Spur der Knochen - Jim Kelly - E-Book
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Spur der Knochen E-Book

Jim Kelly

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Beschreibung

Denn einer blieb zurück … Der abgründige Thriller »Spur der Knochen« von Jim Kelly jetzt als eBook bei dotbooks. Seit das Dorf Jude’s Ferry vor siebzehn Jahren für einen Militärstützpunkt geräumt wurde, liegt es verlassen inmitten der Moorlandschaften von Cambridgeshire. Einst war die kleine, traditionsbewusste Gemeinde dafür bekannt, dass sich dort noch nie ein einziges Verbrechen ereignet hat … doch bei einem Manöver wird nun in einem der Keller ein Skelett gefunden, aufgehängt an einer Schlinge. Und plötzlich scheint grauenhaft klar: Nicht alle haben damals das Dorf verlassen … Auf der Suche nach einer explosiven Story muss Lokalreporter Philip Dryden bald erkennen, dass die einstigen Dorfbewohner in ein dunkles Netz aus Lügen und Hass verstrickt sind. Als ein verstümmelter Mann aus einem Fluss geborgen wird, weiß Dryden: Die alte Schuld ist noch lange nicht beglichen worden … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der düster-fesselnde England-Krimi »Spur der Knochen« von Jim Kelly ist der fünfte Band seiner atmosphärischen »Mord in Cambridgeshire«-Reihe um den Lokalreporter Philip Dryden, in der jeder Band unabhängig gelesen werden kann. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 492

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Über dieses Buch:

Seit das Dorf Jude’s Ferry vor siebzehn Jahren für einen Militärstützpunkt geräumt wurde, liegt es verlassen inmitten der Moorlandschaften von Cambridgeshire. Einst war die kleine, traditionsbewusste Gemeinde dafür bekannt, dass sich dort noch nie ein einziges Verbrechen ereignet hat … doch bei einem Manöver wird nun in einem der Keller ein Skelett gefunden, aufgehängt an einer Schlinge. Und plötzlich scheint grauenhaft klar: Nicht alle haben damals das Dorf verlassen … Auf der Suche nach einer explosiven Story muss Lokalreporter Philip Dryden bald erkennen, dass die einstigen Dorfbewohner in ein dunkles Netz aus Lügen und Hass verstrickt sind. Als ein verstümmelter Mann aus einem Fluss geborgen wird, weiß Dryden: Die alte Schuld ist noch lange nicht beglichen worden …

Über den Autor:

Jim Kelly, geboren 1957, arbeitet seit vielen Jahren als Korrespondent der Financial Times in London. »Tod im Moor« war sein hochgefeiertes Krimidebüt, für das er unter anderem mit dem »Dagger Award«, dem größten britischen Krimipreis ausgezeichnet wurde. Jim Kelly lebt mit seiner Familie in Ely, Cambridgeshire, die auch Schauplatz seiner Krimireihe um Philip Dryden ist.

Bei dotbooks veröffentlichte Jim Kelly seine Krimireihe »Mord in Cambridgeshire« mit den Bänden:»Tod im Moor«»Kein Ort zum Sterben«»Dunkler als ein Grab«»Kalt wie Blut«»Spur der Knochen«

***

eBook-Neuausgabe September 2023

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2007 unter dem Originaltitel »The Skeleton Man« bei Michael Joseph, an Imprint of the Penguin Group, a division of Penguin Books Ltd., London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2008 unter dem Titel »Einer blieb zurück« bei Blanvalet, München.

Copyright © der englischen Originalausgabe 2007 by Jim Kelly.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2008, Blanvalet, ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH.

Die Rechte an der deutschen Übersetzung von Carsten Mayer liegen beim Blanvalet Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Covergestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ys)

ISBN 978-3-98690-702-0

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Jim Kelly

Spur der Knochen

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Carsten Mayer

dotbooks.

Im Gedenken an Robert J. M. Gillies

MBE, MRCVS

1921–2006

Stolzer Sohn des Felsens von Gibraltarund großer Bücherfreund

Teil 1Sonntag, 15. Juli 1990

Sankt-Swithun-Tag

Es war ein hoher Kinderstuhl, kurzerhand für die Hinrichtung requiriert.

Ich stand mit dem Rücken zur Wand, war Teil der Menge, nicht der Meute, doch auch damals schon war mir klar, dass diese Trennlinie sich nicht ziehen ließ: eine Linie, um die Schuldigen von den Unschuldigen zu scheiden.

Zu zwölft waren wir, dazu der Beschuldigte auf dem Stühlchen, die Schlinge eng um den Nacken.

Wieder die Frage: »Wieso?« Jedes Mal begleitet von einem Streich auf die unbedeckten Rippen, so dass sich das Blut in Striemen staute.

Ich hätte antworten und all dem ein Ende machen können. Doch ich drückte nur den Rücken an die kühle Mauer und staunte, staunte, dass er nicht länger abstritt, staunte, dass er das Leben aufgegeben hatte.

Dem Opfer zitterten die Knie, und die Beine des Stühlchens scharrten über den Ziegelboden des Kellers. Durch die Falltür drang das nächtliche Bellen eines Hundes zu uns herab, dann zwölf Schläge von der Kirche auf dem Hügel.

Nun schritt der Rädelsführer zur Tat, kraft des Rechts, das seine Abstammung ihm verlieh. Er trat vor, holte mit dem Fuß Schwung und schlug das Stühlchen weg.

Mit seinem ganzen Gewicht sackte der Körper herab, doch nicht bis auf den Boden. Ein deutliches Knacken des brechenden Genicks markierte das Ende des Seils, und die zerschmetterten Wirbel knirschten, als der Körper sich drehte und die Beine in der Luft nach Halt suchten. Der Augenblick des Todes zog sich hin, strukturiert vom Röcheln der Kehle. Urin troff von nackten Füßen, gelb im Schein der Taschenlampen.

Ich stand, und mir schwanden die Sinne, einen Herzschlag lang. Als ich wieder hinsah, waren die Arme, gefesselt und hässlich im Tode, ohne Leben.

Der Gerechtigkeit war Genüge getan, sagte man und leckte sich die geöffneten Lippen.

Gerechtigkeit in Jude’s Ferry.

Teil 2Sonntag, 15. Juli 2007

Sankt-Swithun-Tag

Whittlesea Mere

Siebzehn Jahre später

Kapitel 1

Der Capri bebte, so laut war das Schnarchen; durch die fliegenübersäte Windschutzscheibe des Taxis betrachtete Philip Dryden den Fennhorizont. Humph, der Fahrer, schlief friedlich, die Lippen sanft gerundet, der Sitz gestaucht von gut zwei Zentnern Körpermasse. Ringsum, bis über den Horizont hinaus, dehnte sich die trockengelegte Ödnis aus, die einmal Whittlesea Mere gewesen war, ein Binnensee von der Größe einer kleinen englischen Grafschaft. Ein Kriegsschiff von einer Wolke segelte durch den makellosen Himmel.

Das Taxi parkte im kühlen Schatten eines Weißdorns, des einzigen mit bloßem Auge erkennbaren Baums. Um Punkt 9.00 Uhr waren sie am Tor des Truppenübungsplatzes Whittlesea Mere vorgefahren; dort hatte man sie über einen von Schlaglöchern durchfurchten Viehweg zum Treffpunkt geschickt: Dem Wrack eines alten Weltkriegspanzers, aus dessen finsterem Sehschlitz Farn wucherte. Seit man sie durch das Tor gewinkt hatte, waren sie keiner Menschenseele mehr begegnet, was aber nichts daran geändert hatte, dass Dryden sich beobachtet fühlte.

Der Reporter strich die Tarnjacke glatt und spürte, wie die vertrauten Ängste sich um ihn zusammenzogen. Das ist kein Kriegsgebiet, sagte er sich, das ist nur ein Manöver. Und ich bin kein Soldat, ich bin Reporter. Ich bin hier, weil ich darüber berichten soll, nicht daran teilnehmen. Aber dann sah er einen Trupp Soldaten, der im Gänsemarsch auf sie zumarschierte und eine wüstensandrote Torfwolke aufwirbelte, und sein Puls schnellte in die Höhe. Eine Schweißbahn zog sich vom Ansatz der pechschwarzen Haare bis zum Auge hinab. Er wischte sie fort und wusste sehr wohl, dass die nächste nicht lange auf sich warten lassen würde.

Dryden sah auf die Uhr: 10.15. Es war so weit. Er tastete nach der Innenbespannung des blauen Stahlhelms, den er in Händen hielt. Die klar gemeißelten Züge seines mittelalterlichen Gesichts blieben reglos. Er stieg aus – laut jaulten die rostigen Scharniere der Autotür – und ging um das Taxi herum zu Humphs heruntergekurbeltem Seitenfenster.

»Zisch ab«, sagte er und beobachtete den Kampf des erwachenden Taxifahrers, der sich zu erinnern versuchte, wo er war und was er da wollte.

»Also ehrlich ...«, meinte Humph und schnäuzte sich in einen kleinen Kopfkissenbezug. »Kann ich nicht wenigstens dableiben, bis das Leuteumbringen losgeht?«

Dryden bemühte sich zu lächeln. »Nicht vergessen. Um fünf Uhr wieder hier. Und lass mich um Himmels willen nicht hier sitzen.« Boudicca, Humphs Windhündin, die auf einer Schottenkarodecke auf dem Rücksitz döste, gähnte in der Hitze und verschluckte eine Schmeißfliege. Humph drehte den Zündschlüssel um, und nach einem kurzen Huster sprang der Motor an. Nur eine rötlich-bernsteingelbe Wolke blieb zurück, als er mit einem Höllentempo dem sicheren Zufahrtstor entgegenbretterte. Dryden war allein. Ihm sträubten sich die Nackenhaare.

Die Soldaten erreichten den Panzer und schlugen auf Befehl des Offiziers ihr Biwak auf. Sie setzten sich, streckten die Beine in den Kanal und teilten Wasserflaschen aus, während andere über einem tragbaren Gaskocher den Feldkessel aufstellten. Die weißen Rauchsäulen ihrer Zigaretten kräuselten sich in der stillen, heißen Luft. Dryden spürte den kollektiven Widerwillen gegen die Anwesenheit der Presse und sah seltsam fasziniert zu, wie einer der Soldaten ein automatisches Gewehr zerlegte und ölte. Ein anderer stand auf, ging ein paar Meter mit dem Wind und pisste in den Wassergraben.

Dryden ahnte die beleidigende Absicht, er schaute weg und hörte das Gelächter hinter seinem Rücken, dann Schritte, die sich näherten. Er wandte sich um und sah sich einem massigen Mann mit drei Sternen auf der Jacke gegenüber. Der Offizier stapfte durch den Stechginster und riss, vielleicht um sich das beginnende Alter nicht eingestehen zu müssen, beim Gehen Arme und Beine in die Höhe. Dryden schätzte ihn auf Anfang vierzig, aber eine Soldatenuniform hat noch nie jemanden jünger aussehen lassen. Der Major hatte unnatürlich glänzendes, schuhwichsschwarzes Haar und einen ungesund fleckigen Teint, als hätte man ihm das Gesicht mit der Wurzelbürste geschrubbt. Er war gerade dabei, mittels eines tragbaren GPS und einer Geländekarte in einer Sichthülle seine Position festzustellen, als er Dryden bemerkte und dabei einen Anflug von Verdruss nicht unterdrücken konnte.

»Dryden?«, erkundigte er sich. »Philip Dryden – vom Crow?« Sie reichten einander die Hand. Der Griff des Soldaten erstaunlich matt und die Stimme höher als erwartet, wenn auch mit einer Spur Herzlichkeit, trotz der abgehackten Worte. »Broderick. Major John Broderick.« Die Vertraulichkeit des Vornamens schien ihm peinlich und der Blick schweifte zum Horizont. »Den Blutwisch haben Sie abgezeichnet?«, wollte er wissen.

Dryden nickte. Am Tor hatte er ein amtliches Formular unterzeichnet, mit dem jedwede Regressansprüche für den Fall ausgeschlossen waren, dass ihn irgendein Idiot mit einem Langstreckenblasrohr in ein menschliches Puzzlespiel verwandeln sollte.

Der Major grinste, was ihn fünf Jahre jünger machte: »Reine Routine. Aber bei scharfer Munition müssen wir darauf bestehen. Vorschrift. Ihr Pressefuzzis seid schließlich die Ersten, die uns die Hölle heiß machen, wenn die Vorschriften nicht eingehalten werden.«

Ein Lachen ging durch die Reihe der Männer am Wassergraben, und Dryden fragte sich, was da so lustig war. Doch er blieb außen vor und schaute nach Norden, wo hinter dem Horizont verborgen die Geschütze stehen mussten.

»Dann wird also direkt über unsere Köpfe geschossen?«, erkundigte er sich und erkannte gleich, dass etwas anderes ja kaum möglich war. »Verzeihung. Blöde Frage.«

Der Major nickte.

»Wann beginnt das Bombardement?«, fragte Dryden.

»Kanonenschlag – das Signal – erfolgt 10.50 Uhr. Und zwar pünktlich. Nach zehn Minuten wird mit einem achtminütigen Bombardement der Beschuss eröffnet, danach starten wir unsere erste Angriffswelle und brechen ab. Dann, 11.20 Uhr, nächster Kanonenschlag, gefolgt von einem weiteren, fünfminütigen Bombardement um 11.30 Uhr. Dann Vorrücken zum Zielobjekt.« Broderick rieb sich die Hände. »Fotos?«

Dryden schwang eine Digitalkamera. »Ich bin komplett ausgerüstet.«

»Großartig.« Der Major lächelte. Das war das Einzige, wofür die Armee sich jemals interessierte, dachte Dryden – Fotos zum Heimschicken, Fotos fürs Album, Fotos fürs Mannschaftsheim, Fotos in der Lokalzeitung, Fotos fürs Ministerium. Auf den Text war geschissen.

Broderick schaute in den Himmel. »Sankt-Swithun-Tag«, konstatierte er. »Könnte ein richtig guter Monat werden.« Die Schlachtschiffwolke war nur noch ein ferner Fleck im Osten, und schon presste die Mittagssonne die Schatten der Männer um die Stiefel zusammen.

Dryden erschlug eine Mücke auf seinem Handrücken. »Sind Sie eigentlich auch Territorialarmee?«, fragte er, um über etwas anderes als das Wetter zu reden.

»Gewiss, gewiss. Das sind meine Männer«, sagte er und schaffte es tatsächlich, den Besitzerstolz aus seinem Ton zu verbannen.

»Und was treiben Sie im Zivilleben so?«

Der Major sah ihm ins Gesicht. »Arbeit«, erwiderte er und duckte sich unter der Frage weg.

Vom Zufahrtstor her dröhnte ein Kanonenschlag, das Signal, dass noch zehn Minuten bis zum Einsetzen des Beschusses verblieben. Die dumpfe Detonation war von einem purpurroten Fleck im Himmel und einer massiven Erschütterung des Bodens begleitet.

Die Männer erhoben und sammelten sich und kletterten schließlich nach Broderick auf den Panzer. Im Wasserkessel machte ein Tee die Runde, der unangenehm nach Gerbsäure roch, mit hellrosa Kondensmilch gesüßt war und insgesamt stark nach Jauche aussah. Unbeeindruckt nahm Dryden einen kräftigen Schluck, schließlich wusste er, dass er unter Beobachtung stand.

Broderick saß auf dem Geschützturm und breitete eine Geländekarte vor den Männern aus. »Also. Herhören. Heute wird mit scharfer Munition geschossen. Dieser Übungsplatz besteht seit 1907. Das sind hundert Jahre. Bis heute liegt die Zahl der Soldaten, die Whittlesea Mere im Leichensack verlassen mussten, bei vier. Es gibt keinerlei Naturgesetz, das besagt, dass einer von euch sie nicht auf fünf erhöhen könnte, also aufgepasst.«

Dryden malte sich einen verknitterten Leichensack aus, zwischen dessen schwarzen Plastikfalten seine eigene Hand hervorlugte, Blut unter den Nägeln. »Kriegsspiele«, dachte er laut und merkte dabei, welch obszöne Wortfügung das doch war.

Die Lagebesprechung des Majors war barbarisch kurz. Die Königliche Artillerie würde zwei Ziele unter Beschuss nehmen – je zweimal –, dann würde der Trupp geschlossen vorrücken, die Häuser durchsuchen, Aufständische heraustreiben, das Zielobjekt sichern und die roten Zielflaggen durch blaue ersetzen. Sämtliche Artilleriegeschosse waren scharf, die Handfeuerwaffen dagegen mit Übungspatronen bestückt. Blauer Helm hieß blaue Armee – Angreifer also. Das rote Heer, der Feind, lag in Stellung. Seine Soldaten, hölzerne Pappkameraden mit konzentrischen Ringen um die Herzgegend, trugen rote Mützen; eine nützliche Unterscheidung, die, wie Dryden unwillkürlich fand, den Ernst der Übung doch ein wenig unterminierte. Er trug ein gelbes Armband, das ihn als Nichtkämpfer auswies.

»Und das ist unser Zielobjekt«, verkündete Broderick und stach den Finger ins Herz der Fennödnis auf der Karte. »Das verlassene Dorf Jude’s Ferry.«

Kapitel 2

Als die erste Granate die Luft zerriss, warf Dryden sich auf den Torfboden und konnte nicht verhindern, dass seine Finger sich tief hineinkrallten. Jetzt wusste er, weshalb so viele Tote auf den Fotos der Gemetzel in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs aussahen, als wollten sie sich selbst begraben, sich den Weg nach unten freischaufeln, wo allein an Flucht zu denken war. Dryden machte sich keine Illusionen über seinen Vorrat an Mut. In dieser Hinsicht fuhr er mit den letzten Tropfen Sprit, immer schon. Er fürchtete sich vor lauten Geräuschen, vor Schmerz, vor Hunden – bis hin zur völligen Lähmung –, fürchtete sich vor Höhen, vor engen Räumen und, das war der springende Punkt, er fürchtete sich davor, verängstigt zu wirken: die Krönung des Ganzen, die ihm ironischerweise den Ruf eingetragen hatte, mutig zu sein.

Stumm schwitzte er in der ungewohnten Kluft, und er konnte die Angst riechen, einen beißenden Gestank, den man gewöhnlich mit einer nicht abgedeckten Senkgrube in Verbindung brachte. Mit jeder neuen Salve von Granaten, die durch die Luft jaulte, klammerte er sich fester an die Erde und saugte den Duft von warmem Gras und Wiesen-Kerbel in sich auf.

Sofort nach Beendigung des ersten Bombardements befahl Broderick seinen Männern den Abmarsch, ließ sie durch schweres Gelände eine Meile weit vorrücken und hinter einem mit Klatschmohn bestandenen Deich in Deckung gehen.

Der zweite Kanonenschlag ertönte, und Dryden, der auf dem Rücken lag und die Schwalben beobachtete, zählte die Minuten. Mit dem Handrücken wischte er sich die Stirn ab und roch das Salz. Broderick bettete den Kopf auf die verschränkten Hände.

Mit einer Frage brach Dryden die Anspannung. »Wie können Sie eigentlich sicher sein, dass niemand im Dorf ist?«

Broderick hielt die Hände vor den Himmel. »Nun, wenn man es ganz genau nimmt: gar nicht. Es gibt einen Schutzzaun, und das Verteidigungsministerium hat in den letzten Tagen viel Geld ausgegeben, um ihn ausbessern zu lassen, aber trotzdem kommen Tiere durch, also könnten Menschen das wahrscheinlich auch. Am Zaun hängen Warntafeln, die alten Straßen sind gesperrt und beschildert. Außerdem ist der Schutzzaun über weite Strecken von Wasser flankiert – da wäre Sixty Foot Drain, Whittlesea Drain und natürlich Popham’s Eau. An etlichen Stellen am Zaun sind rote Flaggen aufgepflanzt, und die Ziele im Dorf sind eigens für heute ebenfalls ausgeflaggt. Man müsste das alles schon vorsätzlich ignorieren, um sich in Gefahr zu begeben.«

Der Granatbeschuss setzte wieder ein, und Dryden drehte sich auf den Bauch, schloss die Augen und zählte, bis endlich wieder Ruhe einkehrte und erstmals das ferne Rauschen des Windes über Whittlesea Mere zu hören war. Als er die Augen wieder aufschlug, saß Broderick noch immer neben ihm und versuchte sich ein selbst gebundenes Heidekrautsträußchen in einer Hülle aus silbernem Zigarettenpapier mit einer Sicherheitsnadel an den Kampfanzug zu stecken. Dryden konnte sich den Major gut dabei vorstellen, wie er an den Schützengräben des Ersten Weltkriegs Schmetterlinge jagte.

Zum ersten Mal richtete Dryden den Blick nach vorn, nach Süden, auf den kleinen Hügel mit der mittelalterlichen Kirche darauf. Das Gewirr aus Satteldächern und der bleistiftdünne Schlot eines längst aufgegebenen Zuckerrübenwerks zeugten vom dahinter liegenden, ehemaligen Dorf. Östlich davon ein zweiter kleiner Hügel, beherrscht von einem geklinkerten viktorianischen Wasserturm mit schwarzem Metalltank, den ein Taubenschlag aus Fichtenholz krönte. Das war das Dörfchen Jude’s Ferry, eine Gemeinde von kaum mehr als hundert Seelen, aufgegeben vor nunmehr siebzehn Jahren für die Armee und ihre Verbündeten, die sich hier auf ihre Auslandseinsätze vorbereiteten.

Die Artilleriegeschosse waren auf die vorgelagerten Ziele herabgeprasselt, und westlich des eigentlichen Dorfes stieg Rauch auf, während aus den Ruinen eines etwa hundert Meter östlich der Kirche gelegenen Hauses, in dem Dryden das ehemalige Pfarrhaus zu erkennen glaubte, vereinzelte Flammen schlugen. Irgendwo ratterten Gewehrsalven wie Partykracher.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Broderick.

Dryden nickte und stützte sich auf die Ellenbogen. »Ich staune nur, wie viel immer noch steht«, sagte er. »Wahrscheinlich ...« Er zuckte die Achseln. »Ich weiß auch nicht. Man sollte doch meinen, dass es nach spätestens zehn Jahren ausgesehen hätte wie in Bagdad. Dabei erinnert es eher an Camberwick Green.«

»Genau. Und so muss es auch sein. Es geht hier um Kenntnisse für den Häuserkampf«, erläuterte Broderick, und Dryden meinte zu spüren, dass dieses Thema das Herz des Majors nicht annähernd so zu rühren vermochte wie das Heidekraut.

»Dann will ich Ihnen mal eine hiervon geben«, sagte der Soldat und reichte ihm eine Karte.

Es war ein Plan von Jude’s Ferry in großem Maßstab, auf dem jedes einzelne Gebäude inklusive der Erdgeschossfenster, Türen, Zäune und Gartentore verzeichnet war.

»Heute haben nur Sie und ich eine. Die roten Punkte markieren die exakten Standorte der Verteidiger – vulgo Pappsoldaten. Auf die Art lässt sich, hoffentlich, erkennen, ob diese Jungs für ihre Aufgabe geeignet sind. Gestrichelte Linien bedeuten Keller. Sämtliche Zielobjekte sind beim Durchkämmen der Häuser zu entdecken und zu sichern. Aufklären, eindringen, unschädlich machen, darum geht’s hier, alles überlebenswichtige Fähigkeiten.«

Mit dem Feldstecher spähte er den Horizont ab. »Daher wäre es das Letzte, was wir wollen, den Ort plattzumachen. Die Artillerieziele für heute sind das Pfarrhaus und das Rübenwerk, und das keineswegs zum ersten Mal. Zum Einsatz kommt nur leichtes Geschütz, es droht also selbst bei einem Volltreffer kein Totalverlust. Außerdem werden die tragenden Strukturen alle paar Monate von den Pionieren ausgetauscht – nichts Aufwändiges, nur damit nicht alles zusammenkracht. Zusätzlich haben wir ein Leitungsnetz, das aus dem Wasserturm gespeist wird, so dass wir bis jetzt noch jeden Brand löschen konnten.« Er leckte sich die Oberlippe. »Inzwischen brauchen wir den Turm allerdings gar nicht mehr, wir haben nämlich eine neue Pumpe, unten am Fluss – und das ist auch gut so, weil das Wasser tierisch gestunken hat. Die Ratten da oben sind so groß wie Hunde.«

Wieder betrachtete er das Dorf durch das Fernglas. »Aus der Nähe sieht man schon, dass die Jahre ihren Tribut gefordert haben. Da ist nichts mit Merry Old England, das dürfen Sie mir glauben.« Er wandte den Kopf und fügte leise hinzu: »Nie gewesen.«

Tief geduckt kam ein Funker angerannt. Man wünschte, ein zweites Bombardement durchzuführen. Broderick spähte die Linie der Männer am Deich und dann noch einmal das Dorf ab, bevor er sein Okay gab und den Befehl erteilte, am Wassergraben habe sich niemand zu rühren, bevor nicht das mündliche Signal zum Vormarsch erfolgte. Dann kniete er sich ins Gras und reichte Dryden den Feldstecher.

»Versuchen Sie’s mit Hinschauen – die Granaten können einen kirre machen, aber Zuschauen beruhigt.«

Dryden lächelte, fügte sich und betrachtete die Silhouette der Dorfkirche mit den Dächern dahinter, unten am Fluss. Zum dritten Mal zerriss ein Kanonenschlag die Luft. Broderick legte sich auf den Rücken und sah auf die Uhr, während hoch droben zwei Mauersegler sich behakelten.

»Na denn«, sagte er nach einiger Zeit. »Das ist ein richtig großes Ding, oder?«

»Jude’s Ferry?«, meinte Dryden. »Aber sicher. Es war von Anfang an eine große Sache. Als die Dorfbewohner 1990 gehen mussten, hat man ihnen gesagt, sie könnten vielleicht schon in einem Jahr wieder zurück – nicht nur für den alljährlichen Gottesdienst am Sankt-Swithun-Tag, sondern für immer. Im Juli packten sie ihre Siebensachen und im August fing der Golfkrieg an – und damit war das optimistische Szenario erledigt. Aus und vorbei. Sie haben alles versucht, um ihre Rückkehr zu erzwingen. Aber da jetzt auch noch der High Court die Klage abgewiesen hat, ist es endgültig aus. Offen gestanden wundert es mich ja, dass die Gerichte einen Manöverstopp verhängt haben, bis über die Klage entschieden war ... wie lange hat sich das hingezogen?«

Broderick spielte mit einem Fenn-Veilchen: »Das letzte Mal waren wir vor achtzehn Monaten auf dem Übungsplatz – wenn’s reicht.«

Dryden nickte. »Und der Rest ist ja bekannt. Das Verteidigungsministerium hat verfügt, dass es keine Rückkehr nach Jude’s Ferry geben wird – nicht mal für den jährlichen Gottesdienst. Gleichzeitig haben sie bei uns angefragt, ob wir nicht an einem Interview mit der Heeresleitung Interesse hätten – wieso das Dorf für die Ausbildung in der modernen Armee so absolut unerlässlich ist – das Übliche eben. Scharmoffensive. Aber dafür mussten sie uns natürlich wenigstens noch ein letztes Mal ins Dorf lassen. Und hier bin ich nun.«

Broderick lachte. »Wir mussten auf einen Übungsplatz droben bei Lincoln ausweichen, da sind die Jungs natürlich froh, wieder hier zu sein – die meisten stammen aus der Gegend und sind so zum Abendbrot wieder daheim.«

»Genau«, sagte Dryden, ohne sich ein Lächeln abzuringen.

»Sie meinen wohl, man hätte die Leute nicht angemessen behandelt?«, erkundigte sich Broderick.

»Es leuchtet halt kaum jemandem ein, weshalb die Armee nicht einfach weiterhin ein halbes Dutzend mal im Jahr auf dem Gelände übt, wie sie es schließlich schon seit – was sagten Sie? – 1907 tut. Das Dorf lag nie im Zielgebiet. Es wurde stets dafür gesorgt, dass sich die Schäden an den Ackerböden auf ein Minimum beschränkten – fast alle großen Manöver fanden erst nach der Erntezeit statt. Man musste für einen Tag die Straße sperren und das Vieh in Sicherheit bringen, aber ansonsten blieb das Dorf völlig außen vor.«

Broderick seufzte. »Sie werden feststellen können, dass den Bewohnern vor der Umsiedlung nie irgendwelche definitiven Zusagen gemacht wurden ...«

»Ich war dabei«, fiel Dryden ihm ins Wort.

Die wässrig braunen Augen des Majors vermochten es nicht, Drydens Blick standzuhalten. Er biss sich auf die Lippe, drehte sich auf den Bauch und sah wieder auf die Uhr. »Dreißig Sekunden«, verkündete er.

»Ich habe den Tag der Räumung miterlebt«, wiederholte Dryden. »Meine erste Stelle war bei einer Zeitung in Bedford, und das war eine Riesengeschichte, also fuhr ich hin, um eine Reportage mit Farbstrecke zu machen. Und es wurden sehr wohl feste Zusagen gegeben, ansonsten wären etliche nämlich nie im Leben gegangen. Nichts Schriftliches natürlich. Notlügen. Armeelügen.«

Angesichts des höheren Rangs eines Augenzeugen hielt der Major den Mund.

»Aber das ist ja nun alles Geschichte«, fuhr Dryden fort. »Nine-Eleven, Madrid, London, der Krieg in Afghanistan, im Irak und wer weiß wo dann ...? Das Dorf wird gebraucht. Und die Amerikaner wollen schließlich auch mitmischen. Spiel, Satz und Sieg. Genau, wie Sie sagten: Häuserkampf. Jude’s Ferry ist zu wertvoll, um es wieder rauszurücken.«

Bevor der Major etwas erwidern konnte, züngelte am Rand des Kirchhofs kurz eine Stichflamme auf, dann hörte man das Jaulen der Granate.

»Scheibe«, fluchte Broderick und winkte den Kompaniefunker zu sich herauf. »Sag denen, dass sie fünfzig Meter westlich am Pfarrhaus vorbeizielen. Schnell.«

Mit dem Zoom der Digitalkamera schoss Dryden ein paar Bilder. Er hatte die Kirche gerade im Fokus, als die nächste Salve einschlug, deshalb konnte er genau erkennen, wie eine Granate ein Loch ins Dach riss und im Inneren des Gotteshauses explodierte; ein Fenster aus vielfarbigem Glas zerbarst auf den Kirchhof hinaus, drinnen loderte eine Flamme.

Broderick stand auf: »Die letzte, verdammte Granate. Typisch.« Er sah den Reporter an und wägte ab, ob er ihn nach Hause schicken konnte, so zumindest kam es Dryden vor. Aber, das wussten beide, Dryden hatte genug gesehen.

»Gut. Hauptquartier Rot anfunken, sagen Sie denen, der Häuserkampf ist abgeblasen. Wir werden den Schaden feststellen und Meldung machen.« Er richtete sich auf, zückte eine Schiedsrichterpfeife und blies hinein. Am Deich entlang erhoben sich die Männer, streckten sich, und einige nahmen den Blechdeckel ab. Dryden hätte es nicht gewundert, wenn sie angefangen hätten, im Niemandsland Fußball zu spielen. Broderick trabte zur Deichböschung hinunter, sprang über den Wassergraben und führte seine Leute durch ein Feld voller Granathülsen und Dornbüsche.

Sie brauchten zwanzig Minuten bis zur Kirche. Je weiter das Dorf sich vor Drydens Blick entfaltete, desto überzeugter war er, eine Bewegung sehen zu müssen: Wäsche, die an der Leine flattert, einen Mann, der mit rundem Buckel den Garten harkt, einen zuckelnden, von Möwen umkreisten Traktor. Doch abgesehen von den Saatkrähen über dem Wasserturm und den schlaff herabhängenden Zielfähnchen, lag das Dorf gänzlich leblos, die Schatten ungestört.

An der Friedhofsmauer teilte der Major den Trupp auf und schickte eine Hälfte weiter, um zu kontrollieren, ob wenigstens das zweite Zielobjekt – das alte Zuckerrübenwerk – getroffen worden war wie geplant. Die Übrigen erhielten den Befehl, Friedhof und Kirchenäußeres zu sondieren und sich dann an der Kirchentür zu sammeln, um den Schaden im Inneren zu taxieren.

Dryden nahm die Digitalkamera aus der Innenbespannung seiner Kampfanzugsjacke und stapfte durch die Grabsteine. Die Explosion der verirrten Granate hatte alles mit Stein- und Glassplittern übersät. Etliche Grabsteinrückseiten waren mit Graffiti beschmiert, darunter zweimal: »SOLDATEN RAUS«, und einmal: »WIR WOLLEN UNSER DORF ZURÜCK«. Vom Dach der St.-Swithun-Kirche stieg eine Schlange aus grauem Rauch auf. Die Eichentüren der Vorhalle hingen schief in den Angeln, die Schlösser hatten dem Druck der Detonation nicht standgehalten, und Dryden zwängte sich hinein.

Er hörte die Soldaten, die durch das hohe Gras um das Bauwerk strichen. Doch im Kircheninneren war er allein und zum ersten Male spürte er zwischen längst verschwundenen Kirchenbänken die Geister der Vergangenheit um sich. Es war kühl hier, vor der Sonne beschirmt, ummantelt vom Gemäuer, und plötzlich stand ihm eisiger Schweiß im Nacken. Durch das Seitenschiff trat er an eine gotische Tür und rüttelte daran, doch sie war versperrt. Ein Lichtschaft fiel vom Dach bis auf den nackten Steinboden des Mittelschiffs. Die Granate hatte die Steinplatten aufgerissen wie ein Meteor die Mondoberfläche. Der einzige Brandherd war in den Dachbalken, aus denen blaue Flammen schlugen. Glassplitter stürzten durch die dröhnende Stille herab. Er kam näher und fühlte sich nackt, wie von wachsamen Blicken beäugt, und ein Schauder lief ihm über die Haut.

Er stand nun inmitten des schartigen Lichtkegels, sah hinauf zum blauen Himmel und hinunter auf seine Stiefel. Porzellanern weiß lag ein Finger auf den Steinplatten des Bodens. Einen Moment lang wollte es ihm den Magen umdrehen, konnte er sich doch nicht gewiss sein, dass es war, was es nur sein konnte: das abgeschlagene Fragment einer Skulptur. Doch der Sarkophag stand gleich daneben, bekrönt von einem ruhenden Kreuzfahrer in Stein, die einst zum Gebet gefalteten Hände von der Explosion zu zwei bröckelnden Marmorstumpen verstümmelt.

Jetzt flogen hinter ihm die Eichentüren auf, und Broderick stürmte die Kirche, gefolgt von einem Dutzend seiner Männer. Stumm schwärmten sie aus, da sie mit eigenen Augen den Schaden am Dach sahen und dem Kanonier das schlechte Gewissen nachfühlen konnten.

Dryden berührte das kalte Marmorgrab. Granatsplitter hatten die Abdeckung der Tumba, auf welcher der Ritter ruhte, beschädigt – die Ecke der Steinplatte war weggebrochen und lag in Trümmern auf dem Boden. Er rückte näher an das Loch heran, möglichst ohne dabei das Licht zu verdecken, welches ihm den Inhalt offenbaren könnte, doch was er – gerade noch – erkannte, war nur kalter Stein. Er beugte sich näher hin und roch die modrige Luft, versetzt mit dem beißenden Gestank versengten Steins.

Dann trat er hinter die Tumba und erkannte das Kreuzfahrergrab wieder, denn es war letzte Woche erst im Zusammenhang mit einem Kommentar Drydens zum Ende der gerichtlichen Bemühungen der ehemaligen Bewohner und einem Ausblick auf die Wiederaufnahme von Übungen mit scharfer Munition im Crow abgedruckt gewesen.

Die Jahrhunderte hatten am Namen auf der Flanke des Grabmals genagt, doch er war noch zu entziffern: PEYTON.

Als Dryden den Sarkophag umrundete, fiel sein Blick kurz auf einen Spaten, der an der Kirchenwand lehnte, und auf die schwarzen Torfkrumen auf den kühlen, grauen Steinplatten des Bodens. Er erstarrte, hatte plötzlich das Gefühl, noch immer allein in der Kirche zu sein, trotz der Stimmen der Soldaten ringsum. Jetzt sah er, dass eine der großen, in den Boden eingelassenen Grabplatten fehlte und jemand darunter ein Loch geschaufelt hatte, dessen Aushub, neugierigen Blicken entzogen, eine kleine Pyramide hinter dem Grabmal der Peytons bildete. Das Grab war kaum drei Fuß tief und leer, nur auf ein paar feuchten Kieseln in der satten, kaffeeschwarzen Erde spiegelte sich das Licht. Die herausgestemmte Grabplatte lehnte aufrecht neben dem Spaten und trug ein Emblem in der Art einer Sonnenblume, auf dem in scharf ausgemeißelten Lettern noch einmal der Name zu lesen stand: PEYTON.

Das Rauschen eines Funkgeräts schreckte Dryden auf, und er sah Broderick, der mit dem Funker genau unter dem Loch im Dach stand.

»Mr. Dryden ... Wir ziehen jetzt ins Dorf ab. Hier können wir nichts tun. Sie werden dicht bei mir bleiben. Meine Männer gehen hier mit dem Schlauch durch – da sollten Sie nicht im Weg sein.«

Dryden ließ den Blick durch die Kirche schweifen und bemerkte Anzeichen früherer Beschädigungen. Ein Fenster war vernagelt, und Teile der dreifach gestuften Kanzel waren von einem längst erloschenen Feuer geschwärzt. Aber wieso das geöffnete Grab?

»Sie sollten sich das ansehen ...«, sagte er. »St. Swithun’s hatte Besuch.«

Broderick zuckte die Schultern. »Immer schön der Reihe nach, wenn’s recht ist. Ich nehme doch stark an, dass derjenige jetzt nicht hier ist. Und wir müssen weiter zum zweiten Zielobjekt, da gab es wohl leider ebenfalls einen Fehlschuss.«

Dryden sank neben dem Aushub auf die Knie und ließ sich die Erde durch die Hände rieseln. Sie war trotz der drückenden Sommerhitze noch kühl, und er fuhr mit der Hand tief hinein, zog sie wieder heraus und betrachtete die deutlich sichtbare Feuchtigkeit auf seiner Haut.

»Frischen Besuch«, sagte er und wusste, da war niemand, der es hörte.

Doch er spürte, wie die Härchen auf seinem Arm sich sträubten, und als er sich dann erhob, musste er gegen die irrationale Überzeugung ankämpfen, jemand beobachte ihn. Er ließ den Finger durch den Staub an der Kante des Grabmals und über die zehn Zoll hohen, in seine Flanke gemeißelten Lettern gleiten und fragte sich, weshalb dieser Name ihm so bekannt vorkam; dann stieß er die schleichende Furcht von sich, er müsse die Antwort kennen.

Kapitel 3

Von der Vorhalle der Kirche blickte Dryden auf Jude’s Ferry hinab. St. Swithun’s stand auf einem dreißig Fuß hohen Hügel, einem wahren Berg im billardtischebenen Fenn, der höchsten Erhebung einer flachen Lehminsel, die seit mehr als tausend Jahren bewohnt gewesen war. Schockartig wurde ihm bewusst, dass er vor siebzehn Jahren, am Tag der Räumung, an exakt derselben Stelle gestanden und auf ein Dorf hinabgesehen hatte, in dem es nur so wimmelte von Umzugswagen, Armeelastern, Autos, Vieh, von Presseleuten, Radio- und Fernsehteams, sowie einer kleinen, aber umso lautstärkeren Schar von Kindern. An den Armeezelten am alten Sportplatz flatterten die Wimpel, und entlang der alten Whittlesea Road trieb man die letzten Schafe zusammen, ihr Blöken durchdringend und verängstigt.

Es war ein unvergesslicher Auftrag gewesen. Ursprünglich hatte die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit des Heeres den Kontakt zwischen Dorfbewohnern und Medienvertretern strikt auf eine vormittägliche Pressekonferenz im methodistischen Gemeindesaal beschränken wollen. Am Sonntag, dem Festtag des Heiligen Swithun, waren die Printmedien dem Dorf ferngeblieben, um den Bewohnern die Chance zu lassen, das Namensfest ein letztes Mal in Ruhe zu begehen. Gleich am Montagmorgen aber karrte ein Bus die gesammelten Presse- und Fernsehleute von Ely durch die Tore des Truppenübungsplatzes und bis zur Methodistenkirche – die bis auf den letzten Platz mit fast allen der noch verbliebenen Dorfbewohner gefüllt war. Es war eine etwas gezwungene Veranstaltung gewesen, geprägt von einem alten Veteranen, dem man zuvor ganz offenkundig eingeflüstert hatte, er solle aufstehen und verkünden, wie stolz es ihn doch mache, dass das Dorf seinen Teil zum Kampf für die Freiheit beitragen könne. Zur Feier des Tages hatte er all seine Orden angelegt, und die Fernsehleute stürzten sich geradezu auf ihn, heilfroh, ihren Filmbericht rechtzeitig für die Mittagsnachrichten im Kasten zu haben. Zwei Frauen, beide verwitwet, erklärten, sie seien stolz auf das, was das Dorf in zwei Weltkriegen geleistet habe – eine Aussage, die prompt einen Dreh oben am Kriegerdenkmal erforderlich machte, am Ende von The Dring, der kleinen Hauptstraße des Dorfes, die von einem offenen, mit hohem Schilf überwucherten Abzugsgraben flankiert war.

Dryden, der sich das nicht entgehen lassen wollte, kam mit und bemerkte an der Türschwelle des New Ferry Inn einen Mann, offenbar der Wirt, der dort saß, Tee trank und aus erschöpften, rot geränderten Augen zusah. Er war noch jung, trug das dichte, braune Haar in einer windschiefen Bauernfrisur und ließ die Schultern resigniert hängen. Neben ihm eine Frau, die Beine nackt und untergeschlagen, das Haar aus dem bleichen Gesicht gekämmt, das T-Shirt verknittert. Mit dem Handballen rieb sie sich ein Auge, um die Erschöpfung zu vertreiben, oder eine Erinnerung. Ihre Blicke begegneten sich, und er lächelte, doch sie floh, und als sie die Pubtür öffnete, standen dort auf dem mit Bruchsteinen gefliesten Boden des Schankraums die Umzugskartons.

Der Mann ließ sie ziehen, goss den Tee in den Staub.

Die übrigen Dorfbewohner betrachteten mürrisch und argwöhnisch das wenig überzeugende Theater, das man für die Medien inszenierte: der alte Veteran, vor dem Kriegerdenkmal in Positur gebracht wie ein lebendes Requisit, flankiert von den Witwen. Dem Gasthaus gegenüber lag ein Ensemble aus vier Naturstein-Reihenhäusern, ein privater Seniorenwohnsitz aus vier kleinen viktorianischen Burgen, komplett mit Maßwerkfenstern und gotischem Eisenbeschlag. Die Bewohner, vier betagte Herren und eine Dame, saßen draußen auf einer Bank, stoisch, angesichts dieser unschönen Invasion ihres Dorfes. Dann gellte ein Schrei von The Dring her, wo zwei Soldaten eine alte Frau von der Tür ihres Häuschens losreißen wollten und nicht verbergen konnten, dass die Dame keineswegs freiwillig ging.

Die Frau war wacklig auf den Beinen und weinte. »Bitte«, flehte sie wieder und wieder, »bitte nicht.« Ihr Gesicht war zu einer Maske der Angst erstarrt, wie bei einem kleinen Kind.

Die Menge wurde unruhig, vereinzelt wurde gebuht und von irgendwo flog ein Ziegelstein auf die Motorhaube eines Armee-Landrovers. Steine und Dreck schwirrten durch die Luft, und an den Fernsehkameras flammten die Scheinwerfer auf. Die ältere Dame war in Ohnmacht gefallen und musste mehr oder weniger in den bereitstehenden Krankenwagen getragen werden, hinter ihr aber vernagelte man bereits die Tür ihres Hauses. Weiter unten am Dring zog ein Trupp Soldaten von Haus zu Haus, versperrte Türen mit Vorhängeschlössern und schloss die Fenster. Glas ging zu Bruch, und wieder buhte die Menge.

»Ihr könntet wenigstens so viel Anstand haben zu warten, verdammt noch mal«, brüllte ein Mann, das Gesicht vom Alkohol rot und aufgedunsen.

»Beruhigt euch, Jungs«, mahnte jemand, und die Menge schreckte sichtlich zusammen. »Es gibt Freibier – das darf doch nicht verkommen.« Es war der junge Mann von der Pubtür, den Teebecher noch immer in der Hand. »Für Randale ist es jetzt zu spät – es ist vorbei.«

Dryden versuchte sein Alter zu schätzen – Mitte zwanzig vielleicht, aber es ging eine abgeklärte Autorität von ihm aus, die ihn älter wirken ließ. Er führte die gesamte Meute zum Gasthaus, wo die Soldaten auf Klapptischen Ein-Mann-Packungen zum Mittagessen bereithielten, dazu stand im Schatten ein letztes Fass Stout aufgebockt. Man raunzte noch ein wenig herum, aber es war klar, dass den Versammelten für einen richtigen Kampf das Herz fehlte. Ihr Stolz war es, der auf dem Spiel stand, nicht ihre Häuser. Die waren verloren.

Die Soldaten erspürten die Stimmung und zogen sich still in die Zelte zurück, akkurate Reihen aus gebleichtem Weiß, wie ein Pfadfinderlager. Dryden versuchte den Männern am Gasthaus den einen oder anderen O-Ton zu entlocken, doch die meisten schüttelten nur den Kopf, beschämt über die eigene Ohnmacht, nun, da das Ende gekommen war.

Für die Pressevertreter stand das Mittagessen im Obstgarten unterhalb der Kirche bereit, im Schatten einer ungeschlachten, von einem Kiesweg umsäumten, georgianischen Villa. Das Portal wurde von zwei steinernen Säulen bewacht, in die die Worte »Orchard House« eingemeißelt standen. Die Fenstersteuer hatte das Haus eines Teils seiner Pracht beraubt, dennoch war es gar kein Vergleich zum Rest des Dorfes, auf das man über gestutzte Hecken von der Beletage hinabsah. Bis zum Fluss hinunter reichten die Rasenflächen, die, parallel zum Treidelpfad, von einem tiefen Wassergraben durchschnitten wurden: Relikt eines ehemaligen Burggrabens. Dryden legte sich auf die Wiese, überflog seine Notizen und versuchte sich vorzustellen, wie das Dorf zu seiner Blütezeit im neunzehnten Jahrhundert ausgesehen haben mochte, als man am Kai noch Unmassen von Zuckerrüben umschlug und der bleistiftdünne Schlot des Werks beißenden Qualm spuckte.

Die übrigen Pressevertreter drängten sich dicht am Herrenhaus, wo die Armee Getränke ausgab, daher hörte nur er allein das Krächzen des Fensterladens im Obergeschoss, sah nur er den jungen Mann, der vom Fenster der Villa in den Obstgarten blickte. Eine Hand auf dem Fenstersims, die andere gegen die grelle Sonne vor die Augen gelegt, bewegte er sich mit der Trägheit eines Patriziers. Dann zog er sich in die Schatten zurück, und Dryden fragte sich, welcher letzte Akt des Abschiednehmens sich dort drinnen wohl abspielen mochte. Nun drangen Stimmen an Drydens Ohr, jemand machte im Zimmer Licht und ein anderer zog eilends den Fensterladen zu. Sprachlos erkannte Dryden den Wirt wieder, der über die Schulter gewandt zu jenen sprach, die ungesehen dort versammelt waren.

Dann hörte man die Kupplung des öffentlichen Busses knirschen, und die Pressemeute erhob sich stumm, um der Abfahrt der letzten Dorfbewohner zuzusehen. Und als der Bus dann auf der Church Street vorbeifuhr, da wandten viele den Kopf vom Fenster ab, und schließlich war da nichts weiter als eine bernsteingelbe Wolke, die hinaus auf Whittlesea Mere zog. Kurz darauf brachten von Westen her drei Armeelaster die Soldaten ins Dorf, die die Häuser durchsuchen, den Bestand feststellen und die Zielobjekte für den ersten scharfen Beschuss vorbereiten sollten.

Dryden sah auf die Szenerie hinab, wie sie sich ihm heute darbot, die ehemaligen Kleingärten waren von spätsommerlichen Himbeeren zugewuchert, und nur die verfallenen Hütten stachen hier und dort noch durch die Oberfläche wie Treibgut auf einem grünen Meer. Die einzigen Laute, die vom Dorf her drangen, waren nicht menschlicher Natur: In den Pappeln am Fluss schrien die Saatkrähen, und irgendwo rüttelte der warme Wind an den rostigen Angeln eines Gartentors.

Er ließ den Blick durch den Obstgarten schweifen, in dem sie damals zu Mittag gegessen hatten. Das alte, verbarrikadierte Herrenhaus stand noch, aber das Dach war löchrig und sackte in der Mitte durch, einer der Kamine neigte sich gefährlich. Die Obstbäume, seit beinahe zwei Jahrzehnten unbeschnitten, trugen schwer an Äpfeln, und der alte Burggraben war nur noch eine morastige Kloake. An einem Fenster war das Holz des Ladens vermodert, und Drydens Herz blieb stehen, als sich am Fensterbrett etwas bewegte, etwas Schwarzes, das im Sonnenlicht blitzte. Doch als er genauer hinsah, erkannte er eine Saatkrähe, die sich durch die Öffnung zwängte und das Gefieder schüttelte. Dann flog sie tief über die Gartenmauer zum Fluss.

Er beeilte sich, um zu Major Broderick aufzuschließen, der mit seinem Zug über die Straße, deren zerbombter Belag im Lauf der Jahre von den Pionieren ein ums andere Mal geflickt wurde, ins Dorf einmarschierte. Wuchtige Betonkorsette bewahrten eine Reihe viktorianischer Häuschen vor dem Einsturz. Etliche Häuser waren komplett durch Schlackensteinquader mit rohen Löchern darin ersetzt, die Fenster und Türen simulierten. Dryden ahnte, welch traurige Angelegenheit die alljährliche Rückkehr der Dörfler am Sankt-Swithun-Tag gewesen sein musste, gab es doch Jahr für Jahr weniger, wohin man zurückkehren konnte. Dryden bemühte sich, beim Vorbeimarsch nicht in die schwarzen, leeren Höhlen zu sehen, die einst Fenster gewesen waren, denn er fühlte, dass er irgendwo im Dorf ein Gesicht erspähen müsste, das nur auf ihn wartete.

Der Trupp stieß nach Norden vor, überquerte eine bucklige Brücke und bog an einer Einmündung nach Westen auf die ehemalige Hauptstraße ein. Die Kreuzung wurde von einem hässlichen, zweistöckigen Gebäude aus den Fünfzigerjahren mit verrammelten Fenstern und dem aufgemalten Schriftzug »Palmer’s Store« beherrscht. Das rote Postamts-Signet war noch erkennbar, und im zweiten Stock baumelte ein kaputtes, von Gewehrschüssen zersiebtes Neonschild mit der Aufschrift: »Mere Taxis«. Irgendwo im Haus knarzte eine Tür rhythmisch im Sommerwind.

Vor ihnen lag der leichte Anstieg zur Hauptbrücke über Sixteen Foot Drain, einen Abzugskanal, der das Wasser des urbar gemachten Binnensees dem Meer zuführte – mehr war von dem ursprünglichen »Fluss«, zu dessen Seiten Jude’s Ferry errichtet worden war, nicht geblieben. Am anderen Ufer brannte das Zuckerrübenwerk. Davor aber stieg noch eine weitere Qualmsäule auf, beißend schwarz und von fahlroten Blitzen durchzuckt.

Broderick ließ halten und das Vorauskommando anfunken, das er ins Dorf geschickt hatte. »Fein«, sagte er und knallte dem Funker den Hörer hin: »Kein guter Tag für die königliche Artillerie. Noch ein Fehlschuss, diesmal am New Ferry Inn. Da brennt’s ebenfalls.«

Der Zug rückte in Reih und Glied vor, angeführt von einem jungen Soldaten von nicht mehr als achtzehn Jahren. Immer wieder entdeckte Dryden im Dunkel der verfallenen Häuser und Geschäfte die ausgesägten Pappkameraden von Rot. Wie versteinert stand hinter einer Plexiglasscheibe ein Soldat mit Stahlhelm neben einer marmornen Ladentheke: Mehr war von der Dorffleischerei nicht übrig. Dryden sah sein eigenes Spiegelbild, das strenge, symmetrische Gesicht so starr wie das des Ritters am Grabmal in der Kirche.

Im Gänsemarsch sauste ein Trupp Ratten durch den Sonnenschein und ließ sich vom Dunkel hinter einer abgetretenen Türschwelle verschlucken.

An der Nordseite war The Dring mit Häusern bebaut, die Südflanke aber wurde von einem tiefen Graben begrenzt, dessen Grund mit morastigem Wasser und wucherndem Schilf bedeckt war. Dieser Kanal sollte das Sickerwasser von der höher gelegenen Kirche und dem Wasserturm aufnehmen. Eine Kette seidenweicher »Plopps« begleitete den Marsch auf der Straße, wann immer ein Stück Ungeziefer sich ins Wasser flüchtete. Jenseits des Grabens, der von Stegen aus Eisenbahnschwellen und Wellblech überspannt war, sank eine Reihe baufälliger, mittelalterlicher Katen in sich zusammen. Dryden fiel auf, dass eines der Häuschen noch die originale Eichentür hatte, von der die rote Farbe abblätterte, dazu einen Klopfer in Form eines springenden Fuchses. In der Reihe klaffte eine große Lücke: ein offener Bauernhof mit ausgebranntem Traktor und verrostetem Pflug. An der Scheunenwand stand noch der Spruch, den ein Vandale an jenem letzten Tag unter Drydens Augen in meterhohen Buchstaben aufgesprayt hatte: KOMMISSKÖPFE RAUS. Inzwischen war die Aufforderung kaum noch lesbar, die Farbe verblasst, dafür schienen die auf Draht gefädelten toten Krähen eine Warnung jüngeren Datums zu sein, ein weiterer Hinweis darauf, dass Jude’s Ferry, wenn es nicht gerade bombardiert wurde, bis heute sein ganz eigenes, verborgenes Leben hatte.

»Wilderer«, sagte Broderick neben ihm. »Wir wissen, dass sie reinkommen, aber wir flicken die Löcher und schicken nachts immer wieder mal eine Patrouille durch, damit sie sich nicht zu sicher fühlen.«

Über ihnen erstarb das Sonnenlicht, Dryden hob den Kopf und sah eine dunkle, von grau rieselndem Regen gesäumte Wolkenbank, die sich über Jude’s Ferry schob wie ein Sargdeckel. Schon sprengten die ersten, weintraubengroßen Tropfen zu ihren Füßen den Staub auf. Sie standen jetzt kaum dreißig Fuß von der Brücke entfernt und konnten sehen, wo der Fehlschuss eingeschlagen hatte. Hinter der schmucklosen Front des New Ferry Inn lag ein von Nebengebäuden gesäumter Hof. Eines davon, das massiver gebaut war als die übrigen, hatte einen Volltreffer abbekommen, und in seinem niedrigen Dach klaffte ein qualmendes, schartiges Loch. Auf der Straße hantierten drei Soldaten mit einem Kanaldeckel und hatten bereits einen Schlauch hinüber zur Ruine geführt. Dort stand ein Soldat in den verschatteten Trümmern und leuchtete mit einer Taschenlampe auf den Boden.

Er gab Broderick ein Zeichen. Sie bahnten sich einen Weg durch herumliegendes Mauerwerk und zersplittertes Holz, während der einsetzende Regen auf den schwelenden Trümmern verdampfte. Im Erdgeschoss hatte die Wucht der Detonation die Türen und die Holztreppe in den ersten Stock weggerissen und dabei ein briefkastenschlitzschwarzes Loch mit Kellertreppe freigelegt. Unten huschten die Strahlen von Taschenlampen durch das Dunkel.

Nach einer kurzen Vorwarnung prasselte Wasser auf die Flammen ein und floss die Treppe hinab.

Broderick nickte. »Okay. Gute Arbeit. Und wo wäre das Problem?« Konfrontiert mit dem Unerwarteten, wirkte der Major nervös und alles andere als unerschütterlich.

Ein Soldat leuchtete mit der Taschenlampe die Treppe hinunter.

»Vielleicht gehen Sie besser selbst runter, Sir«, schlug der Schütze vor.

Broderick ließ sich das einen Moment durch den Kopf gehen. Dann noch einen.

Der Major nahm den Stahlhelm ab, eine eigentümliche Geste, und ging voran. »Wer war schon unten?«, wollte er wissen.

»Der Corporal ist unten, Sir, und der halbe A-Zug.«

Broderick sah zu Dryden hinüber. »Kein Grund zur Schüchternheit – kommen Sie mit.«

Sie stiegen in den Keller, und je weiter sie die Feuchtigkeit des Sommertages hinter sich ließen, desto kälter wurde es. Drydens Augen hatten sich rasch an das Dunkel gewöhnt, deshalb konnte er seine Umgebung deutlich wahrnehmen: Der Boden war inzwischen einige Zentimeter hoch von einer ungekräuselten, spiegelgleichen Wasserfläche bedeckt. Der Keller war riesig, eine gemauerte, unterirdische Lagerhalle, an deren Wänden fünf von Brodericks Männern standen, die Taschenlampen zur Raummitte gerichtet, reglos ein jeder, erstarrt.

Was sie da anstrahlten, war eine Leiche an einem Seil, die sich langsam drehte. Der plötzliche Regenschauer hatte die abgestandene Luft durchgewirbelt, und Seil und Balken krächzten unter der Bewegung der zerlumpten Gestalt. Das Gesicht, beziehungsweise das, was einmal das Gesicht gewesen war, kehrte sich Dryden zu, und er sah das Leuchten des lippenlosen Mundes, die stumpfen Zähne, den elfenbeinern weißen Schädel. Oberhalb des linken Wangenknochens blitzten die mumifizierten Reste einer Sehne auf. Spinnwebengleich schwebten zersetzte Kleidungsreste, weder in Form noch Farbe noch zu erkennen.

Der Regen wurde jetzt heftiger, Hagelkörner prasselten wie Kieselsteine und brachten einen Wind mit sich, der das hängende Gerippe einen letzten, eleganten Kreis beschreiben ließ, bevor der rostgeschwächte Haken seinen Gefangenen endlich freigab und die Leiche auf den Boden krachte.

Kapitel 4

Der schale Atem der Jahrzehnte entströmte dem Keller, einer Flasche aus uralten Zeiten gleich, plötzlich entkorkt. Hektisch knisterte das Armeefunkgerät, während die Männer stumm im Kreis standen und Dryden versuchte, sich die Szenerie fest einzuprägen und gleichzeitig gegen den Drang anzukämpfen, hinauf ans Licht zu fliehen.

Boden und drei der Wände waren aufgemauert und gekalkt, die vierte lag hinter aufgeschichteten Bierkästen verborgen. In einer Ecke stand eine Transportkiste mit Pintgläsern, deren oberste Schicht in feuchtes, gelbes Zeitungspapier gewickelt war. An der Rückwand, gegenüber der Treppe, stand ein türenloser Schrank, vollgepfropft mit Farbdosen, diversen Heimwerkerpasten in Tuben und verklebten, alten Pinseln in Einmachgläsern. Bis zum Boden reichten die Spinnwebvorhänge hier und am rauen Mauerwerk. Die Netze schimmerten leicht, wenn das Licht auf sie fiel, und in Massen entflohen die Spinnen in das sichere Dunkel des Deckengebälks.

Etwa in der Mitte des Raums lag der zertrümmerte Rest eines alten, hölzernen Kinderstuhls, ein Bein war weggebrochen, die hellgelben, aufgemalten Teddybärchen gerade noch zu erkennen. Neben den Bierkästen stapelten sich weitere ausgesonderte Stücke aus einem Kleinkinderzimmer: eine fast völlig verrottete Wickelunterlage aus Plastik, ein Tragekörbchen aus Bast, ein Satz Holzkegel, eine kleine Kinderkommode mit derselben Bemalung wie das kaputte Stühlchen.

Die Leiche saß nun, denn der Sturz auf den Boden hatte das gebrochene Rückgrat wie einen Wurfspeer durch das restliche Gerippe getrieben, so dass der Rumpf in aufrechter Haltung verblieb, während der Schädel nach hinten gesunken war und so die Halsknochen und die hohle Unterseite des Kiefers freigelegt hatte. Wider alle Schwerkraft schien das Skelett auf dieser letzten Möglichkeit zu beharren, noch einmal Zeugnis abzulegen. Dryden sah nun, dass die Leiche praktisch nur noch aus Knochen bestand, außer einigen, wenigen Sehnen- und Knorpelresten war nichts geblieben, und im Grunde hatten nur die fadenscheinigen Kleiderreste das Ganze in der abgestandenen Kellerluft noch zusammengehalten. Dryden versuchte die Jahre der Finsternis in diesem atemlosen Grab zu erahnen.

Nun aber ließ das Prasseln des Hagels nach, und von oben drang Licht herein und breitete sich aus. Gespiegelte Skelette schwammen auf schwarzem Wasser.

Broderick trat heran und inspizierte den dünnen Draht, mit dem die Handgelenke vor dem Körper zusammengebunden waren.

»Ich würde lieber nichts anfassen«, warnte Dryden.

Broderick richtete sich auf, überlegte. »Fein«, sagte er. »Lassen wir’s, wie’s ist. Die Militärpolizei wird früh genug da sein.« Im Gänsemarsch stiegen die Soldaten die Treppe zum Licht empor.

Als Dryden das Skelett ein letztes Mal umkreiste, fiel sein Blick auf die gespreizten Beine unter dem zerfallenden Gewebe. Die Fetzen ließen keine Rückschlüsse auf das Geschlecht zu; vermutlich dürfte die Statur für einen Mann eher schmächtig gewesen sein, durchschnittlich für eine Frau, aber bei diesem Knochenhaufen ließ sich das nur schwer beurteilen.

»Sieht nach Frau aus«, meinte Broderick, der seine Gedanken vom oberen Ende der Treppe her erahnte.

Drydens Erinnerungsvermögen meldete sich. »Wurde nach der Räumung nicht eine Frau vermisst? Die damals den Laden mit der Postfiliale am Dring betrieben hat – Palmer’s?«

Broderick setzte sich auf die Treppenstufe. »Stimmt. Magda Hollingsworth. Muss 1990 dreiundsechzig gewesen sein. Die könnte es sein. Sie war depressiv, aber es gab keinen Abschiedsbrief, keinen letzten Gruß. Plötzlich war sie einfach verschwunden.«

»Ein gutes Gedächtnis ...«

Broderick klopfte sich den Staub von den Händen. »Die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit vom Heeresstab hat mir die Presseberichte über die Räumung geschickt – für den Fall, dass Sie seltsame Fragen stellen. Da stand auch das drin. Das ganze Dorf wurde mehrfach durchgekämmt – hat das erste Bombardement mindestens eine Woche aufgeschoben. Aber man fand weder die Leiche noch tauchte Magda irgendwann wieder auf, sie blieb spurlos verschwunden. Und sie war keine Frau, die nicht aufgefallen wäre. Stammte aus einer Romafamilie; aus Ungarn, glaube ich. Als Konformistin konnte man sie beim besten Willen nicht bezeichnen ...«

»Andererseits klingt Postmeisterin nicht gerade exzentrisch.«

Broderick zuckte die Achseln. »Wie auch immer, jedenfalls meinten manche, der Druck der Räumung wäre zu viel für sie gewesen und sie hätte sich wieder unters Fahrende Volk gemischt, das Zigeunerleben wieder aufgenommen. Klingt irgendwie plausibel, oder wenigstens schien es damals so.«

Dryden folgte ihm an den verwaisten Tresen des New Ferry Inn. Die Geschichte der Magda Hollingsworth war der traurige Schlussakkord der letzten Tage von Jude’s Ferry. Ihre Angehörigen hatten sie erst nach der Räumung als vermisst gemeldet, als der Medienzirkus längst weitergezogen war. Selbst vor Ort interessierte sich kaum jemand für das Schicksal der Verschwundenen, ging man doch davon aus, dass sie sich nach einem depressiven Schub das Leben genommen hatte, fehlender Abschiedsbrief hin oder her.

Der Schankraum war kühl, und es roch nach modrigem Holz. Ein großes Milchglasfenster, das den Schriftzug »The New Ferry Inn« trug, hatte bemerkenswerterweise all die Jahre ebenso überstanden wie den Einschlag der danebengegangenen Granate. Draußen im Dorf rauschte das Wasser. Der Schankraum war bis etwa einen Meter fünfzig Höhe mit Holz getäfelt. Jemand hatte mit einer Spraydose SOLDATEN RAUS an eine Wand gesprüht – wieder ein Beleg dafür, dass sich seit der Räumung nicht nur übende Soldaten in Jude’s Ferry aufgehalten hatten. Das bewegliche Mobiliar war entfernt, aber eine fest installierte Sitzbank zog sich rings um den gesamten Raum. Ein großer, aufgemauerter Kamin war, vom leichtgewichtigen Kadaver einer Saatkrähe einmal abgesehen, völlig leer. Das einzige, noch an der Wand verbliebene Bild zeigte die englische Fußballnationalmannschaft samt aufgedruckten Autogrammen. Dryden schaute auf das Datum: Januar 1990. Ein einzelner Dartpfeil steckte oben im Doppelring der Scheibe; auf dem Kaminsims ein Blechascher mit einem einsamen Stück Kreide und etlichen Bröckchen Rattenkot. Zwei Worte waren in Kreide auf die Spielstandtafel geschrieben: GAME OVER.

Wenn man gegen die Stille anlauschte, so schien es Dryden, dann konnte man sie beinahe hören: die Lautkulisse jener letzten Nacht; die Glocke zur letzten Runde, den ironischen Jubel, das Lärmen der Betrunkenen, heiser von Alkohol und Nikotin. Und die Tränen in der Ecke, missachtet.

»Die Militärpolizei ist in zwanzig Minuten hier«, erklärte Broderick. »Heli kommt auch – weiß der Geier wieso, aber wenn man schon so ein großes Spielzeug hat, will man es natürlich auch nützen. Nächsten Monat geht’s ab nach Basra, wahrscheinlich wollen die armen Hunde vorher noch trainieren, was geht. Kripo in Lynn ist informiert«, schloss er.

Dryden war klar, dass die Geschichte nun, da die Polizei eingeschaltet war, nur für wenige Stunden ihm allein gehörte, dann würden die übrigen Medien sie ebenfalls aufgreifen. Die nächste Ausgabe seiner Zeitung erschien allerdings erst in zwei Tagen, und das Handy hatte man ihm an der Zufahrt zum Übungsplatz abgenommen. Er hatte also eine Exklusivnachricht, aber keine Zeitung, um sie zu drucken. Nicht zum ersten Mal verwünschte er die Arbeit bei einer Wochenzeitung.

»Wenn die kommen, schicken Sie sie auch zur Kirche. Da war kürzlich erst jemand drin und hat ein bisschen in einem Grab gebuddelt.«

»Grabräuber?« Broderick staunte.

»Möglich. Alle Welt wusste, dass die Artillerieübungen bis Prozessende ausgesetzt waren. Keine schlechte Zeit also, um mal hier vorbeizuschauen – und da die Dorfbewohner mit hoher Wahrscheinlichkeit ohnehin nie zurückkehren würden, haben die sich vielleicht gedacht, es juckt sowieso keinen. Aber es war nicht das erste Mal – es gibt Anzeichen von Vandalismus. Die müssen Sie doch auch gesehen haben.

Ich muss dringend telefonieren«, sagte er, als er vom Major keine Antwort bekam. »Geht das?«

»Ich kann eine Meldung an Ihren Freund im Taxi absetzen – damit er Sie vorzeitig abholt.«

»Danke. Das würde mir sehr helfen.« Dryden hatte vor, sich ans Lokalradio zu wenden, um die Nachricht nach Möglichkeit über den Äther zu verbreiten und so den Ruhm für seine Zeitung abzuschöpfen und außerdem einen ausführlichen Bericht für die Dienstagsausgabe anzukündigen. Nur so ließ sich überhaupt Profit aus der Geschichte schlagen, bevor sie zum Ausschlachten freigegeben wurde.

Er holte tief Luft und wünschte, er hätte ein Pint Bier in der Hand. »Na, und was meinen Sie?«, sagte er. »Selbstmord, oder?«

Brodericks weiches Gesicht zeigte argwöhnische Falten. »Wahrscheinlich. Die Hände waren zwar gefesselt, aber vorn, sie könnte es also selbst gemacht haben, um die Schlinge nicht im Reflex wieder zu lockern. Die Füße sind nicht gefesselt, denkbar also, dass sie auf den Stuhl stieg und ihn selber weggetreten hat.«

»Sie? Ist das ganz sicher?«

Broderick zuckte die Achseln. »Na ja, wir wissen, dass eine Frau vermisst wurde. Ohne Laboruntersuchung lässt sich aus den Knochen nicht viel herauslesen, aber immer noch besser sie als es ...« Er hatte das Heidekrautsträußchen vom Kampfanzug genommen und drehte das in Silberfolie gewickelte Gesteck in der Hand, dann legte er es vorsichtig auf der Karte ab.

»Wegen des Anrufs«, erinnerte Dryden.

»Aber sicher«, erwiderte Broderick, wandte sich ab und aktivierte sein Handy.

Dryden legte die Karte, die Broderick ihm gegeben hatte, auf den Tresen. Als der Major zu ihm zurückkam, tippte er mit dem Finger auf die Nebengebäude am New Ferry Inn.

»Da ist kein Keller eingezeichnet«, stellte er fest.

Gewissenhaft betrachtete Broderick die Karte. »Das kann nicht sein – wir haben viel Zeit und Mühe auf dieses Ding verwendet. Es basiert auf einer Serie von Vermessungen, die in den ersten drei Monaten nach der Räumung durchgeführt wurden – und auf Erhebungsbögen, die die Dorfbewohner auszufüllen hatten.«

»Das ist aber doch irgendwie seltsam«, fand Dryden. »Nicht nur, dass man den Keller auf den Erhebungsbögen verschwiegen hat, auch der Ingenieurstrupp hat ihn bei der Landvermessung nach der Evakuierung übersehen. Andererseits ist der Keller unter dem Pub aber eindeutig verzeichnet«, stellte er fest und stampfte auf die Fußbodendielen.

Drydens Blick wanderte zur Legende der Karte, die den Urhebervermerk Col. Flanders May trug.

»Wer ist Flanders May?«, erkundigte er sich.

»Befehlshaber Geodäsie und Kartographie. Deshalb ist es ja auch ein echtes Kunstwerk geworden. Perfektionist – aber selbst so einem unterläuft hin und wieder mal ein Fehler.«

Nun hörte man das Schropp-schropp des sich nähernden Hubschraubers, und sie gingen hinaus.

Dryden hob den Blick in den fallenden Regen und sah den schwarzen Bauch des Hubschraubers, der sich aus dem grauen Wolkensockel löste.

»Diese Erhebungsbögen – sind die noch bei den Akten?«, fragte Dryden.

Aber Broderick deutete im Heulen der Rotoren nur auf seine Ohren.

Kapitel 5

»Hier ist BBC Radio Cambridgeshire mit den Achtzehn-Uhr-Nachrichten. Sprecher im Studio ist Mark Edwards.«

Dryden beugte sich vor und drehte den Lautstärkeregler des Radios im Capri hoch; wieder einmal beherrschte die steigende Zahl der Toten im Irak die Schlagzeilen. Humph klappte das Handschuhfach auf und kramte aus dem Sortiment, das er auf seinen Touren zum Flughafen Stansted regelmäßig auffüllte, zwei Minifläschchen Bell’s Whisky hervor.

Im absoluten Einklang knackten sie die Schraubverschlüsse. Das Taxi stand neben der Schranke an der Einfahrt zum Übungsplatz, der hinter dem Kondenswasserfilm auf den Fensterscheiben nur noch als morastgrünes Geschmiere wahrzunehmen war. Regen prasselte auf das Taxidach.

Neben ihnen parkte, mit voll ausgefahrener Teleskopantenne, der Übertragungswagen der BBC. Dryden kippte den Whisky hinunter, schüttelte sich und stieß die Beifahrertür auf, dass der Rost in den Angeln jaulte. Noch bevor er die Tür des Ü-Wagens ganz erreicht hatte, stand sie schon offen und er nahm, indem er die einsneunzig Körpergröße patent wie einen Klappstuhl zusammenfaltete, dort Platz. Der Radioreporter saugte das letzte bisschen Leben aus einem Zigarettenstummel und drückte ihn eilends in einem überquellenden Aschenbecher aus.

»Und nun schalten wir live zum Truppenübungsplatz Whittlesea Mere, südlich von Peterborough, wo Jason Diprose mit einer sensationellen Neuigkeit aufwarten kann ...«

»So ist es, Mark ...«

Bei der Aussicht auf das Live-Interview krampften Drydens Eingeweide sich zusammen. Er versuchte sich im Rückspiegel Selbstvertrauen zuzulächeln, doch die grünen und mittlerweile argwöhnischen Augen verrieten die Furcht vor dem öffentlichen Auftritt.

Diprose aber war in voller Fahrt. »... Ich stehe jetzt direkt am Tor zum Übungsplatz. Uns liegen erste Berichte vor, wonach eine Armeepatrouille während einer Routineübung einen grausigen Fund im Dorf Jude’s Ferry machte – die Hörer werden sich erinnern, dass das Dorf vor annähernd zwanzig Jahren durch die Armee geräumt wurde, um Raum für Manöver zu schaffen. Bei mir ist Philip Dryden, der Chefreporter des Crow, der die in Ely stationierte Einheit der Territorialarmee heute Morgen begleitete. Auf was sind Sie gestoßen, Philip?«

Durch die Scheibe sah Dryden Humph, der den Kopf in den Nacken gelegt hatte und kurz vor dem Eintritt in die Tiefschlafphase stand.

»Es war höchst dramatisch, Jason. Wir fanden eine Leiche, das heißt, eigentlich nur ein Gerippe, das in einem Keller beim Dorfpub aufgehängt war, dem New Ferry Inn. Wir können davon ausgehen, dass sie schon viele Jahre dort hing – möglicherweise seit der Räumung im Jahr 1990. Die Hände waren gefesselt – allerdings vor dem Bauch. Es war ein trauriger Anblick, und der erste Gedanke ist natürlich Selbstmord, aber zu diesem Zeitpunkt lässt sich ein Verbrechen nicht ausschließen.«

»Gibt es schon Vermutungen darüber, wer das Opfer ist?«