Die Schatten von Cambridge - Jim Kelly - E-Book

Die Schatten von Cambridge E-Book

Jim Kelly

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  • Herausgeber: Lübbe
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Winter, 1940. Schnee fällt. Inspector Eden Brooke streift wie so oft durch das nächtliche Cambridge. Die friedliche Ruhe wird jäh durch Hilferufe unterbrochen: In einem Sack verstaut, wurde ein kleiner Junge in den eiskalten Fluss geworfen. Brooke tut alles, um ihn zu retten - vergeblich.
Brookes Ermittlungen ergeben, dass es sich bei dem Jungen um ein vermisstes Kind Irisch-Katholischen Glaubens handeln muss. Als eine Bombe in einer Fabrik explodiert und am Tatort ein Irisch-Republikanischer Slogan gefunden wird, vermutet der Inspector einen Zusammenhang zwischen den beiden Fällen. Während er dem Mörder immer näher kommt, stößt Brooke auf ein dunkles Geheimnis, das der tote Junge hütete ...

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Seitenzahl: 447

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INHALT

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ÜBER DIESES BUCH

Winter, 1940. Schnee fällt. Inspector Eden Brooke streift wie so oft durch das nächtliche Cambridge. Die friedliche Ruhe wird jäh durch Hilferufe unterbrochen: In einem Sack verstaut, wurde ein kleiner Junge in den eiskalten Fluss geworfen. Brooke tut alles, um ihn zu retten – vergeblich.

Brookes Ermittlungen ergeben, dass es sich bei dem Jungen um ein vermisstes Kind Irisch-Katholischen Glaubens handeln muss. Als eine Bombe in einer Fabrik explodiert und am Tatort ein Irisch-Republikanischer Slogan gefunden wird, vermutet der Inspector einen Zusammenhang zwischen den beiden Fällen. Während er dem Mörder immer näher kommt, stößt Brooke auf ein dunkles Geheimnis, das der tote Junge hütete …

ÜBER DEN AUTOR

Jim Kelly ist Journalist und hat bereits für die BEDFORDSHIRE TIMES, die YORKSHIRE EVENING PRESS und die FINANCIAL TIMES gearbeitet. Von seinem Vater – einem Detective Chief Inspector bei der Londoner Metropolitan Police – hat er die Faszination für Verbrechen geerbt. Für seine Romane hat er bereits den CWA DAGGER IN THE LIBRARY und den NEW ANGLE PRIZE FOR LITERATURE erhalten, zudem stand er auf der Shortlist des John Creasey Awards.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2018 by Jim Kelly

Titel der englischen Originalausgabe: »The Mathematical Bridge«

Originalverlag: Allison & Busby Limited

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Frank Weinreich, Bochum

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, Münchenunter Verwendung von Illustrationen von© Arcangel: Stephen Mulcahey, © shutterstock.com: hxdbzxy | Hus-jak

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-2810-2

luebbe.de

lesejury.de

Für Steve und Gabrielle Bennett,für eine Freundschaft, die sich von Dryden zu Shaw undweiter bis zu Brooke erstreckt.

ANMERKUNG DES AUTORS

Die Stadt Cambridge spielt eine der Hauptrollen in Die Schatten von Cambridge. Wie alle fiktiven Charaktere ist auch sie eine Mischung aus Realität und Fantasie, sowohl in geographischer als auch in historischer Hinsicht. Ich hoffe, dass, wie auch immer sich Fakten und Fantasie vermischen, der Geist der Stadt erhalten bleibt.

KAPITEL EINS

Neujahr 1940

Cambridge, England

Detective Inspector Eden Brooke trottete auf den Market Hill, den großen Platz der Stadt. Schnee schwebte langsam in dicken Flocken zu Boden, jede einzelne ein mathematisches Juwel, das in der finsteren Nacht mal in diese, mal in jene Richtung getragen wurde. Alle Geräusche erklangen gedämpft; eine Uhr, die zur Unzeit die Stunde schlug, das rhythmische Gebell eines Hundes am Flussufer, das ferne Poltern eines Munitionszugs auf dem Weg zu den Häfen an der Küste im Osten. Die Verdunkelung war umfassend, doch der Schnee verbreitete sein eigenes Licht, eine Art inneres Leuchten, das die tiefhängenden Wolken am Himmel zum Vorschein brachte. Brooke blieb stehen, sein letzter forscher Schritt verhallte ohne Echo, und er fragte sich, ob er den Schnee fallen hören konnte; ein eisiges Flüstern im Takt der glitzernden Kristalle, wenn sie auf dem Pflaster zur Ruhe kamen und sich zu einem nahtlosen weißen Laken vereinigten.

Das Licht zweier Suchscheinwerfer auf der Suche nach den erwarteten deutschen Bombern zappelte im Süden über den Himmel. Brooke dachte an seinen Sohn Luke, der mit der British Expeditionary Force an der belgischen Grenze lagerte, wo er gerade jetzt unter demselben weinenden Himmel schlief und auf den Frühling wartete, auf Tauwetter und die ersten Granatsalven aus dem Osten. Der Krieg dauerte schon fast fünf Monate, und ein Zusammenstoß der Großmächte rückte mit jedem Tag näher, während sich der Sitzkrieg seinem unausweichlichen Ende entgegenschleppte.

Brooke setzte seinen Gang durch eine Welt fort, die ihm wohlvertraut war: die Stadt bei Nacht, ein Labyrinth aus Steinen und verborgenen Orten, ein ganz persönliches Königreich. Er passierte die elfenbeinfarbenen Marmorsäulen des Senatsgebäudes und sah vor sich die King’s Parade, eine breite Hauptverkehrsader, die zu einer Seite an ein chaotisches Durcheinander aus Läden und Gaststätten grenzte. Über ein ausgedehntes Schneefeld führte der Blick zu den steinernen Maßwerken der Collegegebäude und der erhabenen Silhouette der King’s College Chapel. Vollkommene Stille beherrschte die Szenerie, als wäre sie im Moment erstarrt. Er blickte auf. Schneeflocken landeten nass in seinen Augen, und er sah, wie die vier großen Spitztürme der Kapelle in den Wolken verschwanden, als wäre das Gebäude an vier steinernen Haken vom Himmel herabgelassen worden.

Brooke zündete sich eine Zigarette an, eine seiner kostbaren Black Russians, und atmete tief die arktische Luft ein, der ein sonderbar metallisches Aroma anhaftete; eine Erinnerung an Granitinseln und Eisberge und endlose graue Ozeane. Der Schnee, der nun schon seit dem Silvestertag ununterbrochen fiel, überzog alles mit einer umfassenden, gefalteten Decke, verhüllte teilweise einen geparkten Wagen, bedeckte das ganze Pflaster, ein paar Geschäftseingänge und eine provisorische Mauer aus Sandsäcken, die zum Schutz vor Bombenexplosionen erbaut worden war, für den Fall, dass die lange erwarteten Luftangriffe sich doch endlich einstellten. Eis hing an den Holzplatten, die den Platz der Buntglasfenster einnahmen, welche man entfernt und in die Sicherheit städtischer Kellergewölbe verbracht hatte.

Selbst in dem schwachen Licht benötigte Brooke eine getönte Brille zum Schutz seiner geschädigten Augen: Heute waren es ockerfarbene Gläser, die wie ein feiner Filter wirkten, der exklusiv für ihn eine vergoldete Welt erschuf. Einsatzbereit in seiner Tasche ruhten die grün, blau und schwarz getönten Brillen. Aber bei Nacht war die Stadt immer schon schattig gewesen, auch vor der Verdunkelung. Gasknappheit hatte während der meisten Jahre seit dem Ersten Weltkrieg dafür gesorgt, dass es um zehn Uhr abends »Licht aus« hieß. Und im Grunde brauchte er seine Augen auch nicht, um den Weg zu finden; er las diese Straßen, als wären sie in Braille niedergelegt worden.

Die Glocke von Great St. Mary’s durchbrach die Stille und verkündete die Stunde.

Brooke hielt an seinem gewohnten Platz inne, gegenüber dem Torhaus des King’s College. Dort, wo die Tür der Pförtnerloge geöffnet worden war, konnte er gerade noch einen Flecken gelben Lichts auf dem Mauerwerk ausmachen. Eine dunkle Gestalt kam mit einer abgeschirmten Laterne heraus und trottete in den dahinter liegenden Front Court, um mit ihrer Runde zu beginnen, Fenster und Türen zu kontrollieren und nach verräterischen Lichtspalten an den Räumen der Gelehrten Ausschau zu halten, die noch spät in der Nacht arbeiteten. Eine Katze folgte dem Mann und sprang von Fußabdruck zu Fußabdruck, bis beide verschwunden waren.

Brooke genoss seine Zigarette, bewunderte wie stets die Art, wie das goldene Filterpapier das Licht einfing. Während er das Nikotin einsog, trat er einen Schritt vor, drehte sich auf dem Absatz herum und betrachtete die Wand, die vor ihm aufragte, wohl wissend, was er dort finden würde: eine ovale steinerne Plakette, die dort schon gehangen hatte, als er sie als einsames Kind auf seinen Streifzügen durch die Stadt erstmals entdeckt hatte. Frost hatte an den Lettern und grob gemeißelten dekorativen Symbolen gehaftet, die einen Weinkrug samt Trauben darstellten.

Edward FitzGerald, Poet, lebte hier von 1880 – 1891

FitzGeralds Meisterwerk hatte Brooke gelesen, als er während des Ersten Weltkriegs in der Wüste stationiert gewesen war. Rubāʿīyāt of Omar Chayyām, seine Übersetzung des persischen Originals, hatte den Platz der Ilias in seinem Seesack übernommen. Während des langen Marsches der Egyptian Expeditionary Force, der von Kairo aus über den nördlichen Sinai führte, hatte er Tapferkeit und Lebensmut bewahrt, indem er sich Abend für Abend der sanften Einladung des Dichters hingegeben hatte, den Tag zu genießen.

Sei glücklich in diesem Moment. Dieser Moment ist dein Leben.

Brooke bückte sich, formte einen Schneeball und warf ihn auf die Plakette. Angesichts der Schrecken dieses Krieges, den zu überstehen er das Glück gehabt hatte, war dies eine Philosophie, die das Leben feierte, das er lebte.

Die weiße Stille hielt vor. Vielleicht war dies nur eine Art Echo der Rubāʿīyāt, doch mit ihrer weichen Decke erinnerte ihn die Straße an die Wüste, den blendenden Sand zwischen Gaza und der See, der über Dörfer und Straßen kroch, über Lager und Bäume, und sie auf genau diese Weise zurückließ: gedämpft und verhüllt, aufgeteilt in sanfte Rundungen.

Diese Wüste hatte Brooke zur Nachteule gemacht, heimgesucht von Schlaflosigkeit, Ergebnis seiner Gefangenschaft und der Folter in Händen der osmanischen Türken. Trotz des Schmerzes – grelles Licht, das bei den nächtlichen Verhören auf seine Augen getroffen war, und die blendende Sonne bei Tag – hatte er die Geheimnisse gewahrt, die er zu wahren hatte. Der König hatte ihm einen Orden verliehen, aber er hatte sich nie als Helden wahrgenommen. Am fünften Tag war er nicht einmal mehr imstande gewesen, Wahrheit und Lüge zu unterschieden. Es schien alles schon so lange zurückzuliegen.

Er füllte seine Lunge, hielt die Luft an und hatte das sichere Gefühl, dass in Kürze etwas beginnen würde. Der unerwartete Bonus seines Zustands war genau diese insomnische Aufregung: eine Art Hyperaktivität, bei der seine Sinne auf einem übermenschlichen Niveau arbeiteten.

Schon einen Moment, bevor das Geräusch wahrnehmbar war, hörte er sein vorauseilendes Echo: das Fiepen einer Polizeitrillerpfeife. Dann drei Pfiffe, eine Pause und noch drei Pfiffe – das vereinbarte Signal.

Brooke rannte zur Ecke Kings Lane, und die metallenen Blakeys an seinen Schuhen durchstießen die Schneedecke und knallten auf das darunter liegende Pflaster. Schwer atmend hielt er inne und hörte erneut Pfiffe, lauter, aber ohne den Dreier-Rhythmus. Unter dem Schnee führte schmal und gepflastert ein dunkler Durchgang zu den Türen des Queens’ College unter seinen drei oktagonalen Türmchen.

Police Constable Collins stand auf der Straße, und seine schwarze Pelerine schwang auf, als er sich wechselweise nach links und rechts drehte und in seine Pfeife blies.

Brooke wurde langsamer und verfiel ins Gehen. Die Polizeitruppe des Borough war eine der kleinsten im ganzen Land. Von den nur achtzehn Constables in Uniform kannte er jeden: Collins, gerade achtzehn, war nervös und das, was Claire als »verhuscht« bezeichnen würde. Brooke erkannte einen panischen Unterton in dem manischen Gepfeife. Was hatte den jungen Constable nur so verstört? Ein Flüchtender – ein Student, der nach einem heimlichen Rendezvous in sein Zimmer zurückkletterte?

»Collins«, sagte er. »Ganz ruhig, Junge. Was ist hier los?«

Collins ließ die Trillerpfeife an ihrer Schnur fallen.

Brooke nahm seinen Hut ab, brachte ihn in Form, setzte ihn wieder auf und zog sich die Krempe etwas tiefer ins Gesicht. Die prächtige Fassade des Colleges wirkte enorm still. Sein Vater hatte ihn einst hergebracht, um ihm Erasmus’ Räumlichkeiten in dem dritten hohen Türmchen zu zeigen, ein Symbol ruhiger, vernunftbetonter Logik.

Schwer atmend nahm Collins unbeholfen Haltung an.

»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte er, außerstande, mehr von sich zu geben.

Brookes Ruf eilte ihm voraus: barsch, unberechenbar, außerstande, sich mit Idioten herumzuschlagen. Den Detective Inspector gegen sich aufzubringen galt im Borough als sicheres Ende der eigenen Laufbahn. Collins würde wie die anderen jungen Constables bis zum Frühjahr bei der Army landen, wenn der Krieg nicht vorher endete. Und wie die anderen hoffte er ohne Zweifel, bis dahin eine ruhige Kugel schieben zu können.

»Was ist passiert, Collins?«

»Sir, ich war dabei, Feierabend zu machen, und schon auf dem Heimweg, als ich den Pförtner schreiend auf der Straße angetroffen habe. Da ist eine Person im Fluss, Sir, treibt stromabwärts. Er ruft gerade im Spinning House an, Sir. Ich habe um Unterstützung gebeten.«

Das Hauptquartier des Borough residierte im Spinning House, einem mittelalterlichen Zuchthaus, keine halbe Meile entfernt.

»Es sind noch zwei andere in der Nachtschicht, Jenkins und Talbot. Ich dachte, sie würden die Pfeife hören.«

»Gut«, sagte Brooke. »Diese Person. Hat er sie selbst gesehen? Irgendwelche Lebenszeichen?«

Ein leerer Blick verriet Brooke alles, was er wissen musste: Collins hatte gar nicht erst gefragt.

»Sobald die Verstärkung eintrifft, schicken Sie sie zum Fluss, zur Great Bridge und dann weiter zur Jesus Lock. Wenn da wirklich ein Mensch im Wasser treibt, so treibt er dorthin. Der Fluss hat Hochwasser. Ich werde mich um den Pförtner kümmern. Pfeifen Sie weiter. Immer nur drei Pfiffe, dann machen Sie eine Pause. Verstanden?«

Collins nickte.

»Wenn Sie die anderen flussabwärts geschickt haben, gehen Sie selbst flussaufwärts und kontrollieren die Brücken. Fangen sie mit der Silver Street an. Sehen Sie nach, ob irgendjemand dort ist.«

Collins sah aus, als versuche er, sich die Anweisungen einzuprägen.

Brooke trat über die hohe Schwelle der Miniaturtür in dem großen Holztor des Colleges und fand den Pförtner in seiner Loge vor.

»Bin durchgekommen. Sie schicken Hilfe«, sagte der Pförtner und ließ den Hörer fallen. Jegliche Farbe war aus seinem Gesicht verschwunden.

»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Brooke.

»Folgen Sie mir«, sagte er und schnappte sich eine Sturmlaterne und eine Taschenlampe.

Front Court war ein Pfuhl der Schatten, aber Cloister Court erhob sich aus der Nacht aufgrund der Tudorfassade mit den schwarzen Balken auf weißem Putz. Vor sich konnte Brooke gerade noch die Stiefel des Pförtners im Licht der Laterne ausmachen und die Fußspuren, die sich tintenschwarz im Schnee abzeichneten.

Sie passierten einen Torbogen mit einem einzelnen, würgenden Gargoylekopf und traten hinaus auf die elegante Wölbung der Mathematical Bridge, erbaut aus geraden Holzbalken, die tangential angeordnet worden waren, um einen Brückenbogen zu formen. Zudem war sie – zumindest einer umstrittenen Legende zufolge – ohne einen einzigen Nagel erbaut worden.

Der Pförtner stand außer Atem auf der Brückenmitte und hielt die Laterne über das Wasser. Der Cam war aufgewühlt, eine schokoladenfarbene Flut, die unter ihren Füßen wirbelte, die Oberfläche pockennarbig vor kreisenden Miniaturstrudeln. Dann und wann trieben Eisplatten vorüber.

»Genau hier«, sagte er. »Da war ein Sack, Sie wissen schon, wie man sie für Kartoffeln benutzt. In der nächsten Sekunde war er schon wieder weg. Ich glaube, er hat versucht, sich zu befreien. Ich habe eine Stimme gehört, Sir. So klar und deutlich wie meine eigene.«

»Was hat sie gesagt, diese Stimme?«

»Helft mir. Helft mir! Mehr nicht. Und das Schlimmste ist, dass es eine Kinderstimme war. Ein Junge – das würde ich beschwören. Wer tut so etwas, Sir? Wer ersäuft ein Kind wie einen Hund?«

KAPITEL ZWEI

Brooke lief zurück, überquerte King’s Parade, wo er weitere Polizeipfeifen hörte und in der Ferne einen Funkwagen sah, dessen schwache, halb verdeckte Scheinwerfer nur ein kurzes Stück den Schnee anleuchteten, während er in Richtung Great Bridge verschwand. Gegenüber dem Torhaus des Trinity bog er scharf nach rechts in das alte jüdische Ghetto ab, ein labyrinthisches Viertel voller Sackgassen, deren Lage er sich als Kind eingeprägt hatte. Links, rechts, rechts führte ihn zu einem kleinen Hof, auf dem der Schnee die Konturen einer Reihe adliger Köpfe akzentuierte, die eiserne Ablaufrinnen stützten.

Der Hof weitete sich und gab den Blick auf eine Collegefassade und ein einzelnes großes Tor frei. Mit seinem Siegelring schlug er an dem Eisenscharnier ein längst perfektioniertes Klopfzeichen für die Nacht – zweimal Pochen, Pause, einmal Pochen. Dann wartete er, stellte sich die behäbigen Schritte des Nachtpförtners vor und blickte hinauf in das Schneegestöber, jede Flocke ein Schatten vor dem leuchtenden Himmel. Er dachte an den Schnee, der sich auf den wirbelnden Fluss senkte, das Kind, das verzweifelt kämpfte, zweifach erstickt von dem Sack und dem Wasser und doch vor allem gepeinigt von der bitteren Kälte.

Doric, der Nachtpförtner des Michaelhouse, stand in der offenen Tür mit dem großen Ring voller Collegeschlüssel in der Hand und war bereits dabei, sich wieder dem Inneren seiner Loge mit ihren getäfelten Wänden und dem orangefarbenen Schein des Kohlefeuers zuzuwenden. Hier suchte Brooke in den meisten Nächten Zuflucht, angelockt von der Wärme und der Aussicht auf ein paar Speisereste aus der Küche oder einem Platz am Feuer, an dem er die Collegezeitung lesen konnte. Doric war eine von Brookes vertrauenswürdigsten Mit-Nachteulen, verdammt zu einem Leben fern des Lichts, daheim in der schattigen Welt des Colleges nach Einbruch der Dunkelheit, deren unbestrittener Herr und Meister er war.

Doric ergriff einen Kessel und stellte ihn auf den Herd.

»Heute Nacht nicht, Doric«, sagte Brooke, während er immer noch auf der Schwelle verharrte. Er hatte den Hut abgenommen und strich sich mit einer Hand durch das dichte, schwarze Haar, das prompt wieder über seine Stirn fiel. »Keine Zeit. Ich brauche die Schlüssel für einen Stocherkahn des Colleges. Ein Kind ist im Wasser. Vielleicht kommen wir noch rechtzeitig, wenn wir uns beeilen.«

Doric nahm einen einzelnen Schlüssel vom Haken und fragte: »Was ist mit Jesus Lock?«

Er drehte sich zu einer Wandkarte um, auf der die gequälte Passage des Flusses durch die Stadt erkennbar war. »Der Fluss führt Hochwasser; sie könnte offen sein.«

Sollte die Schleuse wirklich offen sein, dann bestand die Gefahr, dass das Kind in den breiteren Abschnitt des Flusses und weiter zum Meer getragen wurde.

»Rufen Sie den Schleusenwärter an, Doric«, bat Brooke und setzte den Hut wieder auf. »Wenn Sie die Nummer finden können. Wenn nicht, rufen Sie im Spinning House an, die werden sie haben. Da gibt es ein Cottage gleich bei den Toren. Die sollen auch das Siel schließen. Ich werde bald dort sein.«

»Nehmen Sie das«, forderte Doric ihn auf und zog eine der Collegetaschenlampen unter seinem Tresen hervor, die er Brooke zusammen mit dem Schlüssel reichte.

Brooke lief zurück zum Fluss, folgte seinen eigenen Fußspuren, die in dem steten Schneefall schon beinahe nicht mehr zu erkennen waren. Das Blut raste durch seine Adern, sein Herz war überstrapaziert, und das veranlasste ihn, noch einmal über das Kind nachzudenken: Sein Herz mochte langsamer schlagen, sein Blut langsamer strömen und sich in den eiskalten Gliedern sammeln. Jede Minute, die vorüberzog, entfernte das Kind weiter vom Leben, dessen war er sicher. Das Flusswasser konnte nicht wärmer als ein oder zwei Grad über dem Gefrierpunkt sein. Der Schock allein mochte schon tödlich sein.

Das Michaelhouse grenzte auf der Rückseite nicht an den Fluss wie so viele andere mittelalterliche Colleges. Dennoch gab es in der Saison eine Menge sich begeistert auf dem Wasser tummelnder Stechkahnfahrer und Ruderer im College, was einen Anlegeplatz hinter verschlossener Tür nötig machte, gleich da, wo Brooke im Sommer seiner privaten Leidenschaft für das Schwimmen im Cam nachzugehen pflegte. Jede Nacht schlüpfte er dann in das grüne Wasser und glitt ungesehen durch das Herz der alten Stadt.

Heute Nacht lagen die Stechkähne des Michaelhouse wie eine gefrorene Flotte angekettet unter einer einheitlichen Schneedecke.

Brooke öffnete das eiskalte Vorhängeschloss und machte einen Kahn los. Als Student war er geschickt im Umgang mit der Stocherstange gewesen, wenn er das Flachboot an den sonnenüberfluteten Wiesen vorbei hinaus aufs Land gefahren hatte, wo der seichte Fluss über ein Kiesbett strömte. Heute jedoch machte die Kälte ihn schwerfällig, und er hatte Mühe, die Stange als Ruder zu verwenden, um das Boot in die Hauptströmung zu steuern.

Dorics Lampe riss die steilen Steinwände aus dem Dunkel, die inmitten der Stadt als Flussufer dienten. Collegemauern drängten sich zu beiden Seiten dieses Abschnitts, den jeder die Backs nannte. Der Lichtstrahl fing sich in den fallenden Schneeflocken; die Studentenzimmer waren dunkel, die Fensterläden geschlossen; eine einzelne Eule saß in einer leeren Mauernische, die Augen weit aufgerissen. In der Mitte des Flussbetts raste die Strömung schnell dahin, aber in dem Rückstau, der durch die Schleusen und die Docks, die Stufen und Brücken hervorgerufen wurde, beschrieben Strudel wirre Kreise. Wenn das Kind noch immer im Fluss trieb, konnte sich der Sack überall verfangen haben. Doch es war nirgends ein Lebenszeichen zu sehen.

Eisblöcke tanzten in dem schlammigen Wasser. Der kalte Fluss, gefangen zwischen feuchten Collegemauern, hatte die Luft noch mehr ausgekühlt. Brooks Atem bildete Dampfschwaden, während er die Stange nutzte, um das Boot unter einer Reihe von Steinbrücken hindurchzusteuern, bis eine scharfe Biegung ihn zur Great Bridge selbst führte, der alten römischen Querung, die die Unterstadt mit der Oberstadt verbunden hatte, dem Teil, der sich um die Burg drängelte. Von hier aus ging es geradeaus weiter zur Jesus Lock.

Über ihm auf der Brücke stand ein Constable und schwang eine Laterne.

»Keine Spur von dem Kind«, rief eine Stimme. »Sie schließen die Schleuse und Baits Bite auch.« Dann war Brooke vorbei und rauschte unter dem hallenden Steingewölbe hindurch.

Im Sommer hätte er sein Gewicht an der Stange einsetzen müssen, um sie wie einen im Kiesbett verankerten Hebel zu benutzen und sich vorwärtszuschieben, aber heute Nacht war der Cam ein reißender Strom, und so zog der Fluss ihn in hohem Tempo mit. Bald konnte er recht deutlich das weiß schäumende Wasser erkennen, das vor dem näherkommenden Wehr neben Sielen und Schleuse aufgewühlt war.

Der Lichtstrahl seiner Taschenlampe glitt über die Fluten, von links nach rechts, links nach rechts. Der Fluss war schwarz, aber durchzogen von kleinen, wirbelnden Kreisen voller silbriger Blasen. Auf der fernen Schleusenbrücke arbeitete sich der Schleusenwärter an einem eisernen Rad ab und schloss Zoll um Zoll die Tore. Ein Police Constable am anderen Ufer richtete eine Lampe auf das Wasser, das durch die enger werdende Öffnung sprudelte, und hielt Ausschau nach dem Kind.

Der Schneefall ließ nach; der Mond kam in einer Lücke zwischen den unsichtbaren Wolken zum Vorschein und ergoss sein Licht über den breiten, brodelnden Strom. Der Stechkahn raste weiter, so schnell, dass Brooke sich an den Seiten festhalten musste. Seine Augen tasteten das Wasser ab, und für eine Sekunde – beinahe hätte er es verpasst! – war da etwas zu sehen gewesen, das sich nicht mit dem Strom bewegte: ein flüchtiger Eindruck von Sackleinen; eine Hand, die sich emporzurecken schien und etwa zwanzig Yards entfernt durch die Wasseroberfläche brach. Drei taumelnde Sekunden später war er beinahe da, streckte die Hand danach aus, obwohl er im selben Moment wusste, er war ein Yard zu weit weg. In seinem Bemühen, Finger mit Fingern zu verschränken, wäre er beinahe aus dem Boot gefallen. Dann blickte er zurück, richtete die Lampe aus, aber die Hand war verschwunden.

Der Stechkahn tauchte in Wellentäler, schaukelte und donnerte ungebremst durch die kleiner werdende Öffnung der Tore. Rechts erhaschte er einen Blick auf den Schleusenwärter, das Gesicht glänzend vor Schweiß, eine Hand erhoben, die Augen geweitet. Unter der Schleuse schufen die herabstürzenden Fluten einen Strudel, in dessen Zentrum Brooke mit seinem Boot herumgewirbelt wurde. Erst jetzt, da er sich wieder von den Schleusentoren entfernte, fiel ihm das Tosen des Wassers auf, das nun nachließ und eine sonderbare, rieselnde Ruhe zurückließ. Hinter ihm hatten sich die Tore geschlossen.

War das Kind hindurchgeschlüpft oder saß es weiter oben im Fluss in der Falle?

»Irgendeine Spur?«, brüllte der Schleusenwärter, von dem vor dem Licht der Suchscheinwerfer nur die Silhouette zu sehen war.

Brooke lauschte angestrengt, hoffte, das Echo einer Kinderstimme zu hören. Aber alles, was er wahrnahm, war das schaurige Brrrr! Brrrr! eines Nachtfalken im fernen Schilf. Er ließ den Lichtstrahl der Taschenlampe über das Wasser gleiten.

»Nichts«, flüsterte er vor sich hin.

KAPITEL DREI

Brooke setzte alle Ressourcen ein, die das Borough zu bieten hatte. Ein Funkwagen wurde nach Baits Bite entsandt, der nächsten Schleuse flussabwärts, während Vorbereitungen getroffen wurden, um den ganzen Fluss bei Morgengrauen von der Mathematiker-Brücke stromabwärts mit Netzen zu durchsuchen.

Auf welchen Bereich sollte sich die Suche konzentrieren? Es war anzunehmen, dass das Kind zusammen mit Brooke und dem Stocherkahn durch die Schleuse getrieben war, obgleich sich die Tore da bereits schlossen. Das bedeutete, dass es in einen der Wirbel geraten und in ein Nebengewässer oder einen Graben getragen worden sein konnte.

Die Nachtschicht des Borough war im Einsatz, an beiden Ufern sollten drei von ihnen die Meile von der Great Bridge zu Baits Bite abgehen. Die motorisierte Flusspatrouille der Army war dem oberen Flusslauf zugeteilt worden. Den mobilen Suchscheinwerfer einer Flakgeschützstellung auf dem Marshall Airport hatte man ans Ufer gerollt. Jenseits der Gischt des zwischen den Schleusentoren herabfallenden Wassers zeigte sich die Oberfläche ebenfalls lebendig, voller Blasen, Strudel und Treibgut aus Zweigen und Ästen, Moos und Schilf. Lichter flackerten in den Kanal- und Hausbooten, deren Eigner an Deck Beobachtungsposten bezogen hatten. Der WVS, der Women’s Voluntary Service, den man wegen des Notfalls alarmiert hatte, war mit einem mobilen Teestand an der Schleuse eingetroffen.

Mit jedem Viertelstundenschlag der städtischen Uhren schwand die Hoffnung.

Brooke richtete im Schleusenwärterhäuschen eine Art Kommandoposten ein. So charmant die Hütte von außen wirkte, so streng utilitaristisch war sie von innen. Die Dekoration beschränkte sich strikt auf das Grün-Weiß der Cam Conservators, einer uralten Flusswächterorganisation, wie eine Messingtafel neben der Tür verkündete. In den vorderen Räumen lagerten schmiedeeiserne Ersatzteile für die Schleuse, Bootshaken und große Fässer mit Schmieröl für Schleuse und Tore. Der Schleusenwärter, ein Witwer, schien nur eine kleine Küche mit Pritsche und Kanonenofen im hinteren Bereich zu bewohnen. Aber er besaß ein Telefon, ein an der Wand hängendes Bakelitmodell mit einer an der Seite angebrachten Karte, auf der in Druckschrift die Nummern für die Schleusen weiter oben und weiter unten am Fluss aufgeführt waren.

Brooke legte Einsatzpläne für die Tagschicht vor, um die Suche fortzusetzen, darin enthalten eine unausgesprochene Frage: die Suche wonach? Nicht mehr nach einem Kind. Nach einer Leiche. Es konnte kaum Zweifel geben, dass der Junge – die Stimme hatte hoch geklungen, aber laut dem Pförtner ging es definitiv um einen Knaben – bereits auf dem Grund des Flussbetts lag, die Lunge voller Wasser. Aber es ging nicht nur um die Suche nach einer Leiche – die Identität des Opfers wäre ein Hinweis in sich, und es mochte noch mehr geben: Wunden, die ihm zugefügt worden waren, Kleidung, eine Schnur, der Sack selbst.

Brooke studierte die Karte des Schleusenwärters im Licht einer kahlen Birne. Er hatte die ockerfarbene Brille gegen die grüne ausgetauscht, um die schmerzhafte Blendwirkung des elektrischen Lichts zu dämpfen.

Die Karte zeigte den Cam, der aus den Bergen im Süden herabfloss, sich um den Stadtkern schmiegte und schließlich weiter in die Fens strömte. Das Kind war in den Fluss geworfen worden – wo? Die Antwort musste flussaufwärts der Mathematiker-Brücke liegen. Kleinere Nebenflüsse – der Oberlauf des Cam, der Granta, der Rhee – bildeten ein ganzes Netzwerk aus Bächen und Teichen. Wie lange konnte das Kind geschwommen sein, ehe es die Mathematiker-Brücke passiert hatte? Ein paar hundert Meter, vielleicht eine halbe Meile? Bei Tageslicht würden die Funkwagen des Borough zu den Brücken und Dörfern stromaufwärts ausgesandt werden, die sich direkt an die von viel Grün gekennzeichneten Vororte mit ihren Zwischenkriegs-Doppelhausbauten anschlossen, in denen sie mit der Haus-zu-Haus-Befragung beginnen konnten. Hatte irgendjemand Kinderschreie gehört? Vermisste ein Familie ein Kind?

Die filigrane Darstellung des Verlaufs von Fluss und Bach, Graben und Entwässerungskanal auf der Karte verschwamm vor Brookes versehrten Augen. Er war erschöpft und brauchte ein Plätzchen, um sich auszuruhen. Das beste Heilmittel gegen die Schmerzen war jetzt ein Spaziergang unter den kalten Sternen in der Linderung verheißenden Dunkelheit. Und er musste dabei nicht einmal allein bleiben, denn die Stadt war voller Nachteulen, die jederzeit ein warmes Kaminfeuer, einen Tee, einen Whisky oder auch guten Rat bereithielten, wenn ein Fall sich als unlösbar darstellte. Oder sogar eine Couch oder einen Lehnsessel, falls der Schlaf ihn wie so oft ohne Vorwarnung überfiel wie ein Hammerschlag.

Folglich verließ er das Häuschen des Schleusenwärters und machte sich auf den Weg zurück in die Stadt. Parker’s Piece – der große offene Park der Stadt – präsentierte sich als geisterhafte Ansammlung weißer Rundzelte; ein Armeelager seit der ersten Kriegswoche. In den Lücken zwischen den Zelten brannten hier und da Feuer. Beim Anblick dieser Szenerie kam ihm abrupt eine Nacht im Jahr 1934 in den Sinn, als er als Detective Sergeant Teilnehmer des Hungermarschs aus Jarrow beschattet hatte. Die zerlumpten, arbeitslosen Männer hatten die Stadtgrenze in der Abenddämmerung erreicht. Zunächst waren sie am Girton College mit Tee und Brötchen empfangen worden, ehe ihnen das Borough mit strikter Teilnahmslosigkeit begegnete, als sie Parker’s Piece erreichten. Dieses Gefühl, dass seine Pflicht und sein Verständnis in entgegengesetzten Richtungen an ihm zerrten, hatte dafür gesorgt, dass er Demonstrationen seither mit Argwohn beäugte.

Aber hier, in einem Militärlager, fühlte er sich wohl. Claire sagte immer, er wirke zielstrebig und gäbe eine ansehnliche Figur ab: Hut; breite Schultern; ein Körper, der sich nach unten verjüngte bis hin zu den Füßen, die aussahen, als wären sie miteinander verschmolzen; gleichsam ein Nagel, der in den Boden getrieben werden sollte. Ein Corporal im Kampfanzug kam mit einer Taschenlampe auf ihn zu und überprüfte seinen Dienstausweis, ehe er ihn mit der Warnung, er möge aufpassen, wo er hintrete, durchwinkte.

Fünf Minuten später hatte er die fernen Eisentore von Fenner’s Cricketfeld erreicht. Kein menschlicher Fußabdruck zeigte sich auf dem Spielfeld, nur die gespenstischen Spuren von Vogelschwingen, zurückgelassen beim Abflug, tüpfelten das Außenfeld. Eine kurze Straße, gesäumt von großen Vorstadthäusern, mündete in einer Sackgasse. Die grüne Tür des letzten Hauses war stets unverschlossen, also öffnete er sie vorsichtig und kletterte die zwei Treppen hinauf zu einem Schlafraum.

Detective Chief Inspector Frank Edwardes lag in seinem Sterbebett, gestützt auf einen Haufen Kissen, und das Licht der Kerze, die neben einem Bücherstapel stand, fiel auf die marmorgraue Haut seines Gesichts. Das Fenster, angelehnt trotz der Kälte der Nacht, bot einen Blick auf das geisterhafte Cricketfeld. Der Mond tauchte es, nun, da die Wolkendecke dünner wurde, in ein kaltes Licht und malte Schatten unter die kahlen Ulmen, die das Gelände umschlossen.

»Eden«, sagte Edwardes und schlug plötzlich die Augen auf.

Sie hörten Schritte in dem Stockwerk unter ihnen. »Das wird Kat sein, die Ihnen Tee kocht.«

»Ich habe sie geweckt«, sagte Brooke.

»Das bezweifle ich.«

Kat, Edwardes Frau, war eine Krankenschwester, die früher mit Claire zusammengearbeitet hatte und sich nun um ihren Mann kümmerte.

»Irgendetwas Neues vom Fluss?«, fragte Edwardes.

Neben dem Bett nahm eine Reihe Funkgeräte eine ganze Wand des großen Schlafzimmers ein. In Friedenszeiten war Edwardes ein »Ham« gewesen – ein begeisterter Amateurfunker –, einer von Tausenden überall im Land, die einfache Sendeanlagen bauten, Netzwerke unterhielten und exotischen Botschaften aus Europa und darüber hinaus nachspürten. Der Krieg hatte ein Verbot aller Funkgeräte mit sich gebracht, die samt und sonders bei der Obrigkeit abgeliefert werden mussten. Doch es gab eine große Ausnahme: Jeder Ham, der zustimmte, den Äther nach nützlichen Informationen abzusuchen und sie umgehend an die Geheimdienste zu übermitteln, konnte seine Ausrüstung behalten.

Edwardes verfolgte die Funknachrichten aus den Fahrzeugen des Borough zusammen mit dem restlichen nächtlichen »Verkehr«.

»Keine Neuigkeiten«, sagte Brooke. »Keine Spur von ihm. Ich hab seine Hand gesehen, Frank. Hätte ihn beinahe erwischt, aber die Strömung war zu stark, und die Schleusentore standen offen.«

»Gut gemacht«, bemerkte Edwardes.

»Was?«

»Dass Sie nicht reingesprungen sind, Eden. Niemand mag allzu waghalsige Helden. Wir alle wissen, dass Sie im Fluss schwimmen, aber nicht in der Dunkelheit, nicht in eiskaltem Wasser, nicht bei Hochwasser. Sie hatten keine Chance.«

Brooke nickte zustimmend. »Das ist richtig. Zu kalt, Edwardes, sogar für mich. Und der Junge war im Handumdrehen wieder verschwunden. Inzwischen schwimmt Eis auf dem Fluss, große Schollen. Es muss nur noch ein bisschen kälter werden, nur noch etwas länger kalt bleiben, und die Studenten werden Schlittschuh laufen.«

Edwardes zündete sich eine Zigarette an und warf den Kopf zurück. »Das würde ich zu gern noch mal sehen. So habe ich Kat kennengelernt. Im letzten Winter vor dem Großen Krieg, draußen bei Coe Fen. Ich war gestürzt, und sie hat mir aufgeholfen.« Seine Augen starrten irgendetwas in mittlerer Entfernung an.

Als er 1919 aus dem Sanatorium zurückgekehrt war, hatte Brooke sein Studium im Michaelhouse aufgegeben, um sich dem Borough anzuschließen. Der Schaden an seinen Augen hatte ihm umfängliches Lesen und Laborrecherchen unmöglich gemacht. Sein Vater, ein distanzierter Mann, hatte einen Nobelpreis für die Entwicklung eines Serums gegen Diphterie gewonnen, ein Durchbruch, der Tausende, vielleicht Millionen von Leben gerettet hatte. Brooke, ein Kriegsheld, hatte immer noch das Bedürfnis, dem Frieden ein Gefühl von Sinn abzuringen. Die Polizei hatte ihm die Möglichkeit eröffnet, sich mit der Lösung logischer Probleme zu befassen und der Stadt, die er sich als einsames Kind angeeignet hatte, zu dienen.

Edwardes war sein Mentor gewesen. Sie hatten beinahe zwanzig Jahre zusammengearbeitet, von Krieg zu Krieg, und die Stadt im Zeitalter der Stempelgeldschlangen während der Großen Depression beaufsichtigt. Vor neun Monaten hatte ein unspezifiziertes Geschwür den alten Mann ereilt. Brooke hatte das Büro seines Vorgesetzten übernommen, und er hätte auch seinen Rang haben können, doch er hatte es nicht eilig gehabt, in die Fußstapfen eines Sterbenden zu treten. Die Fiktion, Edwardes würde geheilt und bei guter Gesundheit zurückkehren, wurde sorgfältig aufrechterhalten. Aber sein Leben würde in diesem Raum enden, und zwar wahrscheinlich noch bevor im Frühjahr der erste Ball auf Fenner’s rollte.

Morsecode hallte plötzlich durch den Raum, und Edwardes griff zu seinem Block und notierte mühelos Zeilen scheinbar zufälliger Lettern in Fünfergruppen.

Als wieder Stille einkehrte, studierte er seine Notiz und lachte. »Nicht einmal kodiert«, sagte er. »Einer von unseren. Es ist immer einer von unseren. Ein Ham draußen in Royston. Er sagt, er hätte gerade eine Nachricht aus Felixstowe aufgefangen, dass dort die Sirenen heulen. Vielleicht ist er das jetzt endlich. Der echte Krieg.«

Brooke setzte sich in den Lehnsessel, als Edwardes anfing, die neuesten Nachrichten von BBC zu umschreiben: Angst vor einer deutschen Invasion in Norwegen, Truppenbewegungen nahe der französischen Grenze. Seine Stimme schien zu verklingen, und als Brooke die Augen schloss, stürzte er rücklings in einen jähen Schlaf.

Edwardes las, als Brooke zwanzig Minuten später wieder erwachte. Auf dem Tisch neben ihm stand eine Tasse mit kaltem Tee.

Edwardes klappte das Buch zu. »Erzählen Sie mir mehr über das Kind im Fluss.«

»Der Pförtner im Queens’ hat eine Stimme ›Hilfe‹ schreien gehört. Nur dieses Wort. Er ist in einem Sack unter der Mathematiker-Brücke durchgetrieben. Ich schätze, er dürfte vier oder fünf sein. Ein Junge. Es gibt keine Hoffnung, aber es wäre schön, wenn es wenigstens Gerechtigkeit geben könnte. Das Problem ist, dass ich mir den Mörder nicht vorstellen kann. Wer würde so etwas tun?«

»Sie haben Recht. Das sprengt jegliches Verständnis. Das ist Ihr Problem – er ist ein Schreckgespenst, dieser Mörder. Er kommt mit einem Sack daher, um sich die ungezogenen Kinder zu holen. Nikolaus, nur verkehrt herum. Ein Sack mit Spielzeug für die braven Kinder, nur der Sack für die bösen. Wenn Sie genau darüber nachdenken, sagt das eine Menge aus. Ich würde mich auf das Warum konzentrieren, nicht auf das Wer. Der Modus Operandi ist schonungslos. Und so einen Sack hat man nicht einfach so bei sich. Also Vorsatz. Und dazu rabiat und erbarmungslos, also würde ich auf einen Profi schließen. Das ist kein Familiendrama, nicht wahr? Wo hat er ihn reingeworfen?«

Brooke fing an, sich im Geiste die Brücken stromaufwärts von der Mathematiker-Brücke vorzustellen: Silver Street, die Little Bridges, Fen Causeway …

Der alte Mann legte den Notizblock mit den hingekritzelten Punkten und Strichen weg. »Sie spazieren nicht mit einem Sack, in dem ein zappelndes Kind liegt, durch Cambridge – richtig?«, fuhr Edwardes fort. »Er muss einen Wagen benutzt haben oder einen Laster und hat das wahrscheinlich bewusstlose Kind auf der Ladefläche oder im Kofferraum transportiert. Dann hält er an, wirft den Sack übers Geländer und fährt davon. Das eiskalte Wasser bringt den Knaben wieder zu Bewusstsein.«

»Gott! Was für ein Gedanke.«

Edwardes setzte sich auf. »Ich werde Ihnen was sagen, Eden. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat er schon früher getötet. Und Sie wissen, was das bedeutet. Es ist ein Klischee, aber eben auch die grausame Wahrheit: Wenn er muss, wird er wieder töten.«

KAPITEL VIER

Im Spinning House schlief Brooke eine Stunde in Zelle sechs mit einem Kerzenstummel auf einer Holzleiste, die Dunkelheit samten auf seinen Augen. Als er erwachte, empfand er Hunger. Claire arbeitete in der Nachtschicht im städtischen Krankenhaus, und sie trafen sich, wann immer sie konnten, zum Frühstück. Brooke schlüpfte wieder in den Trenchcoat aus dem Großen Krieg, schnappte sich seinen Hut und erklomm die Wendeltreppe zur Wache des Spinning House, wo ihm der Sergeant erklärte, vom Cam gebe es nichts Neues, abgesehen davon, dass sie gerade anfingen, den Fluss mit Netzen zu durchsuchen und die Ufer gründlich inspziert worden waren.

Brooke trat hinaus auf die Regent Street, die alte Römerstraße, die sich wie ein Pfeil von den sanften Gog Magog Hills aus in die Stadt bohrte. Vollkommene Stille beherrschte die Szenerie. Am östlichen Himmel zog die Dämmerung herauf, und er empfand den vertrauten Kitzel, den er schon seit Kindertagen erlebte, wenn er die Stadt für sich allein hatte; ein Spielzeug, ein Puzzle, ein Labyrinth. Gegenüber dem Polizeirevier befand sich die Fassade der Cambridge Daily News. Licht fiel aus einem einzelnen Fenster im Obergeschoss, und Brooke hörte ein Telefon unbeachtet klingeln. Neben der News schloss sich das New Theatre an, ein dramatisches Zuckerwerk aus Balkonen und Schmiedeeisen. Die Theater waren wieder geöffnet worden, ebenso wie die Kinos, und er und Claire hatten in der Vorwoche die letzten Plätze für Gaslight ergattert. In Brookes Augen war das purer Luxus: ein netter, sauberer Mord, und alles spielte sich in einem kleinen Haus ab.

Er machte sich auf den Weg zum Addenbrooke’s Hospital, eine halbe Meile auf verschlungenen Pfaden durch das Wissenschaftsviertel der Universität, ein Gitterwerk aus kühlen, nüchternen Ziegelgemäuern. Gegenüber der säulenverzierten Pracht des Fitzwilliam Museum mit den vier sitzenden Löwen, auf die er als Kind geklettert war, bis ein erzürnter Kurator ihn fortgeschleift hatte, kam er wieder heraus. Er bog ab durch die Eisentore des Krankenhauses, und als er an dem Gebäude emporblickte, sah er schmale Lichtstreifen überall dort, wo die Verdunkelungsrollos nicht alles abdeckten. Die Dämmerung zog auf und tauchte den Dampf und Rauch aus Schornsteinen und Rohren in ein goldenes Licht.

Drinnen führte ihn der Weg über die hellen, spiegelglatten Korridore zur Aufnahmestation, und seine Metall-Blakeys klangen auf dem polierten Linoleum wie Gewehrfeuer. Da er schon dort war, fand er es nur angemessen, den Richtlinien zu folgen, also spürte er die diensthabende Schwester auf und erzählte ihr von den Ereignissen am Fluss. War in der Nacht irgendeine verdächtige Person gesehen worden? Nach neun Uhr abends hatten sie drei Leute behandelt: zwei Männer, die auf der Straße vor The Eagle eine Auseinandersetzung gehabt und sich gegenseitig mit identischen Flaschen identische Schnittwunden zugefügt hatten, und die Entfernung eines akuten Blinddarms. Brooke bat darum, dass das Spinning House im Fall der Aufnahme von Kindern oder Opfern häuslicher Gewalt informiert werde. Konnte dort das Motiv für das Verbrechen liegen? War familiäre Zerstrittenheit die Ursache?

Brooke rannte die Treppe zum Sunshine Ward hinauf. Die Kinder wurden gerade zum Frühstück geweckt. Sie lagen in dreißig eisernen Bettgestellen an einer Seite der langgezogenen Station, nur wenige Fuß voneinander entfernt. Durch den Raum trieb der Geruch von zu lange ziehendem Tee und verbranntem Toast, und irgendwo spielte ein Radio auf dem Sender Home Service die Musik einer Tanzkapelle. Wie aufs Stichwort strömte Sonnenschein durch die Fenster auf einer Seite herein.

»Du solltest nicht hier sein«, sagte seine Frau, als sie mit einer Bettpfanne in der Armbeuge lächelnd vor ihm stand. Claire war Schwester auf dieser Station, versetzt aus der Geriatrie. Kinder sollten in mehr als nur einer Hinsicht wieder zu ihrem Leben gehören: Ihre Tochter Joy, selbst ebenfalls Krankenschwester, war schwanger und nun zu Hause, nachdem sie sechs Monate lang bei den Soldaten, die sich von Portsmouth nach Frankreich einschiffen sollten, Gesundheitskontrollen in letzter Minute durchgeführt hatte. Das gerade anbrechende Jahr verhieß ein Enkelkind.

In dem Sanatorium außerhalb von Scarborough, in das man Brooke nach dem Martyrium in der Wüste gebracht hatte, hatte Claire ihn oft berührt, hatte seine Hände von den verwundeten Augen weggezogen oder eine Salbe auf sein kaputtes Knie aufgetragen, dort, wo seine Häscher ihm in der Hoffnung, er würde langsam in der Sonne sterben, ins Bein geschossen hatten, ehe sie ihn im Süden von Gaza zurückgelassen hatten.

Er wollte sie jetzt berühren, aber die Bettpfanne war zwischen ihnen.

»Das ist ein offizieller Besuch. Ich bin ein Detective Inspector, Schwester Brooke.«

Er nahm seinen Hut ab, fuhr sich mit der Hand durch das dichte schwarze Haar und strich es von seiner Stirn zurück.

»Das bedeutet, du bekommst eine kostenlose Tasse Tee.«

Der Schwesterntisch war am hinteren Ende, sodass man die eng geschlossenen Bettenreihen überblicken konnte. Dies war Claires Königreich. Sie war als ältestes Kind mit sechs jüngeren Brüdern aufgewachsen, weshalb ihr Leben ihr oft erschien wie das endlose, wirkungsvolle Streben, Ordnung ins Chaos zu bringen.

Während sie einer Belegschaft, bestehend aus drei Schwestern, Anweisungen erteilte, fiel Brooke die verstörende Anomalie auf, die stille Kinder darstellten. Ein paar aßen ihren Toast und tranken Tee, andere lagen reglos an einem Tropf, und eines wurde mit dem Löffel gefüttert. Die schwebende, beinahe sakrale Stille war enervierend.

Brooke balancierte seinen Hut auf dem Knie; dem verwundeten Knie, um genau zu sein, dem, das mit Hilfe eines rigorosen Schwimmprogramms wiederhergestellt worden war. Dieses Programm, dem Claire ihn ursprünglich im Schwimmbecken des Sanatoriums unterworfen hatte, hatte die Saat für seine sommerliche Leidenschaft für nächtliche Schwimmausflüge gelegt.

Er zündete sich eine Zigarette an. »Letzte Nacht hat jemand ein Kind in einem Sack in den Fluss geworfen. Einen Jungen, lebend. Der Pförtner des Queens’ hat einen Schrei gehört, als der Sack vorbeitrieb. Wir haben unser Bestes getan, doch das war nicht gut genug, fürchte ich. Ich habe die Schleusentore schließen lassen, und wir suchen den unteren Flusslauf ab. Ich habe unten schon gefragt, und anscheinend gab es in der Nacht nichts Verdächtiges. Und hier? Irgendwelche Aufnahmen? Häuslicher Krach?«

Claire lehnte sich zurück, und ihr kurzes blondes Haar fiel säuberlich von selbst in Form. Sie hatte ein rundes Gesicht mit starken Zügen, große, braune Augen, ein gütiger Mund. Brooke bezweifelte, dass irgendeine der Schwestern sie je aufgeregt erlebt hatte.

»Ein Kind wurde nach einem häuslichen Vorfall in Romsey Town eingeliefert, aber das war in der vorletzten Nacht. Der Junge ist ziemlich arg geschlagen worden. Blutergüsse und ein Knochenbruch hier …« Sie legte einen Finger auf den Wulst über ihrem linken Auge. »Er wird nicht entlassen, ehe ein Constable sich dort umgesehen hat. Wir haben dieses Kind schon früher gesehen. Der Kleine ist ein Stammgast.«

Brooke notierte Adresse und Namen.

»Sonst noch irgendeine Idee?«, fragte er und rieb sich die Augen. »Ich muss einen Namen finden.«

»Ich würde es mit dem Offensichtlichen versuchen, Eden: Waisenhäuser, Pflegestellen, Kirchen. Davon abgesehen denke ich, ich würde einfach warten. Irgendwer muss irgendwo aufwachen und feststellen, dass ein Kind verschwunden ist. Stell dir nur vor, es wäre Joy gewesen.«

Für einen Moment sah er seine Tochter so vor sich, wie sie einmal gewesen war: ein Kind, schlafend in ihrem Kinderbettchen. Rasch verdrängte er das Bild.

Claires Blick wanderte durch die Station. »Hier haben wir nur die üblichen Dramen.« Sie zeigte auf das erste Bett auf der rechten Seite und dann auf das nächste. »Meningitis, Influenza, Influenza … Wir haben beinahe tausend Evakuierte in der Stadt, Eden. Diese Vaccies sind ein Teil unseres Lebens. Wie du weißt, arbeiten wir wegen des Krieges mit halber Belegschaft. Das ist so ein Durcheinander. Wenn man Familien auseinanderreißt, ist alles ungewiss. Was sollen wir mit einem Fünfjährigen machen, der nach seiner Mum schreit, die achtzig Meilen entfernt im East End ist?«

Cambridge hatte sich in eine Stadt der Kinder verwandelt. In mutmaßlich sicherer Distanz zu London und weitgehend frei von kriegstauglicher Schwerindustrie galt Cambridge als ideale Zuflucht, gerade ein paar Stunden von der Hauptstadt entfernt. Kinder in Zweierreihen, ein jedes ausgestattet mit dem Evakuierten-Etikett, die sich ihren Weg vom Bahnhof in die Stadt bahnten, waren ein alltäglicher Anblick.

»Wer würde das tun, Claire – ein Kind auf diese Weise ermorden? Was für ein Mann würde so etwas tun?«

»Warum ein Mann, Eden?«, fragte sie. »Die Welt versinkt im Chaos. Die Männer ziehen aus, um nach Frankreich zu gehen, zur Grundausbildung, zur Navy, zur Air Force. Familien zerbrechen. Es gibt viele Frauen, die nicht damit fertigwerden. Es ist nicht so, dass die alle still leiden.« Sie wedelte mit einem Finger vor ihm. »Lektion Nummer eins, Inspector. Keine voreiligen Schlüsse ziehen.«

KAPITEL FÜNF

Detective Sergeant Ralph Edison erschien um kurz nach halb neun an Brookes Bürotür, wie stets bewaffnet mit einem Becher Tee und einem Teller aus der Kantine des Spinning House. Ein Hauch von gebratenem Schinken, von dem mehrere Scheiben in ein weiches Brötchen gequetscht worden waren, war ihm vorausgeeilt. Der Geruch war fast eine Tortur, blieben doch nur noch wenige Tage, bis man ihnen eine Rationierung von Schweinefleisch zumuten würde. Das hypnotische Aroma mochte sich schon bald als ein Relikt der Vergangenheit erweisen. Edison nahm Platz, und die Hosenbeine seines alten Anzugs rutschten empor und gaben den Blick auf das Uhrenmuster seiner Socken frei.

Bei Kriegsausbruch waren Officers im Ruhestand in den aktiven Dienst zurückbeordert worden, um die klaffenden Löcher zu stopfen, die einberufene und freiwillige Soldaten hinterlassen hatten. Edison hatte dreißig Jahre lang der uniformierten Truppe angehört, aber Brooke brauchte einen Sergeant, und so war der Sechsundsechzigjährige gezwungen gewesen, einen Anzug aus zweiter Hand hervorzukramen. Trotz der Zivilkleidung vermittelte Edison allein durch seine natürliche, selbstsichere Autorität das Gefühl der alten Uniform; eine Art Aura polizeilicher Macht, selbst wenn deren Symbol ordentlich daheim in seinem Schrank hing, eingehüllt in einen Kleidersack aus Papier.

»Immer noch nichts Neues vom Fluss«, meldete Edison gemächlich, beinahe behäbig. »Natürlich sind die einzigen Neuigkeiten, mit denen wir rechnen können, schlechte Neuigkeiten.«

»Ja, allerdings, Sergeant. Aber wir brauchen diesen Leichnam. Wir haben sonst nichts. Keinen Namen, kein Motiv, keine Mordwaffe – selbst der Sack könnte uns eine Spur liefern. Das Problem ist: Wo steckt die Leiche? Ecken und Enden, Edison, wir müssen sie alle durchstöbern. Irgendwann taucht sie auf. Das tun sie immer. Aber vorerst müssen wir die Spur des Mörders aufnehmen. Noch heute.«

Edison nippte an seinem Tee. Brooke stellte sich oft vor, er könnte die Mechanismen in dem beständigen Geist seines Sergeants arbeiten hören, langsam, aber zuverlässig. Der Ruhestand hatte ihm Zeit für seinen Kleingarten versprochen. Selbst jetzt, mitten im Winter, schaute er auf dem Weg zum Revier regelmäßig dort vorbei. Der Erde an seinen Händen nach zu schließen, hatte er sogar den Spaten geschwungen, vielleicht zwischen den Beeten überwinternder Gemüsepflanzen Schnee geräumt.

»Familiendrama?«, fragte Edison schließlich.

Brooke schob einen Bogen Papier über den Schreibtisch. »Eines. Hier sind Name und Adresse notiert. Das Kind liegt mit einem gebrochenen Wangenknochen im Addenbrooke’s. Claire sagt, sein Vater hätte das schon früher gemacht. Ein Constable ist unterwegs, um ihn zu besuchen – können Sie sich vergewissern, dass das erledigt wird?«

Edison nickte.

»Ich habe die Hand des Kindes gesehen, Edison, so klar und deutlich, wie ich jetzt Sie sehe.«

Edison nickte erneut, als würde Brooke eine Bestätigung benötigen.

»Also gehen wir von einem Sack mit einem Kind aus. Wie alt? Drei, vier?« Edison streckte den Arm aus und ballte die Faust, als umfasse er das obere Ende eines Sacks. »Er ist nur wegen der Luft in seiner Lunge geschwommen. Er kämpft, aber er atmet, kommt hoch, um Luft zu schnappen – er hat es geschafft zu schreien. Und dann ist da das kalte Wasser. Er kann noch nicht lange im Fluss gewesen sein, Sir. Ich setze auf die Silver Street Bridge. Die ist wie weit entfernt? Fünfzig Yards stromaufwärts? Oder die Little Bridges bei Coe Fen – da gibt es drei. Einsam gelegen, weit abseits der Hauptstraße.«

»Überprüfen Sie die«, sagte Brooke. »Ich habe den jungen Collins letzte Nacht losgeschickt, damit er einen Blick auf die Silver Street wirft. Sehen Sie mal, ob er was entdeckt hat. Er hat die zweite Schicht, also wird er nach dem Mittagessen wieder hier sein. Der Schnee war tief und unberührt. Wenn der Sack dort ins Wasser geworfen wurde, muss es Spuren gegeben haben.«

»Wenn er etwas gefunden hätte, dann hätte er sich gemeldet«, wandte Edison ein.

»Vielleicht. Prüfen sie es nach. Inzwischen sollten wir uns um das Offensichtliche kümmern, Sergeant. Schulen, Waisenhäuser, Sozialfürsorge – alle, die etwas mit Kindern zu tun haben. Der Junge ist irgendwo verschwunden. Lassen Sie uns herausfinden, wie sein Name lautet.« Brooke warf einen Blick auf seine Armbanduhr und erhob sich. »Inzwischen werde ich im Top Office vorstellig.«

Innerhalb des Spinning House wusste jeder, was sich hinter dem Euphemismus »Top Office« verbarg. Detective Chief Inspector Carnegie-Brown herrschte mit einer stumpfen Autorität, wie sie typisch für Glasgower war, über das Borough. Ihr großer Adlerhorst von einem Dachbüro hatte in jener Zeit, in der dies noch ein Armenhaus gewesen war, dreißig gefallene Mädchen in eisernen Bettgestellen beherbergt. Sie hatte den Raum um eine spartanische Frische bereichert.

»Viel Glück, Sir«, sagte Edison und zog sich zurück.

KAPITEL SECHS

Die Tür von Chief Inspector Carnegie-Brown stand stets offen.

Brooke wartete und erging sich in einem wohlbedachten Hüsteln, als er sah, dass seine Vorgesetzte eine Akte studierte, eine Brille auf dem Rücken der markanten Nase. Sie saß hinter einem großen Schreibtisch mit einer geschnitzten Highland-Jagdszenerie, den sie von ihrem letzten Posten in Glasgow mitgebracht hatte. Alleinstehend, burschikos, reserviert war es ihr gelungen, einen – wenngleich widerstrebenden – Respekt für ihre Korrektheit zu erwerben. Brooke hatte sie gelegentlich bei seinen sommerlichen Schwimmausflügen gesehen, wenn sie an einem freien Tag zum Fliegenfischen am Ufer bei Fen Ditton kampierte. Stets haftete ihr ein Hauch der großartigen Natur Schottlands an.

»Brooke. Gut. Setzen Sie sich. Das Kind – irgendwas Neues?«

Brooke informierte sie, doch er sah ihr an, dass sie nicht zuhörte, sondern sich bereits zurechtlegte, was sie ihm zu sagen gedachte. Sie tauschten ein paar flüchtige Bemerkungen darüber aus, die Grafschaftspolizei zur Verstärkung bei der Suche hinzuzuziehen. Dann schob sie eine Akte über die makellose Schreibtischplatte zu Brooke.

»Die können Sie lesen, wenn Sie Zeit haben, aber lassen Sie mich Ihnen einen kurzen Überblick geben. Prinz Henry, Herzog von Gloucester, der Bruder des Königs, der eine kurze und unbeachtliche Laufbahn am Trinity College hatte, beabsichtigt, unsere schöne Stadt zu besuchen.«

Brooke war nicht gerade ein begeisterter Anhänger der königlichen Familie. Er war vollends zufrieden damit, für König und Vaterland zu kämpfen, aber die Angehörigen der weiteren Verwandtschaft, die ihm im Zuge seiner Pflichterfüllung begegnet waren, fand er durchweg beachtenswert unbeachtlich. Im Kopf versuchte er, den aktuellen Familienstammbaum zu rekonstruieren. Der alte König hatte fünf Söhne hinterlassen. Der Älteste – der in Ungnade gefallene Edward VIII – hatte abgedankt, um fortan der Herzog von Windsor zu sein. Damit fiel der Thron an George VI. Henry war der Nächstjüngere. Aber das waren nicht alle, da gab es noch einen jüngeren Prinz Richard und einen, der nach dem Großen Krieg gestorben war, ein kranker Junge, dessen Namen Brooke entfallen war.

»Ich weiß, wir erwähnen Windsor nicht mehr«, sagte Carnegie-Brown. »Und mit gutem Grund. Wir erwähnen auch Henry nicht, aus eher harmlosem Grunde. Ein Mann, so bedeutungslos, dass man ihn offenbar mit dem Spitznamen ›der Unbekannte Soldat‹ belegt hat.«

Brooke nickte. Er erinnerte sich dunkel, nach seiner Rückkehr aus dem Krieg einen königlichen Prinzen in einem Hindernisrennen reiten gesehen zu haben, bejubelt von einer loyalen Menge. Die Stadt war übellaunig, grau und erschöpft gewesen, so wie das ganze Land. Folglich wurde jede Gelegenheit zum Feiern mit geradezu manischer Begeisterung aufgenommen. Die Zuschauer veranstalteten ein großes Hurra und wedelten mit Fahnen; Kinder thronten auf Schultern, um einen Blick auf den Prinzen zu erhaschen. Er erinnerte sich an einen großen, beleibten jungen Mann, hoch aufgeschossen, aber füllig mit einem runden Kopf, der zur Antwort schüchtern die Hand erhoben hatte.

»Prinz Henry ist plötzlich viel wichtiger, als wir dachten«, fügte Carnegie-Brown frostig hinzu. »Der König hat zwei Töchter, die beide noch nicht alt genug sind, um ihrem Vater uneingeschränkt auf den Thron zu folgen, sollte er einer Krankheit oder einem Unfall zum Opfer fallen. Oder einem feindlichen Angriff, Gott behüte. Die Familie bleibt weiterhin in London, und der König wünscht, von Zeit zu Zeit die Front zu besuchen. Sollte irgendetwas passieren, werden wir einen Regenten benötigen. Henry wurde ausgewählt, diese Rolle zu erfüllen. Sollte also tatsächlich etwas passieren, wird er faktisch unser König sein, bis Prinzessin Elizabeth mündig wird. Anschließend wäre er dann ein nicht mehr ganz so unbekannter Soldat. Aber das ist offensichtlich ein hypothetisches Szenario, kein theoretisches. Maßnahmen wurden ergriffen. Seine persönliche Sicherheit ist von höchster Wichtigkeit. Wenn der König das Land verlässt – wie er es nächste Woche tun wird, um Frankreich zu besuchen –, ist es Henry verboten, das Gleiche zu tun, ungeachtet seiner derzeitigen militärischen Rolle als Verbindungsoffizier zwischen unserer Armee an der belgischen Grenze und Paris. Entweder König George oder Prinz Henry müssen stets sicher daheim im Reich bleiben.«

Etwas in Carnegie-Browns Stimme verriet eine nicht eben ungezügelte Zuneigung zu der Institution, die zu verteidigen ihre Pflicht war. Brooke vermutete da einen schwärenden schottischen Groll.

»Das alles summiert sich zu einem einfachen Problem: Wir müssen sicherstellen, dass sein Aufenthalt in dieser Stadt für weiter nichts als seine schlichte Vorhersagbarkeit in Erinnerung bleiben wird. Theoretisch koordiniert die Grafschaftspolizei die Sicherheitsmaßnahmen, praktisch müssen wir die Last der Verantwortung schultern. Er befindet sich auf unserem Terrain.«

Außerhalb des alten Stadtzentrums war die Polizei von Cambridgeshire zuständig. Ihr Hauptquartier lag keine halbe Meile entfernt auf Castle Hill. Die Beziehungen zwischen den beiden Dienststellen waren feindselig, obwohl niemand, den Brooke je danach gefragt hatte, in der Lage zu sein schien, diesen glühenden Antagonismus zu einem bestimmten grundlegenden Ereignis zurückzuverfolgen. Die Aussicht auf eine wie auch immer geartete Zusammenarbeit war jedenfalls nicht gerade charmant.

Sie warf ihm über ihren Schreibtisch eine Notiz zu. »Wir können bei der Grafschaft um Arbeitskräfte und Unterstützung bei der Logistik ersuchen. Hier ist die Telefonnummer. Rufen Sie an, Brooke. Schaffen Sie all die Hilfe heran, die Sie kriegen können. Lassen Sie uns das hinter uns bringen und weiterziehen. Der Besuch ist für Samstag, den elften Januar, geplant. Jeglicher Urlaub ist gestrichen, hier und bei der Grafschaftspolizei.«