Die Rückkehr - Nancy Mehl - E-Book

Die Rückkehr E-Book

Nancy Mehl

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Beschreibung

Auf einem verlassenen Firmengelände werden mehrere Leichen geborgen. Alle Spuren weisen auf einen bekannten Serienmörder hin: den Vater von FBI Agentin Kaely Quinn, der seit über 20 Jahren hinter Gittern sitzt. Kaely hatte sich geschworen, ihn niemals wiederzusehen. Doch als weitere Opfer verschwinden, muss sie eine Entscheidung treffen: Wird sie es schaffen, ihrem Vater nochmal unter die Augen zu treten? Kann sie den nächsten Mord verhindern, bevor es zu spät ist?

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Seitenzahl: 450

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SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe,die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung,die sich für die Förderung und Verbreitung christlicherBücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7565-4 (E-Book)ISBN 978-3-7751-6150-3 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: Satz & Medien Wieser, Aachen

© der deutschen Ausgabe 2022SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH · Max-Eyth-Straße 41 · 71088 HolzgerlingenInternet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]

Originally published in English under the title: Dead Endby Bethany House Publishers, a division of Baker Publishing Group, Grand Rapids, Michigan, 49516, U.S.A.Copyright 2020 by Nancy MehlAll rights reserved.

Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen:Neues Leben. Die Bibel, 2. Auflage 2019 © der deutschen Ausgabe 2002/2006by SCM R.Brockhaus in der SCM-Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen

Übersetzung: Heide MüllerLektorat: Esther Middeler - www.middeler.comUmschlaggestaltung: Oliver Berlin, www.oliverberlin.bizTitelbild: Adobe StockAutorenfoto: Ginger Murray PhotographySatz: Satz & Medien Wieser, Aachen

Ich widme dieses Buch meiner lieben FreundinDebbie Dunagan.Die Bibel erzählt von Menschen, die bereit sind, ihr Leben für ihre Freunde zu geben. Solche Menschen sind sehr rar.Debbie aber zählt dazu. Sie ist vielen, nicht nur mir,eine treue, selbstlose Freundin. Ich bin froh, sie zu haben,und danke Gott, dass er sie in mein Leben gestellt hat.Was wäre ich ohne dich, Debbie!

Inhalt

Prolog

1

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3

4

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6

7

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9

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44

Dank

Über die Autorin

Leseempfehlungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

PROLOG

Norman Webber warf seiner Frau ein etwas gezwungenes Lächeln zu, während er wieder einmal mit einem ihrer berühmt-berüchtigten Geschenke herumhantierte. Er kam sich völlig fehl am Platz vor, wie er da auf dem verlassenen Bahngelände auf und ab lief. Diesen wunderschönen Frühlingsmorgen hätte er viel lieber mit seinen Freunden auf dem Golfplatz verbracht. Sie waren schon dort, und er suchte hier nach einem Schatz, den er niemals finden würde. Was hatte Rita sich nur dabei gedacht, ihm einen Metalldetektor zum Geburtstag zu schenken? Mit einem Schrei der Begeisterung hatte sie zugesehen, wie er das Paket auspackte. Hätte sie ihm doch nur die Golfschläger geschenkt, die er sich gewünscht hatte.

Rita war zweifellos eine gute Ehefrau, aber in ihren 30 Ehejahren hatte sie ihm noch nie ein vernünftiges Geschenk gemacht. Nur immer so merkwürdige Dinge angeschleppt, die nun unbeachtet in irgendeinem Wandschrank schlummerten. Einen singenden Fisch zum Aufhängen. Einen Polizeifunkempfänger – nicht gerade das, was er nach einem anstrengenden Arbeitstag brauchte. Einen Schlüsselanhänger, mit dem man eine Nachricht aufzeichnen konnte. Keine Ahnung, was er da hätte draufsprechen sollen. Und überhaupt: Was sollte er mit einem sprechenden Schlüsselanhänger? Rita redete selbst genug. Auf eine weitere Stimme, die ihm vorschrieb, was er tun und lassen sollte, konnte er gut verzichten.

Das seltsamste Geschenk aber war vielleicht der antike Amboss. Irgendwann hatte er einmal erwähnt, dass sein Urgroßvater Schmied gewesen sei, und prompt hatte Rita den Amboss zum Andenken an seinen längst verstorbenen Ahnen erstanden. Eine nette Geste, aber wer bitte schön brauchte einen Amboss? Und wohin damit? Schließlich hatte er ihn auf den Boden neben seinen Lehnstuhl gestellt. Das verfluchte Ding war so schwer gewesen, dass er hinterher dreimal den Chiropraktiker aufsuchen musste, um seinen Rücken wieder einrenken zu lassen. Aber zumindest hatte er jetzt einen Platz, wo er beim Fernsehen seinen Bierkrug abstellen konnte. Der Alkohol machte sein Leben mit Rita einigermaßen erträglich. Vermutlich wäre er bei den Anonymen Alkoholikern besser aufgehoben als in dem Fitnessstudio, für das ihm seine Frau zum letzten Geburtstag eine Mitgliedschaft geschenkt hatte.

Der Detektor piepte. Norman bückte sich und begann, mit einer kleinen Klappschaufel in der Erde zu graben. Neugierig kam Rita angelaufen, um zu sehen, was er gefunden hatte. »Was ist es denn, Schatz?«, fragte sie ein wenig außer Atem. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und ihre Wangen waren ganz rot vor Aufregung.

Er hielt die vierte Limodose an diesem Morgen hoch: »Schon wieder eine!«

Rita nahm ihm die Dose ab und steckte sie in den Müllbeutel, den sie mitgebracht hatte. »Hier haben früher jede Menge Leute gearbeitet. Bestimmt finden wir was richtig Wertvolles. Wir dürfen nur nicht aufgeben.«

Norman lag auf der Zunge, dass sie in der Nähe eines ehemaligen Casinos vielleicht erfolgreicher wären als auf dem alten Bahngelände, aber Rita war so Feuer und Flamme, dass er sie nicht enttäuschen wollte. Er seufzte. Irgendwie liebte er diese verrückte Frau doch. Zumindest war das Leben mit ihr nie langweilig.

»Ich weiß einfach, dass wir noch einen Diamantring oder so was Ähnliches finden«, rief Rita in ihrer hohen, mädchenhaften Stimme.

Er wandte sich ihr zu und sah sie an. »Wenn du einen Diamantring möchtest, dann kaufe ich dir einen. Dafür brauchen wir nicht in der Erde zu buddeln, Liebling.«

Sie runzelte die Stirn. »Aber es geht doch um einen verborgenen Schatz. Wir können ja nicht wissen, was wir noch alles zutage befördern. Ist das nicht furchtbar aufregend?«

Norman blickte auf die Tüte mit den Limodosen. »Natürlich. Sehr aufregend.«

Er richtete sich auf und ging weiter das Bahngelände auf und ab. In der Nähe der Umzäunung zeigte der Detektor wieder einen Fund an. Zumindest folgte Rita ihm nicht mehr auf Schritt und Tritt. Sie war ein paar Meter hinter ihm stehen geblieben. Er legte das Gerät zur Seite, zog die kleine Schaufel aus seiner Jackentasche, kniete sich hin und begann zu graben. Sicher war es wieder nur eine alte Limodose.

Nach ein paar Minuten erhob er sich und drehte sich zu seiner Frau. »Ich hab den Diamantring gefunden, auf den du so scharf warst.« Das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen, übermannte ihn fast.

Jauchzend und klatschend kam sie zu ihm herüber. Norman jedoch hob die Hand. »Bleib, wo du bist, Rita. Und ruf die Polizei.«

Sie blieb stehen und sah ihn verständnislos an. »Aber es ist doch nichts Illegales dabei, wenn wir den Ring behalten.«

Er seufzte und ließ die Schaufel fallen. »Doch – er steckt noch an einer Hand.«

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

1

Everett Sawyer, der Polizeichef, stand über die Leiche gebeugt, die sie gerade auf dem alten Bahngelände nördlich der Stadt ausgegraben hatten. Jim Arndt, der Gerichtsmediziner, kniete neben der Toten und untersuchte mit Handschuhen sorgfältig die Spuren. Er schätzte die junge, dunkelhaarige Frau auf Anfang 20.

»Wie lange ist sie wohl schon tot, Jim?«

»Genaueres kann ich erst nach der Obduktion sagen, aber ich vermute mal drei oder vier Tage. Vielleicht auch schon fünf.« Er schüttelte den Kopf und hob die linke Hand der Toten. »Verlobt. Hübscher Ring. Schick angezogen auch. Das Mädchen muss einen guten Job gehabt haben. Kam wohl auch aus einer besseren Familie.«

»Woraus schließen Sie das?« Der Polizeichef arbeitete oft mit Gerichtsmedizinern zusammen, aber sie überraschten ihn immer wieder mit ihrem Sachverstand.

»An ihren Zähnen.«

Jim ließ die Hand des Mädchens sinken und zog ihre Oberlippe hoch, bis die Zähne frei lagen. Everett wandte den Blick ab. Auch nach 20 Jahren als Polizeichef von Des Moines hatte er sich an den Anblick von Leichen noch nicht gewöhnt. Ein alter Kriminalbeamter, der mittlerweile pensioniert war, hatte ihm einmal gesagt, sobald er einem Toten in die Augen gesehen habe, sei er für ihn verantwortlich. Diese Verantwortung lastete auf ihm. Er versuchte zwar, die Schicksale der Opfer nicht zu sehr an sich heranzulassen. Aber manchmal … Dieses Mädchen war jung. Hübsch. Verlobt. So etwas hatte sie nicht verdient.

»Was ist mit ihren Zähnen?«, fragte er schließlich, wohl wissend, dass Jim auf genau diese Frage gewartet hatte.

»Korrigiert. Und das nicht erst vor Kurzem. Ihre Eltern haben dafür gesorgt, dass sie eine Zahnspange bekam. So was kann sich in unserem Land nicht jeder leisten.«

Everett legte die Stirn in Falten. »Ein junges Mädchen wurde vor ein paar Tagen als vermisst gemeldet. Ich wette, das ist sie. Leider komme ich gerade nicht auf den Namen.«

»Den kann ich Ihnen auch nicht sagen.« Jim seufzte. »Sie hatte keine Handtasche bei sich.« Vorsichtig griff er in eine der Hosentaschen des Mädchens. Nichts. Dann versuchte er es in der anderen Tasche. Langsam zog er ein zusammengelegtes Stück Papier heraus und faltete es behutsam auf. »Vollmacht für den Antrag auf Eheschließung. Ausgefüllt, aber die Unterschrift des Bräutigams fehlt.«

»Wie heißt sie?«

»Rebecca Jergens. 23 Jahre alt. Hier aus der Stadt.«

»Genau. Jetzt erinnere ich mich wieder. Ist die Vollmacht auf sie ausgestellt?«

Jim nickte. »Vielleicht war sie gerade auf dem Weg zu ihm. Wegen der Unterschrift.«

»Oder er ist tatverdächtig.«

»Vielleicht«, sagte Jim gedehnt, als wolle er das Wort gar nicht aussprechen.

Everett sah zu dem Paar hinüber, das die Leiche gefunden hatte und gerade von einem seiner Ermittler befragt wurde. Sie waren sichtlich erschüttert über ihren Fund. Der Mann murmelte immer wieder etwas wie bloß keine Geburtstagsgeschenke mehr, aber das ergab keinen Sinn. Es musste der Schock sein.

Everett trat einen Schritt näher an Jim heran: »Beschäftigt Sie etwas?«

»Ja.«

»Was denn?«

»Rote Schleifen.«

»Was? Im Ernst?«

Jim wischte die Erde von einem Schuh des Opfers. Ein rotes Band kam zum Vorschein. Dann griff er nach etwas, was neben der Leiche lag, und hielt es hoch: noch ein rotes Band. »Es hat sich gelöst, als Ihre Männer die Tote herausgezogen haben. Wahrscheinlich hatte sie die Bänder um die Handgelenke.«

Everett drehte sich der Magen um. »Irgendein Scherzkeks hält sich für furchtbar witzig.« Er bemerkte, dass die rechte Hand des Opfers noch immer mit Erde bedeckt war. Jim hatte sie noch nicht untersucht.

Die beiden Männer sahen einander an. Sie brauchten nichts zu sagen, um zu wissen, dass sie den gleichen Gedanken hatten. Jim griff nach der geschlossenen Faust des Mädchens. Als er sie öffnete, fiel etwas heraus. Vorsichtig hob er es auf und zeigte es Everett. Ein verbogenes Stück Draht.

Everett rang nach Luft. Er schaffte es kaum, sich zu räuspern und einen Ton hervorzubringen. »Ist es das, wonach es aussieht?« Hoffentlich nicht!

Jim betrachtete den Gegenstand näher. Dann sah er zum Polizeichef auf und nickte.

»Er kann es natürlich nicht gewesen sein«, stellte Everett mit brüchiger Stimme fest. »Schließlich ist er im Gefängnis.«

»Das ist mir klar. Aber wie konnte der Mörder von dem Engel wissen? Die Polizei hat doch nie etwas durchsickern lassen, oder?«

Everett hatte darauf keine Antwort. 21 Jahre war es nun her, seit ein Serienmörder, der allgemein als Lumpenmann bekannt war, die Stadt Des Moines in Furcht und Schrecken versetzt hatte. 14 Frauen hatte Ed Oliphant getötet – soweit man wusste. Verkleidet als Obdachloser zog er nachts umher und hielt Ausschau nach Frauen, die ihm Mitleid entgegenbrachten, nur um sie von der Straße in eine kleine Gasse oder ein verlassenes Gebäude zu zerren und dort zu erwürgen. Eines Nachts beobachtete ein kleines Mädchen, wie er eine Frau hinter sich herzog, und erzählte ihren Eltern davon. Die aber verstanden den Ernst der Geschichte leider erst später.

Die Kleine beschrieb Ed Oliphant als Lumpenmann. Nachdem ihre Eltern der Lokalzeitung ein Interview gegeben hatten, fingen die Medien an, diesen Spitznamen für ihn zu verwenden. In einem warnenden Artikel an die Öffentlichkeit prophezeite damals ein begabter Verhaltensanalytiker, dass der Mann nicht nur seine Verkleidung ändern, sondern sich sogar als Polizist ausgeben könnte. Genau dies tat er dann auch. Bei seiner Verhaftung trug er eine Polizeiuniform. Danach dauerte es nicht lange, bis DNA-Spuren an den Opfern eindeutig ihm zugeordnet werden konnten. Etwas später fand man bei ihm zu Hause hinter einer Holzverkleidung versteckte Trophäen. Hier bewahrte er von jeder Frau, die er ermordet hatte, irgendein Schmuckstück auf.

Oliphant bekannte sich in allen Anklagepunkten schuldig und ersparte dem Staat damit die Kosten für einen Prozess. Da es in Iowa keine Todesstrafe gab, saß er nun im Gefängnis und verbüßte eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Dass nun die Allgemeinheit für seine Unterbringung und Verpflegung aufkommen musste, erschien Everett zwar nicht richtig, aber er konnte nichts daran ändern. Wenigstens war Oliphants Herrschaft des Bösen zu Ende gegangen. Everett war bei dem Fall der leitende Ermittler gewesen und hatte oft in die Gesichter von Familienmitgliedern blicken müssen, die einen geliebten Menschen verloren hatten. Etwas Schlimmeres hatte er in seiner Laufbahn noch nie erlebt. Kurz bevor Oliphant gefasst wurde, hatte Everett von dem Stress des Falls sogar einen leichten Herzinfarkt erlitten.

Zum Glück hatte er sich schnell davon erholt und konnte wieder arbeiten, aber diese Gesichter verfolgten ihn noch immer. Er bezweifelte ernsthaft, dass er eine weitere derartige Mordserie überleben würde.

»Wann transportieren Sie die Tote ab?«, fragte er.

»Bald. Im Institut schauen wir sie uns noch ein wenig genauer an. Und nach der Autopsie geben wir Ihnen natürlich Bescheid.«

»Rufen Sie uns, wenn Sie so weit sind, dass meine Leute die Spuren sichern können.«

»Mach ich. Ich will nur nichts übersehen. Vor allem in diesem Fall.« Everett wollte gerade zustimmend nicken, als einer seiner Beamten auf sie zukam. Officer Malones Gesicht war aschfahl.

»Was um alles in der Welt …?«, fragte Everett.

»Äh, Sir. Wir haben eine zweite Leiche gefunden«, krächzte der junge Polizist verzweifelt.

»Noch eine Leiche?«, wiederholte Everett. Was ging hier vor?

»Um ehrlich zu sein … es könnten sogar noch mehr sein. Viel mehr.«

Everett bekam weiche Knie. Nicht schon wieder! Bitte, Gott, nicht noch einmal!

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

2

Special Agent Kaely Quinn vom FBI scrollte sich durch einen weiteren Zeitungsartikel. Den ganzen Morgen hockte sie schon an ihrem Schreibtisch und prüfte landesweit die Drogenfälle. Die FBI-Außenstelle St. Louis arbeitete zusammen mit der städtischen Polizei daran, die Verbreitung einer neuen, gefährlichen Droge namens Flakka aufzuhalten. Sie war zuerst in Florida aufgetaucht und hatte sich dann in Texas und Ohio verbreitet. Nach mehreren Fällen von Überdosierung in Missouri stieg der Druck auf die Ermittler herauszufinden, wie die Droge hierhergelangt war und wer sie verkaufte.

Flakka verursachte ein Erregungsdelirium, das sich in Halluzinationen und Verfolgungswahn äußerte. Die Konsumenten schienen übernatürliche Kräfte zu entwickeln, sodass sie nach einer Überdosis selbst durch einen oder zwei Polizisten kaum zu bändigen waren. Flakka war mit Badesalz verwandt. Da die Droge geschluckt, geschnupft oder gespritzt werden konnte, war es ein Leichtes, sie unbemerkt in aller Öffentlichkeit zu verbreiten. Die Polizei und das FBI hatten sich mit der Drogenvollzugsbehörde und dem Amt für Alkohol, Tabak, Schusswaffen und Sprengstoffe in Fort Lauderdale zusammengeschlossen. Kaely suchte landesweit nach einschlägigen Vorfällen.

Sie seufzte hörbar. Was fehlte den Leuten in ihrem Leben, dass sie es für einen kurzen Rausch aufs Spiel setzten? Natürlich wusste sie die Antwort. Auch sie hatte schon einmal nach etwas gesucht, das ihr das Leben lebenswerter machte. Zum Glück hatte sie nie versucht, ihre Leere mit Drogen zu betäuben. Von Drogen und Alkohol hatte sie schon immer die Finger gelassen, weil sie das Gefühl von Kontrollverlust nicht ertragen konnte. Ihre FBI-Kollegen hatten sie daher schon oft Kontrollfreak genannt.

Als sie zum Glauben gekommen war, hatte sie begriffen, dass sie daran etwas ändern musste. Nach und nach lernte sie, auf Gott zu vertrauen. Aber mit dem Vertrauen in Menschen hatte sie nach wie vor ein Problem. Sie bezeichnete sich selbst mit einem Augenzwinkern gern als »wandelnde Baustelle«. Leider machte sie auf manchen Gebieten nur sehr langsame Fortschritte.

Plötzlich stach ihr bei ihrer Suche ein Artikel aus ihrer Heimatstadt Des Moines ins Auge. Dort hatte ihr Vater, Ed Oliphant, seine abgrundtiefe Bosheit ausgelebt. Seit sie als 14-Jährige mit ihrer Mutter und ihrem Bruder nach Nebraska gezogen war, hatte sie keinen Fuß mehr in die Stadt gesetzt.

In dem Artikel stand, die städtische Polizei habe vor gut zwei Wochen mehrere Leichen auf einem alten Bahngelände in der Nähe der Stadt ausgegraben. Das erste Opfer, das sie gefunden hatten, hieß Rebecca Jergens. Die 23-jährige Frau war auf dem Weg zu ihrem Verlobten Paul Weigand ermordet worden. Sie hatten an diesem Abend in einem Restaurant essen wollen, wo er die Vollmacht für den Antrag auf Eheschließung unterschreiben sollte. Als sie nicht auftauchte und auch auf ihrem Handy nicht erreichbar war, rief er die Polizei. Die Beamten meinten, Rebecca habe es sich wohl anders überlegt. Aber ihre Eltern und Weigand versicherten, dass Rebecca ihren Verlobten nie im Stich gelassen hätte.

Schließlich begann die Polizei, nach der jungen Frau zu suchen. Ein Ehepaar fand ihre Leiche mit einem Metalldetektor. Dies sollte nicht die einzige grausame Entdeckung bleiben.

Wie viele Leichen sie ausgegraben hatten, stand nicht in dem Artikel. Die Stadt würde doch hoffentlich nicht noch einmal ein solches Grauen erleben müssen, wie es Kaelys Vater damals über sie gebracht hatte! Kaely spielte mit dem Gedanken, die Polizeidirektion in Des Moines anzurufen. Aber selbst wenn sich die Polizei entschließen sollte, das FBI einzuschalten, dann nicht die Außenstelle St. Louis. Für Des Moines waren die Kollegen aus Omaha zuständig. Außerdem – wenn die wüssten, dass sie Ed Oliphants Tochter war … Na ja, sicher wäre sie in der Gegend von Des Moines nicht gern gesehen. Kaely hatte zwar schon zweimal ihren Namen geändert, aber ihre Geschichte sickerte trotzdem immer wieder durch. In Quantico, Virginia, wo Kaely als Verhaltensanalytikerin für das FBI tätig gewesen war, hatte eine Zeitung über ihre Verbindung mit dem Lumpenmann geschrieben. Dies habe zu viel Unruhe verursacht, meinten ihre damaligen Vorgesetzten und versetzten Kaely kurzerhand nach St. Louis.

Hier wusste jeder von ihrer Vergangenheit, aber zum Glück schien das Thema seinen Reiz verloren zu haben. Am Anfang hatten sich die meisten Agenten ihr gegenüber reserviert gezeigt, mittlerweile aber war Kaely akzeptiert. Das lag zu einem guten Teil an Special Agent Noah Hunter, mit dem sie nun schon mehrmals zusammengearbeitet hatte. Er hatte viel dazu beigetragen, die Kollegen davon zu überzeugen, dass Kaely Quinn ganz normal war. Auch wenn sie sich selbst nicht immer so fühlte, wusste sie seine Bemühungen zu schätzen.

Im letzten Jahr hatte sich die Freundschaft mit ihm so weit vertieft, dass er ihr näherstand als irgendein Mensch seit der Verhaftung ihres Vaters. Aber nach einem Fall in Nebraska vor sechs Monaten war er plötzlich auf Distanz gegangen. Sie hatte schon mehrmals versucht, ihre Beziehung wieder einzurenken. Doch obwohl sie weiterhin miteinander sprachen und Zeit zusammen verbrachten, war es nicht mehr so wie zuvor. Kaely wusste, warum er wütend war. Noah hielt sie für zu waghalsig. Er meinte, sie begebe sich unnötig in Gefahr. Das war natürlich nicht von der Hand zu weisen, aber sie tat es immerhin nicht absichtlich. Sie wollte für Gerechtigkeit sorgen, ganz gleich, was es kostete. Wie könnte sie vor all dem Bösen in der Welt zurückschrecken? Sie würde sich nicht ändern. Für Noah nicht und für niemanden sonst.

Zeitweise dachte sie sogar, ihr Verhältnis habe sich endlich wieder gebessert. Vor zwei Monaten hatte ihr Chef Solomon Slattery, der Leiter der FBI-Außenstelle in St. Louis, Kaely eine Auszeit verordnet. Sie brauche Ruhe, hatte er gesagt; Zeit zum Auftanken. Kaely hatte es zwar nicht eingesehen, aber es war ihr nichts anderes übrig geblieben. Solomon hatte ihr seine Hütte am Lake of the Ozarks zur Verfügung gestellt. Gleich nach ihrer Ankunft dort war sie allerdings in Ermittlungen der örtlichen Polizei hineingezogen worden. Als dieser Fall gelöst war, hatte Noah ihr für ihre letzten zwei Wochen dort Gesellschaft geleistet. Sie hatten die Zeit genossen und Noah war ihr etwas entspannter vorgekommen. Das war im Juni gewesen. Aber jetzt, im August, machte er wieder einen unnahbaren Eindruck.

Solomon ließ sie so oft wie möglich zusammenarbeiten. Er sah in Noah den Beschützer, der Kaely davon abhalten würde, zu weit zu gehen – auch wenn das noch nie funktioniert hatte. Ihr Chef sah in Kaely so etwas wie seine zweite Tochter, sooft sie auch schon versucht hatte, ihm diesen Gedanken auszutreiben.

Sie merkte, dass sie wieder auf ihrem Bleistift kaute – eine schlechte Angewohnheit. Ihr Bruder Jason hatte ihr ein paar Bleistifte mit Bibelversen geschenkt. Auf diesem stand: Denn alles ist mir möglich durch Christus, der mir die Kraft gibt, die ich brauche. Sie legte ihn neben ihre Tastatur und scrollte weiter, um den Artikel fertigzulesen. Dann verschränkte sie die Hände hinter dem Kopf, lehnte sich zurück und starrte auf den Bildschirm. Ein Teil von ihr wollte wissen, was in Des Moines vor sich ging. Ein anderer aber wollte nichts damit zu tun haben. Die Erinnerungen waren immer noch zu frisch. Zu schmerzhaft.

Als ihr Telefon klingelte, sprang sie auf und nahm ab. Es war Solomon.

»Ich muss Sie sprechen. In meinem Büro«, sagte er mit ernster Stimme.

Kaely war überrascht von seinem Tonfall und merkte, wie ihr Körper sich anspannte. Könnte das etwas mit Des Moines zu tun haben? Wahrscheinlich wollte er ihr von dem Leichenfund berichten. Zu spät.

»Okay. Komme gleich«, entgegnete sie und beendete das Gespräch. Sie stand auf und griff nach ihrer Jacke, die über der Stuhllehne hing. Als sie sie überzog, richtete sie den Kragen gerade und prüfte ihre Frisur. Ihre kastanienbraunen Locken waren zu einem Knoten zusammengebunden, aber wie üblich hingen ein paar Strähnen heraus. Sie überlegte noch, ob sie auf der Toilette ihr Haar in Ordnung bringen sollte, entschied sich aber dagegen. Wenn Solomon Mitarbeiter in sein Büro bestellte, dann hieß es, keine Zeit zu verlieren. Es hätte Kaely nicht gewundert, wenn er die Minuten zählte.

In seinem Vorzimmer lächelte seine Assistentin Grace sie an. »Er wartet schon auf Sie«, sagte sie und deutete auf die geschlossene Tür. Kaely nickte und steuerte auf Solomons Büro zu. Sie versuchte, ihr ungutes Bauchgefühl zu ignorieren, strich ihre Hose glatt und klopfte.

»Kommen Sie nur rein, Kaely«, hörte sie ihn rufen.

Als sie eintrat, sah sie mit Erstaunen, dass Noah Solomon gegenüber an dem wuchtigen Schreibtisch saß und neben ihm noch ein anderer Mann. Den konnte Kaely zwar nicht einordnen, aber irgendwie kam er ihr bekannt vor. Eine dunkle Vorahnung überkam sie mit Macht. Aber warum reagierte sie so auf einen Fremden? Das konnte sie sich nicht erklären. Fragend zog sie die Brauen hoch, den Blick auf Noah gerichtet. Aus seinem kaum merklichen Schulterzucken zu schließen, hatte er genauso wenig Ahnung, warum sie hier waren.

Solomon deutete mit einem Kopfnicken auf einen Stuhl in der Ecke. Kaely zog ihn heran und setzte sich neben Noah, neugierig, endlich den Grund für ihre Zusammenkunft zu erfahren. Sie holte tief Luft und versuchte, ihre aufgewühlten Nerven zu beruhigen.

»Kaely, das ist Chief Everett Sawyer, der Polizeichef aus Des Moines«, stellte Solomon den Mann vor.

Kaely erstarrte. »Jetzt erinnere ich mich an Sie.« Ihre Stimme klang in ihren eigenen Ohren fremd.

»Ich hab mich schon gefragt, ob Sie mich wohl noch kennen«, erwiderte Sawyer. »Es ist ja lange her. Wie alt waren Sie damals? 14? 15?«

»14«, entgegnete Kaely, bemüht, ihre Emotionen im Zaum zu halten. Zu Solomon gewandt, erklärte sie: »Chief Sawyer war damals der leitende Ermittler in dem Fall … mit meinem Vater.«

Solomons riss seine buschigen Augenbrauen hoch und wandte sich seinem Gast zu. »Dann sind Sie also mit dem Fall Ed Oliphant gut vertraut?«

»Ja. Vermutlich besser als jeder andere.«

»Das FBI wurde damals zu Ihrer Unterstützung eingeschaltet«, sagte Kaely.

Sawyer nickte. »Und dafür waren wir sehr dankbar. Einer Ihrer Profiler – ich meine natürlich, einer Ihrer Verhaltensanalytiker – hat damals ein so exaktes Profil erstellt, dass wir Oliphant bald fassen konnten. Ohne die Hilfe dieses Mannes hätte es wohl noch mehr Opfer gegeben.« Er lächelte Kaely an. »Als ich hörte, dass Sie zum FBI gegangen sind, war ich erleichtert. Sie haben sich von den schrecklichen Ereignissen nicht in die Knie zwingen lassen, sondern beschlossen, gegen das Böse anzukämpfen. Eine mutige Entscheidung. Gut für Sie.«

Kaely merkte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. Everett Sawyer war dabei gewesen, als sie zu ihrem Vater befragt worden war. Und irgendwie hatte sie ihn mit den Leuten, die ihr nach der Verhaftung ihres Vaters Angst gemacht hatten, über einen Kamm geschoren. Sie war damals so verunsichert gewesen und hatte sich gefragt, was tatsächlich vor sich ging. Es hatte sich völlig unwirklich angefühlt. Eher wie ein Albtraum, aus dem sie immer noch nicht richtig erwacht war.

»Danke«, presste sie hervor. Sie sah zu Solomon hinüber. Sein wettergegerbtes Gesicht machte immer einen etwas besorgten Eindruck, aber heute waren seine Lippen zu einer feinen Linie aufeinandergepresst und seine Augenfalten tiefer als gewöhnlich.

Kaely wartete darauf, dass ihr Chef das Wort ergreifen würde, aber er war ungewöhnlich still. Chief Sawyer hatte die Arme verschränkt und vermied nun den Blickkontakt mit ihr. Eine eindeutige Abwehrhaltung. Das Schweigen der Männer hing im Raum wie Gas, das langsam die Luft vergiftete.

»Was geht hier vor?«, fragte Noah schließlich, der anscheinend genauso verunsichert war wie Kaely.

Solomon sah Sawyer mit einem leichten Stirnrunzeln an, als erwarte er, dass dieser Noahs Frage beantworten würde. Aber Sawyer reagierte nicht. Da holte Solomon tief Luft und richtete den Blick auf Kaely. »Haben Sie schon von den Leichenfunden in Des Moines gehört?«

Kaely nickte.

Solomon knetete seine Hände so stark, dass die Knöchel ganz weiß wurden. »Der … der Täter geht genauso vor wie damals Ihr Vater. Erwürgt seine Opfer und bindet ihre Hände und Füße mit roten Schleifen zusammen.«

Kaely legte die Stirn in Falten. »Ein Nachahmungstäter. Diese Dinge waren in der Öffentlichkeit bekannt.« Sie musterte ihren Chef einen Moment lang. Sein Körper und sein Gesichtsausdruck waren noch immer angespannt. Er hatte ihr noch nicht alles gesagt. Es musste noch mehr dahinterstecken.

»Jetzt sagen Sie schon«, forderte sie ihn auf, verärgert über seine Reserviertheit.

Den Blick auf Sawyer gerichtet, holte Solomon erneut tief Luft. »Diese Leichen hatten alle ein Stück Draht in der Hand.«

»Was soll das heißen?«, fragte sie, obwohl sie es genau wusste.

»Einen aus Draht gebogenen Engel«, sagte Solomon nun sanfter. »Genau wie ihn Ihr Vater damals immer zurückgelassen hat. Aber über dieses Detail seiner Vorgehensweise wurde damals bewusst Stillschweigen gewahrt. Es drang niemals an die Öffentlichkeit.«

»Genau«, schaltete Chief Sawyer sich ein. »Es handelt sich hier um einen Nachahmungstäter. Aber dieser Kerl weiß mehr, als er sollte.«

»Viele Leute hatten Zugang zu Informationen über meinen Vater«, bemerkte Kaely. »Alle, die mit dem Fall befasst waren. Die Polizei. Das FBI. Die Gerichtsmedizin.«

»Unter normalen Umständen hätte ich den gleichen Schluss gezogen, Agent Quinn. Aber nicht in diesem Fall.«

Kaely dachte einen Moment über diese Bemerkung nach und fand sie unglaublich naiv. Vielleicht hatte ihr Vater es im Gefängnis irgendjemandem erzählt. »Alle diese Frauen sind erwürgt worden, sagten Sie?«

»Ja. Alle Leichen wiesen Anzeichen von Strangulation auf. Gebrochene Nackenknochen. Bei allen waren Hände und Füße mit roten Schleifen zusammengebunden.« Er suchte Augenkontakt mit Kaely. »Und sie hatten auch alle einen Engel in der Hand. Genau wie damals bei Ihrem Vater. Sogar aus dem gleichen Draht.« Er rutschte auf seinem Stuhl herum, als fühle er sich nicht wohl in seiner Haut. »Da ist aber noch etwas – etwas, was auf keinen Fall nach außen dringen darf.« Er räusperte sich. »Die Kollegen von der Gerichtsmedizin haben etwas entdeckt, was uns am Tatort entgangen war. Ein Stück Papier im Mund aller Opfer aus jüngerer Zeit. In einem Plastikbeutel.«

Kaely runzelte die Stirn. »Ein Stück Papier?«

Sawyer nickte. Kaely wartete, dass er weitersprechen würde, aber er zögerte. Sie war so angespannt, dass sie ein schmerzhaftes Pochen im Kopf spürte. »Stand was drauf?«, fragte sie, um eine Antwort zu erzwingen.

»Ja; gedruckt: ›5. Mose 5,9: Denn ich bin der Herr, dein Gott. Ich dulde keinen neben mir! …‹«

»›Wer mich verachtet, den werde ich bestrafen. Sogar seine Kinder, Enkel und Urenkel werden die Folgen spüren!‹«, beendete Kaely den Vers.

Sawyer riss vor Erstaunen die Augen auf. »Sie kennen die Stelle?«

»Natürlich. Wenn Sie Kind eines skrupellosen Serienmörders wären, würden Sie sie auch kennen.«

Er ignorierte ihre Bemerkung. »Hören Sie, wegen des Engels sind wir uns sicher, dass Ihr Vater etwas damit zu tun haben muss. Natürlich wird er das nicht zugeben. Er wird überhaupt nichts sagen. Kein Wort. Als würde man gegen eine Wand reden.« Er zuckte die Achseln. »Wir haben keine Ahnung, warum der Täter diese Bibelstelle verwendet hat, aber …«

»Sie meinen, der Vers ist auf mich gemünzt?«

Sawyer sah Solomon an, dessen Augen auf ihn gerichtet waren, als wolle er dem Polizeichef eine Art mentale Botschaft übermitteln. Schließlich löste er seinen Blick und wandte sich wieder Kaely zu. »Die Behörden von Des Moines müssen wissen, ob Ihr Vater jemanden anweist, in seine Fußstapfen zu treten. Ed Oliphant zum Reden zu bringen, könnte die einzige Möglichkeit sein, weitere Morde zu verhindern.«

»Ich verstehe immer noch nicht, was das mit mir zu tun haben soll«, entgegnete Kaely. »Er ist hinter Gittern. Das ergibt keinen Sinn.«

»Da ist noch etwas. Auf dem Gelände waren viele Leichen vergraben. Manche erst seit Kurzem, andere schon seit etwa 20 Jahren. Aber alle hatten sie einen Engel aus Draht in der Hand. Und die Überreste von rotem Geschenkband. Bei allen war das Zungenbein gebrochen.«

Kaely zuckte zusammen. »Was sagen Sie da?«

»Ich sagte, dass wir noch Opfer von Ed Oliphant gefunden haben. Und niemand außer ihm hätte dem Täter sagen können, wo sie waren.«

»Wovon reden Sie?«, fragte Kaely aufgebracht. Sie konnte ihren Zorn kaum zurückhalten. »Mein Vater hat 14 Frauen umgebracht. Nicht mehr.«

»Es tut mir leid«, sagte Solomon leise, »aber diese gehen eindeutig auch auf sein Konto. Alles passt perfekt zusammen, und sie wurden zu einer Zeit ermordet, als er selbst noch sein Unwesen trieb. Sie können unmöglich von einem anderen Täter stammen.«

Kaely konnte nicht glauben, was hier gerade geschah. Sie wandte den Blick zu Sawyer. »Warum sind Sie gekommen? Was wollen Sie von mir?«

Der Polizeichef schien sich zu wappnen für das, was er zu sagen hatte. »Sie müssen mit Ihrem Vater reden.«

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

3

Kaely konnte den Polizeichef nur entgeistert anstarren und versuchen zu verstehen, was er da gerade gesagt hatte. Zuerst ergaben seine Worte überhaupt keinen Sinn. Als sie dann begriff, was er von ihr verlangte, wurde ihr ganzer Körper von einem heftigen Zittern erfasst, gegen das sie sich nicht wehren konnte. Sie spürte kaum, wie Noah seine Hand auf ihren Arm legte.

»Sie … Sie erwarten von mir, dass ich … mit meinem Vater spreche? Und meinen im Ernst, dass er mir etwas anvertrauen würde, was er Ihnen verschweigt?« Sie erhob sich. »Da irren Sie sich. Mein Vater schert sich nicht um mich – oder um irgendjemanden sonst. Er ist ein Psychopath. Ed Oliphants Welt dreht sich nur um ihn selbst.«

»Es bleibt uns keine andere Möglichkeit«, erklärte Sawyer. »Wir haben schon alles versucht. Er weigert sich einfach, den Mund aufzumachen. Ob es funktionieren würde, kann man natürlich nicht wissen. Aber wir klammern uns an jeden Strohhalm. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass hier Frauen ihr Leben lassen.«

Kaely unterdrückte einen Anflug von Wut. »Ich verstehe den Ernst der Lage durchaus. Aber mein Vater wird nicht vor mir zusammenbrechen und gestehen. Wie gesagt: Er ist ein Psychopath. Psychopathen kennen keine Reue und sind nicht in der Lage, aus Erfahrung zu lernen. Ausgeschlossen, dass dieser Mann Schuld empfindet oder auch nur die Verantwortung für seine abscheulichen Taten übernimmt.« Sie holte tief Luft und versuchte sich so weit zu beherrschen, dass sie weitersprechen konnte. »Ed hat für das, was er getan hat, noch nie auch nur einen Funken Reue gezeigt. Weder gegenüber den Familien der Opfer noch gegenüber seiner eigenen Familie. Der Familie, die er beinahe zerstört hat.«

Sie schluckte schwer, bemüht, das Zittern in ihrer Stimme zu kontrollieren. »Ich habe schon viel für das Bureau getan. Aber das?« Sie legte ihre Hand auf Solomons Schreibtisch, um sich zu beruhigen. »Nein. Das ist zu viel verlangt – und wäre abgesehen davon auch reine Zeitverschwendung.«

»Setzen Sie sich, Kaely«, sagte Solomon mit ruhiger Stimme. »Natürlich müssen Sie es nicht tun, wenn Sie nicht wollen. Aber mir gefällt diese … Botschaft nicht. Vielleicht ist sie ja nicht an Sie gerichtet, aber es könnte durchaus sein. Das macht mir Kopfzerbrechen.«

»Mal angenommen, es wäre tatsächlich eine Botschaft von meinem Vater an mich, wie kommen Sie dann darauf, dass er ausgerechnet mit mir über diese Morde reden würde?«

»Eigentlich glauben wir eher, dass der Nachahmungstäter selbst auf den Gedanken mit dem Bibelvers gekommen ist«, sagte Sawyer. »Das Gefängnispersonal behauptet, aus dem Mund Ihres Vaters nie irgendein böses Wort gegen Sie oder Ihren Bruder gehört zu haben.«

»Serienmörder verändern ihre Vorgehensweise bekanntlich selten, auch wenn es natürlich schon vorgekommen ist«, wandte Kaely ein. »So etwas geht gegen ihren Stolz.«

Sawyer nickte. »Wenn nun hinter dieser Abweichung gar nicht Ihr Vater steckt, wäre es dann nicht denkbar, dass er seinen Schützling verrät? Deshalb möchten wir Sie bitten, ihn auf den Bibelvers anzusprechen. Wenn es von Ihnen kommt, reagiert er vielleicht eher wie erhofft.«

»Was meinen denn die Kollegen in Omaha zu der Sache mit dem Bibelvers?«, fragte Kaely.

»Die wissen noch nicht so genau, wie sie das einordnen sollen«, entgegnete Solomon. »Genauso wenig wie wir. Da Ihr Name, Kaely, auf diesen Notizen nicht erwähnt ist, könnte es ebenso gut sein, dass der Unbekannte auf etwas anspielt, was nur mit ihm selbst zu tun hat – oder auf jemand anderen.«

»Da wäre natürlich Ihr Bruder«, sagte Sawyer.

Wieder lief Kaely ein kalter Schauer über den Rücken. »An ihn habe ich gar nicht gedacht. Ich hätte …«

»Keine Sorge«, beschwichtigte Solomon sie. »Omaha wird sich mit Colorado abstimmen. Die Kollegen werden Jason im Auge behalten.«

Wie konnte sie nur ihren eigenen Bruder vergessen? War er am Ende in Gefahr?

Kaely ließ sich wieder auf ihren Stuhl sinken und sah Noah an. Sie brauchte seine Stärke, aber sein Gesichtsausdruck zeigte nur Mitgefühl. Irgendwie ärgerte sie sich darüber. Sie wollte im Moment keine Empathie. Was sie brauchte, war die Kraft, sich der Situation zu stellen. Innerlich schrie sie zu Gott und betete, er möge ihr diese Kraft geben. Sie war Profi, aber im Augenblick benahm sie sich nicht so, sondern ließ sich von ihrem Vater einschüchtern.

»Solomon, wenn ich mir irgendetwas davon versprechen würde, dann würde ich es vielleicht tun, ganz gleich, wie schwer es mir fiele. Aber glauben Sie mir: Ich habe keinerlei Einfluss auf meinen Vater.«

»Ich weiß«, schaltete Sawyer sich ein, »es ist nicht fair von uns, das von Ihnen zu verlangen. Aber es ist unsere letzte Möglichkeit. Der Trittbrettfahrer hat uns keine Spuren hinterlassen. Keine DNA. Keine Fingerabdrücke. Nichts als ein paar Reifenspuren und Fußabdrücke, die uns nicht weiterbringen. Wir stecken in einer Sackgasse.«

»Wie viele Leichen sind es?«, fragte Kaely, auch wenn sie es eigentlich gar nicht hören wollte.

Sawyer warf Solomon einen kurzen Blick zu, bevor er sich wieder an Kaely wandte. »Fünfzehn. Neun vermutlich noch Opfer Ihres Vaters. Sie wissen ja, dass wir schon immer den Verdacht hatten, damals nicht alle gefunden zu haben. Es waren Frauen als vermisst gemeldet, die ins Profil der anderen Opfer passten, aber ohne die Leichen konnten wir nichts beweisen. Außerdem stellte der sogenannte Lumpenmann seine Opfer in aller Öffentlichkeit zur Schau, als sei er stolz auf sein … Werk.« Sawyer schüttelte den Kopf. »Wir haben damals gar nicht nach vergrabenen Leichen gesucht. Und das war offenbar ein gro- bzw. graber Fehler.«

Kaely verspürte plötzlich den Drang, über sein unangebrachtes Wortspiel zu lachen, aber eigentlich war es überhaupt nicht lustig. Ihr Nervenkostüm war einfach nicht im Gleichgewicht.

»Nach der langen Zeit ist es nahezu unmöglich, an den Leichen oder in der Nähe DNA-Spuren Ihres Vaters zu finden«, meinte Solomon. »Aber wie Chief Sawyer schon sagte: Die sterblichen Überreste stammen eindeutig aus dieser Zeit. Und da es noch nie einen Hinweis auf einen Komplizen gab, schreiben die Kollegen in Omaha diese Opfer Ihrem Vater zu.« Er trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte, wie so oft, wenn er aufgewühlt war.

»Können Sie mir etwas über die Leichen aus jüngerer Zeit sagen?«, fragte Kaely.

»Bisher noch nicht.« Sawyer beugte sich vor. »Wie gesagt: Dieser Typ geht nach dem gleichen Schema vor wie Oliphant. Allerdings ist er sehr umsichtig. Er trägt wahrscheinlich Handschuhe. Wir haben alles ins Labor nach Quantico geschickt. Die einzige DNA stammt bisher von den Opfern selbst – oder wurde zufällig übertragen. Nichts, was wir mit dem Täter in Verbindung bringen könnten.« Er zögerte. »Es gibt bei der Vorgehensweise aber doch noch einen weiteren kleinen Unterschied.«

Kaely sah Sawyer mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Wir wissen nicht, ob es von Bedeutung ist«, fuhr Sawyer fort, »aber Ihr Vater hat seine Opfer mit Chloroform betäubt. Dieser Täter setzt auf einen Elektroschocker. Das ist einfacher und zuverlässiger. Nicht so aufwendig.«

Das ergab tatsächlich Sinn. Grundsätzlich war die Methode unverändert: Die Opfer außer Gefecht setzen, um sie zu überwältigen und schließlich zu erwürgen. Der Nachahmer bediente sich lediglich einer moderneren Technik, die Frauen ihres Lebens zu berauben. Kaely holte noch einmal tief Luft, um sich zu konzentrieren. »Beweisen können Sie aber im Moment noch nicht, dass mein Vater etwas damit zu tun hat.«

Sawyer schien sie kurz zu mustern. »Nein, das nicht, aber ich bin fest davon überzeugt, dass die älteren Überreste auf den Lumpenmann zurückgehen. Wie gesagt: Niemand anders hätte dem Trittbrettfahrer erzählt haben können, wo die Leichen vergraben sind.«

»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie für diese kranken Kerle keine Spitznamen benutzen würden«, sagte Kaely scharf. »Mein Vater heißt Ed Oliphant. Und auch dieser Täter hat einen Namen. Verherrlichen Sie bitte keinen der beiden durch eine Bezeichnung, die verschleiert, was sie eigentlich sind – brutale Bestien; entartete Egozentriker, die wehrlosen Frauen auflauern. Männer, die nicht nur das Leben ihrer Opfer zerstören, sondern auch das Leben der Menschen, die sie geliebt haben. Die ermordeten Frauen hätten noch viele Jahre vor sich gehabt. Als Ehefrauen. Als Mütter von Kindern, die nie geboren werden. Als Großmütter von Enkeln, an denen sie sich nie freuen dürfen. Diese Mörder sind Monster.«

Kaely fand nur schwer die Beherrschung wieder. Die Wurzel ihrer Wut war eine emotionale Wunde, die noch nicht verheilt war. Gott hatte sie bis hierhergebracht, aber irgendwo tief in ihrem Inneren wucherte der Schmerz, den die abscheulichen Taten ihres Vaters verursacht hatten, immer noch wie ein Krebsgeschwür, das sich nicht herausschneiden ließ. Sie sah in Solomons Gesicht, dessen Blick Überraschung widerspiegelte.

Sie atmete einmal tief durch, um sich zu beruhigen, dann sagte sie: »Es … es tut mir leid, Sir.« Sie wandte sich Sawyer zu. »Entschuldigen Sie bitte. Ich wollte nicht …«

»Schon gut, Kaely«, sagte Solomon nun in sanftem Tonfall. »Sie sind schließlich kein Roboter. Was Sie durchgemacht haben, kann keiner von uns sich auch nur vorstellen.«

»Ich weiß Ihr Mitgefühl zu schätzen. Aber es geht schon wieder.« Sie schluckte mühsam den Kloß in ihrem Hals hinunter und bemühte sich, ihre Fassung wieder zu erlangen. Ein Roboter war sie vielleicht nicht, aber eine FBI-Agentin, und sie war entschlossen, sich auch so zu verhalten. »Wie lange liegen die jüngeren Morde schon zurück?«

Sawyer rieb mit den Händen über seine Hosenbeine. Eine beruhigende Geste. Dann sagte er: »Die Leichen wurden irgendwann in den letzten sechs oder sieben Monaten vergraben.«

»Und Sie glauben im Ernst, dass mein Vater jemanden angeheuert hat, der dort weitermacht, wo er aufgehört hat – nach 21 Jahren? Warum um alles in der Welt hat er so lange gebraucht, um diesen … ›Lehrling‹ zu finden?«

»Diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten«, entgegnete Sawyer stirnrunzelnd. »Aber wir müssen diese Möglichkeit natürlich untersuchen. Das ist Ihnen doch sicher klar.«

Kaely ließ sich die Fakten durch den Kopf gehen und versuchte dabei, Gefühle und Tatsachen zu trennen. Wie Sawyer erklärt hatte: Wenn die älteren Opfer auf ihren Vater zurückgingen, musste er irgendwie beteiligt sein. Er war der Einzige, der den Nachahmungstäter auf dieses Gelände gebracht haben konnte. Sie knetete ihre Hände, um gegen das unwillkürliche Zittern anzukämpfen, und betete, dass ihr Vater irgendwann einfach aus ihrem Leben verschwinden würde. Dort im Gefängnis versauerte, wo er ihr nichts anhaben konnte. Aber nun war er wieder ganz präsent; er verbreitete seine Bosheit und schlich sich mit seiner Schlechtigkeit wieder in ihr Leben. Kaely konnte es nicht leugnen: Sie hasste ihn.

»Es spricht tatsächlich vieles dafür«, ergriff nun Noah das Wort – erst zum zweiten Mal in dieser Zusammenkunft –, »dass Ed Oliphant irgendwie in die Sache verwickelt ist.« Er blickte Kaely von der Seite an. Sie wusste, dass er nur helfen wollte, aber sie brauchte seinen Rat nicht. Sie verstand die Tragweite der Leichenfunde auf dem Bahngelände selbst sehr gut.

»Führt das Gefängnis nicht Buch über seine Briefe und Telefonate?«, fragte sie. »Die Wärter müssten doch wissen, ob er mit jemandem Kontakt hat.«

»Ich wünschte, die hätten das alles voll im Griff«, entgegnete Sawyer, »aber manchmal entgeht auch den Wärtern etwas. Botschaften werden von anderen Insassen weitergegeben. Vielleicht kommuniziert ein Außenstehender – ein Besucher – durch einen anderen Insassen. Häftlinge, die in der Poststelle arbeiten, könnten Briefe heimlich weiterleiten. Es ist ein Kinderspiel, Insassen mit Zigaretten oder Geld zu bestechen.« Er seufzte und lehnte sich zurück. »Manche Häftlinge sind schlau. Ihr Vater hat mit Sicherheit Mittel und Wege gefunden, sich mit dem Täter zu verständigen. Wir haben den verantwortlichen Wärter kontaktiert und ihn darum gebeten, bei Oliphant die Sicherheitsvorkehrungen zu verstärken.«

»Haben Sie schon alle seine Besucher überprüft?«, fragte Noah.

Sawyer schnaubte. »Er empfängt keinen Besuch. Zwar bekommt er hin und wieder Briefe von Frauen, aber darauf reagiert er nicht. Das sind wahnsinnige Weiber, die Serienmördern schreiben, als seien sie Hollywoodstars. Abscheulich!«

»Und er hat keiner von ihnen zurückgeschrieben, sagen Sie?«, fragte Noah nach.

»Nein. Er nimmt die Briefe nicht einmal an – es sei denn, es ist Geld drin. Das überrascht selbst die Vollzugsbeamten. Er lebt so isoliert wie kaum ein Häftling zuvor.«

Das überraschte Kaely nicht. Ihr Vater war auch vor seiner Verhaftung ein verschlossener Mensch gewesen, der es nicht mochte, wenn Leute ins Haus kamen. Zwar hatte er in der Kirche mitgearbeitet, sich aber nicht öfter als unbedingt notwendig dort blicken lassen. Zu lockeren Zusammenkünften war er nie erschienen und hatte auch privat keine Kontakte zu anderen Gemeindemitgliedern gepflegt. Ausgeschlossen, dass jemand von ihnen ihn heute besuchen würde. Nachdem die Identität des Lumpenmannes ans Licht gekommen war, machten alle einen großen Bogen um Kaely und ihre Familie. Selbst wenn jemand ihn heute tatsächlich besuchen wollte, würde ihr Vater ihn nicht empfangen.

»Also beschränken sich seine regelmäßigen Kontakte auf andere Häftlinge und die Wärter?«, fragte sie.

»Soviel ich weiß, ja.« Sawyer zuckte die Achseln. »Der Wärter könnte mehr dazu sagen als ich.«

Kaely beugte sich vor und sah den Mann eindringlich an. »Sie müssen sein ganzes Umfeld untersuchen. Alle, mit denen er spricht.«

»Omaha hat eine offizielle Zusammenarbeit mit der örtlichen Polizei für diesen Fall gestartet«, erklärte Solomon. »Sie haben ein Spurensicherungsteam geschickt. Und das Labor ist auch verfügbar.«

Kaely hob die Brauen. Sie war davon ausgegangen, dass Des Moines sämtliche FBI-Ressourcen nutzen würde.

»Die Kollegen von der Verhaltensanalyse kommen also nicht?«, fragte sie.

»Vorläufig nicht. Im Moment ist Ihre Erfahrung auf dem Gebiet gefragt.«

»Aber ich kann nicht …«

»Wenn Sie darum gebeten werden, können Sie Ihren Rat anbieten«, schnitt Solomon ihr das Wort ab. »Verstehen Sie?«

Kaely nickte. Sie wusste noch nicht so genau, ob sie überhaupt etwas mit dem Fall zu tun haben wollte. Warum war die Abteilung für Verhaltensanalyse noch nicht eingeschaltet worden?

»Noah, Sie begleiten Kaely als leitender Agent«, sagte Solomon.

Sawyer wandte sich an Noah. »Sie helfen ihr, das Verhör vorzubereiten, Notizen zu machen, Besucherlisten und Post zu prüfen und das Gefängnispersonal zu befragen. Wir müssen wissen, ob Oliphant jemanden besticht oder erpresst, um Nachrichten aus dem Gefängnis zu schleusen. Sie könnten auch mit anderen Insassen sprechen und nach Verbindungen suchen. Oliphant hat einen Helfer, und wir müssen herausfinden, wer er ist. Und zwar schnell.«

»Mein Vater hat sich also überhaupt noch nicht zu den Morden geäußert«, sagte Kaely leise, mehr zu sich selbst, aber Sawyer verstand es als Frage.

»Richtig. Wie gesagt, wir haben schon mehrfach versucht, Informationen aus ihm herauszubekommen, und ihn sogar schon bestochen – mit der Aussicht auf mehr Freiheit, längere Hofgänge, sogar auf eine größere Zelle mit Fenster.« Er seufzte. »Das hat ihn alles nicht interessiert. Er saß nur da und weigerte sich, den Mund aufzumachen. Seine Therapeutin gibt auch nichts preis – mit Hinweis auf ihre Schweigepflicht. Unser letzter Trumpf sind Sie, Kaely. Sie sind ausgebildete Verhaltensanalytikerin und ein Ausnahmetalent. Ich glaube, Sie können Ihren Vater besser durchschauen als irgendjemand anders.«

Den Blick auf Kaely geheftet, sagte Sawyer: »Special Agent Quinn, wir sind der ehrlichen Überzeugung, dass nur Sie diese abscheulichen Morde aufhalten können.«

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4

Kaely starrte gedankenverloren auf die Meeresfrüchte, die sie sich zum Mittagessen bestellt hatte. Noah biss genüsslich in sein Cheeseburger-Sandwich. Beim Geruch der gerösteten Zwiebeln wurde ihr ganz schlecht. Aber was sie am meisten entsetzte, war der Gedanke, ihrem Vater gegenüberzutreten. Kaely fühlte sich wie in einem Albtraum, aus dem sie nicht fliehen konnte. Sie konnte es nicht tun. Sie musste Nein sagen. Musste zurückkehren zu dem Leben, das sie vor dem Betreten von Solomons Büro an diesem Morgen geführt hatte.

Kaely hatte Jason angerufen und ihm von den Geschehnissen berichtet, einschließlich des Bibelverses. Er aber hatte ihre Bedenken zu zerstreuen versucht. »Dad kann uns nichts anhaben, Kaely. Ganz sicher nicht.« Sie hatte ihm nicht widersprochen, sondern ihm lediglich gesagt, dass das FBI in Colorado Kontakt mit ihm aufnehmen würde. Darüber war er zwar nicht begeistert, aber Kaely war erleichtert, dass die Kollegen ein Auge auf ihren Bruder haben würden.

Noah legte sein Sandwich auf den Teller und wischte sich den Mund ab. »Kaely, du brauchst nicht mit deinem Vater zu reden. Du hast seinetwegen schon genug durchgemacht. Soll das FBI das machen. Es gibt schließlich noch mehr Verhaltensanalytiker. Irgendjemand wird ihn schon zum Reden bringen. Das musst doch nicht unbedingt du sein. Ganz ehrlich. Sag einfach Nein.«

Unwillkürlich lächelte Kaely. »Ich weiß nicht so recht, ob Nancy Reagans Slogan gegen Drogen aus den Achtzigern mir jetzt weiterhilft.«

»Du weißt genau, was ich meine. Könnte es nicht sogar gefährlich sein, mit ihm zu reden?«

Kaely schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Er ist bestimmt gefesselt und kann mir nichts tun.«

»Körperlich vielleicht nicht, aber ich frage mich, was das alles emotional mit dir machen wird.«

Kaely griff nach ihrer Gabel und spießte eine Krabbe auf. »Aber was ist, wenn Chief Sawyer recht hat? Wenn Ed tatsächlich mit mir reden will? Wie soll ich damit leben, wenn jemand sterben muss, bloß weil ich mich meinen Ängsten nicht stellen konnte? Omaha hat die Abteilung für Verhaltensanalyse offenbar bewusst nicht eingeschaltet, weil sie mir größere Erfolgschancen einräumen.« Sie seufzte. »Die glauben tatsächlich, ich sei die Einzige, die meinen Vater zum Reden bringen kann.«

»Meine Güte, Kaely! Du bist doch nicht für alles verantwortlich!« Er schlug heftig mit seiner Gabel gegen seinen Teller. »Ich halte es nicht für richtig, dich in eine solche Lage zu bringen. Und ehrlich gesagt frage ich mich, was das FBI in Omaha tatsächlich davon hält, dass du deinen Vater verhörst. Sie hätten ja auch selbst auf dich zukommen können. Warum hat Chief Sawyer dich darum gebeten?«

»Ein guter Einwand«, meinte Kaely stirnrunzelnd. »Vielleicht wollen sie mich ja gar nicht.« Ein Funke Hoffnung keimte in ihr auf. Wenn Omaha gar nicht hinter dem Plan stand, dann dürfte sie gar nicht mit ihrem Vater sprechen. »Aber warum ist Chief Sawyer extra gekommen, wenn er glauben würde, Omaha hätte etwas dagegen, mich einzuschalten?«

Noah zuckte die Schultern. »Wie war eigentlich dein Eindruck von ihm?«

»Eine Täuschungsabsicht war für mich nicht ersichtlich. Er war aber ziemlich nervös.« Kaely holte tief Luft. »Ich kann körperliche Reaktionen zwar erkennen, aber was ihm genau zu schaffen gemacht hat, ist schwer zu sagen. Vielleicht das Wissen, dass Omaha nicht hinter seiner Bitte stand? Oder es war ihm einfach unangenehm, mich zu fragen, weil er sich denken konnte, dass es traumatisch für mich wäre. Ich wünschte, ich wüsste die Antwort.«

»Ich dachte, du könntest vielleicht Sawyers Gedanken lesen. Zumindest scheinst du immer gleich zu wissen, was mir gerade durch den Kopf geht.«

Kaely zögerte einen Augenblick. »Manchmal. Nicht immer. Vor allem, seit wir aus Nebraska zurück sind, bin ich mir fast nie sicher, was du denkst. Ich wünschte, du würdest mit mir darüber reden.«

Noahs Miene verfinsterte sich schlagartig. »Dieses Thema hatten wir schon so oft, aber du scheinst es einfach nicht zu kapieren.«

»Du bist also immer noch sauer über das, was in Darkwater passiert ist?«

Noah fixierte Kaely einen Moment, dann sagte er: »Du hast dich in ganz große Gefahr gebracht, Kaely. Ich verstehe deine Absicht dahinter, aber du bist viel zu weit gegangen.«

»Ich wollte nur sichergehen, dass wir den Täter zur Strecke bringen.«

»Aber zu welchem Preis? Dein Leben?« Er schüttelte den Kopf. »Und das war ja auch nicht das erste Mal.«

Kaely spürte einen Anflug von Verärgerung. »Schau mal, nichts ist mir wichtiger als mein Job. Ganz gleich, was es kostet.«

»Das weiß ich, glaub mir.« Er nahm einen Schluck Wasser und stellte sein Glas ab. »Lassen wir es einfach. Wir sind Freunde. Daran wird sich nichts ändern. Ich kann nur … Ich kann dir einfach nicht zu nahekommen. Du lebst zu gefährlich. Als Tracy starb, dachte ich, ich könnte nicht mehr weiterleben. Wenn dir etwas zustoßen würde …«

Kaely musterte sein Gesicht. Sie wusste, was er damit sagen wollte, aber bisher hatte noch keiner von ihnen die Gefühle zugegeben, die zwischen ihnen aufgekeimt waren. Anscheinend konnte Noah über ein freundschaftliches Verhältnis nicht hinausgehen. Das war für sie in Ordnung, aber durch die Mauer, die Noah um sich herum aufgebaut hatte, war ihre Freundschaft anders geworden. Kaely wusste nicht, was sie sagen sollte, nahm ihre Gabel und starrte auf eine Krabbe.

»Isst du sie tatsächlich oder bewunderst du sie nur?«

Kaely legte die Gabel zurück in ihre Salatschüssel. »Irgendwie ist mir der Appetit vergangen. Ich denke, ich nehme den Salat mit ins Büro und stelle ihn dort in den Kühlschrank. Heute Abend schmeckt er mir besser.«

»Hast du noch was anderes zu essen zu Hause?«, fragte Noah trocken.

»Natürlich. Jede Menge, danke.«

»Ich meinte aber kein Katzenfutter.«

Kaely blickte ihn stirnrunzelnd an. »Okay, Menschenfutter hab ich vielleicht nicht so viel. Ich gehe aber nachher einkaufen. Bin noch nicht dazu gekommen.«

»Warst du wieder in deiner Einsatzzentrale beschäftigt und hast landesweite Akten über alte Fälle gewälzt?«

»Vielleicht. So viel zum Thema Gedankenlesen. Du bist darin wohl besser als ich.«

Noah aß den letzten Bissen seines Sandwichs, steckte sich mehrere Pommes frites auf einmal in den Mund und spülte sie mit Wasser hinunter. »Das macht die Erfahrung«, sagte er schließlich. »Es gibt nicht viel, was ich nicht über dich weiß.«

Seine Bemerkung versetzte ihr einen Stich, aber sie versuchte, es zu überspielen. »Du hast zu viel Fantasie, weißt du das?«

Noah schmunzelte. »Das hast du mir schon ein paar Mal gesagt, dabei bist du doch diejenige mit der unsichtbaren Freundin.«

Kaely schnaubte. »Oh Mann, hätte ich dir bloß nichts von Georgie erzählt!«

Kaely hatte Georgie vor einigen Jahren erfunden, um sich ihre Gedanken von der Seele reden zu können, wenn sonst keiner da war. Sie fand nichts Schlimmes dabei, aber Noah hatte Bedenken, dass sie sich zu sehr auf eine imaginäre Gesprächspartnerin verließ. So richtig verstehen konnte Kaely nicht, warum Georgie ihn beunruhigte. Denn Kaely war sich ja durchaus bewusst, dass ihr Gegenüber keine reale Person war. Es war einfach die andere Stimme in Kaelys Kopf. Manchmal mahnend, manchmal ermutigend, manchmal warnend. Seit ihrer Rückkehr aus dem Zwangsurlaub hatte Kaely nicht mehr nach Georgie gerufen und ihre unsichtbare Freundin war seither auch nicht mehr aufgetaucht.

»Dieser Bibelvers macht mir Kopfzerbrechen, Kaely«, sagte Noah, um das Thema zu wechseln. »Warum hat der Täter ihn dort platziert? Meinst du, es sollte eine Botschaft an dich und deinen Bruder sein?«

»Das bezweifle ich. Es könnte auch einfach seine Handschrift sein. Der Grund, warum er tötet. Vielleicht hat es mit ihm selbst zu tun. Eine Familiengeschichte.« Doch irgendetwas tief in ihrem Inneren sagte ihr, dass die Botschaft tatsächlich an sie gerichtet war. Oder litt sie schon unter Verfolgungswahn? Schließlich ging es nicht bei allem, was auf der Welt passierte, um sie.

»Wie kann ich dir bloß helfen?«, fragte Noah. »Was hältst du davon, wenn ich für heute Abend was vom Chinesen hole, und wir sprechen die ganze Sache noch mal durch?«

Kaely dachte über Noahs Vorschlag nach. Einerseits brauchte sie etwas Zeit für sich, um sich alles noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Andererseits wollte sie tatsächlich nicht so gern allein sein. Dass ihr Vater wieder in ihr Leben getreten war, hatte mehr mit ihr gemacht, als sie sich eingestehen mochte. Und auch etwas, was in Nebraska passiert war, ließ sie nicht los – eine Warnung, die sie während einer ihrer ganz speziellen Profiling-Sitzungen von einem unsichtbaren Unbekannten erhalten hatte. »Okay«, sagte sie schließlich. »Das wäre toll.«

»So gegen sieben?«

Kaely nickte. »Klingt gut. Mr Hoover wird sich freuen, dich zu sehen.«

Ihr Maine-Coon-Kater liebte Noah. Immer wenn Noah zu Besuch kam, sprang er ihm sofort auf den Schoß. Zuerst hatte Kaely noch versucht, ihn herunterzujagen, aber Noah hatte abgewinkt und gesagt: »Ich hab nichts dagegen.« Als Mr Hoover Noahs Streicheleinheiten mit einem behaglichen Schnurren quittierte und Noah damit ein Lächeln entlockte, merkte Kaely dann, dass Noah nicht einfach nur höflich war. Er mochte den massigen Stubentiger tatsächlich.

»Heute bringe ich ihm ein neues Spielzeug mit«, verkündete Noah.

Kaely seufzte. »Du weißt doch, dass Mr Hoover kein Spielzeug mag. Ich hab einen ganzen Korb voller Spielsachen, die er achtlos liegen lässt. Die meisten davon hast du gekauft.«

Wenn Mr Hoover eines war, dann reserviert. Er hatte für jedes neue Spielzeug, das Noah mitbrachte, nur einen geringschätzigen Blick übrig, als wollte er sagen: Dafür bin ich viel zu cool. Wie kommst du bloß auf solche Ideen? Dann stolzierte er mit erhobenem Schwanz davon, fast ein wenig beleidigt. Kaely fand es witzig, aber Noah nahm es als Herausforderung. Er war entschlossen, etwas zu finden, für das Mr Hoover sich begeistern konnte. Bald würde der Korb überquellen, sodass Kaely sich langsam überlegen musste, wohin mit dem ganzen verschmähten Kram.

»So was hat er jedenfalls noch nicht. Ich wette fünf Dollar, dass es ihm gefällt.«

Kaely streckte ihre Hand aus und Noah schlug quer über den Tisch ein. »Fünf Dollar«, entgegnete sie. »Ich nehme aber nicht gerne Geld von dir. Das ist zu einfach.«

Noah lächelte. »Wir werden ja sehen. Ich weiß, worauf ich setze.«

Kaely hob eine Augenbraue. »Ich glaube eher, du setzt dich gerade in die Nesseln.«

»Haha. Sehr komisch.«