?“ wurde Nic nach einer Weile des stummen Nebeneinanders gefragt. „Hm, schon eine ganze Weile“, bestätigte er einsilbig.

„Haste was zum Rauchen?“ Nic zog fröstelnd die Schulter zusammen. „Habe schon ewig nicht mehr geraucht! Die Schweinepreise auf dem Schwarzmarkt kann doch niemand bezahlen!“ entgegnete er.

Der Alte kicherte laut. „Willst eine Lunte haben?“ Nics Magen zog sich zusammen. „Würde schon gern, habe aber kein Geld für solchen Goldstaub!“ Der Alte kramte umständlich in seinen Taschen herum und brachte eine Schachtel zum Vorschein. „Los, nimm Dir ruhig eine. Ich habe sie vorhin geklaut – von solch einem besoffenen Schnösel. Na, der wird vielleicht Augen machen, wenn er wieder wach wird!“ Nic zog sich den rechten Handschuh aus, dann fädelte er vorsichtig einen Glimmstängel aus der Packung. Zuerst schnupperte er daran. „Ist noch echte Friedensware. Möchte bloß wissen, wo die Kerle das Zeug herbekommen? Habe da läuten hören, dass einige Lager der Staatsreserve gestürmt worden seien. Muss etliche Tote gegeben haben! Klar, die Nationalgarde ist nicht gerade zimperlich“, schwadronierte der Alte, dann zauberte er ein goldenes Feuerzeug aus der Tasche. „Auch ein Beutestück! Uns soll doch egal sein, wo das Zeug herkommt – wichtig ist nur, dass es qualmt!“

Er suchte Schutz hinter Nics Rücken und nach mehreren erfolglosen Versuchen gelang es ihm, die Zigarette zum Glimmen zu bringen. „Sollteste Dir nicht entgehen lassen, Kumpel!“ stellte er nach einigen tiefen Zügen fest, dann gab er Nic von seinem Stängel Feuer. Genussvoll schloss dieser die Augen.

„Das tut wirklich gut. Ich danke Dir!“ Nic fühlte sich wie im siebenten Himmel. Als er bis zur Hälfte aufgeraucht hatte, löschte er die Glut vorsichtig mit Speichel. „Die hebe ich mir für später auf – ich hoffe, Du hast nichts dagegen?“ Der Alte winkte ab. „Ist schon okay so. Hat mich gefreut, wieder mal mit einem halbwegs normalen Menschen sprechen zu können. Wird echt ein Problem, weißt Du? In unserer Straße sterben die Leute wie die Fliegen. Jeden Tag findest Du irgendwelche Toten! Na ja, was soll es. Heute Morgen ist meine Alte gestorben, jetzt bin nur noch ich übrig geblieben. Ich hoffe nur, Gott hat ein Einsehen und holt mich auch bald zu sich. Das hoffe ich wirklich!“

Die beiden Männer schwiegen, jeder hing für längere Zeit seinen Gedanken nach. „Ich suche mir ein stilles Plätzchen und werde schlafen. Hat mich echt gefreut, Deine Bekanntschaft gemacht zu haben“, verabschiedete sich schließlich der Alte. Er war bereits einige Schritte gelaufen, dann kehrte er entschlossen zurück. „Hier, behalte das Zeug, ich kann es sowieso nicht mehr gebrauchen!“ Mit diesen Worten schob er Nic die Zigarettenschachtel und das Feuerzeug zu. Nic war völlig überrascht. Bevor er protestieren konnte, hatte sich der Alte aus dem Staub gemacht.

„Tja, Sachen gibt es, die gibt es gar nicht!“ Kopfschüttelnd steckte er die Geschenke in die Tasche. Bald wurde ihm die Zeit wieder lang, die Schlange kam nur unmerklich voran. „Wissen die Damen eventuell, was es heute zu kaufen gibt?“ begann er eine Konversation mit den Frauen. Doch er merkte schnell, dass er nur störte, zog sich wieder zurück. Es verging etwa eine weitere Stunde, bis er endlich den Eingang vor Augen hatte. Sehnsüchtig streiften seine Blicke über die verrammelten Fensterfronten. Endlich befand er sich im Lichtkegel der Laterne. Ein Einkaufswagen wurde frei, Nic durfte passieren. An der nächsten Sperre im Gang traf er erneut auf den Kerl mit der Flinte. Eine qualmende Zigarre im Mundwinkel, stand er lässig da, seine lauernden Blicke musterten jeden Neuankömmling. „Eh, Du, bist Du nicht der Wichser von vorhin – der sich vordrängeln wollte?“ herrschte er Nic an, dann fügte er hinzu: „Das macht bei Dir zwanzig Mäuse, bar auf die Kralle!“ Nic verstand nicht sofort. „Welche Mäuse?“

„Willst Du mich verscheißern? Dir ziehe ich gleich einen neuen Scheitel, Arschgesicht. So blöd kann ja wohl kaum einer sein. Also her mit der Kohle oder es raucht!“ Nic begriff noch immer nicht. „Also, noch einmal im Klartext und laut genug, damit es auch alle anderen verstehen! Ich kassiere hier die Schutzgelder. Wer einkaufen will, der zahlt; wer nicht zahlt, der fliegt raus. Hast Du nun kapiert!“ Zur Bestätigung seiner Drohung spannte der Kerl die Hähne seiner Waffe. Nic zückte wortlos eine Zwanzigdollarnote und gab sie ihm. „Na, siehste, so einfach geht das! Und nun verpiss Dich, bevor ich es mir noch einmal anders überlege!“

Nic durfte nun auch die letzte Barriere passieren. Eiligst schob er sich und den leeren Einkaufswagen ins Innere des Shops. Hinter ihm gab es plötzlich mächtigen Ärger. Einer der nachfolgenden Passanten weigerte sich lautstark, auch nur einen Cent zu zahlen. „Wo leben wir denn hier? Ich denke, die Soldaten der Nationalgarde sichern die Shops gegen solche wie Dich. Mein Geld reicht gerade noch für etwas Brot. Ich kann Dir nichts zahlen...“ Sein Gezeter währte nur kurz und erstarb in einem Knall. Als der Rauch sich verzog, lag der Mann am Boden und wälzte sich im Blut. „So helft mir doch, bitte...!“

röchelte er, zuckte im Todeskampf und verstummte. Sein Mörder lud indessen ruhig sein Gewehr nach und legte es lässig über den rechten Arm. Finster schaute er sich um. „Also noch einmal: Wer nicht zahlen will, sollte seinen Arsch schleunigst von hier fort bewegen!“ Sein Blick streifte den Toten. „Eh, Du und Du – bringt das Stück Scheiße raus, bevor es auch noch den Rest mit seinem Blut vollgesaut hat!“ befahl er zwei ängstlich dreinblickenden Männern, die auch ohne Widerspruch nach vorn kamen. „Bewegt Eure Ärsche ein bisschen flotter, sonst knallt es!“ trieb er sie an und machte sich einen Spaß daraus, sie mit der Waffe zu bedrohen.

„Geht man so mit unschuldigen Bürgern um...?“ Ein großer, breitschultriger Mann mit einem zerknautschten Schlapphut tauchte in der Tür auf. In seinen Händen wirkte die Maschinenpistole wie ein Spielzeug. Mehrere Männer in abenteuerlicher Aufmachung folgten ihm und versperrten den Flur. Der Hüne an der Sperre wurde bleich und duckte sich stumm.

„Was hat eine Ratte wie Du in meinem Bezirk zu suchen? Was ist, hat es Dir die Sprache verschlagen?“

Nic blieb einen kurzen Moment stehen. Schadenfreude kam in ihm hoch. Ihm war bewusst, dass die Sache nicht ungefährlich war, aber diesen Anblick wollte er sich nicht entgehen lassen. „Ich wollte doch nur...! Na ja, von Euch war keiner in der Nähe und ich wollte nicht, dass Ihr dadurch Verluste erleidet“, stammelte der Angesprochene und lächelte unsicher. „Ich hätte auch jeden Dollar bei Dir abgerechnet, Blacky, ehrlich!“

„Nehmt dem Großmaul die Waffe ab. Und dann soll er uns doch mal vorführen, wie viel wir bereits verdient haben!“ Eine Handvoll Scheine wechselten den Besitzer. „Ist das alles?“ blaffte Blacky.

„Wirklich, mehr habe ich nicht! Kannst Du mir glauben!“

„Okay, das war es dann. Verschwinde aus meinen Augen und lass Dich nie mehr hier blicken!“ Ungläubig schaute sein Widersacher erst auf seine Flinte in Blackys Händen, dann schob er sich mit dem Rücken an der Wand entlang und an den Männern vorbei. Bereitwillig machten sie Platz. Er hatte bereits die Tür erreicht, als Blacky den Lauf der Waffe ein wenig senkte und abdrückte. Die Kugel durchschlug erst den Kopf des Mannes und drang dann in die gegenüberliegende Wand ein. Blacky grinste: „Nehmt das Schwein gleich mit. Wenn Ihr fertig seid, wischt einer von Euch das Blut weg. Nun trollt Euch!“ Damit ließ er die beiden Männer mit der Leiche durch.

„So, und nun zu Euch, Gesindel! Ab sofort wird die Gebühr erhöht. Ihr seht ja, wie unsicher die Gegend hier ist. Außerdem hatte ich größere Ausgaben...!“ verkündete er unter dem Gelächter seiner Begleiter, die sofort mit dem Abkassieren begannen. Das war der Augenblick, in dem Nic still und heimlich hinter der nächsten Ecke verschwand. Sein Weg führte ihn vorbei an unendlichen Reihen von Regalen. Hier und da klebten noch die alten Preisschilder und Beschriftungen der Waren, die einst hier lagerten. An den leeren Kühltruhen hielt er kurz an. „Käse aus der schönen Schweiz“, las er laut vor; allein der Gedanke daran ließ seinen Speichel im Mund zusammenlaufen. „Mann, habe ich einen Knast!“ Sein Bauch begann wie ein Wolf zu knurren. Dann erreichte er jenen Teil der Halle, in dem die kläglichen Restbestände verkauft wurden. An einem provisorisch aufgebauten Stand erwartete ihn die nächste Schlange. Dem aufgeregten Getuschel seiner Vorgängerinnen war zu entnehmen, dass seine Ausdauer nicht umsonst gewesen war. „Guck doch mal, die haben sogar richtiges Brot. Ist zwar in Blechdosen gebacken, dadurch hält es aber auch bedeutend länger!“ schwatzte seine Rivalin so laut, dass sie einen derben Stoß von ihrer Begleiterin bekam. Endlich war Nic an der Reihe.

„Was kostet eine Brotdose?“ erkundigte er sich. Der Verkäufer, ein grobschlächtiger Farbiger, knurrte ihn wütend an: „65 Dollar – kannst nicht lesen oder was?“ Nic zuckte zusammen. „Bloß nicht aufregen – immer schön freundlich bleiben!“ In Gedanken rechnete er nach, wie viel Geld ihm geblieben war. „Okay, drei Brote, eine Packung Tee und etwas Aufstrich bitte“, bestellte er dann. Der Aufstrich war laut Schild eine Mischung aus Margarine und Schweineschmalz. Der Verkäufer packte alles zusammen und schob die Sachen über den Tisch. „Noch was?“ Nic hüstelte verlegen und packte die Ware sorgfältig in den Wagen. „Meine Frau ist schwanger. Ich könnte etwas Milch gebrauchen. Oder ein Stück Schokolade – irgendetwas Süßes“, bat er dann leise.

Der Mann hinter dem Tresen sah ihn fragend an. Für einen Moment schien es Nic, als würde ein Lächeln über sein Gesicht huschen. „Wirst also Daddy? Hast Dir einen schlechten Zeitpunkt ausgewählt, mein Freund. Warte einen Moment, für solche Fälle habe ich eine Kleinigkeit.“

Nach wenigen Augenblicken kehrte der Verkäufer aus einem benachbarten Raum zurück und überreichte Nic mit einem freundlichen Grinsen ein kleines, in Packpapier eingehülltes Päckchen. „Mit netten Grüßen an die Frau Gemahlin. Sind einige Marsriegel drin. Meine Frau ist übrigens auch schwanger – im sechsten Monat. Also viel Glück!“ Damit wandte er sich dem nächsten Kunden zu. Nic stand noch immer etwas verdattert da, das Päckchen in der Hand und konnte alles nicht so recht fassen. „Du störst!“ ermahnte ihn der Schwarze und gab ihm durch Handzeichen zu verstehen, dass er endlich verschwinden solle.

„Danke – Freund!“ Nic wusste nicht, ob er verstanden wurde. Wenn es auch nicht übermäßig viel war, was er für sein Geld bekommen hatte, so reichte es auf jeden Fall für die nächsten Tage. Danach würde er schon weitersehen! An der Kasse ging es erstaunlicherweise recht schnell. Nic zahlte und verstaute das Erworbene in seinem Rucksack. Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend schob er den Einkaufswagen zum Ausgang, um ihn dem nächsten Kunden zu übergeben. Blacky und seine Leute lümmelten sich dort noch immer herum und überprüften jeden, der rein oder raus wollte. Ein junges Mädchen eilte Nic entgegen: „Ist der Wagen jetzt frei?“

Nic hob seinen Rucksack heraus und schob ihr den Wagen zu. „Halt, keinen Schritt weiter!“ donnerte es durch den Raum. Nic blieb wie erstarrt stehen.

Blackys Befehl verhieß nichts Gutes, darüber war er sich sofort im Klaren. Doch Blacky meinte gar nicht ihn. Erleichtert ließ Nic die angehaltene Luft entweichen. Blacky lief achtlos an ihm vorbei, seinen Blick auf das Mädchen gerichtet. „Hoho, was haben wir denn hier für eine Schönheit. Lass Dich doch mal im Licht betrachten!“ Er drehte ihr Gesicht zum Fenster und grinste unverschämt. „Jungs, hat die Kleine schon bezahlt?“ fragte er seine Männer. Einer von ihnen nickte. „Klar, Boss, da machen wir keine Ausnahmen!“ „Okay, gebt ihr das Geld zurück. Sie hat die große Ehre und darf in Naturalien bezahlen! Ich hatte heute noch keinen Morgenbums!“

Seine Männer lachten brüllend auf und klatschten sich vor Vergnügen auf die Schenkel. Das war ein Spaß so recht nach ihren Geschmack. Blacky presste das sich heftig wehrende Mädchen an sich und griff ihr ungeniert zwischen die Beine. „So ein Pech, man spürt ja überhaupt nichts. Alles gut verpackt, meine Kleine! Keine Angst, das werden wir sofort ändern!“ Er zog einen Dolch aus seinem Stiefel und schnitt ihr nach und nach die Knöpfe vom Mantel ab.

Verzweifelt schaute sich das Mädchen nach Hilfe um. Doch die graue Masse senkte das Haupt. Auch Nic brachte nicht den Mut auf, sich gegen die Männer zu stellen. „Einen kleinen Fick in Ehren kann niemand verwehren! Soll ich es Dir hier vor aller Augen besorgen, oder kommt Madame freiwillig mit nach nebenan!“ schnarrte Blacky sie an und fetzte ihr den Pullover vom Leib. Nic sah noch die Tränen, die über die Wangen der jungen Frau rollten. Er fühlte sich beschissen und schuldig, als er den Laden verließ. Unablässig musste er an seine Frau denken. Diese Bestien nahmen auf nichts und niemanden Rücksicht. „Ab heute Abend habe auch ich eine Waffe!“ entschied er für sich.

Die Schreie des misshandelten Mädchens begleiteten ihn bis an die nächste Ecke.

Am Abend ließ das Schneetreiben ein wenig nach.

Nic war erneut aufgebrochen, den Holzvorrat zu ergänzen. Er fühlte sich schlapp und müde, manchmal schüttelte ihn ein Hustenanfall. „Fehlt bloß noch, dass ich krank werde! Kann ich überhaupt nicht gebrauchen“, brummte er verdrossen und kletterte über eine Schneewehe hinweg. Der Größe nach zu urteilen, musste mindestens ein Lastkraftwagen darunter verschüttet sein! Früher hatte er sich ab und an durch solche Berge gegraben, um an die Autos heranzukommen. Im Laufe der Zeit war der Schnee hart wie Eis geworden und man musste schon richtig ranklotzen, um überhaupt Erfolg zu haben. Die Ausbeute wurde immer geringer und lohnte schließlich kaum noch die Mühe.

Nic stampfte durch eine ehemalige Parkanlage. Viele der Bäume, in deren Schatten sich einst Bewohner und Besucher erholten, waren der Axt zum Opfer gefallen. Hier und da lagen noch frische Späne auf dem Schnee, ein sicheres Zeichen dafür, dass er nicht der Einzige war, der hier sein Glück versuchte. Er erreichte eine Umzäunung, deren Spitzen aus dem Schnee ragten. Leise pfiff er durch die Zähne: „Muss ja einst ein toller Palast gewesen sein. Sogar einen Eisenzaun hatten sie. Die Villa schaue ich mir doch etwas genauer an!“ Je näher er kam, desto mehr verlor das Haus von seiner Pracht. Ein Teil des Daches war unter der schweren Schneelast eingestürzt; die meisten Fenster besaßen keine Scheiben mehr, die schwarzen gähnenden Löcher erinnerten an ein Spukschloss. Nic trat in den verwehten Eingang. Quietschend öffnete sich die Tür, als er sich dagegen stemmte. „Echt stark, die Hütte!“ staunte er.

Obwohl nur noch ein Abklatsch der einstigen Schönheit spürbar war, strahlte das Haus noch immer eine gewisse Würde aus. Er schaute sich neugierig um: Teile der Wandtäfelung waren herausgerissen, an den Treppen ins Obergeschoss fehlte das Geländer. Alles, was irgendwie brennbar erschien, war bereits heraus geschleppt, sämtliche Türen waren mitsamt Rahmen entfernt worden; in einigen Räumen fehlte bereits das Parkett. Zerbrochenes Glas, Unrat und Bauschutt lagen überall herum. Enttäuscht gab Nic seine Suche auf. „Schade, aber hier ist nichts mehr zu holen!“ Erschöpft ließ er sich auf der untersten Treppenstufe im Portal nieder. „Nur ein paar Minuten, dann bin ich wieder fit!“ redete er sich ein „Ich darf nicht einschlafen, darf nicht...!“ Er wurde träge, war kaum noch in der Lage, sich zu rühren. Nic befand sich im Zustand des Hinweggleitens in die ewige Ruhe. Ein Hilfeschrei erweckte ihn aus seiner tödlichen Lethargie. Doch die Füße versagten ihm den Dienst.

Winselnd vor Schmerz sackte er zusammen, blieb für einen Moment betäubt liegen. „Los, Alter, steh auf! Beweg gefälligst Deinen Arsch – oder willst Du hier verrecken wie ein Hund!“ trieb er sich selber an. Endlich rappelte er sich wieder hoch. Noch unsicher auf den Beinen, näherte er sich Schritt für Schritt dem Eingang. Von draußen war ein bösartiges Knurren zu hören. „Scheiße, der verdammte Schnee ist wie ein Leichentuch!“ schimpfte Nic leise vor sich hin.

Dann versuchte er sich zu orientieren. Instinktiv wählte er die richtige Richtung. Immer weiter drang er in den Park vor. Es klang wie ein Röcheln, aber Nic war sich nicht sicher. Aus kurzer Distanz sah er, wie sich ein riesiger weißer Schatten aufrichtete, brummend abdrehte und verschwand. Hatte er sich geirrt? „Fängst schon an zu halluzinieren! Reine Nervensache“, beruhigte er sich, doch dann sah er das Blut: Im Umkreis von mehreren Metern sah es wie auf einem Schlachtfeld aus. „Oh Gott!“ stieß er hervor, als er den blutbesudelten Körper des Mannes entdeckte. Nic biss in seinen Handschuh.

Vor Ekel wagte er kaum, richtig nachzusehen. Aus einer Bauchwunde ragten zerfetzte Därme heraus, der rechte Arm des Toten fehlte offenbar völlig. Reste der Kleidung lagen weit verstreut in den Blutlachen. Nic drehte sich weg und übergab sich. Sein Magen würgte die kärglichen Reste des letzten Mahles hervor. Nic hatte den Alten von heute früh erkannt, der ihm die Zigaretten geschenkt hatte. Er griff sich eine Handvoll Schnee und rieb sein Gesicht ab.

„Solch ein Ende hat niemand verdient!“ Nic kauerte sich nieder und atmete tief durch. „Wer in Gottes Namen richtet so etwas an? Der kann doch nicht normal sein!?“

Allmählich wehte der Wind die blutige Stelle zu und bedeckte das Grauen. Nic entschloss sich, seine Suche vorläufig abzubrechen. Mit weichen Knien schleppte er sich bis zur Wohnung. Halbtot vor Erschöpfung und Schwäche, hangelte er sich die Treppe in sein Stockwerk empor. Dass er überhaupt hierher gefunden hatte, erschien ihm nachträglich noch wie ein Wunder. Er stürzte durch die Tür und sank zu Boden. Eine Berührung auf seiner Stirn brachte ihn zu sich. „Was ist mit Dir geschehen? Du siehst krank aus!“ Ev beugte sich über ihn und schaute ihn besorgt an. Er zuckte nur mit den Achseln. „Es ist nichts weiter, Liebling, das geht gleich vorbei. Ich bin nur etwas müde“, beruhigte er sie. Mit ihrer Hilfe richtete er sich auf und ließ sich zum Bett bringen. Er schloss matt die Augen und fiel sofort in einen todesähnlichen Schlaf. Er spürte nicht, wie sein Körper zitterte, hörte die eigenen Angstschreie nicht.

Ev saß neben ihm auf dem Bettrand und streichelte seine Stirn. Nur langsam löste sich der Krampf aus seinem Leib…

„Pass gefälligst auf, wo Du hintrittst, Arschloch!“

Obwohl Hawk sich behutsam durch die Reihen der Schlafenden tastete, konnte er nicht verhindern, dass er auf die Hand eines Jungen trat. Erschrocken blieb er stehen. In der Dunkelheit sah er nicht, wen er getreten hatte. „Tut mir leid“, entschuldigte er sich ängstlich. Zum Schutz vor eventuellen Schlägen fügte er hastig hinzu: „Kid hat nach mir gerufen, ich muss weiter!“ „Verpiss Dich!“ knurrte der Typ ihn verärgert an und drehte sich um. Hawk atmete tief durch.

Das war gerade noch einmal gut gegangen. Die nächsten Meter waren leichter zu bewältigen. Bis hierher leuchteten die Lichter der Feuertonnen. Er tastete sich an der Wand entlang, vorbei an stinkenden Haufen von Unrat und Abfällen. Er erreichte die Schlafstelle seines Anführers. Hier war es warm und trocken, eine Glutwelle strahlte vom flackernden Holzfeuer aus und brannte auf seinem von Frostbeulen zerfressenen Gesicht. Der Elfjährige streckte beide Hände der Wärme entgegen. Seine Finger waren starr vor Kälte, auf seinem rechten Daumen blutete bis zum Nagel ein eingerissener Splitter. Hawk überlegte eine Weile, ob er es wagen sollte, den Boss der Black Killer aufzuwecken. Er zögerte nicht ohne Grund. Zu frisch war die Erinnerung an den Tag, als Kid einen Mitstreiter wegen eines nichtigen Fehlers zu Tode geprügelt hatte. Später fand man ihn, steif gefroren, mit zerschlagenem Gesicht, nicht weit von ihrem Unterschlupf entfernt.

„Was mache ich nur?“ sinnierte er laut. Gab er die Meldung nicht weiter und es kam irgendwann heraus, war er tot, hielt Kid diese aber für unwichtig, war er es auch! Hawk sah sich unsicher um. Hier, in der Tiefgarage eines einstigen Nobelhotels in der City von Los Angeles befanden sich zurzeit fast die gesamten Mitglieder der Gang. Bis auf wenige Posten an den Eingängen und die Beobachter oben schliefen alle tief und fest. Hawk konnte sich nicht entscheiden. Am liebsten wäre er für immer so stehen geblieben, hier war es warm und gemütlich. Sein schmächtiger Körper tankte sich allmählich mit Wärme voll. Doch dann trat das ein, wovor er sich am meisten fürchtete. Er versuchte zwar, den Hustenanfall mit Gewalt zu unterdrücken, aber es war wie eine Explosion. Einmal gezündet, war sie nicht mehr aufzuhalten! Sein krächzendes Bellen hallte durch die Garage. „Hawk, was willst Du denn hier?

Kid erschlägt Dich, wenn er geweckt wird!“ funkelte ihn Sandra, Kids Bettgefährtin, an. Ihr tat der Kleine leid, doch auch sie kannte den Jähzorn ihres Bosses. „Ich muss Kid etwas Wichtiges sagen“, hustete dieser verzweifelt, in der Hoffnung, sie würde ihm helfen. „Du bist wohl lebensmüde! Ich werde einen Dreck tun. Seine Maulschellen tun mir genau so weh wie Dir!“ ließ das Mädchen vernehmen. Hawk biss sich auf die Lippen, hustete aber weiter ohne Unterbrechung. Kid wachte auf und hob den Kopf. Bevor der Kleine etwas zu seiner Rechtfertigung vorbringen konnte, bekam er einen gewaltigen Fausthieb verpasst und flog in hohem Bogen in die nächste dunkle Ecke. „Du Scheißer, bist Du von allen guten Geistern verlassen, oder was?“

Wütend starrte Kid den Störenfried an. Seine langen, ungepflegten Haare fielen ihm ständig ins Gesicht, so dass er stets vor sich hin pustete, um die Augen freizuhalten. Der fünfzehnjährige junge Mann war kräftig gebaut. Als Waisenkind aufgewachsen, hatte er schon früh lernen müssen, um seine Rechte zu kämpfen. Nur die Starken überleben und Kid gehörte zu den Starken! Er rekelte sich in seinem Bett und schaute sich um. „Komm schon her!“ Die tiefe Stimme ließ Hawk zusammenzucken. Der Kleine hockte noch immer in seinem Winkel und weinte still vor sich hin. Seine Lippe war aufgeplatzt und tat mächtig weh. „Geh nicht so grob mit ihm um! Er ist doch noch so klein und außerdem krank“, säuselte Sandra Kid zärtlich ins Ohr und schmiegte sich wie eine Katze an ihn. Sie streichelte sanft seinen muskulösen Nacken, wusste sie doch, dass er es so mochte. Und sie erreichte, dass sein Zorn verrauchte. „Also gut“, lenkte Kid friedfertig ein, „erzähl mir, weshalb ich nicht weiter schlafen darf?“

Hawk spürte die gezügelte Ungeduld des Großen, schnell und wendig kroch er hervor. Während er berichtete, warf er Sandra einen dankbaren Blick zu.

„Vorhin habe ich gesehen, wie drei Familien zum Shop aufgebrochen sind. Die wollen ganz bestimmt einkaufen. Ich bin ihnen gefolgt.“ „Wenn sie zum Shop sind, werden sie ganz gewiss einkaufen! Was sollten sie denn sonst dort wollen?“ meinte Kid ärgerlich. „Deswegen musst Du mich doch nicht aus dem Bett holen! Brian hätte sich darum gekümmert!“ Hawk zitterte vor Angst. „Aber Du hast doch ausdrücklich befohlen, dass wir Dir Bescheid geben sollen, wenn dieser Hudson auftaucht. Er ist nämlich auch dabei!“

Der Name elektrisierte den Boss der Black Killer. „Sagtest Du, der Hudson ist dabei! Du bist Dir völlig sicher?“ Hawk nickte eifrig. „Absolut. Deshalb bin ich ihnen ja auch nachgelaufen! Es ist Hudson mit seinen drei Söhnen. Wer die anderen sind, weiß ich natürlich nicht.“

Kid winkte ab. Sein Gesicht nahm einen teuflischen Zug an. „So, so. Dieser Hudson traut sich wieder aus seinem Rattenloch heraus. Dieses Schwein wird sein blaues Wunder erleben…“ sprach er mehr zu sich.

„Waren sie bewaffnet?“ wollte er noch von Hawk wissen.

Der zuckte die Achsel. „Weiß ich auch nicht. Sie sind so schnell gerannt, dass ich Mühe hatte, dran zu bleiben. Waffen habe ich allerdings keine gesehen. Aber vielleicht haben sie welche unter den Mänteln versteckt?“

Kid überlegte eine Weile. Seine Wut auf den Hausverwalter Hudson war unermesslich. Seit die Gang hier Unterschlupf gefunden hatte, versuchte dieser immer wieder, sie aus seinem Herrschaftsbereich zu vertreiben. Mehrmals hatte er Patrouillen der Bürgerwehr hier anrücken lassen und sie somit zur Flucht gezwungen. In den vergangenen Wochen war der Konflikt zu einer offenen Auseinandersetzung ausgeartet. Auf der Seite der Gang hatte es Tote gegeben... „Okay, Hawk. Das hast Du gut gemacht. Wir werden uns um die Burschen kümmern! Du siehst nicht besonders aus!“ Hawk stand noch immer mit fiebrig glänzenden Augen vor seinem Boss. „Für Dich ist erst einmal Feierabend. Du legst Dich hin. Geh rüber zu Brian und wecke ihn. Sag ihm, dass Du in seinem Bett schlafen darfst!“ befahl Kid noch, dann zog er sich an. Hawks Herz vollführte Freudensprünge. Er durfte in einem richtigen Bett schlafen, musste nicht in seine zerlöcherte Decke kriechen! Geschwind eilte er, Brian alles auszurichten. Ein greller Pfiff weckte die Meute.

„Packt Euch, Ihr Stinktiere, es gibt Arbeit!“ brüllte Kid. Breitbeinig stand er in seiner teuren, wenn auch mit der Zeit ein wenig heruntergekommener Lederkluft und hob einen schweren Revolver zur Decke. „Raus aus den Federn oder ich mache Euch Beine!“ Seinen Worten folgte ein Schuss. Das Dröhnen, durch das von den kahlen Betonwänden widerhallende Echo vielfach verstärkt, jagte auch den letzen Schläfer aus seinen Träumen. Kid musste nicht sehr lange warten, dann war er von seinen Getreuen umringt. Wie ein Feldherr ließ er den Blick über seine Streitmacht gleiten. Erinnerungen an manche, meist erfolgreiche Auseinandersetzungen mit den Gangs der Nachbarbezirke schossen ihm durch den Kopf. Etwa siebzig zehn- bis sechzehnjährige Jungen und Mädchen hatte der King um sich geschart; gemeinsam kämpften sie mit allen Mitteln ums Überleben. Sie waren die größte und mächtigste Gang der Stadt, ihr Territorium erstreckte sich über mehrere Magistralen. Dennoch mussten sie in solch einem finsteren Loch hausen, immer auf der Flucht vor der Nationalgarde und deren Helfern.

„Es wird Zeit, eine alte Rechnung zu begleichen!“ grollte Kid finster und senkte die Augen. Seine Fäuste schnellten zur Decke. Er musterte die erste Reihe.

Seine Krieger sahen müde und abgerissen aus, der Hunger hatte ihre Gesichter gezeichnet. „Ja, meine Freunde, es wird Zeit, eine Rechnung zu begleichen. Jemand, der noch Schulden hat, ist wieder aufgetaucht. Unser guter alter Hudson hat seine schützende Burg verlassen und ist hier bei uns eingedrungen. Interessant, diese Neuigkeit, oder?“ Kid lächelte gelassen, war ihm doch klar, welche Wirkung der Namen ihres Erzfeindes auf sein Gefolge hatte. Mit einer Handbewegung ließ er jede Regung ersterben. „Und heute, meine Getreuen, wird er zahlen für all seine Taten. Sein Leben für das unserer toten Kameraden! Sein Leben und das seiner Nachkommen...!“ In kurzen Zügen erläuterte er seinen Plan. „Brian, kümmere Dich um die Vorhut. Sobald das Schwein auftaucht, gibst Du mir ein Zeichen“, wies er seinen Vize zum Schluss an. „Alles klar, Kid. Ich hole Dich persönlich ab!“ versprach dieser. Mit Gejohle stürmte die Truppe hinaus. Bevor Kid als Letzter ging, fiel sein Blick auf das Häuflein Mensch in Brians Bett. „Ruh Dich aus, Kleiner! Ich bringe Dir nachher eine Kleinigkeit zu essen.“ Als er den schützenden Gang verließ, fuhr ihm der eisige Wind durch das wirre Haar. Wenige Augenblicke genügten, und ein Schleier aus Schnee hüllte ihn vollständig ein. Für einen Moment schloss er die Augen. „Heute bist Du dran, Schweinepriester! Für jeden Toten wirst Du bezahlen, das schwöre ich Dir beim Grabe meiner Leute!“ Ein bösartiges Lächeln entstellte sein sonst angenehmes Gesicht. Fast eine Stunde verging, ehe Brian vor ihm auftauchte. „Eine tierische Kälte ist das wieder!“ fluchte er laut und stampfte mit den Füßen, so dass der Schnee von seinen Schultern rieselte. „Sie kommen, Kid, müssten jeden Augenblick eintreffen.“ Brian schüttelte sich wie ein nasser Köter. „Es sind neun oder zehn Mann, und sie schleppen große Taschen. Da gehen einem fast die Augen über, so haben die gehamstert.“ Er grinste Kid vergnügt an und ergänzte: „Auf jeden Fall eine lohnenswerte Beute!“ Daran dachte Kid in diesem Augenblick weniger. „Okay, schließt den Ring und lasst die Falle zuschnappen“, befahl er. Bevor Brian endgültig verschwand, hielt er ihn noch einmal an. „Solltet ihr Klamotten erwischen, sieh nach, ob vielleicht ein warmer Mantel dabei ist. Hawk hat es schwer erwischt, er wird ihn gebrauchen können“, bat er, ohne den erstaunten Blick seines Gegenüber zu beachten. Brian nickte nur, dann verschluckte ihn der Schnee. Trockene Revolverschüsse und das Bellen von Maschinenpistolen zerhackten die schneegeschwängerte Luft. Der Lärm kam näher. Dann sah Kid eine pelzbekleidete Gestalt auf sich zu wanken. Das musste er sein! Der Mann hatte ihn offensichtlich entdeckt und änderte, so schnell er konnte, seine Richtung. Einige Schatten lösten sich aus dem Schnee und drängten ihn wieder zu Kid hin.

„Dich hat es wohl schwer erwischt, Hudson?“ Der Hausverwalter erkannte erst jetzt, wer vor ihm stand. In seinem Blick lag Verzweiflung; er wusste, dass er endgültig verloren hatte. Aus dem Hintergrund schoben sich die Mitglieder der Bande zusammen und schlossen den Kreis. Eine Flucht war damit unmöglich.

„Schade um den teuren Pelz. Er ist ja völlig mit Blut beschmiert. Wie ärgerlich!“ Kid umrundete sein Opfer. „Mister Hudson, es tut mir leid, dass man Sie angeschossen hat. Ich hatte extra angeordnet, Sie zu schonen. Wie ich sehe, hat man meine Befehle missachtet. Aber besser verwundet als tot – oder, Mister Hudson?“ Wie ein gehetztes Tier blickte sich der Mann um. Mit vor Schmerzen verzerrtem Gesicht hielt er sich die rechte Seite, Blut tropfte zwischen seinen Fingern hindurch und färbte den Schnee unter seinen Füßen rot. Auf einen Wink von Kid wurden die Beutetaschen in den Kreis gebracht.