Die Rückseite der Rose - Peter Friedrich - E-Book

Die Rückseite der Rose E-Book

Peter Friedrich

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Beschreibung

Yoshua ist ein begnadeter Lehrer, der die ›Innere Kampfkunst‹ Aikido unterrichtet. In seiner Trainingshalle erlernen seine Schüler nicht nur den Umgang mit ihren Trainingspartnern, sondern auch mit sich selbst. Dies ist jedoch nicht der Grund, warum Yoshua der Ruf vorauseilt, er habe es mit Dingen zu tun, die jenseits des menschlichen Vorstellungsvermögens liegen. Zu ihm kommen Menschen, die ungewöhnliche spirituelle Erfahrungen gemacht haben – und finden in Yoshua ihren Meister. Doch während sie noch an der Schwelle zur Bewusstwerdung stehen, erliegt Yoshua mit seiner schönen Trainingspartnerin Samira dem Sog eines machtvollen tantrischen Rituals, das für die ganze Menschheit von Bedeutung sein wird. Als ein geheimnisvolles Medaillon, das mit diesem Ritual in Verbindung steht, Yoshua nach Paris führt, ahnt er nicht, dass er bald in höchster Gefahr schweben wird …

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Seitenzahl: 338

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Abschluss

Nachwort

Prolog

Sie lagen vollkommen entblößt in eine weiche Wolldecke eingehüllt nebeneinander. Ihre Körper waren angenehm warm und entspannt. Hätte man eine kriminal-technische Untersuchung durchgeführt, man würde feststellen, dass außer etwas Schweiß keine Körperflüssigkeiten ausgetreten waren. Der Raum, in dem sie sich befanden, war angefüllt mit dem leichten Duft eines von fern glimmenden Räucherstäbchens. Lavendel drang in ihre Geruchssinne. Yoshua hielt Samiras linke Hand in seiner rechten. Wie von fern schauten sie beide an einem hellblauen Himmel vorbei, hinauf nach oben, hinaus aus einer rautenförmigen Öffnung. Hinter dieser Öffnung ruhte ihr Blick im Dunkel einer blauen Endlosigkeit. Ohne Ziel. Ohne Gedanken. Frei von Zeit und Raum.

Nach einem ewig erscheinenden Augenblick wurden sie sich ihres Blickes und ihrer Position gewahr. Ein lieblicher, harmonischer Sog hatte eingesetzt, der beider Bewusstsein wieder zurückbeförderte. Sie spürten eine sanfte Rückführung in ihre Körper.

Sogleich erkannten sich Yoshua und Samira wieder, in einer hellblauen Halbkugel, deren Boden mit vielen weichen Wolldecken ausgelegt war.

Samira war sich ihrer körperlichen Blöße bewusst, konnte aber keinen Grund zur Scham empfinden. Sie war bei ihrem Seelengefährten, der, ebenfalls entblößt und glücklich, immer noch in die Endlosigkeit schaute.

»Yosh, wir sind wieder zurück. Ich habe eine Menge erwartet, aber das hat alle meine Vorstellungen gesprengt. Ich bin noch immer wie berauscht. Das ist das Größte, was ich je erleben konnte. Es ist unvorstellbar. Yosh?«

Die Pause kam ihr vor wie eine kleine Ewigkeit. Hatte er sie gehört?

»Samira?«

»Warum sagst du nichts?«

»Ich bin noch im Himmel«, scherzte er. »Schon lange wusste ich, dass dieser Tag kommen würde, und heute haben wir es wahrhaftig erlebt. Und das, meine Liebe, war erst der Anfang einer wunderbaren Reise.«

Er machte eine kurze Pause. Das gemeinsame Erlebnis erfüllte ihre tiefsten Gefühle und sollte eigentlich im Anschluss daran mit einem gemütlichen Abendessen in seinem Haus gekrönt werden.

Doch Yoshuas Auslandsreise war bereits vor einem halben Jahr geplant worden und somit unaufschiebbar. Das Flugticket und zwei gepackte Koffer standen schon zur Abreise bereit. Der Flug sollte um 20:50 Uhr starten und Yosh wollte spätestens um 18:30 Uhr zum Einbuchen am Flughafen sein. Vom Londoner Flughafen Heathrow sollte es dann weitergehen, um am Samstag um zwanzig nach sieben auf dem japanischen Flughafen Tokio-Haneda zu landen. Yosh freute sich sehr auf ein Wiedersehen mit einem seiner alten Meister, die seine Lebensvorstellungen geprägt, ja sein ganzes Leben in eine unbeschreibliche Wandlung gebracht hatten.

Und jetzt lag er hier, gemeinsam mit Samira, in diesem igluähnlichen Gebilde. Ihre siebenwöchige Vorbereitungszeit auf diesen Tag wurde durch ein unvorstellbares Erleben gekrönt. Doch aller Genuss des Erlebens sollte jetzt in einen schnellen und friedlichen Abschluss münden. Auch wenn für Yosh die Zeit keine große Rolle mehr spielte, musste er sich dennoch an das Systemtiming halten, das in diesem Fall durch die Fluggesellschaft vorgegeben wurde. Und so hob er an:

»Übrigens, zum Thema Reise. Wir haben ein knappes Timing erwischt. Du erinnerst dich? Ich fliege noch am Abend Richtung Japan.«

»Oh Mann, muss das denn unbedingt sein? Jetzt, wo wir uns so nahe sind wie noch nie zuvor? Sensei, bitte verschieb deinen Abflug um … eine Nacht?« Samira rollte über ihre linke Schulter in Yoshuas Arme und küsste ihn zärtlich auf den Mund.

»Sam, die Wirkung unseres gemeinsamen Erlebnisses heute und die darin enthaltene Option der Wiederholung hält für sieben Tage an. Und in dieser Zeit kannst du dich immer mit mir gedanklich in Verbindung setzten. Aber, so leid es mit tut, wir müssen jetzt wirklich zum Abschluss kommen. Ich will den Flug ungern verpassen.«

Er ballte seine Fäuste, atmete tief ein und öffnete sie wieder mit der Ausatmung. Diese »Rückholung« wiederholte er gleich noch zwei Mal. Dann griff er neben sich und angelte seinen ockerroten seidenen Kimono.

»Musst du wirklich heute Abend noch los?«

Wortlos stand er auf und warf sich den Kimono über die Schultern. Mit geübter Bewegung verknotete er den Gürtel und reichte Samira seine Hand.

»Komm, meine Liebe. In drei Wochen holen wir nach, was wir heute nicht mehr machen können, wenn du willst.«

Umhüllt von seidenen Kimonos wandelten sie eng umschlungen aus dem igluähnlichen Gebilde, überquerten dann einige Gummimatten, um schließlich durch eine Glastür gelangend die kleine Halle in Richtung Wohngebäude zu verlassen. Nach dreißig Schritten schloss Yosh wortlos die Hintertür seines Wohnhauses auf und leitete Samira mit einem Kopfnicken über die kleine Eingangsstufe in den schmalen Flur. Von dort fand sie ihren Weg wie im Schlaf, denn schon tausendmal war sie ihn gegangen. Doch jetzt erfüllte der nahende Abschied ihr Herz mit einem Anflug von Traurigkeit. Sie waren ein Paar, aber nicht wie es üblicherweise bei Mann und Frau zu verstehen war. Es verband sie nun sehr viel mehr. Und nach dem heutigen gemeinsamen Erlebnis wollte sie für immer bei ihm bleiben, nicht nur als Partnerin, sondern auch als Frau. Ihre gesamte Gefühlswelt hatte sich für Yoshua geöffnet und das, was man mit Liebe beschrieb, erfüllte ihr Bewusstsein in vollstem Umfang. Noch wie in Trance zog Samira sich in dem kleinen Nebenraum um. Dabei war sie in ihren Gedanken immer noch in der hellblauen Halbkugel. Ihr Körper schien sich dabei wie von selbst anzuziehen, denn sie bemerkte mit einem Mal, dass sie, aus ihren Gedanken gerissen, mit einem Mal komplett angekleidet dastand. Oh, wie sehr sie Yoshua liebte, ihren Seelengefährten, ihren Meister und Lehrer, der nun ganz in ihr Herz gelangt war. Sie verließ das kleine Umkleidezimmer und fand Yosh im Arbeitszimmer an dem runden Eichentisch wieder. Dort saß er, ihr Sensei und Freund, ihr Seelenpartner, dessen ockerroter Kimono über dem Gürtel noch halb geöffnet war, sodass sie seine leicht behaarte Brust erkennen konnte. Sie schritt hinter ihn, umarmte ihn sanft und koste ihn kurz.

»Ich halte nichts von langen Abschieds-Szenen. Deshalb will ich es kurz machen und dich nicht weiter aufhalten.«

Samira kämpfte mit den Tränen, doch ihr war wichtig, in diesem Moment ihre Stärke zu zeigen, die Yoshua so sehr an ihr bewunderte.

»Yosh, du weißt, dass ich dich über alles liebe, und ich wünsche mir, dass du so schnell wie möglich wieder zurück bist. Versprichst du mir das?«

»Meine Liebe ist immer bei dir, Samira.« Er wollte sich vom Stuhl erheben, doch sie hielt ihn mit sanftem Gegendruck fest.

Sie wollte nun keine Umarmung, keinen Kuss, keine Abschiedsszene. Er sollte nicht bemerken, dass ihr Tränen über die Wangen rollten. Mit einer flüchtigen Handbewegung wischte sie die Tränen ab. Sie wollte nur noch schnell fort, denn sie befürchtete sich jeden Moment in einen Weinkrampf zu verlieren. Ihr schien, als wäre das Ende der Welt gekommen.

Ehe Yoshua begriff, wie es um Samira stand, war seine tantrische Partnerin auch schon durch den Hintereingang des kleinen Einfamilienhauses verschwunden. Er hörte das kurze Aufheulen des Motors, nicht aber Samiras Weinen. Ein Sturzbach aus Tränen rann über ihr Gesicht, und als sie den Scheibenwischer betätigte, um besser sehen zu können, musste sie gleichzeitig über ihre Reaktion lachen.

Lachen und Weinen gingen oft Hand in Hand.

Yosh hörte das Brummen ihres Wagens in der Ferne immer leiser werden. Jetzt war er ganz bei sich.

»Oh, wie sehr ich dich liebe Samira, es ist unvorstellbar was du bei mir ausgelöst hast. Der Kreis hat sich geschlossen.«

Er war sich bewusst, dass sie ihn nicht hören konnte, doch auch wenn die Zeit sich bemühte, irgendetwas zu verzögern, aufhalten konnte sie es nicht. Es kam immer, wie es kommen sollte.

Yosh fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und atmete tief und bewusst in seinen Bauch. Ein Dielenknacken weckte seine Instinkte. Samira konnte es nicht sein, er hatte ja vernommen, wie sie weggefahren war. Ehe er sich versah, stürmte ein Unbekannter mit erhobener Faust auf ihn zu. Yosh sprang von dem runden Tisch auf und musste sich blitzschnell sammeln. Bevor er recht begriff, was hier ablief, stürmten drei weitere Angreifer in das Arbeitszimmer. Der erste holte zu einem vernichtenden Schlag in sein Gesicht aus. Yosh blockte die Attacke mit der linken Hand, indem er die Faust des Angreifers an seinem linken Handrücken vorbeilenkte und gleichzeitig durch einen kurzen Impuls dessen Arm um zwei Zentimeter weiter in die Verlängerung des Schlagzieles führte. Dadurch brachte er den Unbekannten für den Bruchteil einer Sekunde aus dem Gleichgewicht, wobei Yoshua seine rechte Faust gleichzeitig auf die Herzspitze des Angreifers rammte, sodass er röchelnd zusammenbrach und schwer atmend bewegungslos liegen blieb. Der begierig um Zerstörung ringende Schlagring hatte sein Ziel nur um Haaresbreite verfehlt. Yosh war im letzten Moment rückwärts ausgewichen und hatte die zuschlagende Faust des zweiten Angreifers mit seinem linken Unterarm mittels einer gleichzeitigen Körperdrehung nach rechts abgewehrt. Dabei erfasste er das Handgelenk des Eindringlings mit beiden Händen und stand für einen kurzen Moment mit dem Rücken zum verblüfften Gesicht des Angreifers. Gezielt zog Yosh dessen Ellenbogen mit einer nach oben verhebelnden Verdrehung des attackierenden Armes auf seine rechte Schulter. Ein kurzes, aber heftiges Knacken gab zu erkennen, dass die knöchernen Begrenzungsanschläge des Ellenbogengelenkes für längere Zeit freigegeben waren, wenn es sich überhaupt je wieder rekonstruieren ließ. Blitzschnell wirbelte er nun herum und schleuderte den vor Schmerzen brüllenden Friedensbrecher gegen den dritten auf ihn zustürmenden Aggressor. Beide knallten derart brutal mit den Schädeln zusammen, dass ihre Kampfabsichten für den Rest des Tages genauso wie ihr Bewusstsein erloschen. Als Yosh sich dem vierten Angreifer zuwandte, sah er in den Lauf einer Beretta 87 Target.

»Wenn du im Kampf um Leben und Tod vor deinem Feind stehst, bleib ruhig und gelassen. Warte geduldig, bis du seine Lücke erkennst. Dann, wenn du sie erkannt hast, tritt ein, schnell und konsequent. Sei dabei ohne Erbarmen.«

Wie von fern hörte Yoshua die Anweisungen seines Sensei. Was für Außenstehende in einer solchen Situation nicht erkennbar war, bestand in der Veränderung des Bewusstseins durch das sich ausweitende Adrenalin. Es wirkte im »Bauch« und gab dort für Ungeübte ungeahnte Kräfte frei. Doch das ganz Besondere war die Chemieausschüttung im Zentrum seines Kopfes. Durch diese körpereigene Droge, ausgeschüttet durch die Hypophyse, verzögerte sich Yoshuas Zeitgefühl in unvorstellbarem Maße. Nun nahm er auch den Raum um sich herum nicht mehr wahr. Die Zeit hatte ihre Illusionskraft verloren. Sie verlor sich derart, dass Yosh die Lücke seines Kontrahenten in dessen Wimpernschlag sah. Wie in einer Superzeitlupe erkannte er die oberen Augenlider seines Gegenübers. In dem Moment, da sich die Lider zum Reinigen der Pupille wie ein Vorhang über das Auge schieben wollten, erkannte Yosh die Lücke. Während dieses unmessbaren Moments des Wimpernschlags war sein Angreifer blind. Yosh sah den Lauf der Waffe und den grinsenden Mund des Fremden. Aber seine Konzentration galt ganz den Augenlidern, ohne dem Angreifer dabei in die Augen zu schauen. Alles dauerte, vom ersten Blick auf die Waffe bis zur Gegenattacke in die Lücke des Kontrahenten, den Bruchteil einer Sekunde. Sogleich presste Yoshua seinen rechten Fuß derart in den Boden, als wollte er ein Loch in die Kellerdecke rammen. Gleichzeitig flogen sein Körper zur linken Seite und beide Handkanten gegen das die Beretta haltende Handgelenk und den darüber befindlichen Unterarm. Der Angreifer wusste nicht, wie ihm geschah, denn für einen kurzen Moment stand Yosh nun seitlich neben ihm, erfasste sein Handgelenk und wirbelte mit seinem Körper derart schnell nach rechts herum, dass der Bewaffnete durch diese Körperdrehung über das schmerzhaft gestrecktes Ellenbogengelenk nach vorn geschleudert wurde. Wie ein Satellit kreiste er kurz um Yosh herum. Doch noch bevor seine beiden Füße wieder sicheren Stand hatten, wirbelte Yoshua in die entgegengesetzte Richtung zurück. Dabei zersplitterte das Handgelenk des Bewaffneten, und der von Wut und Schmerz erfüllte Aufschrei gab das nahende Ende des Angriffs zu erkennen. Nicht nur das Handgelenk brach in diesem Moment, sondern auch der Blick des durch die Luft geschleuderten Angreifers. Noch bevor dieser in Ohnmacht versinkend hart auf dem Boden aufschlug, hielt Yosh die Beretta in seiner rechten Hand. Er hörte ein die Luft zerschneidendes Geräusch, konnte aber nicht gleich ausmachen, woher es kam. Yosh spürte nur noch, wie sich mehrere metallene Widerhaken in seine Haut gruben, und sein Körper sackte unter einer geballten Stromladung zu Boden. Wie im dichten Nebel sah er zwei weitere Fremde auf sich zukommen. Einer der beiden stülpte ihm eine schwarze Kapuze über den Kopf und höhnte: »Na, du Arsch, da hilft dir dein Hokkaido auch nicht mehr.«

Den brutalen Tritt gegen seine Stirn spürte Yoshua nicht mehr.

Es wurde dunkel.

Kapitel 1

37° Celsius waren für diese Jahreszeit eher eine Seltenheit, während es in den letzten Jahren, vor dem Juli 2013, im Sommer immer mal wieder in diese Regionen gestiegen war. Diese Hitze war für so manchen älteren Menschen eine zusätzliche körperliche Belastung, viele von ihnen wurden aus den anliegenden Altenheimen in Krankenhäuser gebracht. Am Himmel erschien hin und wieder eine kleine Wolke, verbunden mit einer leichten Brise, die sanft durch das geöffnete Küchenfenster wanderte. Yosh hatte gerade seinen Mittagsabwasch erledigt, als er auch schon den Fremden durch das Küchenfenster erblickte. Dieser ging auf die Eingangstür des Hauses zu und klingelte einmal lang, sodass das Dong! etwas auf sich warten ließ. Yosh legte das Geschirrtuch zur Seite und schaute durch das Küchenfenster in ein circa vierzig Jahre altes Gesicht. Grüßend hob er die Hand und schritt zur Eingangstür. Als er sie öffnete, konnte er die Verlegenheit des Fremden förmlich spüren. Das hatte aber nicht allzu viel zu bedeuten, denn immer mal wieder kamen Fremde zu Yosh, um sich von ihm beraten zu lassen. Trotzdem konnte man ihn nicht im Telefonbuch finden und auch im Internet zeichnete sich keine Spur zu seinem Wohnort. Alle persönlichen Treffen basierten auf Mund-zu-Mund-Propaganda. Yosh wollte es so, und so sollte es auch bleiben.

»Hey, wie geht’s?« Yosh lächelte den Fremden freundlich an.

»Danke, gut so weit. Mein Name ist Michael Napolski. Bitte entschuldigen Sie meinen unangemeldeten Besuch. Aber ich habe gehört, dass Sie mir vielleicht weiterhelfen können.«

Die Verlegenheit des Fremden war um ein Vielfaches angewachsen, wobei seine direkte Art Yoshua sehr imponierte.

»Ach, wer hat Ihnen das denn gesagt?«

Yoshua schaute betont auffällig zur rechten und zur linken Straßenseite, als wollte er überprüfen, ob sie beobachtet würden. Der Fremde folgte seinem Blick. Das war schon einmal ein gutes Zeichen, aber Yosh behielt es vorerst für sich.

Napolskis Mund öffnete sich zögerlich.

»Das kann ich gar nicht mehr so genau sagen, ich habe es irgendwo gehört. Man sagte mir damals, dass Sie sich mit Dingen beschäftigen, die außerhalb unseres Vorstellungsvermögens liegen.«

»So?«

Yoshua machte gastfreundlich die Eingangstür frei, um die Situation für den Fremden etwas zu entschärfen.

»Wollen Sie nicht hereinkommen? Oder handelt es sich nur um eine Kleinigkeit, die wir hier draußen besprechen können?«

Yosh musste über seine rhetorische Frage grinsen und führte den Besucher mit einer einladenden Geste an sich vorbei. Dabei berührte er leicht seinen Rücken und lenkte ihn Richtung Flur.

»Gehen Sie gern vor und fühlen Sie sich wie zu Hause. Die offene Tür zu Ihrer Linken führt Sie direkt in mein Arbeitszimmer. Nehmen Sie bitte am runden Tisch Platz, suchen Sie sich einfach einen der sieben Stühle aus. Ich hole eben noch eine Karaffe Wasser aus der Küche.«

Yosh gewährte seinen neuen Besuchern immer das Recht, sich im Erdgeschoss des Hauses selbstständig zu bewegen. Auch hatte es sich bewährt, sie in den ersten drei bis fünf Minuten allein in seinem Arbeitszimmer zu lassen. Das gab ihnen die Möglichkeit, sich unbeobachtet einen Eindruck von ihm zu machen, auch wenn das meist unbewusst geschah. Was seine Besucher jedoch nicht wissen konnten, war, dass Yosh, als er sich hier am Stadtrand des kleinen Ortes nördlich von Hannover niedergelassen hatte, schon vor vielen Jahren auf der Unterseite der sieben Stühle je eine Zahl angebracht hatte. Und so leuchteten die Zahlen 1-2-3-4-5-6-7 auf poliertem Messing im Verborgenen. Wenn ein Besucher sich entschieden hatte, wo er sitzen wollte, konnte Yosh durch die versteckt angebrachte Zahl schon vorab erkennen, was den Gast bewegte und in welchem Entwicklungsprozess er steckte. Ja, manchmal waren die Dinge im Leben ganz einfach. Er fügte noch etwas Zitrone und Eis ins Wasser, gab seinem Gast noch ein bis zwei Minuten zum Eingewöhnen und schritt dann durch die offenen Türen von der Küche über den schmalen Flur ins Arbeitszimmer.

Als wenn er es nicht schon bei der ersten Berührung im Flur gespürt hätte! Michael Napolski saß auf dem Stuhl Nr. 7. Na, dann musste Yosh erst einmal in die Ganzheit hineinhören, um ein komplettes Bild zu erhalten. Denn Yoshua wusste, wer auf der 7 saß, der war im Höhepunkt seiner Schaffenskraft angelangt und fing an zu hinterfragen, ob das Leben nur ein Leben war oder ob es Dinge gab, die, wie Michael so schön gesagt hatte, außerhalb der menschlichen Vorstellungskraft lagen. Allerdings bemerkte Yosh, dass Michael für den Siebener-Zyklus etwas jünger erschien als die meisten anderen »Siebener«; wenn sich die Menschen die Sinnfrage überhaupt stellten. Yosh hatte in den Jahren seiner Beratungstätigkeit gelernt zu unterscheiden, ob jemand aus eigenem Antrieb zu ihm kam oder ob das Schicksal eine schmerzhaft erscheinende Besinnungschance herbeigeführt hatte. Ein Zyklus umfasste sieben Jahre.

Nun, die 7, auf der der Besucher saß, war mit dem siebten Tag in der Schöpfungsgeschichte der Thora zu vergleichen. Nach dem Erschaffen der Dinge die das Leben erforderte, begann für einige Menschen eine Phase der inneren Ruhe und des Hinterfragens und der Suche nach spirituellen Antworten. Man war sich dabei aller Schaffenskraft des Lebens bewusst, sah auf die letzen Jahre nochmals zurück und erkannte, dass es doch ganz gut gelaufen war. Das war der siebte Tag und Yosh konnte kein schicksalhaftes Ereignis bei Michael erkennen.

Die 7. Er kam aus freien Stücken zu ihm. Und deshalb konnte Yosh ihm helfen. Ob er die Hilfe dann annahm, war aber wieder eine Frage der eigenen Entscheidung.

Yosh goss das kalte Wasser in große Gläser und nickte Michael freundlich zu. Erfreulicherweise hatte sein Besucher schon die erste Scheu abgelegt. Beim Trinken musterte er das Bücherregal und nickte einige Male bestätigend. Nicht sehr deutlich, Yosh erkannte es nur an seinen Augenbrauen, die sich unmerklich zusammenzogen. Man durfte das nicht mit dem bekannten Stirnrunzeln verwechseln, das auch das Gegenteil bedeuten konnte. Nachdem sie etwas von dem Wasser getrunken hatten, schaute Yosh ihm direkt in die Augen und fragte nach seinem Anliegen.

»Das ist eigentlich nicht so leicht zu sagen«, begann Michael, plötzlich sehr selbstbewusst. »Ich habe in meinem Leben alles erreicht, was man erreichen kann. Ich habe ein Haus gebaut, einen Baum gepflanzt«, hier mussten beide grinsen, »bin verheiratet, habe einen halb erwachsenen Sohn und vor sieben Jahren ein erfolgreiches Unternehmen gegründet. Alles läuft wie am Schnürchen.«

Da war ja der Siebener-Jahreszyklus wieder. Als wenn man ihn bestellt hätte. Etwas nachdenklich fügte er hinzu:

»Ich habe wirklich alles erreicht, was man erreichen kann. Toppen kann ich diesen Zustand wohl nur noch durch noch mehr Einsatz und noch mehr Geldverdienen. Aber komischerweise kam mir vor kurzem der Gedanke, ob das nun alles sei im Leben. Vielleicht stecke ich ja in einer Sinnkrise, oder in einer Selbstfindungsphase, ich kann es nicht anders formulieren. Ich kann Ihnen nicht einmal mehr genau sagen, wer mir Ihre Adresse gegeben hat. Irgendeiner meiner Kunden vielleicht. Auf jeden Fall habe ich vor kurzem einen Zettel mit Ihrem Namen und Ihrer Adresse zufällig in einer meiner Sommerjacken gefunden; und nun bin ich hier.«

Er zog fragend die Schultern hoch, so als wollte er hinzufügen, dass er nun nicht weiterwüsste.

Ja, so waren sie, die Suchenden nach dem Verborgenen. Im Allgemeinen war ihre noch unbewusste spirituelle Suche genau so konsequent wie ihr beruflicher Werdegang; nur ihr Kopf stand ihnen noch im Weg. Die Bewusstwerdung setzte sich langsam in Gang und das war eine echte Herausforderung für jeden, der diese Reise antrat.

Yosh fragte direkt nach seinem Alter.

»Zweiundvierzig. Um genau zu sein, zweiundvierzigeinhalb.«

Yosh erinnerte sich an die Erklärungen seines Meisters. Damals war er genau so alt gewesen wie Michael heute und er stellte überrascht fest, dass seitdem schon wieder fünfzehn Jahre vergangen waren.

»Lieber Yoshua«, endete die Erklärung seines Sensei. »Die 42 ist der Beginn des siebten 7-Jahre-Zyklus. Auf Japanisch spricht man die 42 ›shi-ni‹ aus. Das ist phonetisch identisch mit dem Begriff ›Tod‹ und bedeutet philosophisch betrachtet den Beginn eines neuen Bewusst-Seins. Das alte Bewusst-Sein beginnt zu verbleichen, das neue Bewusst-Sein will erwachen. Es braucht seine Zeit, sei geduldig.«

»Um zu erfahren, ob ich Ihnen helfen kann, sagen Sie mir doch einfach, worum es ganz genau geht.«

Auch Yosh ging gern direkt in den Kern der Sache, wenn es problemlos möglich war. Dabei war ihm vollkommen klar, dass sein Besucher sich nicht mit der Sprache herauswagte. Der WEG des erwachenden Bewusst-Seins begann meistens mit der Frage, ob es so etwas wie einen Gott gebe oder nicht. Das war der siebte Tag. Ruhephase.

»Denken Sie manchmal drüber nach, ob es so etwas wie einen Gott gibt?«

»Ja, genau das geht mit schon lange durch den Kopf.«

Erleichterung machte sich an seinem ganzen Körper sichtbar, die Augen bekamen einen leuchtenden Glanz und seine Schultern entspannten sich merklich.

»In den Kirchen hört man ja reichlich davon, aber: Gibt es da wirklich etwas, etwas, das sie Gott nennen? Man kann ja kaum mit jemandem darüber sprechen, ohne gleich in irgendeine Kirche einzutreten.«

Leider hatte Michael da nicht ganz unrecht. Je mehr man zu hinterfragen begann, desto mehr versuchten sie den Fragenden für ihre Institution zu gewinnen.

»Wie tief sind Sie denn auf Ihrer Suche nach Antwort schon vorgestoßen?«

Yosh füllte die Gläser nach und nahm selbst einen großen Schluck. Bevor der Gast antworten konnte, fragte er weiter:

»Suchen Sie im Wortschatz der westlichen Welt, also des sogenannten Christentums?«

Na klar, Yoshua war sich dessen sicher, denn sein Gast saß ja auf der 7.

»Ich glaube, dass das Christentum, so wie ich es damals im Konfirmationsunterricht kennengelernt habe, für mich keine große Hilfe darstellt. Deshalb bin ich auch schon vor Jahren aus der Kirche ausgetreten.«

Es schien ihm schon fast etwas peinlich, das zuzugeben.

»Was meinen Sie«, entgegnete Yosh, »wollen wir uns dem Mysterium Gott in der westlichen Glaubensausrichtung nähern? Oder über östliche Religionen sprechen?«

Michael schien nicht ganz sicher, denn er überlegte einen Moment. Auch das war ein gutes Zeichen, denn wenn jemand auf der Suche nach dem UNFASSBAREN war, sollte er für alle Vorstellungen offen sein. Er blickte auf seine Uhr, zögerte noch einen kleinen Moment und antwortete:

»Da ich ja aus dem christlichen Kulturkreis komme, scheint es mir erst einmal sinnvoll, auch diesen Weg zu gehen. Was aber nicht bedeutet, dass ich nicht auch in die östlichen Religionsrichtungen gehen könnte.«

Yoshua war insgeheim zufrieden, dass sein Besucher unbewusst von einem WEG sprach, denn darauf konnte man in jeder Religionsvorstellung gut aufbauen. Ja, der Begriff Weg war so alt wie die Menschheit, die sich mit Spiritualität befasste.

»Haben Sie denn schon einmal allen Ernstes mit dem, der Gott genannt wird, gesprochen?«, wollte er wissen.

Es war Michael offenbar etwas unangenehm auf diese Fragen zu antworten, denn er zögerte noch.

»Nun, wenn Sie möchten, dass ich Ihnen helfe, muss ich auch wissen, wo Sie in aller Wahrheit und Klarheit für sich selbst stehen. In allererster Linie dient Ihre Antwort Ihrer eigenen Bewusstwerdung, nicht meiner Wissbegierde.«

»Ach so?«

»Ja, so.«

Der Besucher spannte kurz seinen Rücken, schaute links an Yosh vorbei, dann wanderte sein Blick leicht nach oben und beim Ausatmen direkt in die Augen seines Zuhörers. Jetzt waren sie für einen kurzen Moment eine Einheit, die genauso verborgen war wie die 7 unter Michaels Stuhl.

Die 1 unter Yoshuas Stuhl symbolisierte nun die Erschaffensphase etwas ganz Neuen, ein Anfang von dem, was es bis zu diesem Moment noch nicht gegeben hatte. Wenn das Anfangsgespräch mit einem neuen Besucher derart verlief wie heute mit Herrn Napolski, konnte er als Berater auf dem EINSER sitzen bleiben. Die 1 symbolisierte den biblischen Zustand »Im Anfang …«, den Beginn der Schöpfung.

»Ich habe bisher noch mit keinem Menschen darüber gesprochen«, begann Michael nun recht entschieden. »So verrückt das auch klingen mag, ich hatte ein absolut ungewöhnliches Erlebnis damals, als mein Sohn erst zwei Monate alt war. Und ich hatte es schon fast vergessen. Erst vor einigen Wochen kam es wieder deutlich vor meine Augen und ließ mich nicht mehr los. Wahrscheinlich bin ich deswegen auch hier bei Ihnen gelandet.«

Wie recht er hatte.

»Sie haben gebetet, mit Gott gesprochen?«

Mit dieser Frage wollte Yosh ihn ermutigen, das Erlebnis eines »Siebeners«, das weit über der Einseitigkeit des Gebetes stand, preiszugeben.

»Nein«, Michael schaute direkt in Yoshuas Gesicht, »ich habe damals eine Stimme gehört. Sie war so deutlich zu hören wie die Stimme eines neben mir stehenden Mannes.«

Jetzt hatte Michael die richtige Betriebstemperatur erreicht. Alle Scheu war abgelegt und er berichtete von einem sommerlichen Spaziergang mit seinem kleinen Sohn, der sichtlich zufrieden im Kinderwagen lag und eingeschlafen war.

»Nach einer Weile«, so erklärte er, als erlebte er das Ganze in diesem Moment noch einmal, »wollte ich damals eine Landstraße überqueren, weil das Haus unserer Freunde auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag. Die Gegend war eher ruhig und wenn ich jetzt noch einmal daran denke, herrschte in diesem Moment absolute Stille. Ich habe, glaube ich, an nichts gedacht, war wohl völlig abwesend. Kein Motorengeräusch, kein Vogelgesang drang an mein Ohr, nicht einmal ein Windhauch war zu spüren. Es war, als stünde alles still.«

Yosh bemerkte die Gänsehaut auf den Armen seines Gastes – ein Zeichen dafür, dass die Erinnerung deutlicher und intensiver nicht hätte sein können.

»Als ich den Gehweg verließ und in die Mitte der Straße gelangte, hörte ich dann diese Stimme. Mit ist klar, dass es absolut verrückt klingt, aber ich hörte diese Stimme wirklich. Sie sagte ›Geh wieder zurück‹. Es herrschte immer noch absolute Stille, ganz sonderbar. Ich kann diesen Zustand wirklich nicht besser beschreiben, es war so irreal, so … pfffffhhh.«

Sein Atem strömte aus der Tiefe seines Seins.

»Ich dachte wirklich in diesem Moment, nicht mehr ganz dicht zu sein. Und keine Ahnung warum, ich ging wieder auf den rechten Gehweg zurück.«

»Kann es denn nicht auch Zufall oder Einbildung gewesen sein?«

Yosh wollte Michaels Glas nachfüllen, doch der verhinderte es mit einer deutlichen Geste. Wenn diese Bewegung eine Unbewusste war, so hatte er großes Potenzial.

»Danke, ich habe noch nicht alles gesagt.«

Seine Hand fuhr automatisch wieder zurück und legte sich, mit dem Handrücken nach unten, in die rechte nach oben geöffnete Hand auf seinem Schoß. ›Schau an‹, dachte Yoshua, ›er bestätigt sein Potenzial noch einmal.‹ Sein Besucher fuhr fort, wobei er seinen Oberkörper leicht nach vorn spannte.

»Natürlich kann das alles nur Einbildung gewesen sein. Und wenn ich das darauf Folgende nicht erlebt hätte, ich hätte das Ganze wohl vollkommen vergessen. Verstehen Sie?«

»Was geschah dann?«

»Na ja, ich ging etwa hundert Meter weiter, bis ich zum Haus unserer Freunde kam, das auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag. Bevor ich die Straße überqueren konnte, musste ich kurz stehen bleiben, weil mir ein Auto entgegenkam.«

Jetzt arbeiteten Michaels Arme und Hände mit, um die Situation noch besser beschreiben zu können.

»Also von dort kam ein Auto«, die linke Hand deutete nach vorn, »und von rechts kam auch ein Auto, ich stand nämlich an einer T-Kreuzung.«

Wie selbstverständlich zeigte Michaels rechter Zeigefinger mit einer nach außen abkippenden Handbewegung nach rechts. Jetzt war Yosh im Bilde.

»Und dann?« Er stellte sich unwissend, konnte aber das Ereignis bereits erahnen.

»Der nun von rechts kommende Fahrer bog nach links ab, also an mir vorbei, und übersah den von vorn kommenden Wagen. Verstehen Sie? Und um einen Unfall zu vermeiden, zog der von vorn kommende Fahrer das Lenkrad nach rechts und fuhr mit bestimmt siebzig Stundenkilometern auf den uns gegenüberliegenden Bürgersteig. Als ich das sah, stand ich wie angewurzelt da und konnte nicht glauben, was gerade geschah. Wenn ich nicht zuvor die Stimme gehört und entsprechend gehandelt hätte, ich denke, mein Sohn und ich hätten den Unfall nicht überlebt. Gibt es so etwas wie Schutzengel? Wessen Stimme war das?«

Yosh lehnte sich auf dem Stuhl mit der 1 zurück, musterte die Mimik seines Gegenübers und sah ihm dann fest in die Augen.

»Das ist eine gute Frage. Meinten Sie dieses Erlebnis, als Sie eingangs sagten, Sie hätten gehört, ich beschäftigte mich mit Dingen, die außerhalb unseres Vorstellungsvermögens seien?«

Napolski nickte brav.

»Ist denn dieses Ereignis außerhalb Ihres Vorstellungsvermögens, oder ist es für Sie jetzt real geworden?«

Sein Besucher legt die Stirn in Falten. Yosh ließ ihm Zeit.

Als Michael nach einer Weile antwortete, flüsterte er fast.

»Es ist beides ... Ja, es ist beides«, seine Stimme wurde wieder kräftiger. »Es ist unvorstellbar für Außenstehende und für mich ist es real. Es ist ja wirklich geschehen. Ich kann das Zusammenspiel nicht erkennen, aber es muss da etwas geben, das vorhersehen kann und in der Lage ist, es mir mit zu teilen. Es ist verrückt. Hätte ich das nicht selbst erlebt, ich glaube, ich könnte so etwas keinem anderen Menschen glauben.«

»Wissen Sie, Herr Napolski«, jetzt konnte Yoshua sich langsam vortasten, behutsam, aber in die richtige Richtung, »Sie haben soeben den großen Unterschied zwischen ›belesen‹ und ›erfahren sein‹ erkannt. Niemand, der nicht Ähnliches erlebt hat, wird Ihnen Glauben schenken. Das Tragische, wenn ich es einmal so formulieren darf, ist, dass jeder Mensch bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr derartige Erfahrungen macht. Erfahrungen, die nicht zu erklären sind und, was ganz besonders schade ist, Erfahrungen, über die kaum ein Mensch mit einem anderen Menschen sprechen will. Es muss nicht immer so ein markantes Erlebnis sein wie das Ihrige, dennoch ist die Wirksamkeit dieser Phänomene tief in das Gedächtnis der Menschen eingeprägt. Aber, sie reden nicht darüber, sie trauen sich nicht, weil es ja verrückt ist.«

Es war schön, zu beobachten, wie sich Michaels Mund bei diesen Worten immer weiter öffnete. Ungläubig schaute er drein, nahm einen kleinen Schluck aus dem Wasserglas.

»Ich bin also keine Ausnahme, solche Dinge geschehen allen Menschen? Allen?«

»Nun, jeder Mensch wird doch von der Schwerkraft angezogen, oder nicht? Genau so erfährt jeder Mensch im Leben eine oder mehrere Situationen, die Ihrem Erlebnis ähnlich sind oder eine anders geartete Manifestation des Unbekannten beinhaltet.«

Während Yosh sprach, musste er an seinen eigenen ersten Kontakt mit dem Verborgenen denken. Er erlebte seinerzeit eine Situation, die vollkommen irreal war, und er erkannte dabei, dass Zeit und Raum keine Rolle mehr spielten.

Kapitel 2

Yoshua war dreiunddreißig Jahre alt gewesen, als er bei seinem Einblick in das Mysterium das Unfassbare erkannte. Damals stand er im Garten seines Hauses und spielte mit seiner dreijährigen Tochter auf dem Rasen. Sie wohnten in der Nähe eines Flughafens. An diesem besonderen Tag dröhnte eine Boeing im Landeanflug über sie hinweg und seine kleine Tochter verzog das Gesicht zum Weinen. Schnell beugte er sich zu ihr herunter und legte den Arm um ihre kleine Schulter.

»Hab keine Angst. Das ist doch nur ein Flugzeug, das hier landet. Schau es dir einmal genau an.«

Da geschah es. Er nahm wahr, wie er jetzt und hier im Garten stand, in diesem Leben – und zugleich in einer anderen Zeit: in einem Leben vor mehreren tausend Jahren. Auch damals stand er mit seiner Tochter irgendwo auf dem Land. Er erkannte sich als Bauer und hatte ein eigenes kleines Heim. Auch in dieser Zeit stand seine Tochter rechts neben ihm, im selben Alter wie hier im Garten unter dem Flugzeug, und schaute ihn genauso verängstigt an. In dieser Zeitgleiche erkannte Yosh vor sich ein weites Feld, das Bauernhaus rechts neben ihnen mit seinem tiefen Dach, und in der Ferne sahen sie mehrere Flugobjekte, die zur Landung herabschwebten. In dieser Parallelität von Zeit und Raum und des gleichzeitigen ungetrennten Empfindens sagte er damals zu seiner Tochter:

»Das sind Freunde, hab keine Angst, die kommen schon länger hierher.«

Yosh fühlte die Erinnerung deutlich aufkommen. Er stand damals im selben Moment dort im Garten und in vergangener Ferne irgendwo auf dem Land neben seinem Bauernhaus, und diese zeitliche Verschmelzung hatte er als ebenso irreal empfunden, wie Michael es von seinem Erlebnis erzählte. Aus Yoshuas damaliger Sicht war es das erste bewusste Erleben einer ihm unbekannten GLEICHZEITIGKEIT, die er in zwei verschiedenen Körpern, aber sonderbarerweise mit einem Bewusstsein erkannte. Es war für ihn kein Sehen vom Garten aus in eine vorherige Zeit, vielmehr konnte er beide Zeiten in einem Moment erleben und sich als EINS empfinden in dieser Zweiheit. Er konnte diesen Zustand auch nicht mit dem Begriff Déjà-vu gleichsetzen. Seine Empfindung war nicht, den »vergangenen« Zustand schon einmal erlebt zu haben, sondern diese Situation in einem Moment in zwei voneinander getrennten Leben, aber mit einem Bewusstsein, gleichzeitig empfunden zu haben.

Sein Besucher schaute ihn fragend an und dieser Blick holte Yosh aus der Erinnerung zurück. Für einen kurzen Moment war er wieder im Garten unter dem Flugzeug gewesen und gleichzeitig vor mehreren tausend Jahren auf dem Land. Aber gleichzeitig auch hier in seinem Arbeitszimmer.

Es blieb ihm nun keine andere Wahl, als die universelle Wahrheit auszusprechen. Denn obwohl das ungewöhnliche Ereignis den lieben Michael vor viele Fragen stellte – die ihn ja schließlich zu Yosh getrieben hatten –, musste er ihn doch aus seinem Bewusstsein, ob des Erlebnisses etwas Besonderes zu sein, wieder herausholen.

»Ja, mein Lieber, ich darf Sie doch so nennen?«, Michael antwortete mit einem stummen Nicken, »das Mysterium greift nach jedem Menschen, will AUF-merksam machen. Es gibt da keine Exklusivität für ›besondere‹ Menschen. Sie sind da keine Ausnahme, denn jeder Mensch macht derartige Erfahrungen, die er aber meistens ungläubig als Nonsens abtut und letztlich für eine mögliche Bewusstseinstäuschung hält. Und glauben Sie mir, die Psychologen stehen bei derartigen Erscheinungen akustischer und visueller Art immer noch vor einem Rätsel. Sie aber gehören zu denen, die begonnen haben zu hinterfragen. Wollen Sie das Mysterium besser verstehen lernen?«

Und Yosh berichtete ihm von einer kleinen Gruppe, die sich zum Erlernen einer einfachen Entspannungsübung jeden Mittwochnachmittag bei ihm einfand.

»Wenn die aktuelle Übungsgruppe in drei Wochen beendet ist und sich sechs weitere Teilnehmer finden, können Sie gern mitmachen. Oder praktizieren Sie bereits eine aktive Methode zur Entspannung?«

Ein leichter Glanz erschien in Michaels Augen. Seine Freude war deutlich zu spüren; allerdings unbemerkbar für Außenstehende, die sich selbst noch nicht ganz geöffnet hatten. Denn erst wenn man das, was man heute gemeinhin mit Empathie bezeichnete, in sich aktiviert hatte, konnte man mit seinen Mitmenschen dasselbe empfinden. Es nicht nur nachvollziehen oder Ähnliches, sondern genau so empfinden.

Das Ganze war nicht mit drei Sätzen darzulegen. Deshalb machte Yosh ihm das Angebot mit der Mittwochsgruppe und erklärte:

»Der ›Zufall‹ will uns helfen, doch erst die Regelmäßigkeit unseres Tuns in diese ›zufällige‹ Richtung ist der Schlüssel zur weiteren Entwicklung und somit eine unentwegt andauernde Übung.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich Sie verstanden habe.«

Yosh holte etwas weiter aus und wollte ihm von einem Erlebnis berichten, das er selbst als junger Mann erlebte. Durch das Autogene Training hatte er zu jener Zeit gelernt, sich zu jeder Zeit in einen stillen und entspannten Zustand zu versetzen. So, wie er es heute Michael anbot, hatte Yosh damals unter Anweisung eines sehr erfahrenen Mannes die einzelnen Übungen kennengelernt und täglich fleißig praktiziert.

»Die Wirkung dieser Technik ist von ihrer gedanklichen Ausrichtung abhängig, und je geübter man wird, desto leichter und schneller kann man sich in diesen Entspannungszustand versetzen. Es geht nicht von allein, denn wir formen und programmieren in dieser Übung nach und nach, durch und vor unserem geistigen Auge. All dies braucht seine Zeit. Immerhin, wenn Sie zum Ende des Kurses gelangen, werden Sie eine Überraschung erleben.«

Jetzt war Michael Feuer und Flamme. Das war weitaus mehr, als er zu erwarten gehofft hatte. Sogleich fragte er nach dem Datum des nächsten Kurses und Yosh entschied sich erst einmal dagegen, von seinem Erlebnis zu berichten.

»Drei Wochen noch, ich denke, ich hatte es schon erwähnt?«

»Äh, ja. Es war mir im Moment entfallen.«

Ja, so waren sie. Sie hörten zu, hörten aber nicht alles. Wenn man in einem Gespräch zum Beispiel die eigene Konzentration nach innen lenkte und an den eigenen Gedanken haftete, geschah es leicht, dass man einen Gesprächspartner zwar hörte, aber seine Botschaft nicht aufnehmen konnte. Aus einem Meter Entfernung trafen Schallwellen in das Ohr, aber sie drangen nicht ins Bewusstsein. Die Intensität der eigenen Gedanken war stärker und bildete einen Schutzschirm, weitaus stärker, als es die meisten Menschen ahnten. Und ein Einstieg in den bewussten Umgang mit den Gedanken war beispielsweise das Autogene Training.

Yosh bat seinen Gast um seine Telefonnummer, um ihn anrufen zu können, wenn die Anzahl der neuen Kursteilnehmer feststand. Mit einer Geste des Aufstehens geleitete er Michael zur Tür, denn in dreißig Minuten hatte Yosh ein Treffen mit einer weiteren Gruppe. An der Haustür fragte Michael, was er ihm schuldig sei.

»Betrachten Sie unseren ersten Termin als Geschenk des Hauses.«

Kapitel 3

Einige der Teilnehmer hatten sich bereits in der umgebauten ehemaligen Kfz-Werkstatt hinter dem Haus eingefunden. Yosh erfrischte sich noch kurz und zog sich dann im Obergeschoss des Wohnhauses um.

Vor einigen Jahren, als seine Tochter noch bei ihm wohnte und er sich wie heute bereits umgezogen hatte, sagte sie leicht provozierend, aber doch im Spaß zu ihm:

»Na, Papa, ziehst du wieder dein Tutu an?«

Damals konnte Yosh sich vor Lachen kaum halten.

»Nein, Prinzessin, dein Papa geht zur Seniorengymnastik.«

Jetzt strich er seinen Hakama1 glatt, denn die »Gymnastikgruppe« wollte in fünfzehn Minuten mit dem Training beginnen. Der Raum maß exakt zwölf mal zwölf Meter groß und hatte eine Höhe von viereinhalb Metern, nachdem die Decke abgehängt und mit kleinen Halogenleuchten bestückt worden war. Eine schmale Tür führte mittig direkt in die kleine Halle. Sie nannten diese Halle Dojo, was aus dem Japanischen kam und so viel wie ›Halle des Trainings‹ bedeutete. Der Hallenboden war mit einem Schwingboden ausgestattet und anschließend mit mittelweichen Matten ausgelegt worden. Längs der Eingangsseite war etwas Platz für die sich nach innen öffnende Tür gelassen worden, sodass ein circa ein Meter breiter mattenloser Gehstreifen zur Verfügung stand. Auf dieser Seite waren die Matten am Fußboden mit abgerundeten Buchehölzern fixiert, was ein Wegrutschen der Matten während des Trainings verhinderte. Diese Hölzer hatten zwei Drittel der Mattenhöhe, um Fußverletzungen vorzubeugen. Hier standen dann auch die Sporttaschen der Trainierenden in einem Regal, zusammen mit einigen Getränken. Vereinzelt lagen, je nach Temperatur, auch Handtücher am Mattenrand. Nicht irgendwie hingeschmissen, sondern genauso ordentlich abgelegt wie die Sandalen im westlichen, türseitigen Regal. Die Ostseite der Trainingshalle verfügte mittig über einen kleinen Schrein2, auf dem immer ein frisches Gesteck Blumen stand. Samira hatte schon vor Jahren die Kunst des Blumensteckens, Ikebana genannt, erlernt, und diese in Meditation führende Kunst erfüllte sie mit Freude – und das Dojo immer mit einem hübschen frischen Gesteck. Ihr Vater war vor vierzig Jahren aus der Türkei gekommen, und mittlerweile sagte man ihm nach, er sei deutscher geworden als so mancher Deutsche. Vielleicht lag es ja auch am Einfluss ihrer aus Bochum stammenden Mutter.

An der nördlichen, linken Seite des Eingangsbereichs hingen fünfzehn Bokken3, die, ebenso wie die Tanto4 darunter, hin und wieder zum Training benötigt wurden. Zur besseren Lichtausbeute hatte die gesamte Eingangsseite und die gegenüberliegende Ostseite eine anderthalb Meter hohe Fensterfront erhalten, die mit der abgehängten Decke einen harmonischen Abschluss bildete. Yosh verzichtete bewusst auf eine Fotografie oder eine andere Darstellung des Erfinders der Inneren Kampfkunst AI KI DO. In seiner Anfangszeit als Aikidoka, so nannten sich diese Kampfkünstler, hatte er einmal gehört, dass es nur den engen Freunden Ueshiba Moriheis gestattet war, sein Konterfei in der Trainingshalle zu veröffentlichen. Er, Ueshiba Morihei Sensei, war strikt gegen einen derartigen Personenkult. Also zierten oberhalb des Schreins drei japanische Schriftzeichen den Raum, in schwarzer Farbe mit einem breiten Pinsel auf einem ein Meter vierzig langen und vierzig Zentimeter breiten weißen Leinstoff von oben nach unten geschrieben.

1 Traditioneller japanischer Hosenrock mit 7 Falten

2 Einem Altar ähnlicher Einbau

3 Japanisches Hartholzschwert, ca. 101 cm lang

4 Trainingsmesser aus Hartholz