Die Rückkehr der Zwerge 2 - Markus Heitz - E-Book
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Die Rückkehr der Zwerge 2 E-Book

Markus Heitz

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Beschreibung

Das beliebteste Volk der Fantasy steht vor seiner größten Herausforderung. Was im ersten Band von »Die Rückkehr der Zwerge« begann, wird nun zu einem dramatischen Finale geführt. »Die Rückkehr der Zwerge« ist der 6. Teil von Markus Heitzʼ großer Fantasy-Saga »Die Zwerge«. Hunderte Zyklen vergingen im Geborgenen Land. Der Zwerg Goïmron arbeitet als Gemmenschnitzer in der Stadt Malleniaswacht. Ihn faszinieren vor allem die alten Zeiten, die großen Zeiten der fünf Zwerge-Stämme, und so sucht er auf den Märkten immer wieder nach Aufzeichnungen und Artefakten, die ihm Hinweise auf die stolze Geschichte geben. Dabei gerät Goïmron überraschend an ein Buch, das handschriftlich und auf Zwergisch verfasst wurde. Aufgrund der Fülle von Details gibt es keinerlei Zweifel: Das Buch muss vom heldenhaften Tungdil Goldhand selbst stammen – doch der gilt seit Hunderten von Zyklen nach einem verheerenden Beben im Grauen Gebirge als verschollen. Aber der letzte Eintrag ist nicht lange her – wie kann das sein? Als Goïmron sich nichtsahnend auf die Suche nach dem legendären Zwerg macht, geraten er und seine Gefährtentruppe schon bald mitten hinein in uralte Intrigen und brutale Machtkämpfe von skrupellosen Menschen, geheimnisvollen Albae – und Drachen! Einmal mehr braucht das Geborgene Land die Weisheit, den Humor, die Kampfkraft und den Dickschädel der Zwerginnen und Zwerge. Alte und neue Helden nehmen die gefährlichen Herausforderungen an. Werden die Kleinen erneut die Größten sein? Die Fantasy-Bestseller-Saga »Die Zwerge« von Markus Heitz ist in folgender Reihenfolge erschienen: • Die Zwerge • Der Krieg der Zwerge • Die Rache der Zwerge • Das Schicksal der Zwerge • Der Triumph der Zwerge • Die Rückkehr der Zwerge

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Seitenzahl: 568

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Markus Heitz

Die Rückkehr der Zwerge 2

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Hunderte Zyklen vergingen im Geborgenen Land. Der Zwerg Goïmron arbeitet als Gemmenschnitzer in der Stadt Malleniaswacht. Ihn faszinieren vor allem die alten Zeiten, die großen Zeiten der fünf Zwerge-Stämme, und so sucht er auf den Märkten immer wieder nach Aufzeichnungen und Artefakten, die ihm Hinweise auf die stolze Geschichte geben.

Dabei gerät Goïmron überraschend an ein Buch, das handschriftlich und auf Zwergisch verfasst wurde. Aufgrund der Fülle von Details gibt es keinerlei Zweifel: Das Buch muss vom heldenhaften Tungdil Goldhand selbst stammen – doch der gilt seit Hunderten von Zyklen nach einem verheerenden Beben im Grauen Gebirge als verschollen. Aber der letzte Eintrag ist nicht lange her – wie kann das sein?

Als Goïmron sich nichtsahnend auf die Suche nach dem legendären Zwerg macht, geraten er und seine Gefährtentruppe schon bald mitten hinein in uralte Intrigen und brutale Machtkämpfe von skrupellosen Menschen, geheimnisvollen Albae – und Drachen!

Einmal mehr braucht das Geborgene Land die Weisheit, den Humor, die Kampfkraft und den Dickschädel der Zwerginnen und Zwerge. Alte und neue Helden nehmen die gefährlichen Herausforderungen an.

Werden die Kleinen erneut die Größten sein?

Inhaltsübersicht

Dramatis Personae

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Epilog

Nachwort

Dramatis Personae

DIE ZWERGENSTÄMME
Die Ersten

Xanomir Wogenherz aus dem Clan der Stahlmacher, Ingenius & Constructor

Buvendil Muschelgreif aus dem Clan der Heißschmieds, Ingenius & Constructor

Die Dritten

Regnorgata Sterbenshieb aus dem Clan der Orkschlächter, Königin der Dritten

Hargorina Todbringerin aus dem Clan der Steinmalmer, Kriegerin

Belîngor Klingenfresser aus dem Clan der Stahlfäuste, Krieger

Brûgar Funkenatmer aus dem Clan der Feuerschlinger, Krieger

Die Vierten

Goïmron Schnitzeisen aus dem Clan der Silberbärte, Gemmarius

Bendoïn Feinunz aus dem Clan der Pfeilsucher, Befehlshaber der Truppen der Vierten

Die Fünften

Barbandor Stahlgold aus dem Clan der Königswassertrinker, Siedlungsrat von Platinglanze

Gyndala Zartfaust aus dem Clan der Goldfinder, Schmiedin und Maurerin

Die Menschen

Doria Rodana von Psalí, Puppenspielerin

Chòldunja, Doria Rodanas Aprendisa

Orweyn Berengart, Omuthan von Brigantia

Kawutan Berengart, Orweyns jüngerer Bruder

Ilenis Berengart, Kawutans Gattin

Klaey Berengart, Orweyns jüngster Bruder, Zabitay

Kiil, Irmon, Jowna; Brigantiner/in

Hantu, Rhamak

Vanéra, Maga

Adelia, Vanéras Famula

Mostro, Vanéras Famulus

Stémna, Botin von Ûra

Gubnara, Ausbilderin der Doulia

Enes, Angehörige der Doulia

Tithmar von Waidenstein, Gutsherr in Gautaya

Helka von Waidenstein, Gutsherrin in Gautaya

Alreth, Handwerker und Kapitän der Meeresklinge

Olstrum, Smutje der Meeresklinge

Fridgatt, Matrose der Meeresklinge

Joros Gunmarr, Admiral der sinterianischen Meeresstreitkräfte

Emaro von Stiyn, Obrist in Wehrstadt

Die Elben

Telìnâs, Elbenkrieger

Randûlas, Führer der Delegation von Tî Silândur

Die Albae

Ascatoîa, Zhussa

Mòndarcai, Krieger

Ophîras, Krieger

Cintalôr, Kundschafter

Èthoras, Attentäter

Die Orks

Borkon Gràc Hâl

Torsuk, Heilkundiger

Shashka, Priesterin in Kràg Tahuum

Akrosha die Köpferin, Anführerin der Salzseeorks

Mortog der Meuchler, Bruder von Akrosha

Weitere

Nebtad Sònuk, Srgāláh

Slibina und Szmajro, Flugdrachengeschwister

Graszahn, kleinster Drache des Geborgenen Landes

BEGRIFFE
Orte

Arima: Hauptinsel von Undarimar

Dsôn Khamateion: das Reich der Albae im Braunen Gebirge

Enaiko: die Stadt des Wissens im Süden des Geborgenen Landes

Gautaya: Kaiserreich in Gauragon

Kleinfluxwasser: Menschendorf nahe von Platinglanze

Kràg Tahuum: Orkfestung in der Mitte des Geborgenen Landes

Landsriegel: elftausend Schritt hoher Berg

Platinglanze: zwergische Wehrsiedlung am Fuße des Grauen Gebirges

Tî Silândur: Elbenreich

Towan: Fluss im Norden des Geborgenen Landes

Undarimar: Meeresreich im Westen des Geborgenen Landes

Völker & Arten

Acront: riesige Kriegerkreaturen, die Bestien jagen

Bastardpferd: Orkisches Reittier

Cadengi (Mehrzahl): eine neue Götterschar, deren Glaube in Brigantia verbreitet ist

Cadengis: der gefährlichste Gott der Cadengi

Cadengis’ Mutter: a. die gefährlichste Göttin der Cadengi, b. beliebter Fluch

Doulia: zugereiste Menschen aus dem Jenseitigen Land, die sich freiwillig als Sklaven andienen

Drinx: Fabelwesen

Feuerfresser: Bezeichnung der Bestien in den Lavafeldern im Norden von Gauragon

Flammenflügler: schlangenhaftes Flugwesen, drachenverwandt

Meldrith: Personen aus einem albischen und elbischen Elternteil

Narshân-Bestie: wolfsartiges Raubtier

Panzerfische: große Fische im Binnenmeer

Phlavaros: Name des ersten Flugmahrs

Ragana: Moorhexen

Rhamak: Seelenrufer

Salzseeorks: Bezeichnung der Bestien in den Salzwüsten im Kaiserreich Gautaya

Srgāláh: humanoides Wesen mit Hundekopf

Visok-Pferd: eine große Pferderasse

Ygota: magiesensitive Fluginsekten

Titel & Bezeichnungen

Aprendisa: Lehrling

Banneroffiziant: niederrangiger Versorgungssoldat

Famula/-us: magisch begabter Mensch in Ausbildung

Fîndaii: Leibwache und Eliteeinheit der Kaiserin

Ganyeios: Titel des Herrschers von Khamateion

Kisâri: Titel, Kaiserin der Elben

Magus/Maga: Zauberer/Zauberin

Omuthan: Fürst von Brigantia

Zabitay/-a: Rang, General/in in Brigantia

Zhussa: Zauberkundige der Albae

Sonstiges

Consortio: Versammlung in Wehrstadt

Elriahaube: Taucherglocke

Priem: Kautabak

Suihhi: Bezeichnung einer tödlichen Seuche in Gauragon

Warwolf: übergroßes Katapult

Kapitel I

Das Geborgene Land, im Norden des Vereinten Großkönigreichs Gauragon, an den Ausläufern des Grauen Gebirges, Platinglanze, 1023 n.B. (7514. Sonnenzyklus nach alter Zeitrechnung), Herbst

Barbandor Stahlgold aus dem Clan der Königswassertrinker besah sich die laufenden Aufbauarbeiten stolz vom Dach des Wehrhauses aus, auf dem er einst Wache über die verwundete Stadt gehalten hatte. So lange, bis Zwerginnen und Zwerge ins zerstörte Platinglanze gekommen waren, um es neu zu errichten.

Überall um ihn herum hämmerte und schepperte es. Baukräne drehten sich durch Muskelkraft und hievten Balken, Schindelpakete und Steine an Ketten empor. Schwere Quader wurden in die Löcher der Doppelwälle eingefügt und vermauert, sodass die größtenteils ausgebrannte Siedlung nicht länger schutzlos war. Dazu erklangen laute Anweisungen der Vorarbeiter und Maschinenbediener oder Musik, gespielt mit Pfeifensäcken und Schalmeien, um den Schuftenden die Zeit zu vertreiben und das Schwitzen in den letzten warmen Sonnenstrahlen angenehmer zu machen.

Bis zum Winter wird das Gröbste fertig sein. Barbandor war wegen seiner Verdienste zum Siedlungsrat gewählt worden und hatte das Amt mit Freude und Stolz angenommen. Über seiner Kleidung und dem Kettenhemd trug er die bestickte weiße Schärpe, die sein Amt ersichtlich machte, um ansprechbar für alle zu sein, die Fragen und Sorgen hatten.

Alles in allem residierten wieder fast eintausend Seelenfunken hinter den Doppelmauern. Das Leben kehrte zurück, und das erfüllte den dunkelhaarigen Zwerg vom Stamm der Fünften mit großer Freude.

Nach der Heimsuchung durch Ûras Feuer, nachdem Platinglanze die Abgabe an die weiße Flugdrachin verweigert hatte, musste viel instand gesetzt und wiederaufgebaut werden. Doch der Verlust der ursprünglichen Bewohner wog weitaus schwerer.

Barbandors braune Augen wandten sich zum Grauen Gebirge, das nicht mehr wiederzuerkennen war seit dem letzten Eingriff ins Gestein nach einem geheimen Plan von Tungdil Goldhand. Kartografen wären ein ganzes Leben damit beschäftigt, die alten Zeichnungen anzupassen. Er rieb sich über das geflochtene dunkle Barthaar, während er das Gebirge betrachtete, und spielte mit der weißgoldenen Zierspange. Die Gipfellinie stimmte nicht mehr, und die bestehenden Verzeichnisse über die Gänge, Tunnel, Schächte sowie Minen waren vollkommen wertlos geworden.

Dafür war das Geborgene Land nun abgeschlossen und sicher.

Sämtliche fünf Zugänge in der Gebirgskette hatten sich durch die gezielten Einstürze und Abbrüche für immer geschlossen. Wo sich die neuen befanden, wusste nur Goldhand.

Er wird es verkünden, sobald das Braune Gebirge befreit ist, nehme ich an. Barbandor schloss die Lider und ließ die Sonne auf sein wettergegerbtes Gesicht mit den eingegrabenen Linien und Narben in der Haut scheinen. Es waren in den vergangenen Umläufen nicht wenige Falten dazugekommen, erschaffen von Abenteuern und Sorgen. Möge sich der Sieg gegen Brigantia rasch einstellen.

»Hey! Hey da, Meister Stahlgold!«, tönte es hell durch das Lärmen der arbeitenden Gewerke. »Steig runter von deinem hohen Dach! Sonst halten sie dich alsbald für deine eigene Statue, Siedlungsrat.«

Barbandor öffnete die Augen und richtete seinen Blick auf die Gassen und Straßen ringsherum, um nach dem Rufer Ausschau zu halten. Etwa fünfzehn Schritt schräg unter ihm stand eine junge blonde Zwergin in einem einfachen hellen Wollkleid mit dickem Ledermantel darüber gegen die Herbstkühle und hielt ein Bündel mit beiden Händen. Der Stoff war gespannt, die Last darin nicht die leichteste.

»Was gibt’s?«, rief er hinab.

»Ich hab etwas gefunden, das ich dir zeigen muss.« Sie deutete auf das Wehrhaus und eilte voran. »Komm in deine Amtsstube.«

Was hat das nun wieder zu bedeuten? Barbandor kannte die Zwergin. Ihr Name war Gyndala Zartfaust aus dem Clan der Goldfinder. Sie kam ursprünglich aus Schmiedeburg, einer der östlichen Siedlungen nahe den Lavafeldern, die ein Augenmerk auf die Orkbande der Feuerfresser hatte. Es wird kaum ein Imbiss sein.

Er stieg durch die Luke ins Innere des Gebäudes und verließ den Trockenboden, um die Stiegen nach unten bis zu seinem spärlich eingerichteten Amtszimmer zu nehmen. Für Dekoration hatte er noch keine Zeit gefunden, das Banner der Stadt an der Wand musste genügen.

Gyndala hatte das verschnürte Bündel auf dem Tisch abgelegt und stand erwartungsvoll am Tisch. Die langen blonden Haare trug sie in einer Flechtfrisur, die hellen Augen leuchteten vor Ungeduld. »Das ist für dich«, brach es sogleich aus ihr heraus.

»Sehr aufmerksam.« Barbandor trat näher und versuchte, anhand der Ausbeulungen Schlüsse auf den Inhalt zu ziehen. »Aber wohl kein Geschenk.«

»Nein. Ich habe es im abgebrannten Haus des Heilers gefunden. Im Keller.« Gyndala öffnete den groben Jutestoff. »Viel blieb nicht mehr.«

Hatte Barbandor zuerst befürchtet, sie brächte ihm allen Ernstes sterbliche Überreste von Meister Güldenfunke, entpuppte das Mitbringsel sich als Sammelsurium verkohlter Gegenstände, die er erst nach genauem Hinsehen einordnen konnte. »Das sind Orksachen.«

»Von jenen Orks, die Platinglanze mit den Schleudern vor seinen Toren tötete«, ergänzte Gyndala begeistert und breitete die Dinge auf dem Stoff akkurat aus, als wären es Schätze, die präsentiert werden müssten. »Das Feuer hat zwar ziemlich gewütet, aber ich finde, man sieht deutliche Unterschiede zu den Habseligkeiten der Bestien, mit denen wir uns an den Lavafeldern herumschlagen.«

Barbandor hob zwei Eisenplättchen an und begutachtete sie, rieb den Ruß weg, öffnete zwei Ledersäckchen, in denen sich Kräuterreste befanden, die ein betörendes Röstaroma freisetzten; schließlich nahm er einen Dolch zur Hand und klopfte den Dreck ab. Darunter kam perfekter Stahl zum Vorschein.

»Eindeutige Unterschiede, Gyndala. Ich sehe das wie du«, redete er beim Begutachten leise vor sich hin.

»Mir fiel das gelungene Handwerk auf«, sagte die Zwergin aufgeregt. »Es kann sich nicht mit unserem messen, was das Schmieden anbelangt. Aber mit den Langen halten sie mit. Ohne Weiteres.« Sie wählte eine verzierte Spange aus, die einst ein Gewand zusammengehalten hatte. »Und das hier: geradezu filigran! Für orkische Verhältnisse.«

Der Fund untermauerte Barbandors Annahme, dass die Bestien aus dem Jenseitigen Land gekommen waren, um zum einen Jagd auf Zwerge zu machen und zum anderen die Truhe von Tungdil Goldhand mit seinen Aufzeichnungen in ihre Gewalt zu bekommen. Er und sein Freund hatten den Orks am Ufer des Towan einen Strich durch die Rechnung gemacht. »Fingerfertig. Sollte das Rückschlüsse auf ihre Schläue erlauben, bin ich froh, dass die Eingänge ins Geborgene Land verschlossen sind.«

»Ja, es ist friedlicher geworden, sieht man von der Belagerung der Festung im Braunen Gebirge ab. Aber das ist weit weg. Bei uns in Schmiedeburg wirkte es vor meinem Weggang geradezu so, als gäbe es die Feuerfresser nicht mehr.« Gyndala setzte sich und stützte den Kopf auf eine Hand, besah sich die Fundstücke fasziniert und schnupperte in Richtung der Kräutersammlung. An den Wangen ihres rundlichen Gesichts schimmerte heller Flaum im Herbstsonnenlicht.

Barbandor kannte die Orkbande im Osten der Gebirgsausläufer vom Namen her. Während Platinglanze sich gelegentlich mit Spähern der Salzseeorks herumgeschlagen hatte, hatten sich die Bestien der Feuerfresser daran versucht, einen Nimbus als feuerfeste Räuber aufzubauen, indem sie kleinere Siedlungen und Vorposten inmitten der Seen aus flüssigem Feuer auf Hochinseln errichteten. Schmiedeburg hatte sie stets in die Schranken gewiesen, sobald sie sich zu weit in von Menschen und Zwergen bewohntes Gebiet wagten.

»Ich dachte, ihr hättet sie aufgerieben?«, sagte er.

»Nein. Sobald sie merken, dass sie verlieren, ziehen sie sich auf ihre größeren Inseln inmitten der Lava zurück oder in Höhlen, die sich mit für uns giftigen Dämpfen füllen und bei denen es kein Weiterkommen gibt.« Gyndala legte die Spange zurück. »Warte es ab. Nicht mehr lange, und sie legen erneut los. Aber dann bekommen die Schweineschnauzen von meinen großen Brüdern tüchtig Dresche, dass ihnen die fransigen Ohren schlackern und die fauligen Zähne fliegen, bei Vraccas!«

»Warum weißt du so sicher, dass die Feuerfresser bald losschlagen?«

»Der Winter naht. Da brauchen sie Vorräte.« Gyndala formte aus ein paar getrockneten Fasern zwischen Daumen und Zeigefinger eine kleine Kugel und betrachtete sie neugierig. »Was das wohl ist?«

»Heilkräuter, schätze ich. Oder Tabak zum Kauen. Sie priemen vielleicht.« Wie ich. Hoffentlich die einzige Gemeinsamkeit. Barbandor wog die Eisenplättchen in der Hand, die zu einem Schuppen- oder Lamellenpanzer gehört hatten. Irgendetwas daran passte nicht zusammen, sagte ihm sein Gefühl. »Viel zu schwer«, raunte er plötzlich verstehend.

»Zu schwer?«

»Ich erinnere mich, wie der gepanzerte Ork aus dem Towan stieg. Ich dachte, er wäre wie die vier Dutzend anderen aus dem Jenseitigen Land angeschwemmt worden, aber …« Barbandor runzelte die Stirn. »In diesen Rüstungen wären sie niemals durch den Fluss bis zu uns gelangt.«

»Sie überlebten die Smaragdfälle. Warum nicht auch den wilden Ritt durch …« Gyndala hielt inne. »Beim ewigen Schmied! Du hast recht. Nicht einmal eine Schweineschnauze schwimmt Hunderte Meilen in einem eisigen Fluss mit Stromschnellen, Unterströmungen und Felsen.«

Barbandor starrte auf die beiden Plättchen in seinen kräftigen, schwieligen Fingern. Ich beging einen gefährlichen Fehler! Er warf die Stücke auf den Haufen und wandte sich zum Ausgang. »Danke, dass du damit zu mir gekommen bist. Du kannst nicht ermessen, bei welcher Entdeckung du mir halfst.«

»Das habe ich gerne getan.« Gyndala sah ihm wissbegierig nach. »Wohin des Wegs?«

»Die Arbeiten überprüfen. Am ersten Wall«, antwortete er und langte im Vorbeigehen nach seiner schweren Kampfaxt mit dem aufwendig ziselierten Kopf aus Stahl, um sie sich samt Halterung auf den Rücken zu werfen. »Bis nachher. Wir sehen uns im Grünen Spundloch. Das erste Bier geht auf mich.«

»Das ist doch ein Wort«, rief sie ihm nach.

Das stimmt immerhin zu zwei Dritteln und ist damit keine Lüge. Barbandor wollte die junge Zwergin bei seinem Abstecher nicht dabeihaben. Sein Versäumnis musste von ihm nachgeholt werden, ohne Platinglanze in Aufruhr zu versetzen. Der Schock über die Ereignisse saß noch zu tief, daher musste er als Siedlungsrat und Zuständiger für Verteidigung auf eigene Faust Erkundigungen einholen.

Eilends passierte Barbandor die Gassen und Straßen, lobte die Arbeiten im Vorbeieilen, besah sich die Ausbesserungen in den Doppelwällen der Stadtmauer und verließ Platinglanze auf jenem Weg, der zum Towan und nach Kleinfluxwasser führte.

Es kam ihm recht, dass ihn niemand fragte, was er denn im Dorf der Menschen wolle. Somit musste er nicht erneut lügen.

Während Barbandor im Schutz des Wäldchens den Weg zum Fluss und den Smaragdfällen im Laufschritt einschlug, fiel es ihm wie Drachenschuppen von den Augen. Wie habe ich die Hinweise nicht sehen können? Das Gewicht der Rüstungen, die große Anzahl der Orks und der Umstand, dass ihn die Bestie in der Gemeinsprache angeredet hatte, die man im Jenseitigen Land wohl kaum nutzte. Schon gar nicht als Ork.

Er entschuldigte sein Versäumnis damit, dass Ûra sie in der gleichen Nacht angegriffen hatte und er verletzt gewesen war. Danach war es seine Aufgabe gewesen, Platinglanze zu beschützen und im Anschluss mit Goïmron und seinen Freunden nach Goldhand zu suchen. Wieso hätte ich mir Gedanken um die toten Orks machen sollen?

Barbandor erreichte das große Becken, in das sich die Smaragdfälle ergossen, und wurde von wallenden, rollenden Gischtwolken empfangen, in denen gelbe und rote Blätter wirbelten. Der Herbst färbte die umstehenden Laubbäume malerisch, es roch nach feuchtem Moos und Pilzen.

Seine Augen richteten sich auf die obere Kante des Wasserfalls. Wenn die Orks nicht von dort oben gestürzt sind – sein Blick wanderte an dem rauschenden, weißgrünen Vorhang aus Wasser abwärts –, müssen sie von einem tieferen Punkt gekommen sein.

Langsam ging er los und zog seine Axt, um den ziselierten Kopf als Griff und den Schaft als Stütze auf den rutschigen Steinen zu nutzen.

Ob sich nach einem halben Zyklus überhaupt noch Spuren finden lassen würden, wusste er nicht zu sagen. Seitdem waren keine Orks mehr aufgetaucht. Weder auf der Baustelle von Platinglanze noch in den Überresten von Kleinfluxwasser, das von den Menschen ebenso wiederaufgebaut worden war.

Ûras Attacke auf unsere Siedlung könnte sie von weiteren Raubzügen abgehalten haben. Barbandor erklomm die unteren, größeren Steine und näherte sich auf vierzig Schritte dem rechten Rand der Smaragdfälle. Die Angst vor ihr herrschte bei allen Lebewesen. Die Gischt legte sich auf ihn, durchnässte ihn binnen weniger Herzschläge, sodass er sich des Öfteren die Tropfen aus den Augen wischen musste. Der Untergrund wurde tückisch, sorgsam suchte der Zwerg nach sicherem Halt. Aber nun ist die Drachin tot. Die Schweineschnauzen könnten den Umstand sowie die Belagerung im Braunen Gebirge nutzen. Um zurückzukehren.

Barbandor hatte Elrias Fluch bei all seinen Überlegungen nicht vergessen. Misstrauisch äugte er ins Sammelbecken der Smaragdfälle, das unergründlich tief zu sein schien und allerhand parat hielt, um einen Zwerg auf Geheiß der Göttin in die Tiefe zu ziehen und zu ersäufen. Vraccas sei mit mir.

Zur besseren Konzentration steckte er sich ein Knäuel Kautabak in die rechte Wangentasche. Zimmet mit Minze, dazu das rauchig scharfe Aroma des Tabaks, schärften seinen Verstand.

Seitlich des Hauptstroms, mit dem sich der Towan hinabwarf, erklomm Barbandor Schritt um Schritt die Wand, erst mit Sprüngen und Hüpfern von Stein zu Stein, dann steckte er die Axt zurück in die Halterung auf dem Rücken und erkletterte den senkrechten Fels mit nasskalten Fingern, unter unaufhörlicher Berieselung durch die Wasserschleier.

Bei etwa zwanzig Schritten über der Erde machte er seitlich einen schmalen Sims natürlichen Ursprungs aus, der unter die Kaskade führte. Die geritzte Markierung im Gestein allerdings war handgemacht. Sie zeigte eine ihm unbekannte Rune, war keineswegs alt und lediglich mit einer hauchdünnen Moosschicht versehen.

Ich ahnte es! Rasch kletterte Barbandor auf den Vorsprung und ging mit Tippelschritten vorwärts. Er näherte sich der Kaskade, die sich vor der Wand hinabstürzte. Durch die schwachen Ausläufer und Gischtwolken erkannte er eine dunklere Stelle weiter vor ihm, die eine Einbuchtung oder ein Höhleneingang sein mochte.

Barbandor war hin- und hergerissen.

Noch hatte er keinen Beweis, dass sich Orks hinter dem Wasserfall verbargen. Aber gab es welche und sie erwischten ihn, käme es zu einem Kampf mit ungewissem Ausgang. Ich habe keine Ahnung, wie viele es sein könnten.

Die Neugier zwang den Zwerg voran. Als Siedlungsrat für Verteidigung musste er sichergehen.

Das Wasser bewies ihm sogleich seine Macht. Selbst die schwachen äußeren Ausläufer der Smaragdfälle gingen mit solcher Wucht auf ihn nieder, dass Barbandor glaubte, er würde von Steinen getroffen. Mit ganzer Kraft klammerten sich die Finger um Vorsprünge im Stein, mehrmals rutschten seine Stiefelsohlen ab.

Ich schaffe es nicht bis zum Schatten. Die Schmerzen in seinen Schultern, im Nacken, im Rücken und auf dem Kopf nahmen zu, er bekam kaum mehr Luft. Elria hat einen Weg gefunden, mich im Stehen zu ersäufen! Ich brauche eine andere Vorgehensweise.

Gerade wollte er umkehren, da glitt seine rechte Hand vom Fels ab.

Er griff ins Leere, sein Oberkörper neigte sich leicht nach hinten. Das stürzende Wasser erfasste ihn nun vollständig und unbarmherzig, das Gewicht von Kettenhemd und Axt wog tonnenschwer.

Die Macht des Elements spülte Barbandor vom Sims wie lästigen Dreck. Dabei schluckte er eisiges Wasser, hustete und bekam noch mehr davon in die Lunge.

Unvermittelt endete sein Sturz. Etwas hielt ihn am Fußknöchel fest und ließ ihn inmitten der rauschenden, brüllenden Kaskade zappeln. Würgend und keuchend schnappte er nach Luft, wurde aufwärts gezogen und von starken Händen gepackt, die ihn auf einen harten Untergrund warfen.

Barbandor hatte die Augen voller Wasser und übergab sich, spuckte Wasser und Essensreste auf den Boden vor sich. Unstetes Fackellicht beleuchtete ihn, neben ihm erkannte er undeutlich mehrere schwere Schaftstiefel. Der Größe nach mussten es Orks sein.

Um seinen rechten Fuß trug er eine Seilschlinge, mit der ihn die Scheusale im Flug gefangen und vor dem Absturz ins Kaskadebecken bewahrt hatten. Aber sicher nicht aus ehrbaren Absichten.

Ein letztes Mal spuckte er aus, dann wischte er sich die Augen frei und schaute sich um. Den Griff nach der Kampfaxt ersparte er sich. Sie hätten ihn schneller durchbohrt, als der die Waffe aus der Rückenhalterung gezogen bekam. Ein Ruck am Seil würde genügen, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Einen Schritt von ihm entfernt befanden sich drei muskulöse Orks, die außer den Stiefeln nur einen ledernen, mit kunstvollen Brandzeichen geschmückten Lendenschutz sowie einen einfachen Brustgurt mit langen Dolchen daran trugen. Zwei hatten dunkelgraue, der Dritte auffällige nachtblaue Haut. Feinste Tätowierungen zogen sich in verschiedenen Farben über die Gliedmaßen und die Torsos; der dunkelblaue Ork hatte ausschließlich Weiß für die verschnörkelten Ornamente benutzt, was die Zeichen besonders betonte.

Nach einem knappen, unverständlichen Wortwechsel ging eine der grauen Bestien auf dem Sims entlang und verschwand im Wassernebel, als wäre es die einfachste Übung der Welt.

Der blauhäutige Ork zog Barbandor am Seil hinter sich her und schleifte ihn in eine Seitenhöhle, in der das Donnern und Toben des Towan weniger laut waren.

»Lass uns reden, Unterirdischer«, begann er mit starkem Akzent in der Gemeinsprache und ging in die Hocke. Kräftige, silbern angemalte Eckzähne kamen zum Vorschein, die an Wolfsfänge erinnerten, das übrige Gebiss war schwarz gefärbt. »Bist du alleine losgezogen?«

Barbandor setzte sich auf und wollte die Schlinge um seinen Fuß lösen, aber das dunkle Grollen ließ ihn davon absehen. »Du sorgst dich, dass ihr bald erschlagen werden könntet.«

»Ich sorge mich um Dinge, von denen du nicht einmal weißt«, lautete die amüsierte Erwiderung.

»Man wird nach mir suchen und meinen Zeichen folgen. Du und deine Bestien –«

Der Ork lachte leise. Seine langen, gebogenen Fingernägel waren sauber wie seine schwarze Mähne, in der einzelne Strähnen mit Golddraht umwickelt waren. Allem Anschein nach hatte sich der Ork gepflegt – oder das Wasser hatte ihn von Schmutz gereinigt. »Eine Bezeichnung, die ich noch nicht kannte.«

»Du bist aus dem Jenseitigen Land?«

»Was ist das Jenseitige Land?«

»Auf der anderen Seite des Grauen Gebirges.« Barbandor fühlte seine Kräfte zurückkehren. Es bedurfte bloß eines unachtsamen Moments des Scheusals, dann würde er den Angriff wagen. »Einen Ork wie dich habe ich noch nie gesehen.«

»Erbaue dich an meinem Anblick, solange du kannst.« Er musterte ihn. »Wie ist dein Name?«

»Kind des Schmieds.«

»Du willst mir nicht sagen, wie du heißt? Furcht vor einem Namensfluch?« Der Ork grinste. »Ich bin Borkon Gràc Hâl, und ich fürchte mich nicht. Weder vor einem Fluch noch vor dir.«

Erstaunt nahm Barbandor zur Kenntnis, wie zivilisiert die Unterhaltung zwischen der Bestie und ihm verlief, im Gegensatz zu seinem letzten Zusammentreffen mit einem von ihnen.

Ein lauter Ruf erklang aus der größeren Höhle, und Borkon wandte den Kopf zur Seite. Der Mund öffnete sich zu einer Erwiderung, während er sich aufrichtete.

Meine Gelegenheit! Barbandor riss die Kampfaxt mit beiden Händen nach oben aus der Halterung und nutzte seine hochschnellende Schulter als verstärkenden Krafthebel. Die Schneide pfiff durch die Luft und traf den stehenden Ork schwungvoll mitten in die Brust, schnitt sich durch die dicken Muskeln. Knackend brach Gebein unter Haut.

Borkon machte beim Einschlag einen Schritt nach hinten, der Kopf zuckte herum, und der wütende Blick aus den wässrig grünen Augen traf Barbandor. Dabei legte sich seine Rechte um den ziselierten Axtkopf, den er sich mit einem Ruck aus dem Körper zog. Blauschwarzes Blut rann aus dem Schnitt, der sich sogleich schloss. Knisternd verwuchsen die Knochen und nahmen ihre ursprüngliche Position ein.

Barbandor zerrte am Griff, aber der Gegner hielt seine Waffe fest wie eine eiserne Statue. »Was bei Vraccas bist du?«, keuchte er. Ist er ein Untoter? Kehrt der Fluch des Toten Landes mit einem neuen Dämon zu uns zurück?

»Ein Ork. Kein gewöhnlicher, aber ein Ork.« Borkon ließ die Kampfaxt plötzlich los, und der Zwerg wäre beinahe hintenübergestürzt. »Versuchst du es noch einmal –«

»Erspare mir Drohungen.« Barbandor hob die Waffe, an deren Klinge das düstere Blut des Gegners haftete, mit pochendem Herzen. »Ich bin ein Sohn des Schmieds. Es liegt in meiner Natur, Scheusale wie dich zu vernichten!«

Ein grauhäutiger Ork erschien und stieß die durchnässte Gyndala auf den Felsboden. Sie blutete aus zwei kleineren Wunden an Hals und Schulter, stemmte den Oberkörper mit einem Keuchen auf. »Entschuldige, Barbandor«, sagte sie unter Schmerzen. »Aber ich musste dir einfach folgen. Ich ahnte, dass du –«

»Schweigt. Beide«, befahl Borkon und wechselte einige Worte mit seinem Artgenossen in einer kehligen, harten Sprache.

»Gyndala, bei Vraccas!«, flüsterte Barbandor besorgt. »Sieh, in welche Lage du dich gebracht hast.«

»Ich wollte dich nicht alleine gegen die Schweineschnauzen ziehen lassen. Ich –«

Borkon versetzte der Zwergin einen Tritt in den Rücken, sodass sie nach vorne geschleudert wurde und mit der Stirn gegen den Untergrund prallte. Ohnmächtig sackte sie zusammen.

»Du hast Glück, Unterirdischer. Dank ihr wirst du leben.«

Der Grauhäutige packte in die nassen geflochtenen Haare der Bewusstlosen und überstreckte den Hals, bis der Nacken krachend brach.

Nein! Es ging so rasch, dass Barbandor nicht eingreifen konnte. Als er mit einem wütenden Schrei nach vorne sprang, um Gyndalas Tod zu rächen, wuchs Borkon vor ihm empor. Mit einer Hand hob er den Zwerg an der Kehle hoch, die andere packte die Axt, um den Schlag abzufangen.

Währenddessen trennte der Grauhäutige den Kopf der Zwergin mit seinem Dolch ab, das dunkelrote Blut plätscherte auf den Boden und mischte sich mit Wasser, wurde heller. Danach nahm er sich den rechten Schuh der Toten und schnitt von Barbandor eine dunkle Bartsträhne samt weißgoldener Zierspange ab.

Mit dem tropfenden Schädel, dem Stiefel und dem Gesichtshaar in der Hand verschwand er aus der Höhle, während der andere graue Ork erschien und den Körper der Zwergin am Gürtel des hellen Wollkleids aufhob und ihn wie eine Tasche trug. Arme und Beine hingen herab, aus dem Halsstumpf tropfte Blut.

»Was tut ihr da?«, presste Barbandor entsetzt heraus.

»Den Schädel deiner Freundin und deine Strähne werden die Unterirdischen in Kleinfluxwasser finden. Die passenden Spuren sind mit dem Stiefel rasch gelegt, und was geschah, das ist leicht zusammengereimt: Die gierigen Menschen haben euch umgebracht, weil sie ihre Beute nicht herausgeben wollten«, erklärte Borkon ruhig und entwand ihm die Axt. »Niemand wird auf den Gedanken kommen, euch an diesem Ort zu suchen. Hinter den Smaragdfällen. Und falls doch, ist der Sims verschwunden.« Er hob die eiserne verzierte Waffe, ohne den Zwerg zu senken; sein Arm zitterte nicht einmal unter der andauernden Belastung. Mit der verschmierten Schneide pochte er gegen Barbandors Stirn und malte einen Strich darauf. »Du wirst mein Gast sein. Das delikate Festmahl zu deinen Ehren bringen wir uns gleich selbst mit.«

Der grauhäutige Ork lachte und schüttelte Gyndalas kopflose Leiche, als würde sie leben und zappeln.

Im stählernen Zangengriff gefangen, ging Barbandor die Luft aus, er wurde schwächer.

»Du wirst meine Fragen beantworten«, klang Borkons Stimme wie aus weiter Ferne. »Ich habe reichlich davon an dich.«

Noch bevor er in die Ohnmacht dämmerte, ging Barbandor mit Entsetzen auf, dass der Ork soeben auf Zwergisch zu ihm gesprochen hatte.

Uraltem Zwergisch.

* * *
Das Geborgene Land, Braunes Gebirge, Brigantia, 1023 n.B. (7514. Sonnenzyklus nach alter Zeitrechnung), Herbst

Doria Rodana von Psalí saß am Tisch neben ihrer Aprendisa Chòldunja und betrachtete den dunkelhaarigen Brigantiner gegenüber, auf dessen maßgeschneiderten sandfarbenen Gewand, das mit Machart und Stehkragen an albische Mode erinnerte, das Abzeichen eines Zabitay prangte. Was hat er mit uns vor? Sie schätzte ihn auf ihr eigenes Alter, Mitte zwanzig. Die längeren Bartstoppeln machten ihn etwas älter, und auf der Stirn trug er eine auffällige Schmucknarbe, die dem Wappen der Berengarts nachempfunden war.

Vor ihnen breiteten sich einfache Speisen und Getränke aus, es mangelte ihnen an nichts. Bis auf eigene Freiheit. Mit ihrer Ankunft in der Festung hatte der Zabitay sie in diese geräumige Unterkunft aus zwei Zimmern gebracht und sie angewiesen, unter keinen Umständen herauszukommen. Er wusste sehr genau, wen er nach der Schlacht nach Brigantia geführt hatte – und dass sie im Geborgenen Land gesucht wurden. Ob er dies zum Schutz der Frauen oder seinem eigenen Vorteil tat, darüber war sich Rodana noch nicht schlüssig.

Es gab frische, schlichte Kleidung, die halbwegs passte, was bei der zierlichen Statur der Puppenspielerin ungewöhnlich war; auch eine Gelegenheit zum Waschen fand sich. Wären die Umstände etwas anders, hätten sich Rodana und Chòldunja durchaus in ihrer gemütlich eingerichteten Unterkunft wohlfühlen können. Aber die Gefahren für ihre Leben waren längst nicht gebannt.

Der Mann las einige kleine Zettel, die er mitgebracht hatte, und seine Miene spiegelte in erster Linie Besorgnis. Die Nachrichten schienen nicht gut.

Chòldunja goss erst ihrer Meisterin, danach sich selbst vom Tee ein. Dampfend schoss das goldgelbe Getränk in die flachen Schalen, der Duft von Kräutern breitete sich aus. Sie hatte die langen, braun und schwarz gefärbten Haare am Hinterkopf zu einer Schnecke zusammengerollt und festgemacht, sodass nicht auffiel, dass sie üblicherweise bis zum Steiß der Sechzehnjährigen reichten.

Rodana räusperte sich. »Wie geht es nun weiter, Zabitay?«

»Mein Bruder gab mir den Auftrag, dich und deine Schülerin zu töten, sobald ich euch entdecke«, antwortete er nebenbei und blätterte noch einmal durch die Aufzeichnungen, bevor er aufsah. Seine Stimme war krächzend, ein heiseres Flüstern mit einer Ahnung dessen, wie gut sie einst geklungen haben musste. Die Narbe an seinem Hals verriet, dass die Veränderung von einer Verletzung herrührte. »Ich bin Klaey Berengart, jüngster Bruder des Omuthan und Zabitay der fliegenden Reiterei.« Er legte die Zettel auf den Tisch und deutete auf seine leere Schale, die Chòldunja sogleich füllte. »Ihr habt mein Leben gerettet. Ich bewahrte eures, indem ich euch Zuflucht in Brigantia gewährte. Denn das Geborgene Land will euch tot sehen.« Er hob das Gefäß und nahm einen Schluck. »Das sagen sämtliche unserer Spione.«

»Ihr habt eigens die Spione nach uns horchen lassen?«, fragte Rodana spöttisch. Sie wischte eine kinnlange, hellblonde Strähne hinters Ohr, wodurch ihre Wangenknochen sowie ihre dunklen Lippen stärker zur Geltung kamen. »Das ist zu viel der Ehre.«

Aber Klaey blieb ernst. »Indem ich euch beide verschone, rettete ich euch zum zweiten Mal das Leben. Und bringe mein eigenes in Gefahr, weil ich gegen den Befehl des Omuthan verstoße«, führte er aus. »Damit steht ihr doppelt in meiner Schuld.«

»Meinen Dank für Euer Vorrechnen.« Rodana hatte gleich geahnt, dass es nicht bei der Gastfreundschaft unter Ausgestoßenen bleiben würde. »Was erwartet Ihr im Gegenzug von uns?«

Klaeys hellblaue Augen richteten sich auf Chòldunja. »Mein Bruder beging einen Fehler, als er deinen Tod anordnete. Ich werde ihn davon überzeugen, diesen Befehl zurückzunehmen. Du musst uns bei der anstehenden Belagerung beistehen.« Ein schwaches Lächeln entstand. »Du verteidigst damit auch dein eigenes Leben, Ragana. Sobald du einen Fuß außerhalb der Mauern auf den Boden setzt, wird man dich ergreifen und hinrichten.« Er deutete auf die Tür. »Dies wird dir auch in Brigantia zustoßen, bis ich meinen Bruder überzeugen kann.«

»Sprecht Ihr von dem Bruder, den Ihr mit flüssigem Feuer in Brand stecktet?« Rodana hatte ihre Zweifel, dass der Stern des »Zabitay der fliegenden Reiterei«, wie er sich selbst nannte, noch hell und mächtig in der Familienhierarchie der Berengarts leuchtete.

»Das Werk eines Magus, den ich sträflich unterschätzte«, gab Klaey zurück, und seine Miene verdüsterte sich. »Aber ich werde mich revanchieren. Mit deiner Hilfe, Ragana.«

»Aber ich –«, setzte Chòldunja an.

»Wir werden uns gerne beteiligen«, unterbrach Rodana ihre Aprendisa, bevor sie sich um Kopf und Kragen redete. Buchstäblich. »Ihr habt gesehen, was sie vermag. Denkt an den Feuerball, mit dem sie die Reiterei und die Orks vernichtete.«

»Und genau darauf setze ich. Obwohl ich zuerst dachte … einerlei. Nun weiß ich, dass es die Kraft der Ragana war.« Klaey stellte die Teeschale ab. »Wir haben es bei der Belagerung mit diesem Famulus zu tun, der sich als Magus bezeichnet. Mit etlichen Artefakten, die aus der Kammer der Wunder herbeigeschafft werden. Und einem Unterirdischen, der sich auf Magie versteht.«

»Was?«, entfuhr es Chòldunja, und sie lachte ungläubig auf. Rodana kam es gespielt vor. »Nein, das kann nicht sein. Es gibt Geschichten, dass früher –«

»Ich sah es. Und erlebte es. Am eigenen Leib. Er ist der Grund, weswegen meine Feuertöpfe das Ziel verfehlten und das Zelt meines Bruders in Brand setzten.« Klaeys rechte Hand schloss sich zur Faust, die Knöchel wurden weiß. »Ich prägte mir sein Gesicht ein. Ganz genau. Er gehörte zu jener Gruppe um Goldhand, die wir vor der Schlacht zu Verhandlungen trafen.« Hüstelnd reinigte er die Kehle. »Ich spreche mit dem Omuthan, und danach könnt ihr euch frei in Brigantia bewegen.« Er erhob sich und ging zur Tür. »Ihr verlasst die Unterkunft niemals. Nicht bevor ihr eine Nachricht von mir bekamt.« Gleich darauf war er verschwunden.

Kaum hatte sich der Ausgang hinter dem Zabitay geschlossen, sackte Chòldunja in sich zusammen. »Meisterin, wie konntet Ihr nur?«

»Lügen, um unser Leben zu retten?«

»Nein! Ihn im Glauben lassen, dass ich meine Kräfte noch besitze!«

»Welchen Wert haben wir für ihn, wenn er erfährt, dass dein Moordiamant am Hals des Magus baumelt und du ohne den Stein nichts ausrichten kannst?« Rodana legte einen Arm um die Schulter ihrer niedergeschlagenen Aprendisa. »Oder dass wir es nicht waren, welche die gauragonische Reiterei mit der Explosion vernichteten?«

»Wenig Wert«, antwortete Chòldunja kleinlaut.

»So viel Wert eine Frau für einen Mann haben kann, die er nicht als ebenbürtig betrachtet. Und als Mätressen braucht er uns nicht. Er hat genug, die ihm aufgrund seines Namens zu Willen sein mögen. Und wir werden in Brigantia gesucht. All das erfordert Lügen. Unendlich viele Lügen, wenn es sein muss.« Rodana gab der jungen Frau einen Kuss auf den Mittelscheitel. »In diesen Räumen sind wir vorerst in Sicherheit.«

»Bis Klaey oder der Omuthan eine Kostprobe meiner Kunst sehen will.« Chòldunja vergrub das Gesicht in ihren Fingern. »Oh, ihr Geister des Sumpfes, steht mir bei!«

Rodana seufzte und umarmte ihre Aprendisa, die vollends in Tränen ausbrach. »Das werden sie.« Beruhigend streichelte sie ihren Schopf und den Rücken. Auch wenn es keinen Sumpf weit und breit gibt.

Nach einer Weile fing sich die junge Frau und wischte sich die salzige Feuchtigkeit von den erhitzten Wangen. »Danke, Meisterin.« Schniefend zog sie die Nase hoch und trank vom Tee. »Es ist ein Elend. Da will ich keine Ragana mehr sein und laufe von zu Hause fort, aber der Diamant bringt mich … uns in größte Not. Es tut mir so leid, Meisterin. Ich hätte Euch …«

»Das ist nun einmal so. Kommen wir mit den Umständen zurecht. Die Vergangenheit können nur Götter ungeschehen machen.« Rodana atmete tief durch. »Was bedeutet der Verlust des Moordiamanten für dich?«

»Er ist an mich gebunden, er gab mir Kraft und ich ihm. Ohne ihn verliere ich jeden Umlauf mehr von meiner Energie. Ich werde schwach und werde kaum viel tun können. Das mag einen Zyklus anhalten.« Chòldunjas Gesicht verlor an Farbe. »Erlange ich ihn nicht zurück, kann es sogar sein, dass ich … sterben muss.«

»Chòldunja!«, entfuhr es Rodana erschrocken.

»Es ist nicht gesagt, dass es so kommt. Aber es kann geschehen.« Die juvenile Aprendisa schlürfte vom heißen Getränk. »Entweder das, oder ich bekomme ihn zurück.« Sie zögerte. »Oder finde einen adäquaten Ersatz, den ich mit mir verbinde.«

»Oh, dann gibt es Hoffnung! Was bräuchtest du dafür, abgesehen vom Stein selbst?« Aus Rodanas Angst und Sorge wurden Zuversicht und Trotz. »Vergiss nicht: Wir sind im Reich der Vierten. An welch anderem Ort sollte sich ein geeigneter Edelstein für dich finden? Oder muss es unbedingt ein Moordiamant sein?«

»Nein. Es würde auch ein Diamant von perfekter Lupenreinheit tun. Aber …« Chòldunja senkte den Kopf, und ihre Stimme wurde leiser. »Das Ritual, wie man einen neuen Stein bindet, ist … grausam. Für mich. Und für … das Opfer.«

Rodana verstand. »Eine Ragana muss einen Säugling verspeisen«, raunte sie erbleichend. Der Lichtschimmer, der Zwickmühle entkommen zu können, erlosch abrupt.

»Und die Seele somit einverleiben, ja. In mich und den Stein. Dadurch wird eine neue Bindung erschaffen.« Chòldunja war erneut den Tränen nahe, die Lippen bebten. »Ich floh, damit ich all das nicht tun muss, Meisterin! Und jetzt könnte es geschehen, dass ich genau das machen muss, um uns zu retten.« Hilflos blickte sie Rodana an. »Aber selbst dann sind meine Kräfte … nichtssagend. Ich stehe auf der untersten Stufe der Ausbildung. Der Omuthan wird mich hinrichten lassen, wenn ich nicht im Kampf gegen die Belagerer tauge.«

Rodana fasste ihre Hand und drückte sie. »Wir denken uns etwas aus. Kein Neugeborenes wird sterben müssen. Und wir werden es auch nicht.«

»Ihr klingt sehr zuversichtlich.«

»Das bin ich auch.« Aus welchem Grund, das wusste Rodana selbst nicht. Ihre Lage war, bei allem Lächeln und vorgetäuschter Hoffnung, schlicht aussichtslos.

* * *

Selten war Klaey dermaßen nervös gewesen. Bereits dreimal hatte er sein Glücksamulett geküsst, um Zuversicht zu erlangen.

Sein Weg, den er mit langen Schritten nahm, führte ihn zu den Gemächern des Omuthan, der von Brigantias besten Heilenden versorgt und umsorgt wurde. Mehrmals hatte man Klaey den Besuch des Schwerverletzten verweigert, um dessen Aufregung gering zu halten. In der jetzigen Verfassung sei jeder schnelle Herzschlag ungut.

Damit lasse ich mich nicht mehr abspeisen. Klaey musste seinem ältesten Bruder unbedingt persönlich schildern, wie es zu dem Unglück hoch über dem Schlachtfeld gekommen war, und ihm erklären, dass er daran keine Schuld trug. Ein zaubernder Zwerg. Wer hätte das gedacht? Er war sich sicher, in dieser Missgeburt jenen magischen Angreifer ausgemacht zu haben, der ihn mit einem Luftschlag aus dem Sattel geholt hatte. Damit hatte sein Elend begonnen, an dessen Ende der Verlust des Gefechts und das Verschwinden von Todesschwinge standen.

Wie Klaey seinen Bruder einschätzte, würde Orweyn es nicht bei mahnenden Worten belassen. Das Zelt, etliche Zabitay und einige ihrer Geschwister waren nach den Treffern mit den Feuertöpfen in Flammen aufgegangen. Früher oder später stand seine Hinrichtung an.

Das werde ich verhindern. Klaey bog um die Ecke und schwenkte in den Korridor, der zu den Schlafzimmern des Herrschers führte. Die Wände trugen Reste des ursprünglichen zwergischen Wandschmucks, der nach dem Geschmack der Familie Berengart über die Dekaden verändert worden war. Vor allem geometrische und florale Muster hatten Einzug gehalten. Mir gleich, ob es ihn aufregt. Er muss es hören, bevor er meinen Tod anordnet, ohne die Wahrheit zu kennen.

Als er seinen Bruder Kawutan in vollem brigantinischem Militärornat und dessen Gattin Ilenis in einem Figur umschmeichelnden blassroten Kleid vor der Tür im Gespräch mit der Dienerschaft erblickte, wurden seine Schritte langsamer. Was hat das zu bedeuten?

Kawutan war mit annähernd achtunddreißig der viertälteste Bruder und verstand sich mit Orweyn äußerst gut. Standen sie nebeneinander, konnte man sie für zeitversetzte Zwillinge halten. Die eingebrannte Familienschmucknarbe auf seiner Stirn wurde von etlichen Falten durchbrochen.

»Klaey! Wie schön, dich zu sehen«, grüßte ihn Ilenis von Weitem und machte damit Bedienstete und ihren Gatten gleichermaßen auf ihn aufmerksam. Die Brünette sah hinreißend aus, ihr Lächeln war ein Traum, den sie an ihre vier Töchter weitergegeben hatte.

Die leise Unterhaltung endete, man wandte sich ihm zu.

»Schön, euch beide anzutreffen. Wollt ihr auch zu Orweyn?« Klaey ließ sich seine Beunruhigung nicht anmerken. Ihm entging nicht, dass sein Bruder die Linke rasch auf den Rücken legte, als verberge er etwas darin. »Geht es ihm besser? Was sagten die Heiler?«

»Wir waren bereits bei ihm. Die Brandwunden sind schwer zu behandeln. Die Haut ist teilweise mit Kleidung und Rüstung verbacken. Sie überlegen, wie sie ihm helfen können, ohne Gliedmaßen zu amputieren«, antwortete Kawutan. Die dunkelgrüne Uniform mit den Orden, Ehrenabzeichen und Schmuckschnüren stand ihm ausgezeichnet, an der linken Seite baumelte ein Säbel.

Aus welchem Grund trägt er sie? Auch Ilenis wirkte, als wolle sie zu einer bedeutenden Feier oder käme eben von einer. »Aber er ist bei Bewusstsein?«

»Das ist er. Und gibt schon wieder Anweisungen.« Das abrupt entstehende Lächeln auf Kawutans glatt rasiertem Gesicht war so falsch wie Katzengold. Nett, aber wertlos.

»Wie schön. Dann will ich ihn besuchen.«

Aber Kawutan legte die rechte Hand gegen Klaeys Brust. »Einige seiner Anweisungen betrafen dich, kleiner Bruder.«

»Aha?«

»Er will dich nicht sehen.«

Klaey schnalzte ungehalten mit der Zunge. Das hatte ich befürchtet. »Mich trifft keine Schuld an dem, was geschah. Ein Magus attackierte mich und brachte Todesschwinge vom Kurs ab. Die Schnüre rissen und –«

»Wie auch immer«, fiel ihm Kawutan ins Wort. »Er sagte, dass du dich herausreden würdest und dass man dir nicht glauben soll. Es sei dein Fehler gewesen. Du bist der Mörder von Finsal, Ulenia und Dovulin, du hast unsere Brüder und Schwestern verbrannt. Und etliche Zabitays.« Langsam nahm er die Linke hinter dem Rücken vor – und wies Klaey triumphierend den Siegelring des Omuthan. »Orweyn machte mich als Ältesten übergangsweise zum Herrscher über Brigantia. Und ich finde es richtig, dich verhaften zu lassen. Du landest im Kerker, bis Orweyn zu Kräften gelangt, um über dich zu entscheiden. Ich maße mir nicht an, dich zu richten.«

Du mieser Emporkömmling! Ohne den Tod der Geschwister wäre Kawutan niemals infrage gekommen, das Amt des Omuthan übergangsweise zu übernehmen. Orweyn sah ihn als jemanden für die zweite Reihe. Das weiß jeder. Aber es änderte nichts. Wer den Siegelring trug, besaß die Macht.

»Es war der Magus!«

»Du hast Zeugen?«

»Wie soll das jemand inmitten einer Schlacht gesehen haben?«

»Dann bleibt es dabei.« Kawutan musterte ihn. »Du kommst in den Kerker. Aber es wird dir an nichts mangeln.«

Ilenis hakte sich geschmeidig bei ihrem Gatten ein. »Bedenke, welches Signal du damit gibst«, warf sie besonnen ein. »Die Dynastie der Berengarts muss einig sein. Eins sein, vor allem nach dem Vorfall während der Schlacht. Ich finde Klaeys Erklärung schlüssig und nachvollziehbar für alle.« Sie sah zwischen den ungleichen Brüdern hin und her. »Lasst sie verbreiten. Gebt den Belagerern die Schuld an der Tragödie, und unsere Truppen werden mit noch mehr Leidenschaft fechten.«

Kawutan gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Dein Rat ist sehr gut, liebste Gattin.«

»Wie so oft«, stimmte sie mit einem Lächeln zu und streichelte ihm einmal über den Oberarm und die Brust. »Alles Weitere mag der Omuthan entscheiden, sobald er genesen ist. Aber bis dahin darf nichts auf ein Zerwürfnis hindeuten. Stärkt die Position der Familie!«

»Ich gebe dir recht«, sagte Klaey schnell. Ilenis’ Beistand war ihm sehr willkommen. »Behalten wir meine Version bei?«

»Einverstanden.« Kawutan lächelte seine Gemahlin an. »Wir schieben diesem Magus die Schuld in die Schuhe.«

»Er war es auch!«

»Das mag sein.« Sein Bruder deutete auf den Eingang zum Schlafgemach. »Du darfst Orweyn trotzdem nicht sehen. Diese Anweisung wirst du respektieren. Oder ich lasse dich unter einem anderen Vorwand wegsperren.«

»Aber –«

»Hast du mich verstanden?« Kawutan hob die Hand mit dem Siegelring, als sei sie eine Peitsche, mit der man wilde Tiere in einem Käfig zurücktrieb. »Das sage ich nicht als dein Bruder. Sondern als dein Omuthan.«

Vorübergehender Omuthan. Klaey deutete eine Verbeugung an.

Sein Bruder wandte sich zum Gehen.

»Es würde mich freuen, wenn wir bei Gelegenheit eine schöne Kartenpartie spielen«, sprach Ilenis freundlich und umarmte Klaey. Ihre Finger wanderten dabei abwärts bis an seine Hüfte und zogen ihn kurz gegen ihre. Die Wärme ihres Körpers drang durch den Stoff und weckte süße Erinnerungen. »Das haben wir doch früher so oft getan.«

»Ja, ich weiß. Das holen wir nach.« Klaey hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und ließ sie los. »Danke für deinen Rat.«

Den Blick, den Ilenis ihm im Davongehen über die Schulter zuwarf, wusste er zu deuten. Sein Bruder hatte keine Ahnung, wie diese Partien verliefen. Und dass es nur Gewinner gab.

Klaey beglückwünschte sich dazu, sich mit seiner Schwägerin dermaßen gut zu verstehen. Sie hatte ihn nicht ganz uneigennützig vor der Zelle bewahrt. Er würde sich erkenntlich zeigen dürfen. Ausgiebig.

Plötzlich blieb Kawutan stehen. »Mir kam eben in den Sinn, dass wir unseren Leuten zeigen sollten: Ein Fehler schützt nicht vor Strafe. Denn es wäre deine Pflicht gewesen, die fallenden Feuertöpfe in irgendeiner Weise abzufangen. Oder dein Leben für das des Omuthan zu geben.«

Am liebsten hätte Klaey seinen Bruder angeschrien und ihm einen Fausthieb verpasst, um ihm die Nase zu brechen. Aber er zwang sich zu heuchelnder Einsicht. »Selbstverständlich. Wie soll diese Strafe aussehen?«

Kawutan drehte den Kopf, während Ilenis sich erneut unterhakte. »Ist dein Flugmahr aufgetaucht?«

»Nein.«

»Dann bist du hiermit ein einfacher Banneroffiziant. So lange, bis du etwas zum Fliegen findest.« Kawutan machte ein zufriedenes Gesicht. »Kein Flugmahr, kein Rang. So einfach ist das. Eine Degradierung auf Zeit.« Er hob die Hand zum Gruß und ließ den Herrscherring dabei im Schein der Lampen aufblitzen. »Ich wünsche dir viel Glück bei der Suche nach einem neuen Flugmahr. Oder was immer du sonst gerne reiten möchtest. Versuche es doch mit einem kleinen Drachen. Oder binde einem Pferd Taubenschwingen an.« Laut lachend verschwand er mit Ilenis an seiner Seite in den Quergang.

»Dummes Schwein.« Klaey pflückte die Abzeichen des Zabitay von der Schulter und reichte sie einem Bediensteten, der so tat, als habe er nichts mitbekommen. Nun würde er Ilenis noch lieber seine Verbundenheit zeigen. Warte nur, wenn Orweyn wieder Omuthan ist …!

Zunächst kehrte Klaey nicht in sein Quartier zurück. Er musste nachdenken, und das gelang ihm beim Umherlaufen recht gut.

Kawutan war zu dumm, um den Wert der Ragana zu erfassen, und er könnte auf ihrer Hinrichtung bestehen. Andererseits wusste er vielleicht nichts von Orweyns Befehl. Daher beschloss Klaey, weder Kawutan noch Ilenis etwas von seinen beiden unfreiwilligen Gästen zu sagen. So konnte er sich erst einmal von der Macht der jungen Moorhexe überzeugen, welche die gauragonischen Lanzenreiter spielend leicht mit einem grellen Feuerball zerfetzt hatte, wie eine Drachin.

Klaeys Bewegungen wurden langsamer. Was, wenn Chòldunja über mich eingeschleust wurde? Um Brigantia von innen heraus zu schädigen? Dieser Gedanke gefiel ihm überhaupt nicht.

Während er die Gänge durchstreifte, sinnierte er. Er musste sich auf der Stelle etwas ausdenken, um die Ragana unter Kontrolle zu halten. Mit derartigen Mächten wäre es ihr ein Leichtes, Tod und Verderben in die Festung zu bringen. Ein Gift. Irgendetwas, was sie gefügig macht. Je länger Klaey grübelte, desto merkwürdiger erschien ihm das Verhalten von Chòldunja und Rodana. Warum folgten sie mir, anstatt mit dem Einsatz von Magie zu flüchten? Waren es am Zweistromhügel zu viele Truppen für die Hexenkunst der Ragana?

Unversehens fand er sich in dem riesigen Raum wieder, in dem Orweyn für gewöhnlich mit den Zabitays und Zabitayas seine Besprechungen abhielt. Karten hingen an den Wänden, ein Modell der Festung und des Tals stand auf dem Tisch. Die Zeltstätten, die Position der Belagerungsmaschinen, jede Kleinigkeit war aufgebaut worden, als sei sie ein sehr detailgetreues Spielzeug für akribische Kinder.

Kawutan ist dem Amt nicht gewachsen. Die Angreifer werden sich eine List ausdenken, die er nicht kommen sieht. Sie haben zu viele gute Leute. Und das Wissen der Zwerge. Klaey betrachtete die Zeichnungen und tippte den Wurfarm eines kleinen Warwolfs an, der daraufhin schwang und ein Steinchen gegen die Mauer schleuderte. Klickernd traf das Miniaturgeschoss den Wall, prallte ab und hüpfte über den Tisch. Orweyn muss schnellstmöglich zurückkommen. Sonst gehen wir unter. Selbst die Ragana wird nicht genug bringen, fürchte ich.

»Ich bringe dir Grüße von Dsôn Khamateion«, sprach die Dunkelheit mit der melodischen leisen Stimme einer Frau. Das Licht der Leuchter und Lampen wurde schwach, als verspürte es Angst vor dem Klang.

Klaey zuckte erschrocken zusammen. Sogleich schmerzten seine Hals- und Bauchnarben, als erinnerten sie sich mit ihm. Sosehr er sich umblickte, er entdeckte niemanden in den dicht gewobenen Schatten.

»Du musst mit deinen Grüßen zu meinem Bruder Kawutan gehen«, erwiderte er krächzend. »Er ist Omuthan, bis Orweyn zu Kräften gekommen ist.«

»Ich bin nicht für eine Unterredung mit ihm gekommen. Sondern um dir einen Vorschlag zu machen«, raunte es aus der Finsternis.

»Zeig dich.«

»Mir ist nicht danach. Es geht um meine Worte, nicht meine Gestalt.« Die Albin verbarg sich in der Tintenschwärze. »Ich schlage dir im Namen des Ganyeios vor, dich zum Omuthan zu machen, Klaey Berengart. Nicht übergangsweise. Sondern für immer.«

Klaey wusste, wer zu ihm sprach: Irgendwo im Raum, geborgen von der erschaffenen Finsternis, verbarg sich Ascatoîa. »Wie sollte das wohl gelingen?«

»Indem eins zum anderen kommt. Ein Verwundeter stirbt. Ein Bruder erleidet einen Unfall. Eine Schwester kommt durch einen Pfeil auf dem Wehrgang ums Leben«, zählte die Albin mit milder Stimme auf. »Unglücke geschehen. Niemand wird dich verdächtigen. Du wirst nicht einmal in der Nähe sein.«

»Und was wäre der Lohn für die Taten?«

»Dass du als Omuthan einen Pakt mit dem Ganyeios eingehst und den Befehlen folgst, die er dir gibt. Mit seiner Weisheit, unserer Macht und den Kriegskünsten von Dsôn Khamateion wird sich Brigantia gegen die Belagerer stemmen und sie vernichten. Damit können wir uns gemeinsam das Geborgene Land nehmen.«

»Brigantia wäre lediglich der Verwalter für die Albae.«

»Nein. Wir lassen euch großzügig die Hälfte. Ihr bekommt den östlichen Teil, wir den westlichen.«

»Was ist mit den Drachen?«

»Sie werden keine Bedrohung sein. Unsere Schiffe sind im Binnenmeer angekommen und tragen Waffen, die jeden Drachen aus dem Himmel schießen.« Ascatoîa lachte leise. »Du musst dich nicht gleich entscheiden. Es ist nicht einfach, sich zum Letzten der Berengarts zu machen. Doch bedenke: Je länger du zögerst, desto eher könnten die Mauern fallen.«

»Und damit auch Dsôn Khamateion.«

»Ich denke nicht, dass die Unterirdischen und ihre Freunde unser Reich bezwingen könnten. Und wenn doch, suchen wir uns eine neue Bleibe. Aber Brigantia ist abgeschnitten. Es gibt keinen Rückzug. Ihr steht buchstäblich mit dem Rücken zur Felswand.« Die Albin sprach säuselnd und lockend. »Der Ganyeios macht dir dieses Angebot ein einziges Mal. In sieben Umläufen kehre ich zurück und hole mir deine Antwort.«

Klaey lauschte, ob er sich entfernende Schritte oder überhaupt irgendein Geräusch vernahm. »Und wenn ich mich früher entschließe?«

Stille.

»Ich sage Ja!«, rief er laut. »Hörst du mich? Ich sage Ja zu deinem Vorschlag!«

Doch um Klaey blieb es stumm.

* * *
Das Geborgene Land, Braunes Gebirge, Brigantia, 1023 n.B. (7514. Sonnenzyklus nach alter Zeitrechnung), Spätherbst

Goïmron trat vor das geräumige Besprechungszelt, das auf dem künstlich aufgeschütteten Hügel errichtet worden war. Er benötigte frische Luft und etwas weniger Wärme, die ermüdend auf seinen Verstand wirkte. Um Hosen, Wams und Hemd hatte er einen schützenden Mantel gelegt, auf den kurzen lockigen schwarzen Haaren saß eine Fellmütze.

Während im Innern die letzten Züge und Vorgehensweisen unter den Befehlshabenden aus verschiedenen Reichen des Geborgenen Landes sowie aller Zwergenstämme und Mostro disputiert wurden, blieb es im nächtlichen Feldlager ruhig. Weder Musik noch Gesänge erschallten. Vor dem ersten anstehenden Sturm auf die Festung sammelten die Kriegerinnen und Krieger Kräfte bei gutem Essen, einem Schluck Bier und mit langem Schlaf.

Hier und da loderten kleine Feuer zwischen den Unterkünften aus Holz und Leinwand, in einigen größeren Jurten brannte noch Licht. Doch die meisten Menschen, Zwerge, Elben und Meldrith befanden sich im Reich der Träume.

Ich wünsche ihnen, dass es nur schöne Träume sind. Goïmron sah zum Krähennest hinauf, wo die Wachen in schwindelerregender Höhe darauf achteten, was sich hinter den Mauern des Bollwerks tat, in dem sich die gegnerischen Truppen auf den Angriff vorbereiteten. Zwar spannten sie Planen und Tücher über etliche Höfe und Gassen, doch die Stoffe hatten sich vom andauernden Regen der letzten Umläufe vollgesogen und rissen, sodass es hier und da Einblicke gab. Die so gewonnenen Erkenntnisse sorgten bei keinem der Befehlshabenden für Freudensprünge. Brigantia war gewappnet und vorbereitet. Mit Leuten, Kreaturen, Waffen und den verstärkten Mauern der Festung, die im Laufe der letzten Zyklen an Dicke und Höhe zugelegt hatten.

Goïmron seufzte schwer. Irgendwo in all dem Aufgebot an Grausamkeiten, Tod und Verderben steckte Rodana. Zu gerne würde er mit ihr sprechen. Wissen, wie es ihr ergangen war, was sie gerade tat. Aber zwischen ihr und ihm lagen Hunderte Schritte Distanz, gespickt mit fürchterlichen Gegnern und schrecklichen Missverständnissen. Ich sollte hinauf auf die Plattform und mir den Verstand vom Wind frei pusten lassen.

Langsame Schritte näherten sich in einem Rücken, der Schlamm schmatzte verräterisch. Metall rieb auf Metall. »Dieser alte Narr«, erklang Gatas ungehaltene Stimme. »Er hätte den Pakt mit dem Schwarzauge niemals ablehnen dürfen.« Dann stand die blonde Zwergin neben Goïmron und warf sich den weißen Wolfsfellmantel, den einst ihr Vater getragen hatte, über die dunkle Rüstung. Die Trauerarmbinde hatte sie längst abgelegt. »Die Schweineschnauzen hätten sich anstelle von uns über die Zinnen schwingen und Pfeile einfangen können.«

Goïmron wusste schon nicht mehr, wie oft er ihre Meinung zu hören bekommen hatte. Die Königin der Dritten ahnte nicht, dass die Entscheidung nicht von Tungdil Goldhand gekommen war. Er, Goïmron, hatte Mòndarcais Angebot verworfen, ein Bündnis einzugehen. Ich ganz alleine.

Dass Goldhand diese Entscheidung weder bestätigt noch verworfen hatte, nachdem dessen Sinne zurückgekehrt waren, beruhigte ihn nicht im Mindesten. Und Gatas Monieren verstärkte seinen vagen Eindruck, einen Fehler begangen zu haben.

»Wer weiß?«, sagte er dahin und hoffte, dass sie nicht weiter darauf einging.

»Nun, wir werden es nie wissen. Dass dieses Schwarzauge nochmals erscheint, um seine Aufwartung samt Offerte zu machen, wage ich zu bezweifeln.« Gata richtete den Blick auf die mächtigen Mauern, zwischen deren Zinnen viele Feuer brannten. Hunderte Dämonen schienen zu ihnen herüberzustarren und zu lauern, um sie in der Nacht anzugreifen. »Bei Lorimbur! Hätte mir einer gesagt, dass ich einmal ein Werk der Vierten nicht belächle und als elbenhaften Kunstkram abtue, ich bezichtigte ihn der Lüge.«

Goïmron hüstelte. Die Herbstnacht machte seinen Atem zu hellem Dampf, im glatt rasierten Gesicht spürte er die klamme Kälte deutlich; die dunklen Koteletten wärmten nicht.

»Oh, nein! Ich meinte es anders«, schob sie rasch hinterher.

»Ich weiß schon, wie und was du meintest.« Er sah zu den insgesamt sechs beleuchteten Warwölfen rings vor der Festung, die ihre Steine bei Sternen- und Sonnenschein unablässig gegen den Wall schleuderten. Die Bedienmannschaften wurden regelmäßig ausgetauscht, damit es keine Unterbrechung im Beschuss gab. Aber die erhoffte Bresche hatte sich nicht aufgetan, ganz gleich, welche Stelle von den Schützen ausgesucht worden war. Es gab einige Abplatzungen, aber die federnde Schicht im Mauerwerk absorbierte die Einschläge; außer zwei Türmchen und den meisten Zierblenden war nichts zerstört. Das Bollwerk blieb standhaft, wie seine Erbauer es vorgesehen hatten. »Es bleibt beim Sturm auf die Wehrgänge?«

Gata nickte grimmig. »Da wir nicht durch die Mauern dringen, geht darüber der einzige Weg.«

»Neues von den Mineuren?«

»Die Vierten … deine Ahnen haben ganze Arbeit geleistet und Fallenstollen angelegt, die uns bereits vier Trupps kosteten. Und natürlich Alarm in der Festung auslösten. Mit etwas Zeit könnten sie zwar einen Zugang schaffen« – Gata zeigte auf das riesige, eckige Besprechungszelt –, »doch sie alle sind der Meinung, dass wir uns Geduld nicht leisten können. Nicht nach den zwei Herbststürmen und bei der Macht der Ragana. Sie ist stärker als erwartet. Das macht den Famulus nervös.«

Goïmron erinnerte sich an die heftigen Unwetter, die binnen weniger Umläufe durch die Zeltstadt gefegt waren und gehörige Verwüstung angerichtet hatten. »Ich denke nicht, dass dies das Werk der Ragana war.« Die Böen hatten beinahe einen der Warwölfe umgefegt, kleine Katapulte und Schleudern mit sich gerissen und an den Mauern zerschmettert. Behausungen mussten neu geschaffen, Verletzte versorgt und nicht wenige Tote im kargen Hinterland bestattet werden. »Sie besitzt ihren Diamanten nicht mehr und ist kaum eine Gefahr.«

»Gewiss doch! Natürlichen Ursprungs waren diese Sturmwinde nicht.«

»Sie ist eine Moorhexe. Sieht es für dich ringsum nach Sumpf aus?«

»Schau genauer hin: Nach dem Regen war das Lager ein einziger Morast. Dadurch erlangte Chòldunja ihre wahre Stärke. Für den verlorenen Diamanten kann sie Ersatz gefunden haben. Wer weiß, wie viele Säuglinge sie schon gefressen hat?«

»Sie ist selbst noch ein halbes Kind. Niemals besitzt sie eine solche Macht, den Elementen zu befehlen.« Goïmron gab es auf, Gata vom Gegenteil überzeugen zu wollen. Mostros unentwegte Brandreden gegen die Aprendisa hatten ihre Wirkung entfaltet und ließen sich nicht mehr umkehren. Daher wechselte er den Inhalt der Unterredung. »Wo bleibt Vanéra? Wollte sie nicht erscheinen?«

»Die ehrenwerte Maga sandte zwei Fuhren Artefakte aus ihrer Kammer der Wunder, zusammen mit einer Liste von Ausreden, weswegen sie in Rhuta bleiben müsse.« Gata hörte sich verbittert an. »Wir sind weiterhin auf den Möchtegernmagus angewiesen. Und den magischen Plunder, von dem man nicht weiß, was er vollbringt.«

»Das weiß niemand so recht.«

»Was es nicht besser macht, oder?« Gata sah zum Warwolf am äußersten rechten Rand der Belagerung. »Gut, dass er wenigstens wieder schießt. Die Zimmerleute schufteten acht Umläufe, um die Schäden zu reparieren. Insofern stimme ich Mostro zu: Je länger wir warten, desto größer wird die Macht der Ragana. Der Winter naht obendrein früher als gewöhnlich. Es gibt keinerlei Schutz vor der eisigen Kälte im Nordosten. Alles um uns herum wird zehn Schritt tief im Schnee versinken, und mit Verwehungen türmen sich die Lasten bis zu zwanzig. Das werden unsere Truppen nicht aushalten.«

»Du denkst, der morgige Angriff wird gelingen?« Gäbe es wirklich so viel Schnee, wie die Zwergin vorhersagte, fände es Goïmron einleuchtender, bis zum Einbruch des Winters zu warten. Um Rampen aus Eis und Schnee zu errichten. Aber das wird keiner tun wollen.

»Das ist keine Frage des Denkens. Sondern der Planung. Die Aufstellungen sind gemacht, die Artefakte an die Truppen aufgeteilt.«

»Ich fragte aber dich, was du darüber denkst.« Goïmron hob abwehrend eine Hand. »Und fang nicht wieder mit Mòndarcai an.«

»Meine Ansicht? Ich denke, dass morgen sehr viele gute Leute sterben werden, weil es nicht der perfekte Angriff mit perfekter Vorbereitung ist«, antwortete Gata. »Doch es ist zu schaffen. Einzelheiten erspare ich dir. Du bist kein Zwerg des Kriegshandwerks, Goïmron.«

»Sondern ein Gemmenschnitzer, ich weiß. Die mit dem elbenhaften Kunstkram.« Da es dieses Mal vor dem Beginn des Angriffs nicht auf eine Rede von Goldhand ankam, konnte Goïmron entscheiden, was er beim Angriff tun wollte. Es war abgesprochen, dass der greise Held auf dem Feldherrenhügel verblieb, weithin sichtbar auf einem Thron sitzend wie ein anspornendes Denkmal.

An Goïmron war kein Krieger verloren gegangen. Mit Wurfpfeil und Schleuder gewann man allenfalls Zweikämpfe. Er würde sich daher nicht aufs Schlachtfeld begeben. Unauffällig schielte er zum Krähennest, das um etliche Plattformen erweitert worden war und an einen verkorksten Baum mit riesigen, waagrechten Blättern erinnerte. Von dort könnte ich viel ausrichten. Seine Hand glitt in die Umhängetasche, wo sie den Meeressaphir samt Drachenfigürchen umschloss. Heimlich. Alle sollen ihre Aufmerksamkeit auf den Famulus lenken.

»Du bist längst kein Gemmarius mehr. Du hast Einigkeit ausgelöst, wie sie das Geborgene Land und die Zwergenstämme seit Langem nicht mehr hatten. Seit eintausend Zyklen nicht mehr.« Gata rempelte ihm freundschaftlich in die Seite. »Und du hast Goldhands Pläne an den Durchgängen beinahe versaut. Dies wird dir keiner nachmachen können.«

Goïmron lachte in seinem Elend. Er konnte nicht anders, und seine Freundin stimmte mit ein. »Wir trinken morgen gemeinsam auf den Sieg.« Seine Pupillen entdeckten die Brosche, die sie am Kragenspiegel des Rüstungsuntergewands trug. »Damit ich nicht dumm sterbe, verrate mir doch, was sie zu bedeuten hat. Du trägst sie stets.«

»Das?« Gata rieb mit dem Daumen versonnen darüber. »Ein Andenken. An einen Ahnen.«

»So?«

»Es gehörte dem letzten Kanzler meines Clans. Es gibt Zeichnungen von ihm, auf denen er es trug. Angeblich ein Geschenk der Elben aus Dankbarkeit. Seit seinem Tod war es verschwunden, bis es mein Vater durch eine Fügung vor der Ostfestung fand. Er gab es an mich weiter, weil es ihm nicht gefiel. Er fand es unheimlich.«

Goïmron blickte genauer hin, wurde aber nicht schlau daraus. »Was bedeuten die Zeichen? Es sind keine Zwergenrunen. Zumindest keine, die ich kenne.«

»Ich weiß es nicht, und selbst Telìnâs konnte mir damit nicht weiterhelfen. Aber die Brosche gibt mir ein gutes Gefühl. Zu wissen, dass sie mein Ahne trug, verbindet mich mit ihm.« Gata lächelte versonnen, als sie noch einmal darüber rieb. »Sobald wir gewonnen haben und der Friede zurückkehrt, bringe ich sie nach Enaiko, in die Stadt des Wissens. Jemand dort wird mir sagen können, was sie bedeutet.«

»Es wird gewiss etwas Wundervolles sein.« Goïmron fand sein Vorhaben, die Schlacht aus dem Krähennest zu verfolgen und mit seiner Edelsteinmagie von dort einzugreifen, inzwischen außerordentlich gut. Nun bedurfte es eines guten Ziels für seine Zauberkräfte. »Sag, gibt es einen besonders … nachgiebigen Punkt in den Wällen?«

Gata deutete übertrieben wie in einem Theaterstück über die sich erhebende Festung. »Siehst du irgendwo einen Riss?«

»Nein.«

»Dann sei dies die Antwort.« Gata seufzte. »Abgesehen von den beiden Türmchen, die wir ihnen zertrümmerten, ergab sich nichts. Wir bräuchten vermutlich Geschosse von der Größe eines dreistöckigen Hauses, um ein Loch zu schlagen. Aber bis wir einen derartigen Warwolf ersonnen, berechnet, gebaut und mit Gegengewichten versehen haben, sind sogar wir an Altersschwäche gestorben. Und die Elben. Sogar Goldhand.« Sie blickte ihn verwundert an. »Wieso fragst du?«

»Um … Hoffnung zu haben.« Goïmron zeigte rasch auf das Besprechungszelt. »Sollen wir zurückkehren, um uns aufzuwärmen? Es gibt gewiss frisch angesetzten Glühpunsch. Ganz ohne Rum oder Branntwein darin.« Er wandte sich um und sah unauffällig zum Ausguck. Die Entscheidung war gefallen. Das ist der Ort, von dem aus ich zuschlagen werde.

»Oh, bevor es mir entfällt: Brûgar suchte dich den ganzen Umlauf.«