Die Schatten, die dich jagen - Alex Smith - E-Book

Die Schatten, die dich jagen E-Book

Alex Smith

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Beschreibung

Manche Legenden sind tödlich … Im beschaulichen Norfolk wird die schlimm zugerichtete Leiche einer Frau im Wald gefunden. Schnell wird eine in der Gegend bekannte Legende zum Leben erweckt: Shuck, eine wilde Bestie, soll die Frau getötet haben. Doch die Wunden des Opfers stammen eindeutig nicht von einem Tier. Detective Chief Inspector Robert Kett kämpft derweil mit seinen eigenen Dämonen: Er leidet unter dem Verschwinden seiner Frau, und zudem bremst ihn eine Schussverletzung aus. Doch als eine zweite, noch übler zugerichtete Leiche auftaucht, vergisst er jeden Schmerz und konzentriert sich ganz auf seine Mission: den vielleicht gefährlichsten Serienkiller zu jagen, den das Land je erlebt hat. Düster und nervenaufreibend – der zweite Teil der Erfolgsserie um DCI Robert Kett.

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Seitenzahl: 355

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Alex Smith

Die Schatten, die dich jagen

Thriller

 

 

Aus dem Englischen von Alice Jakubeit

 

Über dieses Buch

Manche Legenden sind tödlich …

Im beschaulichen Norfolk wird die schlimm zugerichtete Leiche einer Frau im Wald gefunden. Schnell wird eine in der Gegend bekannte Legende zum Leben erweckt: Shuck, eine wilde Bestie, soll die Frau getötet haben. Doch die Wunden des Opfers stammen eindeutig nicht von einem Tier. Detective Chief Inspector Robert Kett kämpft derweil mit seinen eigenen Dämonen: Er leidet unter dem Verschwinden seiner Frau, und zudem bremst ihn eine Schussverletzung aus. Doch als eine zweite, noch übler zugerichtete Leiche auftaucht, vergisst er jeden Schmerz und konzentriert sich ganz auf seine Mission: den vielleicht gefährlichsten Serienkiller zu jagen, den das Land je erlebt hat.

Vita

Alex Smith schrieb sein erstes Buch im Alter von sechs Jahren. Es war nicht gerade gut, aber es kamen übernatürliche Monster darin vor. Später veröffentlichte er Horror-Romane unter seinem vollen Namen Alexander Gordon Smith. Seine drei Töchter inspirierten ihn dazu, über einen Detective zu schreiben, der ebenfalls kleine Kinder hat. In den Thrillern mit DCI Robert Kett geht es wieder um Monster, die sind jedoch menschlicher Natur und daher umso Furcht einflößender. Alex Smith lebt in Norwich mit seiner Frau und seinen Kindern.

 

Alice Jakubeit übersetzt Romane, Sachbücher und Reportagen aus dem Englischen und Spanischen, u.a. Alexander McCall Smith, Greer Hendricks & Sarah Pekkanen, Brian McGilloway und Eva García Sáenz. Sie lebt in Düsseldorf.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Copyright © 2020 by Alex Smith

Redaktion Jan Karsten

Covergestaltung zero-media.net, München

Coverabbildung FinePic®, München

ISBN 978-3-644-01727-6

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Barry, denBig Dog

PROLOG

Donnerstag

Es war einfach nicht das Gleiche ohne den Hund.

Sicher, Maurice war ein kleines Biest gewesen. Halb Mops, halb Gott weiß was noch, hatte er auf ihren täglichen Spaziergängen über die Felder niemals nicht bis zum Hals in Kuhscheiße gesteckt. Er hatte den Großteil seines Lebens damit verbracht, jeden Zaunpfahl, jedes grasbewachsene Hügelchen und jedes verwirrte Mutterschaf zu bespringen, dem er begegnete, selbst als er schon auf die vierzehn zuging und sein Fell eher grau als schwarz war. Roger Carver hatte den Großteil ihrer Spaziergänge damit verbracht, den Hund entweder anzubrüllen, zu retten oder nach Hause zu tragen, weil seine kurzen Beine müde waren. Maurice war eine unglaubliche Nervensäge gewesen.

Doch was würde er nicht dafür geben, ihn zurückzubekommen.

Roger seufzte, ein bisschen theatralischer als beabsichtigt. Die Abendluft war von Staub erfüllt, und die Stoppeln auf den kürzlich abgeernteten Feldern knisterten unter seinen Füßen. Zu seiner Linken erstreckten sich kilometerweit helle, offene Felder und seufzten vor Erleichterung, nun, da ihre Last von ihnen genommen worden war. Zu seiner Rechten lag der alte, finstere Wald, dessen Bäume schon mit Orange- und Brauntönen geschmückt waren. Der Herbst war unleugbar da, und er würde kalt werden. Roger lebte lange genug in diesem Teil der Welt, um die Jahreszeiten einschätzen zu können, sogar im notorisch unberechenbaren Klima East Anglias.

«Amüsierst dich also nicht», sagte Sally ein paar Schritte hinter ihm. Es klang wie ein Vorwurf, und als er einen Blick über die Schulter auf ihr säuerliches Gesicht warf, wusste er, dass sie es genau so gemeint hatte. Abrupt stieg Wut in ihm auf – vielleicht sogar Hass –, doch er schluckte diese Gefühle herunter. Unwillkürlich sah er sich nach dem Hund um, und wieder schmerzte es, als schlüge ihm jemand mit dem Hammer aufs Herz, als ihm einfiel, dass Maurice nicht mehr da war. Dass er nie wieder da sein würde.

Der blöde kleine Scheißer.

«Mir geht’s gut», sagte er und hörte den passiv-aggressiven Unterton selbst.

«Ja, dir geht’s gut», gab sie vor Sarkasmus triefend zurück. «Dir geht’s immer gut.»

Wie waren sie bloß an diesen Punkt gelangt, Sally und er? Sie waren erst sieben Jahre zusammen. Nach so kurzer Zeit konnte das Fundament ihrer Beziehung doch noch nicht dermaßen verrottet sein. Sie waren beide jung, er ein paar Monate jenseits der fünfunddreißig, sie ein paar Wochen diesseits, mit guten Jobs und ohne Kinder – und auch ohne Kinderwunsch. Die Welt stand ihnen offen, und sie waren so begierig darauf gewesen, sie zu erobern. Maurice, der alte Hund, war ihre einzige Verbindlichkeit gewesen, nur er hatte sie ein bisschen an die Leine genommen. Ohne ihn war alles möglich.

Jedenfalls Sally zufolge.

«Sieh mal», sagte sie. «Du hast es selbst zugegeben, er hatte Schmerzen. Es wurde Zeit für ihn.»

Sie näherten sich dem Rand des Ackers und mussten achtgeben, damit sie sich in den harten Furchen nicht die Knöchel verstauchten. Vor ihnen, dort, wo das offene Feld an den Wald grenzte, stand ein verwitterter Zauntritt, und Roger wusste, dass irgendwo darauf etwas eingeritzt war: Rog + Sal + Maurice für immer. Sie hatten es mit Sallys Wohnungsschlüssel ins Holz gekerbt, kurz nachdem sie zusammengekommen waren.

«Ich weiß», erwiderte Roger. «Schon gut. Ich habe doch gesagt, mir geht’s gut. Was willst du denn von mir hören? Du hast meinen Hund getötet?»

Die Worte waren heraus, bevor er sie sich verkneifen konnte, und nun konnte er sie nicht zurücknehmen. Er hörte Sally nach Luft schnappen und wappnete sich für das, was gleich kommen würde. Doch sie erwiderte nichts, und als er sich umblickte, sah er, dass sie stehen geblieben war. Die Sonne gab noch so viel Licht, dass es auf den Tränen glitzerte, die Sally in die Augen traten und sich einen Weg über ihre staubigen Wangen bahnten.

«Denkst du das wirklich?», fragte sie.

Roger zuckte die Achseln, räusperte sich. Er packte den Pfosten. Das Holz fühlte sich feucht an.

«Nein», sagte er schließlich. «Aber du wolltest es einfach nicht auf sich beruhen lassen, hast immer wieder davon angefangen. Er hätte operiert werden können. Vielleicht hätte er noch ein paar Jahre gehabt.»

Sally schüttelte den Kopf und schlang sich die Arme so fest um den Brustkorb, dass ihre weiße Jacke wie eine Zwangsjacke aussah.

«Er lag im Sterben», sagte sie. «Das hat der Tierarzt gesagt. Ich dachte … ich habe dich da nicht reingeschleift. Ich dachte, du wolltest es so?»

«Du wolltest es so», gab Roger zurück. «Du wolltest das schon immer. Du wolltest ihn einfach loswerden.»

Er wartete auf die Einwände, die Verteidigung, die Entschuldigungen. Doch stattdessen verwandelte sich ihre Traurigkeit in etwas anderes.

«Ach, fick dich, Roger.»

Sally machte kehrt, stolperte in ihren Gummistiefeln und ging davon.

«Was?», fragte Roger und erstickte beinahe an dem Wort. «Nein, fick du dich. Miststück.»

Er ließ sie gehen, stieg über den Zauntritt und schob sich durch die Weißdornbüsche dahinter auf den nächsten Acker. Er kam nur drei Schritte weit – vor Wut pochten die Adern an seinen Schläfen bei jedem Herzschlag, und der Himmel schien zu tanzen –, dann zwang er sich stehen zu bleiben.

«Scheiße», murmelte er.

Er war wütend auf Sally, weil sie recht hatte. Maurice hatte an der Schwelle des Todes gestanden. Ja, sie hätten ihn aufschneiden und so viel von seinem Krebs herausholen können, dass er noch ein bisschen weitergelebt hätte, aber er hätte konstante Schmerzen gehabt und jeden Tag Medikamente benötigt – falls er denn die Operation und die Genesungszeit überlebt hätte. Die arme Socke hatte ja nicht einmal mehr sehen und nicht mehr als ein paar Schritte tun können. Er hatte ein wunderbares Leben gehabt, und Sally hatte recht – es war Zeit für ihn gewesen.

In der Ferne hörte er Sally genervt schreien. Und diesmal nahm er es ihr nicht übel. Er führte sich wie ein Arsch auf.

«Scheiße», sagte er noch einmal, machte kehrt und kämpfte sich zurück zum Zauntritt. «Sally!», brüllte er. «Sal, warte, es tut mir leid.»

Auf dem Acker war nichts von ihr zu sehen, sie musste also gerannt sein. Roger lief ihr hinterher. Die Erde zerkrümelte unter seinen Schritten, sodass er das Gefühl hatte, in einem Traum zu laufen, ohne voranzukommen. Er hielt den Blick zu Boden gerichtet und war so darauf konzentriert, dass er es beinahe übersehen hätte – ein Aufblitzen von Weiß zwischen den Bäumen links von ihm.

Er blieb stehen. Sein Herzschlag war das einzige Geräusch auf der Welt. Ganz kurz dachte er, er hätte es sich eingebildet, aber als er mit zusammengekniffenen Augen in den Wald spähte, sah er es noch einmal. Etwas Weißes, das sich schnell bewegte.

«Sally!», brüllte er. Warum zum Teufel lief sie in diese Richtung? Es war kein großer Wald, nur ein schmaler Streifen, der sich von ihrem Dorf hinunter nach Beccles zog, doch die Bäume waren alt und schirmten das letzte Tageslicht ab. Der Abend brach im Wald früh herein, und Schatten krochen zwischen die knorrigen Stämme. Roger erschauerte in seiner Barbourjacke.

Lass sie doch, dachte er. Sie kriegt sich wieder ein.

Aber er hatte ihr unrecht getan, und je länger er die Entschuldigung aufschob, desto unerfreulicher würde es werden.

«Sally!», rief er, krabbelte die niedrige Böschung hinauf, packte einen Ast und hievte sich in den Schatten einer gewaltigen Eibe. Sofort war die Luft um zehn Grad kühler. Wo war Sally hin?

Vorsichtig stieg er über die Wurzeln hinweg, blinzelte sich den Staub des Stoppelfeldes aus den Augen und versuchte, in den schwankenden Schatten etwas zu erkennen. Da, ein flüchtiger Blick auf etwas Weißes, gleich darauf wieder verschwunden.

«Ich weiß, du hast ihn geliebt.» Rogers Worte wurden von den Bäumen verschluckt. «Er hat dich auch geliebt. Es tut mir leid, was ich gesagt habe, ich bin einfach immer noch außer mir.»

Ihre Antwort war ein Flüstern, oder vielleicht ließ das erdrückende Gewicht der Äste und Blätter über ihm auch nicht zu, dass ihre Stimme zu ihm drang. Roger zögerte und blickte sich um. Der Acker wirkte weiter entfernt, als er gedacht hätte, der Tag zu dunkel. Roger mochte den Wald nicht, seit er sich als Kind auf einem Schulausflug im Thetford Forest verirrt hatte – zwar nicht einmal eine Stunde lang, doch das genügte, wenn man neun war. Nirgendwo fühlte man sich kleiner als unter Bäumen, nirgendwo verletzlicher.

«Ich sag dir was», rief er und wagte sich weiter vor. «Lass uns eine Weile wegfahren. Nehmen wir uns einfach eine Auszeit und fahren irgendwohin.»

Ein Zweig zerbrach unter seinem Fuß, es klang wie ein Gewehrschuss. Ihm blieb fast das Herz stehen, und er fasste sich an die Brust.

«Sally?»

Vor ihm ertönte ein weiteres Geräusch, aber dieses klang nicht nach Sally. Es klang überhaupt nicht menschlich. Es war ein tiefes Knurren, fast hundeähnlich, aber lauter. Vielleicht ging da jemand mit seinem Hund im Wald spazieren. Es war kein häufig genutzter Weg – in all den Jahren, in denen sie jetzt schon über diese Felder liefen, waren sie nur selten jemandem begegnet –, doch dank der großen Neubausiedlungen in der Gegend zogen ständig neue Leute zu.

Er ging weiter, und als der Boden unebener wurde, stützte er sich an den gewaltigen Baumstämmen ab. Hin und wieder erhaschte er einen Blick auf Sallys Jacke, kam ihr mit jedem Schritt näher. Sie setzte sich. Oder hatte sich sogar hingelegt. Wartete auf ihn, hoffte er. Vielleicht würden sie sich umarmen, sich beieinander entschuldigen und nach Hause gehen. Vielleicht konnte dies wirklich der Beginn von etwas Neuem zwischen ihnen sein, eine Art Freiheit. Während er das dachte, trat er auf eine kleine sonnenbeschienene Lichtung und spürte eine mächtige Welle der Erleichterung – es grenzte schon an Freude.

Das Gefühl war nicht von Dauer.

Er kletterte von einer Baumwurzel herunter, die so dick wie ein menschlicher Torso war, und plötzlich war sie da.

Jedenfalls ein Teil von ihr.

Hinter einem Farnbüschel ragte ein weiß bekleideter Arm hervor. Er zuckte, die Hand hüpfte auf und ab, als winkte sie ihm zu. Jetzt, wo er stehen geblieben war, nahm er ein neues Geräusch wahr – eine Art schmatzendes Mahlen.

Roger öffnete den Mund, um Sallys Namen zu sagen, fand aber nichts als Staub in seiner Lunge. Eine Hand auf dem Baumstamm, trat er einen Schritt zur Seite, dann noch einen, und jedes Mal konnte er mehr von seiner Freundin sehen – ihren Ellbogen, ihren Oberarm, ihre Schulter, ihren Nacken.

Anfangs erkannte er nicht, was das da überall auf ihrer Haut war, weil es in der Dunkelheit des Waldes wie Tinte aussah. Erst als er einen weiteren Schritt tat, bemerkte er das Blut an ihrem Jackenaufschlag, so leuchtend rot, dass es unecht wirkte. Und das war auch das Erste, was ihm durch den Kopf ging: dass dies ein Trick war, ein Streich. Noch als er auf sie zustolperte und ihr Gesicht erblickte, ihre offenen, flehenden, verzweifelten Augen, konnte er es nicht glauben.

Denn was er da sah, war unmöglich.

Da saß etwas auf ihr. Etwas Großes, Gekrümmtes, ein von verfilzten Haarbüscheln bedeckter Körper, so dunkel, dass er bloß aus Rauch und Schatten zu bestehen schien. Der unförmige Kopf zuckte hoch, und das Wesen schnüffelte durch unregelmäßige Nasenlöcher. Dann versenkte es das Maul in Sallys Brust, und sie ächzte.

Nein.

Die Angst war anders als alles, was Roger je empfunden hatte, sie war ein lebendes Wesen in seinem Inneren, kalt und dunkel. Sally starrte ihn an, ihr Mund öffnete sich, und sogar im Halbdunkel des Waldes konnte Roger ihr die Worte von den blutigen Lippen ablesen.

Bitte.

Sally hob den Arm, und das Wesen drückte ihn wieder zu Boden. Sie versuchte es erneut, als erwartete sie, dass Roger ihre Hand nahm und sie fortzog.

Er tat es nicht. Er konnte nicht.

Das Tier – ein Hund sicherlich, ein Jagdhund – hob erneut den Kopf und blickte hinter sich zwischen die Bäume. Seine Augen waren zwei Silberpennys, und es lag nichts als Hunger und Tod in seinem Blick.

Doch die zu einem Grinsen verzogenen Lippen waren beinahe menschlich.

Es schnüffelte. Es blickte Roger an. Und unter ihm streckte Sally mit letzter Kraft die Hand nach ihm aus.

Tut mir leid, sagte er. Er kreischte es in seinem Kopf und hoffte, sie werde ihn hören, obwohl er stumm blieb, obwohl er ihr bereits den Rücken zugekehrt hatte, obwohl er nur davonrennen konnte. Tut mir leid! Tut mir leid! Tut mir leid!

KAPITEL EINS

Freitag

«Wie geht es Ihnen, Robbie?»

Detective Chief Inspector Robert Kett bemühte sich, nicht finster dreinzublicken, doch es fiel ihm schwer. Der Mann, der ihm in dem staubigen kleinen Raum im hinteren Teil der Polizeizentrale von Norfolk gegenübersaß, hatte ein Gesicht, in das man sofort hineinschlagen wollte. Mit seinen Hängebacken und dem Mehrfachkinn – das sein Möglichstes tat, sich hinter einem weichen, flusigen Ziegenbart zu verbergen – sah er durch und durch wie der Psychologe aus, der er sein sollte. Die feuchten Augen blinzelten so rasch, dass es an einen tropfenden Wasserhahn erinnerte.

Doch es war sein Lächeln, bei dem Kett hätte schreien können. Es war so weich wie Käse und von gekünsteltem Mitgefühl verzerrt. Ich bin für Sie da, sollte dieses Lächeln ausdrücken. Ich spüre Ihren Schmerz, mir können Sie alles sagen. Aber bei Kett kam bloß an: Schlag mich, so fest du kannst!

«Hm?» Kett merkte, dass er kein Wort von dem gehört hatte, was der Mann gesagt hatte. Er hob die Hand und rieb behutsam seine Schulter unter dem Hemd und dem dicken Verband. Die Stichverletzung, die er bei seinem letzten Fall erlitten hatte, spürte er noch immer, doch die Medikamente hielten die Schmerzen in Schach. Im Moment war es eher die Erinnerung an Schmerzen. Eigentlich waren sie gar nicht mehr da.

Wie Billie, dachte er. Wie deine Frau. Nur eine Erinnerung. Nur ein Geist.

«Ich habe gefragt, wie es Ihnen geht», sagte der Psychologe. Diese Frage stellte ihm jeder, seit er vor etwas über sechs Wochen im Krankenhaus wach geworden war. Und er gab dieselbe Antwort wie immer.

«Es geht mir gut.»

Das war natürlich gelogen. Es ging ihm alles andere als gut. Bei dem Kampf mit Raymond Figg hatte er eine Stichverletzung an der Schulter und eine hässliche Schnittwunde an der Brust erlitten. Beide würden irgendwann verheilen. Die Narben in seinem Inneren jedoch würde er für den Rest seines Lebens spüren. Noch immer sah er die drei Zeitungszustellerinnen vor sich, diese jungen Mädchen, die aus ihrem Leben gerissen und direkt in die Hölle gezerrt worden waren. Gefesselt, geschlagen und beinahe ermordet. Mittlerweile ging es ihnen allen so weit wieder gut, das wusste er – Superintendent Colin Clare hielt ihn über ihre Fortschritte auf dem Laufenden, und Maisie und ihre Mutter hatten ihn sogar zweimal im Krankenhaus besucht –, aber es hätte auch ganz anders ausgehen können. Kett wusste nicht, ob man den Gestank eines solchen Erlebnisses jemals aus der Seele bekam.

«Robbie», setzte der Psychologe an und legte Stift und Notizblock auf dem Oberschenkel ab. Er trug eine beigefarbene Hose. «Es mag Ihnen unwichtig erscheinen, aber ein positives psychologisches Gutachten ist Voraussetzung für die Rückkehr in den aktiven Dienst. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen, aber das kann ich nur, wenn Sie ehrlich zu mir sind, wenn Sie rundheraus offen sind.»

Er rollte die Rs in «rundheraus» im Mund wie ein Pfefferminzbonbon. Kett spürte, wie er schon wieder das Gesicht verzog, und rieb mit der Hand darüber, als wollte er es glätten. Abgesehen von der näselnden Stimme des Psychologen war es unfassbar still im Raum, und wenn das buchgroße Fenster in der hinteren Wand nicht gewesen wäre – durch das nur ein kleiner Schimmer Morgenlicht hereinsickerte –, hätte er sich mühelos einreden können, dass es eine Gruft war.

Seine Gruft.

Die Stille hatte etwas fast Körperliches und drückte ihn nieder, und er atmete so tief ein, dass leise Schmerzen in seine Schulter krochen.

«Erstens», sagte er und grübelte über seine Worte nach, «bin ich nicht Robbie. Ich bin DCI Kett.»

«Sie sehen sich also noch immer vor allem als Polizist», entgegnete der Therapeut ungerührt. Er nahm seinen Stift und notierte sich etwas. Kett fragte sich, ob er sich eine Anleitung aufschrieb, wie man einen Stift, der einem in den Hintern geschoben wurde, wieder entfernte – denn wenn er nicht achtgab, würde er diese Anleitung bald brauchen.

«Ich verstehe die Frage nicht, Mr … ähm … Tut mir leid, ich habe Ihren Namen vergessen.»

«Nennen Sie mich Richard.»

Kurz Dick, dachte Kett, und jetzt fiel ihm wieder ein, dass der Therapeut sich als Richard Johnson vorgestellt hatte. Dick Johnson. Dick – Idiot. Manche Namen sprachen einfach für sich.

«Richard. Richtig.» Kett räusperte sich. «Es geht mir gut, Richard. Es war ein übler Fall mit üblen Menschen. Aber zwei dieser üblen Menschen sind tot, und einer kommt in den nächsten Jahrzehnten nicht mehr aus dem Gefängnis heraus. Dafür haben wir gesorgt. Ich lebe, die Mädchen leben, und das Leben geht weiter.»

«Das Leben geht weiter.» Der Therapeut tippte sich mit dem Stift an sein Mehrfachkinn. «Das ist eine interessante Formulierung.»

«Ja?», fragte Kett aufrichtig verwundert.

«Ja?», echote Richard und machte sich weitere Notizen. Kett sah sich im Raum um und fragte sich, ob hier irgendwo eine Kamera war, ob Pete Porter, Kate Savage und der Rest des Teams gleich hereinplatzen und sich totlachen würden. Aber da war nichts, nur er, Richard und diese nervtötende Stille.

«Hören Sie, ich weiß, warum ich hier bin», sagte Kett. «Ich verstehe, dass ich eine positive psychologische Beurteilung brauche. Aber ehrlich, es geht mir gut.»

Er bemühte sich zu lächeln, doch es gelang ihm wohl nicht sonderlich gut, denn Richard machte «ts, ts» und notierte sich wieder etwas auf seinem Block.

«Wie läuft es zu Hause?», fragte der Psychologe.

«Da ist auch alles gut», antwortete Kett.

Das stimmte streng genommen ebenso wenig. Alice, Evie und Moira schienen sich in ihrem neuen Haus wohlzufühlen, und die beiden älteren Mädchen lebten sich allmählich in der Schule und der Kita ein. Aber seit Kett aus dem Krankenhaus gekommen war, nahm er eine unterschwellige Angst bei allen dreien wahr. Das war natürlich seine Schuld. Er war mit ihnen nach Norwich gezogen, damit sie an einem sicheren Ort leben konnten, und ihre erste Erfahrung in dieser Stadt war gewesen, dass ihr Vater verletzt wurde. Alice war anhänglicher denn je, und Moira wirkte sogar noch verunsicherter als in den ersten Tagen nach Billies Entführung.

Billie.

Stumm sprach Kett ihren Namen, als könnte er sie damit irgendwie beschwören. Er schloss die Augen und sah sie vor sich, aber sie war mehr denn je ein Phantom. Zu seinem Entsetzen hatte er festgestellt, dass ihr Gesicht in den letzten beiden Wochen am Rand zu verblassen begonnen hatte, als wäre sie ein Gemälde, das in Wasser getaucht wurde. Irgendwann würde er sie gar nicht mehr vor sich sehen.

Bis sie zurückkam natürlich. Bis sie zu ihm zurückkam.

Er seufzte und spürte wieder dieses dunkle Gewicht auf seinem Magen, auf seiner Brust. Den schwarzen Hund nannten manchen Menschen es. Das Gefühl, dass er niemals frei sein, sich niemals wieder wohlfühlen würde, egal, was er tat.

«Ich mache diese Arbeit schon lange», sagte Richard. Kett öffnete die Augen und sah bunte Pünktchen wie von einer Discobeleuchtung. Der Psychologe beugte sich vor. «Ihre Worte besagen das eine, doch ihr Körper sagt etwas ganz anderes. Ich weiß, wann es jemandem gut geht, und Ihnen geht es nicht gut.»

«Es geht mir gut», knurrte Kett. «Zeichnen Sie einfach Ihr verdammtes Formular ab und schicken Sie mich zurück an die Arbeit.»

Der Psychologe klopfte sich mit dem Stift aufs Knie, dann auf den Block, und dabei musterte er Kett, als wäre der eine Laborratte.

«Darf ich Sie nach Billie fragen? Nach Ihrer Frau?»

«Ich weiß, wer sie ist, Richard.» Kett schluckte schwer, um die Wut zu bezähmen, die in ihm aufstieg.

«Vermissen Sie sie noch?»

Kett musste tatsächlich die Lippen zwischen die Zähne klemmen, um die Schimpftirade zurückzuhalten, die sich aus seinem Mund zu ergießen drohte. Ob er sie vermisste? Ob er seine Frau vermisste, nachdem sie vor fünf Monaten am helllichten Tag in einer Londoner Straße entführt worden war? Ob er die Mutter seiner Kinder vermisste? Die Frau, mit der er den Rest seines Lebens verbringen wollte? Die Frau, die tot oder lebendig oder irgendetwas dazwischen sein konnte, bloß dass er keine Ahnung hatte, keine verfickte Ahnung, weil er nicht wusste, wo sie war? Obich meine verdammte Frau vermisse? Was glaubst du wohl, wie die Antwort auf diese Frage lautet, du Schwachmat?

«Ja», sagte er schließlich.

Richard machte sich eine Notiz dazu, dann beugte er sich erneut vor und klopfte mit dem Stift an seine Zähne.

«Robbie, gibt es da etwas …»

«Darf ich Ihnen eine Geschichte erzählen?», unterbrach ihn Kett und beugte sich seinerseits so weit vor, dass er dem Psychologen notfalls einen Kopfstoß versetzen konnte. Richard schluckte unbehaglich, wich aber nicht zurück.

«Bitte», sagte er, und sein Stift schlug immer noch klack, klack, klack gegen seine Schneidezähne.

«Vor ein paar Jahren hatte ich mal einen Fall», sagte Kett leise. «Das war noch bei der Met. Ich war ein junger Detective Constable, frisch aus der Weiterbildung. Ich wurde zu einem Lagerhaus in den Docklands gerufen. Das war eine regelrechte Müllkippe. Pete war bei mir. Porter meine ich. Das Lagerhaus sollte verkauft werden, und ein Gutachter war da, um es zu schätzen, wahrscheinlich für Wohnungen. Jedenfalls, während er da rumfuhrwerkt, entdeckt er eine Leiche, halb unter einem Teil des Dachs verborgen, nur die Beine gucken hervor – so à la Böse Hexe des Ostens. Also ruft er natürlich uns, und ich soll dem nachgehen. Wir räumen die Trümmer weg, um mehr sehen zu können, und finden einen Mann. Und wissen Sie, wie er gestorben war?»

Richard schüttelte den Kopf, die Augen so groß wie Soleier. Der Stift schlug jetzt schneller gegen die Zähne, wie ein Metronom.

«Jemand hatte ihm zwei Bleistifte ins Gesicht gerammt, in jedes Auge einen. Sie hatten die Augenhöhlen und den Frontallappen durchdrungen, quasi eine Lobotomie.»

Kett warf einen vielsagenden Blick auf Richards Bleistift. Abrupt hielt der Psychologe seine Hand still.

«Stellen Sie sich vor, welche Kraft dafür benötigt wird», fuhr Kett fort. «Um jemandem einen Bleistift in den Schädel zu rammen. Aber es ist machbar.»

In diesem düsteren Raum war es schwer zu beurteilen, aber aus Richards Gesicht schien der Großteil des Bluts gewichen zu sein. Er lehnte sich zurück und legte den Bleistift auf den Tisch, dann sah er Kett an. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, beugte sich stattdessen aber wieder zum Schreibtisch vor, öffnete eine Schublade und legte den Bleistift hinein.

«Ähm …», sagte er, während er die Schublade zuschob.

«Ähm, allerdings», sagte Kett. «Das ist eine interessante Formulierung. Also was ist jetzt, Richard, schreiben Sie mich gesund?»

Ehe der Psychologe antworten konnte, klopfte jemand an die Tür und öffnete sie, ohne eine Antwort abzuwarten. Kett staunte über die Erleichterung, die er empfand, als er Superintendent Clares finsteren Blick auf sich gerichtet sah.

«Verzeihung», sagte der Psychologe. «Sie können hier nicht einfach so hereinplatzen. Dies ist eine vertrauliche Sitzung.»

«Ach, halten Sie die Klappe, Johnson, Sie Pflaume», sagte Clare. «Schreiben Sie ihn gesund, ja?»

«Das kann ich auf keinen Fall tun», erwiderte Richard und schüttelte den Kopf. «Sehen Sie, DCI Kett hat durch einen gefährlichen Kriminellen ein schweres körperliches und psychisches Trauma erlitten. Er leidet unter einer Angststörung und sehr wahrscheinlich einer Depression, die Entführung seiner Frau hat ihn gezeichnet und macht ihn potenziell unbesonnen und gefährlich. Er hat eine selbstzerstörerische Ader, er könnte jederzeit ausrasten und alle anderen mit in den Abgrund reißen. Er ist nicht in der Verfassung, irgendeine Art von aktivem Dienst auszuüben. Er braucht Ruhe, er braucht Zeit mit seinen Kindern, und er muss einmal die Woche zu mir kommen, bis ich den Eindruck habe, dass es ihm wieder gut geht.»

«Er muss gesundgeschrieben werden», sagte Clare. «Und Sie werden das jetzt sofort machen, oder ich schwöre bei Gott, ich sperre Sie hier drin ein und stecke ihnen den Schlüssel so tief hinten rein, dass Sie eine Woche warten müssen, bis er wieder rauskommt. Wir brauchen ihn, und wir brauchen ihn sofort.»

«Warum?», fragte Kett.

Clare wandte sich ihm zu, seine Miene war düster.

«Weil wir eine Tote im Wald haben und ein Ungeheuer, das frei herumläuft.»

KAPITEL ZWEI

Sie fuhren mit Clares Wagen – einem Mercedes-Ungetüm, das aussah, als gehörte es in die 1980er. Am Rückspiegel hingen nicht ein, sondern fünf Kiefern-Lufterfrischer, und der Geruch war so penetrant, dass er sich hinten in Ketts Rachen festsetzte. Er kurbelte das Fenster herunter, während der alte Wagen die Auffahrt zur Schnellstraße hinaufächzte, und ließ sich den Fahrtwind um die Ohren brausen.

«Tut mir leid», sagte Clare.

«Schon gut», erwiderte Kett und versuchte, nicht zu würgen. «Ich meine, fünf kommt mir ein bisschen extrem vor. Wie soll man hier drin denn atmen?»

Clare sah ihn verwirrt an. Kett schnippte gegen die Lufterfrischer und setzte eine weitere Ladung giftigen Dunst frei. Er war schon in vielen Kiefernwäldern gewesen, aber keiner hatte auch nur ansatzweise so gerochen. Genau genommen war der einzige Ort, an dem es tatsächlich genauso roch, ein Dixie-Klo.

«Ach so.» Clare schnupperte. «Es riecht ein bisschen streng, ja. Das sind die Kinder. Teenager, die sind widerlich. Diese ganzen verdammten Sportsachen. Ich mache einen frischen auf, sie sind im Handschuhfach.»

«Nein!» Entsetzt sah Kett Clare an und fragte sich, ob der Super wegen der vielen Haare in der Nase nichts riechen konnte. «Himmel, nein. Schon gut, wirklich. Wofür haben Sie sich entschuldigt?»

«Für Richard Johnson.» Clare überholte einen Bus. Der Mercedes ruckelte beängstigend, alles klapperte – auch Ketts Knochen. «Doppelkinn-Dick. Der Mann sieht aus wie eine Folienkartoffel und ist auch in etwa so hilfreich. Hört sich gern reden. Aber er ist der Sohn des Hamsters des Bruders vom Mann der Cousine des Chief Constable oder so ähnlich, wir werden ihn also nicht los. Er schreibt Ihnen ein positives psychologisches Gutachten.»

Clare warf ihm einen kurzen Blick zu.

«Jedenfalls, wenn Sie das wollen», fügte er hinzu. «Wie geht es Ihnen, Robbie?»

«Mir geht’s gut», erwiderte Kett, ohne auch nur zu überlegen. «Mir ging’s noch nie besser.»

«Klar. Glauben Sie mir, mir ging es in meinem Leben auch oft ‹gut›. Sie kommen da wieder raus. Ich weiß, Sie sorgen sich um Billie. Ich weiß, Sie sind enttäuscht.»

Enttäuscht traf es nicht. Er sah immer noch vor sich, wie Raymond Figg im Scheinwerferlicht der Kläranlage stand, hatte immer noch im Ohr, was er gesagt hatte, Speichelflöckchen auf den Lippen.

Fragen Sie mich doch, woher Billie den Pig Man kannte. Fragen Sie mich, was das mit dem Khan-Jungen zu tun hat. Ihr Cops, ihr glaubt, wir seien alle Jack the Rippers, die allein arbeiten. Ihr glaubt, wir reden nicht miteinander. Aber das tun wir, wir tauschen uns alle aus, wir konkurrieren alle miteinander, wir folgen einander alle auf dem blöden Facebook. Sie glauben, ich weiß es nicht, aber ich weiß es, ich weiß, wo sie …

Dann hatte Lochy Percival ihn getötet, und was er noch hatte sagen wollen, nahm er mit sich ins Grab. Für immer.

«Heute Morgen habe ich mit Bingo gesprochen», sagte Clare. «Ich wollte hören, wie sie vorankommen, ob sie noch irgendwas über diesen Pig Man herausgefunden haben. Er hat ein ganzes Team darauf angesetzt, unter der Leitung Ihres alten Freundes DS Ridgway. Sie werden ihn finden.»

Kett nickte. Er wusste das alles natürlich, weil er ebenfalls mit Bingo gesprochen hatte. Er sprach jeden Tag mit Bingo.

Irgendwas Neues?, fragte er immer. Und die Antwort lautete stets gleich.

Nichts.

«Sie finden sie», sagte Clare, nahm seine große Hand vom Lenkrad und drückte damit kurz Ketts unversehrte Schulter. «Sie werden sie finden.»

Die Worte klangen zuversichtlich, doch sie setzten trotzdem eine weitere vernichtende Welle der Finsternis in ihm frei – eine Last, unter der er sich nur noch zusammenrollen und in den Fußraum gleiten lassen wollte. Er verscheuchte dieses Gefühl, so gut er konnte, und betrachtete durchs Fenster die sanft geschwungene Landschaft. Der Sommer war vorbei, die Felder waren abgeerntet. Der Herbst hing in den Baumkronen und am Horizont, kroch übers Land und jagte Vogelschwärme in V-Formation südwärts. Es war schon immer Ketts liebste Jahreszeit gewesen.

Billies ebenfalls.

Er zog das Telefon aus der Tasche und scrollte durch die Telefonnummern.

«Was dagegen?», fragte er, ohne die Antwort abzuwarten. Es läutete, dann noch einmal und noch einmal – und währenddessen vergaß sein Herz zu schlagen. Nach dem, was Billie zugestoßen war, nachdem er sie angerufen und angerufen und angerufen hatte an dem Tag, an dem sie entführt worden war, war jedes Freizeichen wie ein Hammer, der auf sein Herz einschlug.

«Hallo?», meldete sich die Tagesmutter unfassbar fröhlich. Kett atmete auf.

«Hier ist Robbie. Mr Kett. Wie geht es den Mädchen?»

«Wunderbar. Moira und Evie spielen so schön zusammen. Alice ist … Alice ist … ähm.»

«Alice ist Alice», sagte er. «Keine Sorge, ich weiß.»

«Sie ist wirklich toll. Solange ich nicht versuche, ihr das iPad wegzunehmen.»

«O Gott, tun Sie das bloß nicht», sagte Kett. «Das ist, als wollten Sie einem Grizzlybären ein Honigglas wegnehmen. Sie reißt Ihnen die Glieder aus. Ich will nicht lange stören, ich wollte nur …»

«Wer ist da?», fragte eine Kinderstimme, die er sofort erkannte.

«Es ist dein Dad», sagte die Tagesmutter. «Möchtest du mit ihm sprechen?»

Sie musste wohl genickt haben, denn es raschelte kurz, und dann atmete Evie ins Telefon wie ein Stalker. Er wollte sie schon fragen, ob alles in Ordnung sei, da brüllte sie so laut, dass der Hörer vibrierte.

«Ich hasse Bohnen!»

Wieder raschelte es, dann hörte Kett einen dumpfen Schlag, und die Verbindung brach ab. Stirnrunzelnd hielt er das Telefon noch einen Moment ans Ohr, dann schob er es wieder in die Tasche.

«Den Kindern geht’s gut?», fragte Clare.

«Jep, bis auf die Bohnen offenbar. Alle drei sind bei einer Tagesmutter, aber nur vorübergehend. Ich muss mir etwas anderes überlegen, vor allem, wenn ich wieder zur Arbeit gehe.»

«Babysitter?», fragte Clare. «Da kann ich Ihnen vielleicht helfen. Überlassen Sie das mir. Sie, ähm, Sie kommen also zurück?»

«Ich bin hier, oder?»

«Allerdings.»

Clare trat aufs Gaspedal, und der alte Mercedes schaffte es mühelos auf über hundertdreißig Stundenkilometer. Autos wummerten links an ihnen vorbei, darin Kinder mit großen Augen, japsende Hunde, erschöpfte Eltern.

«Was haben wir?», fragte Kett.

«Frau Ende zwanzig, Anfang dreißig», sagte der Superintendent. «Kein Ausweis. Sie wurde heute Morgen von Hundebesitzern in einem schmalen Waldgebiet direkt nördlich von Beccles gefunden. Sie nahmen an, sie sei von einem Tier getötet worden.»

«Von einem Tier?», fragte Kett. «Ich hätte nicht gedacht, dass Norfolk eine Gegend ist, wo die Wildtiere einen töten können. Was für ein Tier?»

«Ein Hund. Ein großer. Das Opfer hatte schwere Risswunden überall auf der Brust und am Hals und auch kleine Stichwunden. Hässlich.»

«Irgendeine Spur von dem Hund?», fragte Kett. Clare schüttelte den Kopf.

«Und keine Zeugen. Wir haben zwar einen Bauern, der behauptet, die Frau gestern Abend mit einem Mann zusammen gesehen zu haben. Er erinnert sich an sie, weil sie keinen Hund dabeihatten. Die meisten Leute in diesem Waldgebiet sind entweder Jogger oder Hundebesitzer. Allerdings hatte der Bauer schon tief in eine Flasche Frühstückswodka geguckt, als wir mit ihm sprachen, ich nehme seine Geschichte also mit einem Hauch verarschen kann ich mich alleine.»

«Aber von diesem Mann keine Spur?», fragte Kett nach, und Clare schüttelte erneut den Kopf.

Der Super knallte den Fuß auf die Bremse, und der Wagen wurde widerstrebend langsamer. Sie fuhren von der Hauptstraße ab.

«Bei allem Respekt, Sir. Warum brauchen Sie mich bei einer Hundeattacke?»

Clare nahm einen Kreisverkehr, als wollte er, dass die Fliehkraft sie aus dem Gravitationsfeld der Erde trug.

«Sie sind doch von hier, oder? Ich meine, Sie sind hier aufgewachsen, stimmt’s?»

Kett nickte. «Bin mit zwölf aus Norwich weg.»

«Erinnern Sie sich an die Geschichten vom Black Shuck?»

«Der Alte Shuck? Der Geisterhund von East Anglia? Klar. Also, nicht an viel, aber man kann nicht hier leben, ohne davon zu hören.» Kett hielt inne und runzelte die Stirn. «Moment mal – warum?»

«Weil der unserem Bauern zufolge in dem Wald da rumläuft. Er hat ihn gesehen.» Clare warf ihm einen Blick zu, die Stirn noch stärker gerunzelt als sonst schon. «Er hat Black Shuck, den Dämonenhund, gesehen.»

***

Der Tatort lag ein gutes Stück zu Fuß von der nächsten Straße entfernt, aber die frische Luft war Kett willkommen.

Den Dixie-Klo-Kiefernduft würde er allerdings so schnell nicht mehr aus der Nase bekommen.

Clare übernahm die Führung und pflügte mit seinen großen Schritten über einen Acker voller Furchen, seine Papiere unter den Arm geklemmt. Kett ließ sich Zeit und achtete darauf, nicht über eine Furche zu stolpern. Links von ihm war die Welt hell und offen, in goldenes Sonnenlicht getaucht, die Luft vom Staub der Stoppelfelder erfüllt. Das Land fiel zu einem glänzenden Silberband in vier, fünf Kilometern Entfernung hin ab, das der Fluss Waveney sein musste. Es war ein so malerischer Anblick, dass es auch ein Gemälde hätte sein können, eine von Constables Landschaften.

Zu Ketts Rechten jedoch lag eine völlig andere Welt. Der Wald hier war alt, die unfassbar hohen Bäume standen dicht zusammen, so gebeugt und gebrochen wie verwundete Soldaten. Auf Kett machten sie den Eindruck, als hätten sie sich versammelt, um das Geschehen zu beobachten. Er bekam eine Gänsehaut und schüttelte sich unwillkürlich, was Clare trotz seines lauten Keuchens gehört zu haben schien.

«Gruselig, was?», fragte er. «Es wird noch schlimmer.»

Kett sah am Super vorbei zu einem Constable, dessen gelbe Jacke eine kleine Armee von Wespen angelockt zu haben schien. Der junge Mann sah entschieden unglücklich aus, als er ihnen zuwinkte.

«Hier entlang, Sir», sagte er und ließ die Hand über dem Kopf kreisen, als tanzte er einen Jig, während er den Verkehr regelte. «Vorsicht bei den kleinen Biestern.»

«Sie meinen die Suffolker?», fragte Clare mit einem grimmigen Lächeln.

«Ähm, nein», sagte der Constable. «Die Wespen.»

Clare verdrehte die Augen, während er Kett durch eine Lücke zwischen zwei gewaltigen Eiben lotste.

«Die Polizei Suffolk behauptet, der Fall gehöre ihnen», erklärte er. «Wir sind so ziemlich auf der Grenze. Wenn es nach mir ginge, könnten sie ihn haben, aber dann würde er niemals aufgeklärt.»

Kett nickte und trat aus dem hellen Tag in ein Dämmerlicht, das sich wie Mitternacht anfühlte. Es war, als hätten die Bäume ihn in eine Decke aus Dunkelheit und einen Schleier der Stille gehüllt, und er musste zurückblicken, um sich zu vergewissern, dass die Welt noch da war.

«Sachte jetzt», sagte Clare hinter ihm. «Der Boden ist tückisch. Es ist nicht weit.»

Das stimmte. Selbst von hier aus, im Schatten Tausender fingergleicher Zweige, konnte Kett das grelle Licht der Scheinwerfer vor ihnen sehen. Als er darauf zuging, schien jede Wurzel nach seinen Stiefeln, jeder Zweig nach seinem Gesicht zu greifen. Es war von Anfang an klar, dass der Wald ihn hier nicht haben wollte. Er wollte seine Geheimnisse schützen.

Und seine Toten.

Kett umrundete einen Haufen efeuerstickter Bäume und erblickte vor sich den Tatort. Die Spurensicherung hatte ein Zelt über der Leiche errichtet, und das Major Investigation Team, zuständig für schwere Verbrechen, drängte sich teils drinnen, teils draußen. In dem grellen Licht wirkte dieser Anblick beinahe wie ein Renaissance-Gemälde. Er blieb stehen und atmete tief durch, damit der dumpfe Schmerz, der tief in seiner Schulter saß, ein wenig nachließ.

«Sind Sie sicher, dass Sie dem gewachsen sind?», fragte Clare und blieb neben ihm stehen.

«Mir geht’s …»

«Gut, ja, ich weiß.» Der Super schüttelte den Kopf, und Kett wusste, er fragte sich, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte. «Dann kommen Sie, Kett. Ich nehme an, Sie erinnern sich an alle.»

Clares schwere Schritte kündigten ihn an, und einer nach dem anderen drehte sein Team sich zu ihm um. Kett nickte DS Alison Spalding zu, die ganz hinten stand und leise telefonierte. Sie ignorierte ihn und wandte sich ab, aber das graue Gesicht von DI Dunst wirkte ein bisschen freundlicher. Der altgediente Polizist neigte zum Gruß den Kopf und klopfte seine Jackentasche nach den Zigaretten ab.

«Kett», knurrte er. «Was macht der Arm?»

«Ist noch dran.» Kett streckte den unversehrten Arm aus und schüttelte Dunst die Hand. «Gerade eben.»

«Robbie?»

Diese Stimme kam aus dem Zeltinneren, und gleich drauf folgte ihr ein grinsendes Gesicht. DI Pete Porter kam heraus und hätte mit seinem riesenhaften Körper fast das gesamte Zelt mitgerissen. Er tat einen Schritt auf Kett zu und stolperte über eine Wurzel.

«Verkackter Scheiß!», brüllte er.

«Freut mich auch, dich zu sehen, Pete», sagte Kett und schüttelte ihm die Pranke. Pete zog ihn in die Arme und klopfte ihm so wuchtig auf den Rücken, dass er vor Schmerzen grunzte. Aber er freute sich aufrichtig, ihn zu sehen.

«Mann, es ist toll, dich wieder dabeizuhaben», sagte Porter. «Auch wenn’s mir für dich leidtut, dass wir dich hier an den Arsch der Welt geschleppt haben.» Er erschauerte und musterte die Schatten zwischen den Bäumen wie ein verängstigter Fünfjähriger. «Die Natur ist böse.»

Noch einmal raschelte es im Zelt, und PC Kate Savage erschien in ihrer Constable-Uniform. Sie wirkte ein bisschen grün um die Nase, aber das Lächeln, das sie Kett schenkte, war herzlich.

«Robbie», sagte sie, dann räusperte sie sich hastig. «Ich meine, DCI Kett. Schön, dass Sie wieder da sind, Sir.»

Er nickte ihr zu und erwiderte ihr Lächeln. Sowohl Savage als auch Porter hatten ihn mehr oder weniger täglich im Krankenhaus besucht und auch später zu Hause während seiner langen Reise zur Genesung. Selbstverständlich waren ihm beide willkommen gewesen, doch Savage war weitaus besser im Teekochen.

«Ich hätte gedacht, mittlerweile wären Sie Detective», sagte Kett, und Clare nickte.

«Wenn es nach mir ginge, wäre sie das», sagte er. «Aber die Mühlen der Bürokratie mahlen langsam. Keine Abkürzungen, nicht mal für die, die sie wirklich verdienen.»

«Demnächst sind meine Prüfungen», sagte Savage. «Drücken Sie mir die Daumen, dass ich diese Kluft bald los bin.»

«Wie auch immer», brummte Clare, drängte sich durch seine Mitarbeiter und hob die Zeltklappe an. «Schluss jetzt mit dem Familienwiedervereinigungsquatsch. Sind Sie bereit, Kett?»

Die ehrliche Antwort lautete, er war sich nicht sicher. Der schwarze Hund seiner Depression hockte noch knurrend in seinem Inneren, und hier draußen im kühlen, feuchten Wald pochte der Schmerz in seiner Schulter wie ein Hammer, der auf einen Amboss schlug. Unwillkürlich dachte er auch an seine Töchter, an Alice, Evie und Moira. Was würden sie zu ihm sagen, wenn sie wüssten, dass er wieder arbeitete, dass er sich kopfüber in einen weiteren gefährlichen Fall stürzte?

Er blickte ins Zelt auf die Leiche, die dort lag. Mehr Tod. Mehr Finsternis. Was würde es diesmal mit ihm machen?

«Robbie?», fragte Porter mit aufrichtig besorgter Miene. «Kein Druck, Mann, wir kommen auch ohne dich zurecht.»

Er sah seinen Freund an. Sah die übrigen Angehörigen des Teams an. Dann tat er seine Bedenken mit einem Achselzucken ab. Er war Robbie Kett, er war Kriminalpolizist, und im Moment war ein Fall aufzuklären.

Und ehrlich gesagt hatte er hier, in der unversöhnlichen Finsternis des Waldes, das Gefühl, endlich zu Hause zu sein.

KAPITEL DREI

Natürlich umfasste «zu Hause» normalerweise keine Frau, die von einem legendären Ungeheuer in Stücke gerissen worden war.

«Himmel», sagte Kett, als er geduckt ins Zelt trat. Er hielt sich Mund und Nase zu. Das Spurensicherungszelt sollte Verunreinigungen und Passanten von der Leiche fernhalten, aber noch erfolgreicher war es darin, den Gestank drinnen zu halten. Teils war es der Geruch des Todes, ja, aber da war auch noch etwas anderes, etwas Schlimmeres.

«Ja, es ist übel», sagte Savage, als sie hinter ihm eintrat.

«Wir haben sie für dich liegen lassen», sagte Porter direkt vor dem Zelteingang.

«Danke», murmelte Kett. «Was hat die Kriminaltechnik gesagt?»

«Was meinst du wohl?», erwiderte Porter.