Die Stimmen, die dich rufen - Alex Smith - E-Book

Die Stimmen, die dich rufen E-Book

Alex Smith

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Beschreibung

Die grandiose Bestsellerreihe aus Großbritannien geht weiter: der vierte Fall für Detective Chief Inspector Robert Kett, Spezialist für Vermisstenfälle. Seine Frau wurde entführt – und ist nach Wochen wieder zurück. Endlich ist die Familie von Detective Chief Inspector Robert Kett wieder vereint. Nur sind die seelischen und körperlichen Wunden noch lange nicht verheilt. Vom Dienst suspendiert, will der Spezialist für Vermisstenfälle mit seinen Kindern Urlaub an der Küste von Norfolk machen. Doch statt der dringend benötigten Ruhe findet Robert Kett dort eine Gemeinde im Ausnahmezustand vor: Vier Teenager sind aus einer Wohnwagensiedlung verschwunden, nachdem sie den Anweisungen auf einem alten Kassettenplayer gefolgt sind. Anweisungen, die sie direkt in die Falle ihres Kidnappers geführt haben. Ihre Zeit läuft ab, ihnen droht ein grausames Schicksal, wenn man den Spuren nicht folgt, die der Kidnapper hinterlegt hat. Er ist der Einzige, der wusste, wo sich die Jugendlichen befinden. Es gibt nur ein Problem: Er ist inzwischen tot. Band 1: Ein Schrei, den niemand hört Band 2: Die Schatten, die dich jagen Band 3: Die Angst, die niemals endet Band 4: Die Stimmen, die dich rufen

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Seitenzahl: 428

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Alex Smith

Die Stimmen, die dich rufen

Thriller

 

 

Aus dem Englischen von Alice Jakubeit

 

Über dieses Buch

Jedes Mal, wenn seine Stimme zu hören ist, könnte ein weiteres Kind sterben.

 

Vom Dienst suspendiert, will der Spezialist für Vermisstenfälle Robert Kett mit seinen Kindern Urlaub an der Küste von Norfolk machen. Doch statt der dringend benötigten Ruhe findet er dort eine Gemeinde im Ausnahmezustand vor: Vier Teenager sind aus einer Wohnwagensiedlung verschwunden, nachdem sie den Anweisungen auf einem alten Kassettenspieler gefolgt sind. Anweisungen, die sie direkt in die Falle ihres Kidnappers geführt haben. Ihre Zeit läuft ab, und ihnen droht ein grausames Schicksal, wenn man den Spuren nicht folgt, die der Kidnapper gelegt hat. Er ist der Einzige, der weiß, wo sich die Jugendlichen befinden. Es gibt nur ein Problem: Er ist inzwischen tot.

 

Der vierte Fall für DCI Robert Kett.

Vita

Alex Smith schrieb sein erstes Buch mit sechs Jahren. Es war nicht gerade gut, aber es kamen übernatürliche Monster darin vor. Später veröffentlichte er Horror-Romane unter seinem vollen Namen Alexander Gordon Smith. Seine Töchter inspirierten ihn, über einen Detective zu schreiben, der ebenfalls kleine Kinder hat. In diesen Thrillern geht es auch um Monster, diesmal menschlicher Natur und daher umso furchteinflößender. Seine 18-bändige Reihe um den Spezialisten für Vermisstenfälle Robert Kett wurde ein internationaler Bestseller. Alex Smith lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in Norwich.

 

 

 

Alice Jakubeit übersetzt Romane, Sachbücher und Reportagen aus dem Englischen und Spanischen, u. a. Alexander McCall Smith, Greer Hendricks & Sarah Pekkanen, Brian McGilloway und Eva García Sáenz. Sie lebt in Düsseldorf.

Impressum

Die englischsprachige Originalausgabe wurde 2020 unter dem Titel «Whip Crack» von Relentless Media weltweit veröffentlicht.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2025

Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Whip Crack» Copyright © 2020 by Alex Smith

Redaktion Jan Karsten

Covergestaltung zero-media.net, München

Coverabbildung Stephen K. Miller/Getty Images; FinePic®, München

ISBN 978-3-644-02409-0

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

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www.rowohlt.de

Für Lucy

Prolog

Samstag

Amy Greenacre war vierzehn Jahre alt und ganz und gar ein Kind des neuen Jahrtausends, weshalb sie den Gegenstand, der da im Katzenkorb lag, nicht einmal erkannte.

Gähnend ging sie an der Küchenzeile vorbei dorthin, wo morgens immer als Erstes die Sonne durchs Fenster schien. Sie trat ins Sonnenlicht, streckte sich genüsslich und versuchte, die Decke zu berühren. Dabei entfuhr ihr ein Laut, der halb Stöhnen, halb Quieken war. Sie rieb sich die Augen, dann wanderte ihr Blick durch den Wohnbereich ihres kleinen Häuschens.

«Wolfie?», flüsterte sie, um ihre Mutter und die Arschgeige, mit der diese letzte Nacht das Bett geteilt hatte, nicht zu wecken. «Wo steckst du, du Blödian?»

Von ihrem Kater war nichts zu sehen, allerdings hatte er so viel Fell im Korb gelassen, dass man leicht denken konnte, er sei noch dort. Ihrer Mutter zufolge war Wolfie eine Norwegische Waldkatze, ein zotteliges Knäuel aus schwarz-grau-weißem Fell, das die Hälfte seines Lebens damit verbrachte, einen Weg raus aus dem Schuhkarton zu finden, den sie ihr Zuhause nannten, und die andere Hälfte damit, wieder hineinzugelangen. Außerdem war er ein richtiges Biest, so unfreundlich wie nur etwas, und biss einem ebenso gern in den Finger, wie er einem auf den Schoß sprang. Doch er war Amys Baby, sie kannte ihn schon so lange, wie sie sich erinnern konnte, und es sah ihm nicht ähnlich, dass er nicht auf sie lauerte, wenn sie aus dem Bett stieg.

«Wolfie», sagte sie noch einmal. «Miez, miez.»

Sie griff nach dem Karton mit dem Katzenfutter auf der Arbeitsfläche, hielt dann aber inne. Im Katzenkorb lag etwas Schwarzes, Kastenförmiges. Es steckte zwischen dem Korbgeflecht und dem verdreckten alten Polster. Sie ging in die Hocke und zog es heraus. Es war ein hässlicher Kunststoffkasten von der Größe eines Taschenbuchs – erstaunlich schwer, mit fünf großen klobigen Tasten an der Oberseite. Sie drehte das Ding um. An einer Seite befand sich ein kleines Fenster, und dahinter sah sie etwas, das sie an die Retro-Ohrringe erinnerte, die ihre Freundin Tallulah einmal auf einem Ausflug nach Norwich bei Claire’s gekauft hatte: eine Kassette, so nannte man das wohl. Früher hatten die Leute damit Musik gehört.

Amy stand auf und legte das Ding auf die Arbeitsfläche.

«Wolfie», sagte sie noch einmal und klopfte sich auf die Oberschenkel. «Komm schon, Frühstück.»

Nichts.

«Na gut», murmelte Amy. «Dann fütter dich halt selbst.»

So leise wie möglich füllte sie den Wasserkessel, dann nahm sie den schwarzen Kunststoffkasten wieder in die Hand. Man musste kein Genie sein, um darauf zu kommen, wozu er gedacht war – auf den Tasten befanden sich die gleichen Symbole wie auf ihrem DVD-Spieler. Sie musste die Taste mit dem kleinen Dreieck mit beiden Daumen herunterdrücken, so schwergängig war sie. Der kleine Kasten vibrierte kaum merklich, und die Spulen der Kassette begannen sich zu drehen.

«Guten Morgen, Amy.»

Die Stimme war so laut, dass sie den Kasten beinahe fallen gelassen hätte. Sie hieb auf die Taste mit dem Quadrat, und das Band hielt an. Ihr Herz schlug wie ein dicker Brummer gegen ihre Rippen, und erst als sich das Zimmer schon zu drehen begann, dachte sie daran weiterzuatmen. Sie wartete darauf, dass die Schlafzimmertür sich öffnete und ihre Mutter auf einer Welle aus Flüchen und süßlichem Rum-Atem herausschoss. Stumm zählte sie bis zehn, und als dann immer noch alles ruhig blieb, entspannte sie sich wieder.

«Mann», sagte sie und drehte das Gerät mit schwitzigen Händen um. An der Seite war ein Rädchen, und sie drehte es bis zum Anschlag und dann wieder ein kleines Stück zurück. Erneut drückte sie die Play-Taste.

Leises Rauschen, ein Laut, der ein Schlucken sein mochte, dann wieder diese Stimme, viel leiser jetzt.

«Ich hoffe, du hast gut geschlafen.»

Sie wusste nicht, wer das war, was auch daran lag, dass die Stimme verfremdet worden war und jedes Wort in einer anderen Tonhöhe gesprochen wurde. Es klang fast wie ein Roboter, der versuchte, ein Lied zu singen.

«Ich heiße Wolfie, und ich bin dein Kater.»

Amy lachte und hielt den Kassettenspieler näher ans Ohr. Welcher Idiot war das denn? Ihre Mutter bestimmt nicht, und Beanie, der Widerling, der hier in letzter Zeit so oft abhing, garantiert auch nicht. Wahrscheinlich war es Dean, der spielte ständig irgendwelche bescheuerten Spielchen und forderte sie zu bekloppten Sachen heraus. Der Arsch.

Und dennoch dachte ein Teil von ihr, dass er es vielleicht doch nicht war. Vielleicht war es der andere Mann, der, über den sie nicht nachdenken wollte. Es fühlte sich nicht an wie etwas, das er tun würde, allein schon, weil er nicht schlau genug war, um auf so etwas zu kommen. Aber er war ein Psycho, und er hatte jedenfalls ein ungesundes Interesse an ihr gezeigt.

Was erwartest du auch?, fragte sie sich selbst. Er ist ein Drogendealer.

«Pst», sagte sie laut und verdrängte diese Gedanken, ehe ihre Mutter sie ihr irgendwie aus dem Kopf pflücken konnte.

«Miau», sagte die Stimme auf der Kassette, und irgendwie klang es, als hätte der Sprecher dabei gelächelt. «Siehst du? Das ist der Beweis. Ich bin ein Kater, und du bist Amy, und wir kennen uns sehr gut.»

Amy ging durch den Küchenbereich und am Sofa vorbei zum größten Fenster ihres Häuschens, zog das staubige, kaputte Rollo hoch und blickte hinaus in den für die Jahreszeit ungewöhnlich strahlenden Morgen. Es war still draußen. Verwitterte kastenförmige Ferienhäuschen zogen sich in einer Reihe die Anhöhe hinauf, die weißen Holzfassaden grün bemoost. Seemöwen saßen auf den Dächern oder kreisten am Himmel, und sie beneidete sie wie jeden Tag.

Sie beneidete und bemitleidete sie, denn obwohl sie fliegen konnten, obwohl sie hoch über die Steilwand aufsteigen und überallhin gelangen konnten, kamen sie doch immer wieder hierher zurück.

Der Sprecher schluckte, als würde er etwas essen.

«Ich möchte, dass du etwas für mich tust, Amy», sagte er. «Hörst du zu? Ich möchte, dass du mich suchst. Weißt du, ich sitze ein bisschen in der Patsche.»

Die Tür des Ferienhäuschens gegenüber öffnete sich. Die fette Morag kam heraus, schon eine qualmende Kippe zwischen den Lippen. Sie watschelte die Treppe hinunter, als trüge sie die Last der ganzen Welt auf ihren Schultern, und ließ sich auf den kleinen Plastikstuhl vor dem Haus fallen. Sie kniff die Augen zusammen und grüßte Amy. Amy winkte mit der freien Hand zurück.

«Gestern Abend habe ich ein Abenteuer erlebt», sagte die Stimme. «Meine Güte, was war das für ein Abenteuer! Ich bin meilenweit gelaufen und habe tolle Sachen gesehen. Ich war so außer mir vor Aufregung, dass ich den Heimweg nicht mehr gefunden habe, und jetzt ist mir kalt, und ich bin müde, und ich wünsche mir sehr, dass du mich holen kommst.»

Wieder lachte Amy und schüttelte den Kopf. Das war eindeutig einer der Jungs, dachte sie, nur die konnten so bescheuert sein.

«Na los, zieh dir Schuhe an. Braves Mädchen. Und auch eine Jacke, denn draußen ist es kalt. Kälter, als es aussieht.»

Amy runzelte die Stirn, dann hielt sie das Band an. Sie ging in den kleinen Flur, der zu den Schlafzimmern führte, um ihre Mutter zu wecken. Das war nur ein Streich, da war sie sich sicher, aber beunruhigend war es trotzdem. Immerhin war ihr Kater weg, und es war jemand im Haus gewesen – wie sollte das Ding sonst in Wolfies Korb gekommen sein?

Auf halbem Weg blieb sie verunsichert stehen. Wirbel aus Staubkörnchen drehten sich in dem Sonnenstrahl, der durch das Plexiglasoberlicht hereinfiel, und sahen wie kleine Galaxien aus. Sie hielt die Hand in den Lichtstrahl, griff nach den Staubwirbeln und beobachtete, wie ihre Finger aufleuchteten. Irgendetwas an den tanzenden Staubkörnchen ließ sie wieder an die Seemöwen denken, und es kam ihr vor, als wäre der Sonnenschein in sie hineingeschwebt, eine plötzliche Explosion von Wärme in ihrem Inneren.

Scheiß auf Mum, scheiß auf diesen Mistkerl Beanie. Sie waren den ganzen Abend unten im Anchor gewesen, und wenn Amy sie jetzt weckte, obwohl es noch keine neun war, würde die Stimmung für den Rest des Tages im Keller sein, und es wäre in ihrem Häuschen unerträglich kalt und finster. Nein, heute würde sie ein Abenteuer erleben.

Auf Zehenspitzen kehrte sie in ihr Zimmer zurück, zog den Morgenmantel, der an ihrer Tür hing, über ihren Schlafanzug und schlüpfte in ihre abgetragenen, flauschigen Pantoffeln. Dann schlich sie zur Haustür und öffnete sie. Sie wackelte im Rahmen. Die kalte Oktoberluft traf Amy so unerwartet, dass sie sich wie eine Ohrfeige anfühlte. Sie knotete den Gürtel ihres Morgenmantels zu und lief die Treppe hinab.

«Pyjamaparty?», fragte Morag, deren Stimme wie Schritte auf Kies klang.

«Es ist Wochenende», erwiderte Amy. «Und das hier ist eine Feriensiedlung. Alle tragen Schlafanzüge. Du auch.»

Morags breites, ledriges Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, und sie zog an ihrer Zigarette. Amy wartete nicht erst, bis sie den Rauch wieder ausstieß – sonst würde sie noch stundenlang hier stehen und schwatzen –, sondern winkte ihr zum Abschied zu und rannte an der mit Kieselsteinen verputzten Rückseite ihres Häuschens vorbei. Erst als sie sicher war, dass sie wieder allein war, hob sie den Kassettenspieler ans Ohr und drückte die schwergängige Play-Taste. Hier draußen, wo die hungrigen Möwen unablässig schrien, war die Stimme schlechter zu verstehen, und sie drehte am Rädchen, bis sie so laut war, dass der Lautsprecher vibrierte.

«Du bist jetzt unterwegs, oder? Braves Mädchen. Ich werde dich begleiten, einverstanden? Im Geiste. Wir machen das alles zusammen. Geh jetzt zum Zaun, dem hinter den Toiletten.»

«Warum?», fragte Amy stirnrunzelnd.

«Du machst das toll. Kannst du die Möwen hören? Heute Nacht hätte ich fast eine gefangen, weißt du? Sie hat sich ordentlich gewehrt, und ich musste sie loslassen. Wirklich schade, sie wäre ein tolles Geschenk gewesen.»

Jedes Mal, wenn sie an einem Haus vorbeiging, legte sich ihr eine Schlinge aus kaltem Wind um den Hals. Sie zog den Morgenmantel enger. Hinter einigen der dunklen Fenster entdeckte sie vertraute Gesichter, doch sie hielt den Kopf gesenkt und den Kassettenspieler dicht ans Ohr.

«Das ist hier eine komische Siedlung, findest du nicht? Ihr seid da zusammengepfercht wie die Sardinen in der Büchse. Und ihr riecht auch wie Sardinen, ihr riecht widerlich.»

Etwas Scharfes bohrte sich in die weiche Sohle von Amys rechtem Pantoffel. Sie zuckte zusammen und wäre fast gestolpert.

«Autsch», sagte sie leise und wünschte, sie hätte ihre Stiefel angezogen.

Sie kickte das Steinchen weg und humpelte an der letzten Häuserreihe vorbei. Vor ihr lag ein niedriges Ziegelgebäude, in dem sich die Gemeinschaftsdusche befand, die jedoch außer den alten Leutchen niemand benutzte. Daneben stand eine Reihe stabiler grüner Toilettenhäuschen, die ihre Schatten vor sich warfen, als wollte sie sich größer machen.

«Du musst jetzt fast da sein, Amy. Habe ich recht?»

«Ja», sagte Amy, obwohl sie wusste, dass niemand sie hören konnte.

«Gut. Du kannst dort durch den Zaun klettern, wo du es immer tust, aber pass auf dich auf, okay?»

Wieder blieb sie stehen und betrachtete stirnrunzelnd den kleinen Kassettenspieler. Sie blickte zum Duschgebäude, dann wieder zu der Ansammlung von Ferienhäuschen, und war mit einem Mal davon überzeugt, dass ihr hier jemand einen Streich spielte. Sie könnte ganz einfach zu Dean hinübergehen – er wohnte mit seinen Kiffereltern auf der anderen Seite der Siedlung – und ihm den bescheuerten Kassettenspieler ins Gesicht schleudern. Aber sie wollte ihm nicht die Genugtuung geben, zu zeigen, dass es ihr an die Nieren ging. Außerdem hatte sie mittlerweile genug von seinen Mutproben hinter sich, um zu wissen, dass sie zwar manchmal beängstigend waren, aber man sich dabei nicht wehtat, nicht richtig, nicht immer. Nein, sie hütete sich, bei einer Mutprobe aufzugeben, und sie wollte beweisen, dass sie mutiger war als er oder Ocean oder jeder von ihnen.

«So ist es recht. Vorsicht jetzt, es ist scharf.»

Das Band war ihr voraus, deshalb hielt sie es an, während sie aufholte. Sie lief zum Duschgebäude und umrundete es. Gleich dahinter stand ein Holzzaun mit Stacheldrahtrollen darauf, die an Nudelnester erinnerten. Aber alle Kinder wussten von dem Loch hinter dem Gebäude, und sie zwängte sich in die Lücke zwischen Hauswand und Zaun und pustete die Spinnennetze vor sich weg.

Es war immer schon eng gewesen, jetzt noch enger als bei ihrem ersten Versuch vor Jahren. Sie fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis sie wirklich nicht mehr hindurchpasste – genau wie Finlay mit seinem fetten Arsch diesen Sommer, als er sich die Shorts zerrissen hatte bei dem verzweifelten Versuch, wieder freizukommen. Diese Erinnerung machte sie unerwartet traurig, und sie verdoppelte ihre Anstrengungen und streckte den Kopf in die Dunkelheit der Hecke auf der anderen Seite des Zauns. Zweige fuhren ihr übers Gesicht, als versuchten sie, sie zu identifizieren, zu würgen und zu blenden, doch dann war sie endlich durch und fiel auf ihre knochigen Knie. Der Kassettenspieler schlitterte über den betonierten Weg.

Amy rappelte sich hoch und warf der Hecke, der sie gerade entkommen war, einen bösen Blick zu. Die Hecke starrte teilnahmslos zurück, und Amy reckte den Mittelfinger in die Luft.

«Wichser.»

Sie bückte sich, hob den Kassettenspieler auf und drückte wieder auf die Play-Taste. Das Band lief wie in Zeitlupe an, und die Stimme leierte, bis die Kassette wieder zu ihrer normalen Geschwindigkeit fand.

«Perfekt, ganz wie ein Profi. Du warst eine Weile nicht hier, oder?»

Das stimmte. Doch es hatte sich nichts verändert. Früher war das hier ein Vergnügungspark am Ostrand der Feriensiedlung gewesen. Nichts Dolles, bestimmt nicht, aber für ein kleines Mädchen, das hier aufwuchs, der Himmel auf Erden. Es hatte ein Kettenkarussell und einen Autoscooter gegeben, aber am besten hatte ihr das Karussell mit den vierzehn riesigen Pferden gefallen. Sie war auf jedem von ihnen tausendmal geritten und hatte ihnen auch Namen gegeben – nicht die Namen, die auf die Pferdekörper gemalt waren, sondern Amys Namen, die Namen, die sie verdienten. Vormittags, bevor der Vergnügungspark öffnete, hatten die Kinder aus der Feriensiedlung Karussell fahren dürfen, so oft sie wollten, und zwar kostenlos, bis irgendein Mistkerl den Park vor ein paar Jahren dichtgemacht hatte.

Jetzt war das hier ein Friedhof – all die Karussells verrotteten und rosteten vor sich hin. Die Karussellpferde waren schon lange weg, und das drahtige Gras tat sein Bestes, um alles andere zu überwuchern.

«Ich bin hier drüben», sagte die Stimme. «Schau in die Sonne, dann wirst du mich sehen.»

Amy wandte sich nach Osten zu der Ansammlung hässlicher Gebäude, die dort mit der Sonne im Rücken standen. Der mit Salz gesättigte Wind hatte weiter aufgefrischt, und sie zitterte und wünschte sich mit einem Mal, sie wäre im Bett geblieben. Das war eher eine lästige Aufgabe als ein Abenteuer. Kein Zweifel, Deans Mutproben waren zuletzt immer schlimmer geworden.

«Komm und such mich.»

«Ach, leck mich doch.» Amy drückte die Stopp-Taste und lauschte dem Wind, der durch die skelettartigen Überreste der Fahrgeschäfte pfiff, dem fernen Tosen der Wellen am Fuß der Steilwand, dem warnenden Kreischen der Möwen, die ihr hierher gefolgt waren. Was war sie doch für ein Dummkopf, dass sie hier draußen in Schlafanzug, Pantoffeln und Morgenmantel stand, das Haar voller Laub.

Sie machte kehrt und war schon fast wieder am Zaun, da hörte sie es.

Ein leises miau.

Es klang so fremd hier draußen, kam so unerwartet, dass sie ganz kurz überzeugt war zu träumen. Sie hatte sogar das Gefühl, dass um sie herum alles zur Seite kippte, wie damals, wenn sie zu oft hintereinander Karussell gefahren war, und sie breitete die Arme aus, um nicht umzufallen. Der Vergnügungspark wartete, mit einem Mal still, wie mit angehaltenem Atem, als wollte er herausfinden, ob auch er träumte.

Miau.

Es kam aus dem Gebäude hinter ihr. Sie öffnete den Mund, doch Wolfies Name blieb ihr in der Kehle stecken wie eine verängstigte Maus.

Das war sein Miau gewesen, da war sie sich sicher.

Sie raffte ihren Morgenmantel um sich und ging zurück. Der Schatten des kleinen Gebäudes umfing sie mit seinen kalten, dunklen Fingern, lange bevor sie das Haus erreichte. Sie wusste nicht, wieso es überhaupt noch aufrechtstand. Der Mörtel zwischen den Ziegeln fehlte, was wie zurückweichendes Zahnfleisch aussah, und das vors Fenster genagelte Brett ächzte unter dem Gewicht der Graffiti und Kaugummis eines halben Jahrzehnts. Doch die kleine Holztür mit dem abblätternden Anstrich hing noch immer in den Angeln und schlug im Wind hin und her.

Miau.

«Wolfie?», fragte Amy und erschrak über ihre eigene Stimme. Sie schluckte und tat einen weiteren Schritt auf das Gebäude zu. «Kater?»

Dann knurrte sie frustriert und blickte zurück zum Zaun.

«Dean?», brüllte sie. «Ich weiß, dass du das bist. Darauf falle ich nicht rein.»

Als sie das letzte Mal mit ihm draußen gewesen war, hatte der kleine Scheißer Ocean aufgefordert, die Hand unter ihr T-Shirt zu schieben, und auch noch versucht, es zu filmen. Sie war daran gewöhnt. Sie kannte die beiden, seit sie alle noch Babys gewesen waren, und hatte sie einfach davongejagt, wie sie es immer tat.

Miau.

Das war unverkennbar der Ruf, der sie jeden Morgen begrüßte. Sie schluckte, dann ging sie zur Tür und fing sie mit der Hand auf, als sie gerade wieder zuschlagen wollte. Drinnen war es dunkel, aber nicht so dunkel, dass sie die wuchtigen Gestalten dort in den Schatten nicht gesehen hätte, die gebleckten Zähne, die wild blickenden Augen – so realistisch, so albtraumhaft, dass sie nichts damit anfangen konnte.

Sie streckte den Kopf ins Gebäudeinnere, und jetzt erkannte sie, worum es sich handelte. Es waren die Karussellpferde, alle vierzehn, mit ihren gewölbten Muskeln und geblähten Nüstern. Selbst hier, an der Wand zusammengedrängt, sahen sie noch so aus, als würden sie fliegen, und Erinnerungen stürmten auf Amy ein. Beinahe konnte sie die Musik hören.

Im Inneren des Gebäudes bewegte sich etwas, und erneut hörte sie Wolfie rufen.

«He, Kater», sagte sie und trat ganz langsam ein. Angst nagte an ihren Nerven wie Wolfie an den Mäusen, die er fing und denen er das Fleisch in Streifen abzog. Der Kassettenspieler lag zu schwer in ihrer schweißnassen Hand. Sie drückte auf Play. Sie war sich nicht sicher, ob sie diese gruselige Stimme noch einmal hören wollte, aber sie begriff nicht, woher der Sprecher wusste, wo ihr Kater war, woher er gewusst hatte, wie er sie hierherlocken konnte.

Ein lautes, hungriges Schlucken, so nahe, dass es sich eher echt als aufgenommen anhörte.

«Wo bist du?», flüsterte sie, ging durch den düsteren Raum und wedelte mit der freien Hand vor sich durch die Luft.

Es kam keine Antwort, aber Amy hörte Atmen, und es kam ihr so vor, als würde der Besitzer der Stimme auf dem Band sie beobachten und auf etwas warten. Vor ihr war eine Tür, die so weit offen stand, dass sie die Dunkelheit dahinter sehen konnte. Sie würde einen Blick hineinwerfen, dachte sie, aber weiter würde sie nicht gehen.

Amy blickte zurück, um sich zu vergewissern, dass der Tag noch da war, und überlegte, ob sie etwas in die Tür legen sollte, damit die Pferde, sollten sie zum Leben erwachen, sie nicht mit ihren gemalten Nüstern zustießen. Von hier aus wirkte das Tageslicht so grell, als hätte die Welt draußen plötzlich Feuer gefangen.

Ein weiteres Miauen vor ihr und das unverwechselbare Schnurren einer Katze. Das war ohne jeden Zweifel Wolfies Schnurren. Er war immer schon laut gewesen, aber je älter er wurde, desto mehr ähnelte er einem knatternden Generator, wenn er zufrieden war. Also konnte da drin nichts Schlimmes lauern.

Und plötzlich kam es ihr gar nicht mehr so beängstigend vor. Das war sicher Dean da in dem Raum, oder Ocean, oder Finn, vielleicht waren es auch alle drei, die ihr einen ihrer bescheuerten Streiche spielten. Sie würden ihr Wolfie zurückgeben, und das war’s. Das Schlimmste, was passieren konnte, war, dass sie davon ein Video auf Vimeo hochluden.

«Ich weiß, dass ihr es seid.» Amy trat an die Tür zum Nebenraum, legte die Hand an den Rahmen und streckte den Kopf in die Dunkelheit, als tauchte sie ihn unter Wasser.

Ein weiteres Miauen, beinahe identisch mit dem letzten, dann wieder Schnurren. Ihre Augen hatten sich jetzt so weit an die Dunkelheit gewöhnt, dass sie etwas erkennen konnte. Das Zimmer war leer. An der gegenüberliegenden Wand befand sich das Gerippe eines Absauggebläses, durch die Spalte fielen Spuren eines kränklichen grünen Lichts auf ein Fellbündel am Boden. Es hatte in etwa die richtige Größe für Wolfie, und wie zur Bestätigung miaute der Kater noch einmal und begann gleich darauf erneut zu schnurren.

«Du freust dich wohl, mich zu sehen», sagte Amy, ging zu ihm und hockte sich neben ihn. «Aber was um alles in der Welt machst du …»

Es war kein Kater. Es war ein schwarzes Stoffbündel, ein T-Shirt vielleicht, glitschig-feucht. Es fühlte sich so eklig an, dass Amy nach Luft schnappte und die Hand wegriss. Darunter lag etwas, ein Kästchen, das genauso aussah wie das in ihrer Hand.

Ein schwarzes Kästchen, das miaute und dann schnurrte.

Amy stand auf, und aus ihrer Kehle drang ein Stöhnen, das einfach nicht enden wollte. Sie war schon wieder halb an der Tür, als das Kästchen in ihrer Hand noch einmal zum Leben erwachte.

«Jedes Mal, wenn du meine Stimme hörst, stirbt ein weiteres Kind.»

Sie warf es von sich, als hätte es sie gebissen, sodass die Stimme nun vom anderen Ende des Raums zu ihr drang.

«Jedes Mal, wenn du meine Stimme hörst, stirbt ein weiteres Kind.»

Und das zweite Kästchen stimmte ein, dieselbe Stimme, dieselben Worte, in einem grausigen, misstönenden Duett.

«Jedes Mal, wenn du meine Stimme hörst, stirbt ein weiteres Kind.»

Amy rannte aus dem Zimmer, und die Pferde nebenan begrüßten sie mit ihren wilden Augen. Sie war so darauf bedacht, ihnen auszuweichen, dass sie nicht merkte, wie es dunkel im Raum wurde, weil jemand vor die Außentür trat, jemand, der ja wohl zu groß war, um einer ihrer Freunde zu sein.

«Jedes Mal, wenn du meine Stimme hörst, stirbt ein weiteres Kind», hörte sie vor sich – und diese Stimme hatte nichts Roboterhaftes oder Singsangartiges an sich. Sie war einfach ein leises, heiseres Flüstern.

Amy schrie, blieb abrupt stehen und packte den Kopf des nächsten Karussellpferdes – so fest, dass es sich anfühlte, als zersplitterten ihre Finger. Der Mann trat ein, und um ihn herum fielen Sonnenstrahlen ins Zimmer, als griffen sie nach ihr, um sie in Sicherheit zu ziehen. Er hatte kein Gesicht, keine Augen, keinen Mund, um zu sprechen, und dennoch sprach er.

«Jedes Mal, wenn du meine Stimme hörst, stirbt ein weiteres Kind.»

«Nein», sagte Amy und wich zurück. «Bitte.»

Sie drehte sich um und rannte – doch in dieser Richtung war nur Dunkelheit, und die wollte sie nicht. Ihr Gesicht stieß gegen etwas Festes, etwas, das sehr wohl eine Faust sein mochte, und vor einem Publikum aus Pferden mit irrem Blick wirbelte sie hinab in den sich wild drehenden Horror der Bewusstlosigkeit.

Kapitel Eins

Sonntag

DCI Robert Kett schloss die Augen und atmete.

Er atmete so, wie man es ihm beigebracht hatte – lange und tief durch die Nase ein, fünf Sekunden warten, dann durch den Mund aus. Er nahm den Verkehrslärm auf der Straße hinter sich wahr, die gedämpften Stimmen von Fußgängern, die an der Einfahrt vorbeigingen, wo sein zehn Jahre alter, taubenscheißegrüner Volvo parkte. Der Wind schüttelte die Bäume durch, es klang, als würden sie einander verschwörerisch zuflüstern, und der berauschende Duft spät blühender Pflanzen erfüllte den Wagen. Salbei, dachte er. Chrysanthemen und Fetthenne und die langen violetten Rispen des Amarants. Er konnte Pflanzen nicht von Pokémon unterscheiden, aber Billie hatte sie ihm heute Morgen gezeigt, als er sie abgesetzt hatte, und er hatte gestaunt, wie viel Farbe es so spät im Jahr noch gab.

Wieder atmete er langsam ein, die Hände auf dem Lenkrad. Ein Sonnenstrahl fiel durch die sich wiegenden Äste über ihm auf seine Wange wie eine sanfte Berührung. Er war ihm willkommen, einen Moment lang, bis dieser Sonnenstrahl durch seine geschlossenen Lider drang, alles flammenrot färbte und Kett zurück in Bingos Wohnung versetzte, wo die Flammen an seiner Haut und seinen Haaren gezüngelt und um ein Haar seine Kinder verschlungen hätten.

Er öffnete die Augen und stieß prustend die Luft aus, als wäre sie Rauch, während eine Welle der Panik drohte, seine Brust zu zermalmen. Er ließ das Lenkrad los und öffnete das Fenster. Sofort wich die Hitze im Wagen kühler Oktoberluft.

Atme, sagte er sich und tat es, bis er zurück zu diesem Frieden, dieser Ruhe fand.

«Daddy hat einen Mundpups gemacht», tönte es aus dem Fond des Wagens, gefolgt von lautem Prusten. Evie lachte über ihren eigenen Witz, Moira fiel mit ein, und dann gaben die beiden eine Reihe von so unbändigen Furzgeräuschen von sich, dass er sie feucht im Nacken spürte.

«Sei still», sagte Alice aus der Mitte und schlug auf Evies Kindersitz.

«Selber», erwiderte Evie und prustete ihrer Schwester ins Gesicht. «Sei still, sei still, sei still.»

«Sill!», stimmte Moira ein. «Assich.»

«Niemand hasst hier irgendjemanden», sagte Kett seufzend. «Kann es nicht mal fünf Sekunden still sein, während wir warten? Bitte?»

Es war, als wollte man die Flut zurückhalten. Alle drei Mädchen kreischten und schlugen um sich, ein Percussion-Solo von Händen auf Haut, bis Alice – wie immer – ein ohrenbetäubendes Heulen ausstieß und in Tränen ausbrach.

«Evie hat mich gebissen!»

«Gar nicht», sagte Evie und lächelte Kett im Rückspiegel selbstgefällig an. «Sie hat sich selbst gebissen.»

«Evie», knurrte Kett warnend. «Alice, versuch einfach, Abstand zu ihr zu halten.»

«Das ist ein Auto, Dad», gab die Siebenjährige stinksauer zurück. «Wo soll ich denn hin? Zum Mond?»

Unwillkürlich musste Kett lachen.

«Schaut, seid einfach eine Minute still, und dann bekommt ihr Smarties, wenn wir wieder zu Hause sind, okay?»

Das wirkte, und die Tränen wichen lautem Jubel. Kett drehte sich um und betrachtete sie. Ihm tat noch immer alles weh. Es war jetzt mehrere Monate her, dass er Billie gefunden und einen Hammer in dem Stück Scheiße versenkt hatte, das sie entführt hatte, aber seinem Körper hatte das offenbar niemand gesagt. Alles schmerzte, als befände er sich in Auflösung. Auf dem Nasenrücken hatte er ein Hämatom, das seine Augen dunkel erscheinen ließ. Die Verbrennungen an Armen und Rücken wollten noch immer nicht verheilen. Seine gebrochenen Rippen sangen ein besonders lautes Schmerzenslied, daher musste er schon nach wenigen Sekunden wieder nach vorn blicken, weil es sich anfühlte, als hätte ihm jemand einen Korkenzieher in die Brust gedreht.

Ganz anders die Mädchen. Wenn man sie sah, käme man nie darauf, dass sie beinahe verbrannt wären, beinahe ihr Leben an ein Ungeheuer mit Schweinekopf verloren hätten. Keine der drei hatte ernsthafte Verletzungen davongetragen, Gott sei Dank, und ihre Kratzer und Abschürfungen waren längst verheilt. Die einzige Erinnerung an das, was ihnen in London zugestoßen war, war ihr Haar. Das war so angesengt gewesen, dass sie es hatten abschneiden müssen. Alice und Evie hatten jetzt beide einen Bob mit Pony – Alice’ Pony bildete fast eine diagonale Linie, weil sie ihn selbst geschnitten hatte. Moiras blonde Locken waren noch kürzer, fast so kurz wie damals bei ihrer Geburt. Es schien ihr jedoch nichts auszumachen.

Wenn Kett die Mädchen im Arm hielt, roch er manchmal noch den Rauch. Er wusste, dass diese Finsternis auch in ihrem Inneren war. Äußerlich ging es ihnen gut, doch der Schaden war ja immer dort am schlimmsten, wo man ihn nicht sehen konnte. Er fragte sich, ob dieser innere Ruß für immer da sein würde.

«Ich will alle rosanen Smarties», sagte Evie, aber Kett hörte nicht zu. Er blickte durch die vom Schatten des Laubs gesprenkelte Windschutzscheibe zu dem kleinen Cottage am Ende der Einfahrt, das fast vollständig unter einem üppigen Blauregen begraben war. Es hatte etwas Märchenhaftes, wie es dort im Schatten der prachtvollen römisch-katholischen Kathedrale stand, und wenn Kett nicht gewusst hätte, dass es hinten an eine der meistbefahrenen Straßen Norwichs grenzte, wäre er niemals darauf gekommen. Jetzt öffnete sich die Haustür mit dem abblätternden gelben Anstrich, und eine Silhouette zeichnete sich im Halbdunkel dahinter ab.

Ketts Puls beschleunigte, und mit einem Mal war sein Mund wie ausgetrocknet. Er packte das Steuer, schluckte und fühlte sich wie jedes Mal, wenn er Billie gleich wiedersehen sollte – weil sie so lange nicht da gewesen war. Monatelang hatte er sich danach gesehnt, sie um die nächste Ecke biegen zu sehen, sie mit einem Seufzen durch die Tür kommen zu hören oder mit einem Lächeln und einem Kuss von ihr geweckt zu werden. Diese Sehnsucht war so groß gewesen, dass sie zu einem dumpfen körperlichen Schmerz geworden war, und ein Nachhall dieses Schmerzes war noch immer da, wie ein Phantomglied. Kett war so sehr an diesen Schmerz gewöhnt, dass er ihn einfach nicht abschütteln konnte. Er war zutiefst davon überzeugt, dass jemand anderes herauskommen würde, wenn sich die Tür öffnete, dass Billie wieder fort sein würde.

Atme.

Er konnte es nicht. Er hielt die Luft an, hörte, wie die Mädchen sich hinter ihm kabbelten, und verfolgte, wie die Tür sich zentimeterweise öffnete und eine Gestalt aus dem Halbdunkel trat – sie ist es nicht, sie ist es nicht –, ihm den Rücken zukehrte und sich von jemandem verabschiedete. Er konnte so lange nicht atmen, bis die Frau sich umdrehte und er sah, dass sie es wirklich war, seine Frau, die da das Gesicht zum Himmel hob und die Augen schloss. Dann atmete er mit ihr, beide atmeten sie gemeinsam ein und aus.

«Mummy!», kreischte Evie so laut, dass Kett die Ohren klingelten. Billie musste sie auch gehört haben, denn sie sah zum Auto und lächelte still. Sie winkte, und ihre Turnschuhe knirschten über den Kies. Evie kämpfte mit ihrem Kindersitz und trat wütend dagegen. «Mummy! Ich hab dich vermisst!»

«Mumma!», stimmte Moira ein und reckte den Hals. «Mumma! Marties!»

Ächzend beugte sich Kett zur Beifahrertür und öffnete sie.

«Nur um dich zu warnen, es ist sehr laut hier drin», sagte er.

«Mummy!», brüllte Evie. «Sitz bei mir! Auf meinem Schoß!»

Wieder lächelte Billie, doch nur mit dem Mund. Bisher hatte Kett noch nicht erlebt, dass ein Lächeln ihre Augen erreichte. Sie blickte zurück zum Haus, dann zur Straße.

«Vielleicht könnte ich …», setzte sie grüblerisch an.

Dann gab sie den Gedanken auf und stieg ein. War es bisher schon laut gewesen, ging der Lärmpegel jetzt durch die Decke.

«Mädchen», sagte Kett. «Bei allem, was heilig ist, seid einfach mal still!»

«Schon gut», sagte Billie. «Es ist nett.»

Sie drehte sich um und reichte Evie die Hand, und die Dreijährige griff wie eine Ertrinkende danach. Moira schnappte ebenfalls nach ihrer Hand, doch Billie reichte die andere Alice. Alice betrachtete sie einen Moment lang, dann verschränkte sie die Arme vor der Brust und blickte aus dem Fenster. Kett sah Billie die Verletzung an, doch sie vertrieb sie mit einem weiteren Lächeln.

«Wie ist es gelaufen?», fragte Kett und sah wieder zum Haus. Billie ging jetzt seit Wochen hier zur Therapie – zu einer alten Freundin von Superintendent Colin Clare –, doch bisher hatte sie Kett gegenüber kein einziges Wort darüber verloren. «Hat es geholfen?»

Wieder flackerte ein Gefühl auf, doch dieses konnte Kett nicht einordnen. Er winkte ab, denn Billie erschien ihm so fragil wie Glas, als könnte sie zerbrechen, wenn er die falsche Frage stellte.

«Wir müssen nicht darüber reden», sagte er und ließ den Motor an. «Na kommt, fahren wir nach Hause.»

Falls Billie etwas antwortete, ging es in Evies Jubelrufen und Moiras Kreischen unter. Er warf noch einen Blick zu Billie, unvermittelt davon überzeugt, dass sie nicht mehr da war oder vor seinen Augen verblassen würde. Doch da war sie, seine Frau, seine Billie.

Atme, sagte er sich.

Und während er genau das tat, legte er den Gang ein und setzte langsam zurück zur Straße.

Kapitel Zwei

Es war Sonntag, und die ganze Stadt schien beschlossen zu haben, zu Hause zu bleiben.

«Verdammt noch mal», murrte Kett und verfluchte die bescheuerten Nachbarn, die ihre Autos so weit auseinander abgestellt hatten, dass die Straße auf beiden Seiten zugeparkt war, aber doch so dicht hintereinander, dass niemand mehr dazwischen passte. Er musste in die Parallelstraße fahren, wo er ihren panzerähnlichen Volvo erfolgreich zwischen einen Wohnwagen und einen Micra zwängte. Er war sich nicht sicher, ob er jemals wieder aus der Lücke herauskommen würde, aber das war ihm egal. Im Moment wollte er nur noch nach Hause.

«Na dann», sagte er, riss die widerspenstige Fahrertür auf und stieg vorsichtig aus. Auf der kurzen Heimfahrt hatte es zu nieseln begonnen, und das nasse Laub machte Straße und Gehweg schlüpfrig. Kett öffnete zuerst Alice’ Tür und ließ sie heraus. «Pass auf, es ist rutschig.»

Ihre älteste Tochter wartete nicht, sondern stapfte sofort und ohne einen Blick zurück nach Hause. Kett ging zur anderen Wagenseite, da öffnete Billie schon die Tür. Er reichte ihr die Hand, doch sie nahm sie nicht, sondern stieg mit starrer Miene aus. Sie brauchte lange, um sich aufzurichten, wie ein eingerosteter Blechroboter, und danach stützte sie die Hand noch einen Augenblick auf die Motorhaube. Kett sah ihr die Schmerzen so deutlich an, als hätte er einen Röntgenblick.

«Alles okay bei dir?», fragte er und wusste schon, während er das fragte, dass es die falsche Frage war – so wie es immer die falsche Frage war, aber er schien sich nicht davon abhalten zu können, sie zu stellen.

Billie nickte, dann deutete sie mit einem weiteren Nicken zur hinteren Tür.

«Lass sie lieber raus, bevor sie noch die Scheibe zertrümmert.»

Moira schlug mit der flachen Hand ans Fenster, das Gesicht rot und wutverzerrt. Kett öffnete die Tür, löste ihren Gurt und hob sie aus dem Auto. Fast wäre er zu langsam gewesen, um zu verhindern, dass Evie gleich dahinter aus dem Auto stürzte. Sie warf sich in seine Arme, und er watschelte mit den beiden zum Bordstein, wo er Evie absetzte. Sie rannte zu ihrer Mutter und klammerte sich so fest an sie, dass sie beide kaum laufen konnten.

«Evie, sanft bitte», sagte Kett.

«Schon gut», sagte Billie. «Ehrlich. Na komm, Goldmädchen, zeig mir den Weg.»

Evie spielte da nur zu gerne mit, obwohl sie jetzt seit Wochen hier wohnten und Billie voll und ganz in der Lage war, zurück zu ihrem kleinen, gemieteten Haus zu finden. Sie folgten Alice um die Ecke. Kett bildete die Nachhut und bemühte sich, Moira zu bändigen, die unbedingt zu ihrer Mutter wollte. Alice wartete im Vorgarten und sah Kett finster an, als hätte er Monate für den Weg gebraucht, und nicht nur Minuten.

«Beeil dich, Dad!», blaffte sie. «Ich will mein iPad.»

«Moment», erwiderte Kett und nahm Moira auf den anderen Arm, damit er die Schlüssel aus der Tasche fischen konnte. Die Haustür klemmte, und er half mit einem Fußtritt nach. Drinnen warteten Schatten und Stille, und unwillkürlich fiel ihm auf, wie wenig einladend das Haus wirkte. Billie spürte es auch, sah er, sie versteifte sich, entzog Evie die Hand und drückte sie an die Brust – dann auch die andere Hand, wie eine Schnecke, die ihre Stielaugen einfährt.

«Alles o…», setzte Kett an und brach ab. «Na komm, ich setze Wasser auf.»

Alice stapfte ins Haus und gleich weiter zur Treppe, gefolgt von Evie, die durch den Flur in die Küche rannte. Schließlich setzte Kett Moira hinter der Türschwelle ab. Die Kleine lief zwei Schritte hinter ihren Schwestern her, dann fiel ihr ihre Mutter wieder ein, und sie machte unbeholfen kehrt und warf die Arme in die Luft.

«Mumma», sagte sie. «Musen.»

Billie rührte sich nicht. Sie stand dort, als befände sich eine unsichtbare Mauer zwischen ihr und der Haustür. Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar, ihr ganzer Körper war angespannt, bereit davonzurennen. Kett reichte ihr liebevoll die Hand, doch sie zuckte zurück.

«Alles gut», sagte sie und wischte sich über die Augen. «Mir geht’s gut.»

«Mumma!», sagte Moira lauter. «Arm.»

Billie holte tief Luft, als wollte sie abtauchen, dann ging sie ins Haus. Sie hob Moira hoch und drückte sie an sich, und die Kleine lachte glucksend, es war wie ein freudiges Ständchen. An dem Klingeln in seinen Ohren merkte Kett, dass er schon wieder den Atem angehalten hatte, atmete aus und ging ebenfalls ins Haus. Er lauschte, bis er hörte, wie die Hintertür aufgeschlossen und geöffnet wurde, und den Luftzug spürte, der einen Teil der Schwermut aus dem Flur fegte. Erst dann schloss er die Haustür. Das war das Erste, worauf Billie bestanden hatte, als sie gemeinsam aus London hier angekommen waren: dass es immer eine offene Tür geben musste.

Nach ihrer langen unterirdischen Gefangenschaft, nach der ganzen Zeit bei ihm, konnte Kett es ihr nicht verdenken. Wenn es sein musste, würde er auch unter freiem Himmel leben, bei Wind, Regen oder Schnee.

«Smarties!», brüllte Evie aus der Küche. «Dad hat gesagt, wir dürfen. Ich will die rosanen.»

«Sie sind alle rosa», sagte Kett und ging zu ihnen. Er öffnete den Schrank über dem Toaster, zog eine große Rolle rosa Smarties heraus und schüttelte sie. «Es ist eine Sonderpackung.»

Er reichte Evie die Rolle, ließ sie aber nicht los.

«Iss nicht alles auf», sagte er. «Und achte drauf, dass Alice welche abbekommt.»

Evie riss ihm die Rolle aus der Hand und rannte kichernd davon. Moira sah ihr nach, offenbar hin und her gerissen, doch schließlich gewannen die Smarties, und sie zappelte in Billies Armen, bis sie abgesetzt wurde. Sofort rannte sie zur Tür. Sie stieß gegen einen Stuhl und wankte wie eine Betrunkene weiter. Oben stapfte Alice umher, aber abgesehen davon war es völlig still im Haus. Billie stützte die Hände neben der offenen Tür auf die Arbeitsfläche, das Gesicht besorgt gerunzelt.

«Alles okay bei dir?», fragte Kett und hätte sich dafür ohrfeigen können. Er stand da und wünschte sich nichts mehr, als Billie in die Arme zu schließen. Doch er wusste, dass er das nicht durfte. Er wollte sich nicht über ihren Willen hinwegsetzen.

Nur dass das eigentlich nicht der Grund war. Billie war schließlich fünf Monate lang verschwunden gewesen, und in all dieser Zeit hatte der Pig Man ihren Willen nie brechen können. Sie war der stärkste Mensch, den er kannte, darum ging es also nicht. Es fühlte sich eher so an, als triebe man auf dem offenen Meer, griff kurz vor dem Ertrinken nach dem Rettungsring – und stieß ihn dabei wieder von sich. Er musste Abstand halten, musste weiter Wasser treten und hoffen, dass sie irgendwann von sich aus nahe genug herankam, dass sie ihm irgendwann wieder vertraute.

«Ich mache uns ein Tässchen», sagte er, leerte den Wasserkessel in die Spüle und füllte ihn mit frischem Wasser. Er schaltete ihn ein und nahm zwei große Tassen vom Abtropfgitter, in die er je einen Teebeutel fallen ließ. Hilflos drückte er mit einem Teelöffel auf ihnen herum, während er darauf wartete, dass das Wasser kochte. «Hast du Hunger? Ich kann uns Toast machen.»

«Alles gut», sagte sie noch einmal, und ihm schien, als würde sie überhaupt nichts anderes mehr sagen. Sie öffnete die Augen und sah ihn an, aber nur einen Augenblick. Ihr honigfarbenes Haar – kurz jetzt, passend zu den Frisuren der Mädchen, wobei Kett vermutete, dass sie sich damit auch von der Frau distanzieren wollte, die so lange eine Gefangene gewesen war – tanzte in der Brise, die vom Garten hereinwehte. «Tut mir leid.»

Wieder verspürte er das beinahe überwältigende Bedürfnis, zu ihr zu gehen und sie in den Arm zu nehmen.

«Das brauchst du nicht zu sagen», erwiderte er und hielt stand. «Das brauchst du nie zu sagen.»

«Ich …», setzte sie an, und als sie nicht weitersprach, tat Kett es statt ihrer.

«Es wird seine Zeit brauchen», sagte er sanft, wie immer an dieser Stelle. «Aber wir haben Zeit. Wir haben alle Zeit der Welt, Billie.»

Als sie ihren Namen hörte, schien sie zusammenzuzucken, doch nach ein, zwei Sekunden nickte sie. Langsam ließ sie die Arbeitsplatte los und wandte sich ihm beinahe zu.

«Sie hassen mich», sagte sie.

«Wer? Die Mädchen?»

Billie nickte.

«Sie lieben dich», widersprach er. «Man sieht es an allem, was sie tun.»

«Alice nicht. Sie kann mich kaum ansehen, sie hat kaum einen Satz zu mir gesagt, seit du mich gefunden hast.»

«Sie ist nur …» Der Wasserkessel schaltete sich aus und rettete Kett. Er füllte die Tassen, atmete Dampf ein und Worte aus. «Für sie ist das schwierig, das weißt du. Es ist ihr Autismus, Billie, sie hat schon in den besten Zeiten Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden, und in dieser Situation erst recht. Ich kann es ja selbst kaum fassen. Aber sie liebt dich, du bist ihre Mutter, das wird schon, sie wird sich öffnen.»

Das würde sie ganz sicher. Doch Alice hatte ihre Mutter für tot gehalten. Davon war sie absolut überzeugt gewesen. Die Frau, die wieder in ihr Leben getreten war, war in vielerlei Hinsicht eine Fremde, und Alice – die schöne, sture Alice, die alles wortwörtlich nahm – konnte nicht verstehen, dass sie noch dieselbe Person war, dass sie irgendwie ins Leben zurückgekehrt war.

«Sie liebt dich», sagte er noch einmal. «Das tun wir alle. Ich liebe dich, Billie.»

Wieder zuckte sie zusammen, schloss die Augen und rückte näher zur Tür, weiter weg von ihm. Schließlich nickte sie.

«Ich weiß», sagte sie. «Ich weiß. Ich kann bloß …»

Der Zorn stieg in ihr auf wie die Lava in einem Vulkan, und mit zusammengebissenen Zähnen und geballten Fäusten hielt sie ihn zurück. Nur einmal hatte Kett erlebt, wie sie ihn herausgelassen hatte, an dem einen Abend, den sie nach der Entlassung aus dem Krankenhaus in ihrem Londoner Haus verbracht hatten. Der Zorn war explosionsartig aus ihr herausgebrochen, und es war beängstigend gewesen. Billie war die reinste Abrisskugel gewesen, hatte mit allem geworfen, was nicht niet- und nagelfest gewesen war, und dabei geschrien wie am Spieß, während er versuchte, die Kinder in den Garten zu lotsen. Sie hatte erst aufgehört, als sie im Schlafzimmer gegen den Schminkspiegel geboxt und sich dabei eine fünf Zentimeter lange, klaffende Wunde zugezogen hatte.

Doch diese Wut war noch da, Wut auf den Pig Man, auf das, was er ihr – und all den anderen Frauen – angetan hatte, Wut auf die Welt, die das zugelassen hatte, Wut auch auf Kett, weil er sie nicht früher gefunden hatte. Sie hatte es nie ausgesprochen, aber er sah es in ihren finsteren Blicken. Wegen dieser Wut war sie auch an diesem Morgen wieder zur Therapie gegangen, so wie jeden zweiten Tag. Wegen dieser Wut verbrachte sie so viel Zeit draußen, um sich mit Laufen abzureagieren.

Kett sah wieder vor sich, wie er den Hammer im Hinterkopf des Pig Man versenkt hatte, spürte das Knacken des brechenden Knochens, sah das feuchte Fleisch darunter.

Scheiß auf dich, sagte er. Doch jenseits der Befriedigung darüber, ihn vernichtet zu haben, empfand er nichts als Traurigkeit. Denn das Vermächtnis des Pig Man zeigte sich darin, wie Billie in diesem Augenblick dastand und zitterte. Darin, dass sie ihm nicht in die Augen sehen konnte, sich nicht vor ihm ausziehen wollte. Zu sehr schämte sie sich der Narben, die Schofield ihr beigebracht hatte. Er war nicht mehr da, doch zugleich würde er immer bei ihnen sein.

Kett fischte die Teebeutel aus den Tassen. Er gab in Billies Tasse einen Schuss Milch und in seine eineinhalb Spritzer. Als er den Teelöffel auf die Arbeitsplatte fallen ließ, hörte er Billie zu seiner Überraschung schnaubend lachen.

«So hast du also ohne mich überlebt?», fragte sie und schenkte ihm den Anflug eines Lächelns. «Mit Smarties?»

Er lachte ebenfalls. Das schien der Situation die Schwere zu nehmen, und er hatte das Gefühl zu schweben.

«Ja. Smarties zum Frühstück, Smarties zum Mittagessen und Smarties zum Abendessen. Und natürlich auch, wenn sie sich aufregen. Ehrlich, Smarties sind ein Wundermittel. Möchtest du welche?»

Billie schüttelte den Kopf.

«Tee reicht mir», sagte sie. «Außerdem habe ich keine Lust, mit Evie um die Smarties zu kämpfen.»

Die Schreie der Dreijährigen drangen durch die Tür, und Moira stand ihr in nichts nach. Jetzt stapfte Alice die Treppe wieder herunter, was bedeutete, dass in ein, zwei Sekunden eine epische Schlacht im Wohnzimmer toben würde.

«Ich hätte sie in Schälchen verteilen sollen», sagte er und trank einen Schluck vom viel zu heißen Tee. Die Flüssigkeit schlug wie eine Rakete in seinem Magen ein. «Mittlerweile sollte ich sie besser kennen.»

«Tust du doch», erwiderte Billie. «Du kennst sie besser als sonst jemand. Du hast auch sie gerettet, Robbie. Nicht nur mich.»

Er schüttelte den Kopf und starrte auf die Arbeitsplatte. Sie hatten diese Unterhaltung seit ihrer Heimkehr schon viele Male geführt, und jeden Tag fühlte es sich stärker so an, als liefe sie in Endlosschleife. Es war, als säße man in einem Traum fest, in einem surrealen, schwebenden Wahnsinn. Es war kein Albtraum, ganz und gar nicht – wie auch, wo seine Familie doch wieder vollständig war? Nein, es kam ihm vor, als wäre die Zeit irgendwie defekt, als hätte Billie durch ihre Rückkehr die Erdumlaufbahn, die Ordnung des Universums gestört. Er blickte da nicht durch.

Neuerliches Geschrei, dann rannte Alice die Treppe wieder hinauf, die klappernde Smarties-Rolle in der Hand. Kett warf einen Blick durch die Tür und sah Evie die Verfolgung aufnehmen, reine Mordlust im Blick.

«Gib sie wieder her!»

«Ich mach schon», sagte Billie und ging an ihm vorbei. Er trat zur Seite, achtete darauf, ihr nicht zu nahe zu kommen, doch sie blieb neben ihm stehen und legte ihm die Hand auf den Arm – federleicht nur, doch fast wie ein Stromstoß. Sie sah ihn nicht an, ließ nur ihre Finger ein, zwei Sekunden dort ruhen, ehe sie sich abwandte.

«Evie», rief sie, als sie durch die Tür ging.

Kett legte die Hand auf seinen Arm und spürte die Hitze ihrer Berührung. Dann griff er nach seinem Tee, doch da klingelte sein Telefon, und er stellte die Tasse wieder ab. Er zog das Telefon aus der Tasche, sah Superintendent Colin Clares Namen auf dem Display, und kurz schwebte sein Finger über dem Icon mit dem roten Hörer. Er hatte in den vergangenen Wochen Kontakt zu Clare gehalten, und Savage und Porter sah er jede Woche – manchmal jeden zweiten Tag, wenn sie Zeit hatten. Doch er arbeitete noch nicht wieder. Er hatte zu viele Grenzen übertreten bei dem Versuch, Billie zurückzuholen, hatte zu viele Brücken hinter sich abgebrochen, und die Untersuchung der Vorfälle in London dauerte noch an. Streng genommen war es keine Suspendierung, aber es war nahe dran.

Am Ende behielt seine Neugier die Oberhand, und er nahm den Anruf an.

«Sir», sagte er. «Wie läuft’s?»

Clare zog geräuschvoll die Nase hoch, und Kett hatte vor Augen, wie der große Mann sich mit der Hand über die behaarten Nasenlöcher rieb.

«Kett?», fragte er, als ob ihn das überraschte. «Was?»

«Wie, was? Sie haben mich doch angerufen.»

«Habe ich? O ja, das stimmt.»

Kett wartete. Clare zog erneut die Nase hoch.

«Warum?», fragte Kett.

«Warum was?»

«Warum rufen Sie an?»

«Woher soll ich das wissen?», gab Clare zurück.

Entnervt starrte Kett sein Telefon an, als könnte er dort die Erklärung finden. Er hielt es sich wieder ans Ohr.

«Das ist diese Erkältung, die besorgt es mir so richtig», sagte Clare und hustete.

«Sie haben eine Erkältung?», fragte Kett. «Sie rufen mich an, um mir zu sagen, dass Sie krank sind?»

«Natürlich nicht, Sie Gimpel», fuhr Clare ihn an. Dann wurde seine Stimme weicher. «Wie geht es Ihnen, Robbie? Gut?»

«Gut», wiederholte Kett. «Nicht erkältet.»

«Dann können Sie mir ja vielleicht eine Frage beantworten.»

Die Sekunden verrannen, und Kett sah erneut aufs Telefon, um sich zu vergewissern, dass er noch mit Clare verbunden war. «Ja?», soufflierte er.

Clare schniefte noch einmal, dann nieste er so laut, dass der Lautsprecher des Telefons vibrierte.

«Was halten Sie und die Familie von einem Urlaub?»

Kapitel Drei

Montag

Die Zentrale der Polizei Norfolk war genauso, wie Kett sie in Erinnerung hatte, und man hatte ihn dort ebenfalls nicht vergessen.

«Na, da soll mich doch», sagte DI Keith Dunst, als Kett den Empfangsbereich betrat. Der hagere Detective Inspector stand am Tresen und reichte der furchteinflößend strengen Empfangsdame ein Blatt hinüber. Erstaunlicherweise wirkte er noch grauer als bei ihrer letzten Begegnung, als käme er direkt aus einem alten Schwarz-Weiß-Fernseher. Nur an seinen Fingerspitzen war ein Hauch von Farbe: Sie hatten orangefarbene Flecken vom lebenslangen Rauchen. Mit dem Handrücken wischte er sich über die Nase, dann reichte er Kett ebendiese Hand.

«Ähm …» Kett verzog das Gesicht und ergriff sie. «Schön, Sie zu sehen, Keith. Wie läuft’s?»

«Ach, Sie wissen schon. Wie immer. Lässt der Chef Sie wieder an Bord?»

«Nicht direkt. Aber er will mich sehen.»

«Tja, aber bleiben Sie bloß auf Abstand.» Dunst schniefte. «Er hat seine verdammte Erkältung an die gesamte Abteilung weitergegeben.»

«Danke für die Warnung.» Kett ging zur Tür, die in die verschlungenen Eingeweide des Gebäudes führte. Dunst rief ihm hinterher.

«Das war ja ein Abenteuer da unten in London. Die Met hat uns die Akte geschickt, es ist unglaublich. Ich bin froh, dass Sie Ihre Frau gefunden haben. Und dass es den Kindern gutgeht. Und Ihnen auch.»