Die Schattenkrähe der Rocky Mountains - Natascha Birovljev - E-Book

Die Schattenkrähe der Rocky Mountains E-Book

Natascha Birovljev

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Beschreibung

Chuck und Lyla verbindet die Liebe zur kanadischen Wildnis. Doch während die Berge Lyla Kraft geben, für den Lebensraum der Wildpferde zu kämpfen, kehrt Chuck als verbitterter Mann ins Heimatdorf zurück. Er will die geerbte Pelzjägerroute verkaufen und wieder fortgehen. Dann taucht eine rätselhafte Fremde im Dorf auf, die Chucks Herz in Aufruhr versetzt und Lylas Pläne unterstützt. Anders als Lylas Partner, dessen Eifersucht die Beziehung vergiftet. Die Ereignisse überschlagen sich, als Chuck hinter das Geheimnis der Fremden kommt und Lyla plötzlich in den Bergen verschwindet. Hat der Indianer Lonefeather Jones etwas damit zu tun oder ist eine neue Magie im Spiel?

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Veröffentlichungsjahr: 2019

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Februar

März

April

Mai

Juni

Juli

August

September

Oktober

November

Danksagung

Über das Buch:

Chuck und Lyla verbindet die Liebe zur kanadischen Wildnis. Doch während die Berge Lyla Kraft geben, für den Lebensraum der Wildpferde zu kämpfen, kehrt Chuck als verbitterter Mann ins Heimatdorf zurück. Er will die geerbte Pelzjägerroute verkaufen und wieder fortgehen. Dann taucht eine rätselhafte Fremde im Dorf auf, die Chucks Herz in Aufruhr versetzt und Lylas Pläne unterstützt. Anders als Lylas Partner, dessen Eifersucht die Beziehung vergiftet.

Die Ereignisse überschlagen sich, als Chuck hinter das Geheimnis der Fremden kommt und Lyla plötzlich in den Bergen verschwindet. Hat der Indianer Lonefeather Jones etwas damit zu tun oder ist eine neue Magie im Spiel?

Bibliographische Informationen der Deutschen ­Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2021 Natascha Birovljev, ­Caroline, Alberta, Kanada · www.natascha-birovljev.com

Herstellung und Druck: BoD – Books on Demand, Norderstedt

ISBN 978-3-96966-545-9

Tolino-ISBN: 978-3-73947-347-5

3. Auflage (Version 1.0)

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com

Lektorat: Dr. Hanne Landbeck, www.schreibwerk-berlin.com

Korrektorat: Ursula Hahnenberg · www.buechermacherei.de

Layout und Satz: Gabi Schmid · www.buechermacherei.de

Bilder: #117948191 | AdobeStock und Motive von shutterstock.com

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte liegen bei der Autorin. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Die Indianerin setzte sich an das knisternde Lagerfeuer. Freunde und Familie scharten sich um sie, flüsterten und lachten. Ihr schwarzes, langes Haar war mit aschgrauen Strähnen durchsetzt, die ihr junges Gesicht umrahmten.

Sie ließ ihren Blick über die Menschen gleiten, lange her war das letzte Wiedersehen. Doch sie hatte die Zeit in der Einsamkeit gebraucht, um sich ihren Aufgaben zu widmen, auch wenn es bedeutete, auf vieles zu verzichten. Die Flammen des Lagerfeuers flackerten in den sternenklaren Nachthimmel und es wurde Zeit für eine Geschichte.

Die Indianerin räusperte sich und die Menschen wurden still. „Heute erzähle ich euch aus einer Zeit, in der die Erde jung war“, begann sie, ihre Stimme war kaum mehr als ein Krächzen. Doch je länger sie sprach, umso weicher wurde der Klang ihrer Worte, und das Gesagte schwebte wie eine magische Formel zwischen den Zuhörern:

„Es war bitterkalt und schneite ohne Unterlass. Eis lag über allen Seen. Die Tiere hatten niemals zuvor Schnee gesehen und die ersten Tage war es eine aufregende Neuigkeit, ein herrlicher, weißer Spielplatz. Aber die Temperaturen sanken weiter und sie begannen sich zu sorgen. Die kleinen Tiere wurden in Schneewehen begraben und die größeren unter ihnen konnten in dem tiefen Schnee kaum laufen. Bald würde alles zu Grunde gehen, wenn nicht schnell etwas dagegen getan wurde.

„Wir müssen einen Botschafter zu Kiljamuh Ka’mong senden, dem Erschaffer, der gestaltet, indem er sich die Zukunft vorstellt“, sagte die weise Eule. „Dieser soll den Erschaffer bitten, sich die Welt wieder warm vorzustellen, so dass der Schneegeist uns in Frieden lässt.“

Den Tieren gefiel dieser Plan. Sie versuchten zu entscheiden, wen sie zum Erschaffer senden sollten. Die Eule sah im Tageslicht nicht gut, deshalb konnte sie nicht gehen. Kojote ließ sich leicht ablenken und spielte Streiche, ihm durfte man nicht trauen. Schildkröte war vernünftig und zuverlässig, aber sie kroch zu langsam. Schließlich blieb Regenbogenkrähe, der schönste der Vögel mit in allen Farben des Regenbogens schimmernden Federn und mit einer zauberhaften Singstimme. Sie wurde auserwählt, zu Kijiamuh Ka’mong zu fliegen.

Es war eine anstrengende Reise, drei Tage hoch, hoch hinauf in den Himmel, vorbei an den Bäumen und durch die Wolken, über die Sonne, den Mond und sogar höher als die Sterne. Wind beschwerte die Reise und Krähe hatte keinen Ort, um sich auszuruhen, aber sie flog mutig immer weiter, bis sie den Himmel erreichte.

Als Regenbogenkrähe am heiligen Ort ankam, rief sie nach dem Erschaffer. Doch sie bekam keine Antwort. Er war zu beschäftigt mit dem Erdenken der Zukunft, dass er nicht mal den schönsten aller Vögel bemerkte. Also begann Regenbogenkrähe zu singen.

Der Erschaffer wurde aus seinen Gedanken gerissen von diesem lieblichen Lied und kam hervor, um zu sehen, wer dort sang. Er begrüßte Regenbogenkrähe und fragte gütig, welches Geschenk er ihr für das Lied geben könnte.

Regenbogenkrähe bat den Erschaffer, den Schnee wegzudenken, sodass die Tiere der Erde nicht mehr unter ihm begraben und erfrieren würden. Aber der Erschaffer erklärte ihr, dass Schnee und Frost eigene Geister hätten und diese nicht zerstört werden könnten.

„Aber was sollen wir tun?“, fragte die Regenbogenkrähe. „Wir werden alle erfrieren oder vom Schnee erstickt.“

„Ihr werdet nicht den Kältetod erleiden“, beruhigte sie der Erschaffer. „Denn ich werde Feuer denken, etwas, dass alle Kreaturen während der kalten Zeiten warmhalten wird.“

Der Erschaffer steckte einen Stock in die heiße Sonne. Das Ende entflammte und die hell leuchtende Flamme gab Wärme ab.

„Das ist Feuer“, sagte er zur Krähe und gab ihr das kühle Ende des Stocks. „Du musst schnell zur Erde zurückfliegen, bevor das Holz völlig verbrennt.“

Regenbogenkrähe nickte und dankte dem Erschaffer. Dann flog sie los, so schnell sie konnte. Es war eine dreitägige Reise in den Himmel gewesen und sie war besorgt, dass das Feuer ausgehen würde, bevor sie die Erde erreichte. Der Stock war groß und schwer, aber das Feuer hielt Regenbogenkrähe warm und sie flog hinab vom Himmel durch die Sterne. Dann wurden die Flammen heißer, als sie sich Krähes Flügeln näherte. Als sie an der Sonne vorbeiflog, fingen ihre Schwanzfedern Feuer und das schimmernde Gefieder wurde schwarz. Als sie zum Mond gelangte und an ihm vorbeiflog, wurde ihr ganzer Körper schwarz von der Asche des heißen Feuers. Als sie durch die Wolken flog, gelangte der Rauch in ihre Kehle und erstickte ihre wunderschöne Singstimme.

Als Regenbogenkrähe zwischen den halb erfrorenen Tieren der Erde landete, war sie so schwarz wie Teer und ihre ehemals helle Singstimme konnte nur noch krächzen. Sie brachte das Feuer zu den Tieren und sie schmolzen den Schnee, wärmten sich und retteten die Kleinsten unter ihnen aus den Schneewehen, in denen sie vergraben lagen.

Es war an der Zeit, sich wieder zu erfreuen und zu feiern, da Tindeh Feuer zur Erde gekommen war. Aber Regenbogenkrähe saß abseits, bekümmert über ihre hässlichen Federn und die kratzende Stimme. Dann fühlte sie einen Windhauch auf ihrem Gesicht. Sie schaute auf und sah, wie der Erschaffer auf sie zukam.

„Sei nicht traurig, Regenbogenkrähe“, sagte er, „alle Tiere werden dich für dein Opfer, das du für sie gebracht hast, ehren. Und wenn die Menschen kommen, werden sie dich nicht jagen, da ich dafür gesorgt habe, dass dein Fleisch nach Rauch schmeckt, sodass Menschen es nicht essen wollen. Deine raue Stimme wird verhindern, dass sie dich in einen Käfig stecken, damit du für sie singst.“

Dann zeigte der Erschaffer auf die schwarzen Federn von Regenbogenkrähe. Vor ihren Augen fing das Gefieder an zu schimmern und in allen Schattierungen des Regenbogens zu leuchten. „Dies wird jeden, der dich sieht, daran erinnern, was du für die Erde getan hast‘, sagte er, und ihnen vor Augen führen, welches Opfer du gebracht hast, um sie alle zu retten.“

Und so soll es für immer sein.

(Eine Legende des Lenni Lenape-Volkes)

„Dad ist tot“, murmelte Chuck. „So eine Scheiße!“

Seine Finger krampften sich um das Lenkrad, dann zwang er sich, wieder locker zu lassen. Die Beerdigung war vier Monate her. Doch ihn hatte die Nachricht erst vor einer Woche erreicht, als er Anfang Februar von seinem Job in einem Jagdcamp in der Yukon-Wildnis in die nächstgelegene Stadt zurückgekehrt war und wieder Handyempfang hatte. Die Nachricht kam per SMS, die bereits vor Monaten an ihn gesendet worden war. Es hatte einige Tage gedauert, bis er seinen Lohn erhalten hatte, was die Abreise zusätzlich verzögerte.

Nun waren er und sein alter Ford Pick-up, genannt Maggie, auf der Heimreise in das Dorf Spruce View. Maggie röchelte und aus dem Anhänger hinter sich hörte er ein metallisches Klopfen. Das war Goat, seine Maultierstute, die von der langen Fahrt die Nase voll hatte und mit einem Hinterbein an die Hängerwand schlug. Er konnte es ihr nicht verdenken, immerhin waren sie seit zehn Stunden unterwegs vom Yukon nach Alberta. Jetzt war es früher Nachmittag und ihm tat vom vielen Sitzen der Hintern weh. Die Augen brannten vom Starren auf den endlosen Asphalt und sein Gemüt war so grau wie die Straße.

Er trank einen Schluck Pepsi aus der Dose und zog ein Stück Trockenfleisch aus der Tüte, die neben ihm auf dem Beifahrersitz lag. Kauend überlegte er, wie es nach seinem hoffentlich kurzen Aufenthalt in Spruce View weitergehen sollte. Doch er wusste es nicht.

Rechts von ihm kam der Beaver Lake in Sicht. Auf den kahlen Ästen einer mächtigen Birke saßen zwei Krähen, die sich als schwarze Silhouetten vor dem grauweißen Februarhimmel abhoben. Plötzlich knatterte der Motor seines Trucks, knallte einmal und gab dann keinen Ton mehr von sich. Stillstand.

„Verdammt, Maggie, wir sind doch fast da!“ Er versuchte, den Motor wieder zu starten, doch der Pick-up gab keinen Mucks von sich. Chuck stieg aus und hob die Motorhaube an, während Goat nun lauter gegen die Anhängertür trat.

„Hey, schlag mir nicht den Anhänger kaputt“, rief Chuck und ging nach hinten. Er öffnete den rostigen Haken und ließ die Ladeklappe herunter. „Willst du dir ein bisschen die Beine vertreten?“

Goat, die nicht angebunden war, stakste steifbeinig die Rampe hinunter, warf ihm einen missbilligenden Blick zu und lief zum Straßenrand, um nach Gras unter der Schneedecke zu suchen. Chuck wusste, dass sie nicht weit laufen würde, und öffnete die Motorhaube. Er kontrollierte die Anschlüsse, konnte aber nicht erkennen, wo das Problem lag.

Es half nichts, er würde nicht ohne Hilfe hier wegkommen. Er zog sein Handy aus der Jackentasche. Doch bevor er sich entschieden hatte, wen er anrufen konnte, sah er, wie sich ein rotes Fahrzeug näherte. Er erkannte die beiden Insassen, zögerte kurz, hob aber dann doch seine Hand zum Gruß.

Der Fahrer parkte vor Maggie und stieg aus. Eine junge Frau kam um den roten Truck herumgelaufen. Ihre schwarzbraunen Haare reichten ihr bis zu den Hüften und ein breites Grinsen brachte ihre dunkelbraunen Augen zum Leuchten. Sie fiel ihm um den Hals.

„Endlich bist du wieder hier!“ Sie drückte ihn und lief dann zu Goat.

Chuck schmunzelte, als Lyla sein Maultier mit der gleichen Herzlichkeit begrüßte wie ihn selbst.

„Wir können den Anhänger an meinen Pick-up kuppeln und du gibst Denis Bescheid, damit er deinen in die Werkstatt bringt“, bot Nick an.

„In Ordnung“, erwiderte Chuck und musterte Nick einen Moment. Die strohblonden Haare waren bis auf ein paar Strähnen unter dem beigen Cowboyhut verborgen. Mit dem markanten Gesicht, auf dem sich ein Dreitagebart abzeichnete, würde er ohne Weiteres die Hauptrolle in einem Westernfilm bekommen, dachte Chuck und zwirbelte mit zwei Fingern an seinem zotteligen Schnurrbart.

„Goat kann ja wieder auf die Willow Ranch“, rief Lyla. „Sie hat noch einige Freunde dort.“

Er zog eine Grimasse. Goat war wohl die Einzige, die auf der Ranch an Freundschaften anknüpfen konnte. „Danke, aber wir kommen bei Eric Laforge unter. Wäre nett, wenn ihr uns bis dorthin mitnehmen könntet.“

Nick murmelte etwas und machte sich daran, den Anhänger vom Truck zu trennen. Chuck ging ihm zur Hand.

„Tut mir leid mit deinem Dad. Er war ein klasse Mann und Lehrmeister für mich“, sagte Nick, schaute ihn dabei aber nicht an.

„Danke“, erwiderte Chuck mit zusammengepressten Lippen. Er beobachtete Nick, der mit geübten Handgriffen den Anhänger löste. Er kannte ihn, seit dieser vor neun Jahren begonnen hatte, auf der Willow Ranch zu arbeiten. Der Ranchbesitzer, Darcy Meyers, hatte den damals Sechzehnjährigen bei sich aufgenommen und Nick war an seinen Aufgaben als Ranchhelfer gewachsen. Nach Darcys Tod vor drei Jahren wurde Nick zum Mitinhaber der Willow Ranch und leitete die Geschäfte zusammen mit Darcys Sohn Lee.

Nick richtete sich auf. Dass ihre Begrüßung so sachlich ablief, hatte mit Chucks Verschwinden vor gut einem Jahr zu tun. Ohne Begründung und Abschied war Chuck abgehauen, aber er hatte nicht das Gefühl, jemandem eine Erklärung schuldig zu sein. Schon gar nicht seinem einst besten Kumpel Lee, dachte er, denn der sollte verdammt nochmal wissen, was Chuck zum Verlassen seiner Heimat getrieben hatte.

„Wirst du jetzt in der Gegend bleiben?“, fragte Nick und riss ihn aus seinen Gedanken.

„Nein, ich habe hier nur was zu erledigen. Danach verschwinde ich wieder.“

Nick zuckte mit den Schultern und die Männer stemmten sich gegen den Pferdeanhänger, um ihn von Maggie wegzuschieben. Dann setzte Nick seinen Truck zurück und wenig später war Chucks rostiger Anhänger daran angekoppelt.

„Goat kann einsteigen“, rief Nick und Lyla kam mit dem Maultier heran.

„Leg den Führstrick über ihren Hals“, sagte Chuck. „Sie läuft allein rein.“

„Braves Mädchen.“ Lyla strich Goat über die Kruppe, als diese treuherzig über die Rampe einstieg. „Lee hat immer davon geschwärmt, wie toll sie ausgebildet ist.“

Chuck zuckte bei der Erwähnung Lees ungewollt zusammen. „So, hat er das?“

Er schloss die Klappe des Anhängers, holte seinen Seesack aus Maggie und warf ihn hinten in Nicks Pick-up. Die drei stiegen ein und Nick fuhr los. Chuck schaute aus dem Fenster auf die schneebedeckten Felder und sah, dass im Geäst der Birke nun eine ganze Schar Krähen saßen. Sie wirkten wie ein schwarzes Blätterdach. Er überlegte, ob er die Vögel als gutes oder schlechtes Omen verstehen sollte, vertrieb diese Spekulationen aber wieder. Jetzt hatte er wahrlich andere Probleme, zum Beispiel, wie viel die Reparatur seines Trucks kosten würde. Und was, wenn Maggie gar nicht mehr flott zu bekommen war? Er holte sein Handy hervor und wählte die Nummer von Denis’ Werkstatt. Der versprach, Maggie innerhalb einer Stunde abzuschleppen. Chuck steckte sein Handy weg und Lyla drehte sich vom Vordersitz zu ihm um.

„Was machst du denn, bis Maggie wieder fahrtüchtig ist?“

„Mir wird schon was einfallen.“

„Auf der Willow Ranch steht noch das Auto von deinem Vater“, bemerkte sie. „Lee hat sicher nichts dagegen, wenn du es borgst. Wir …“

„Der alte Cadillac gehört ja wohl mir und nicht deinem Bruder“, unterbrach Chuck sie barsch. „Oder hat mein Vater Lee die Karre vermacht?“

„Tut mir leid, so war das nicht gemeint.“

Ihr verletzter Gesichtsausdruck machte ihm ein schlechtes Gewissen. „Schon gut. Ich bin einfach mies drauf.“

Nick legte eine Hand auf Lylas Oberschenkel. Sie lächelte ihn an und in ihrem Gesicht sah Chuck, dass sie immer noch Hals über Kopf in den Cowboy verliebt war. Schön für die beiden, dachte Chuck flüchtig.

„Wo warst du eigentlich das letzte Jahr über?“, fragte Nick.

„Im Yukon. Habe für ein Jagdunternehmen in deren abgelegenstem Camp gearbeitet. Das konnte man nur mit dem Flugzeug erreichen.“

Lyla wandte sich zu ihm um. „Ach, deshalb siehst du ein wenig … naja … verlottert aus.“

Chuck schaute auf seine fleckige Jeans und die an den Ärmeln ausgefranste Jacke und wusste, dass der Kragen seines Hemdes speckig war. Kann eben nicht jeder auf einer Ranch einen gemütlichen Alltag haben, dachte er und zuckte mit den Schultern.

Nach einer Viertelstunde erreichten sie Eric Laforges Haus, das mit seinen kahlen Wänden aus Sperrholz und den kleinen Fenstern wie eine Bretterbude aussah. Eric war einer der besten Freunde von Chucks Vater John gewesen, und Chuck kannte den Pelzjäger seit mehr als zwanzig Jahren.

„Scheint niemand da zu sein“, bemerkte Lyla.

„Eric kommt erst morgen von seiner Trapline zurück“, sagte Chuck. „Er weiß Bescheid, dass ich hier bin.“

Nick parkte vor dem halb eingefallenen Zaun neben dem Haus. Chuck stieg aus, lud Goat aus dem Anhänger und brachte sie auf die kleine Weide. Das Maultier beäugte ihr Quartier skeptisch.

„Sorry, meine Schöne. Das Ritz können wir uns nicht leisten“, sagte Chuck und nahm das Halfter ab.

Goat schüttelte ihren muskulösen Hals und suchte den Boden nach etwas Fressbarem ab.

„Vielen Dank für eure Hilfe.“

„Jaja, schon gut“, winkte Nick ab. „Wir müssen los. Lyla, kommst du?“

Lyla, die sich von Goat verabschiedete, kam mit schnellen Schritten zum Pick-up. „Bin schon hier. Tschüss, Chuck. Hoffe, wir sehen uns bald wieder.“

Chuck hatte sich den Seesack über die Schulter geworfen und tippte sich an die Krempe seines Cowboyhutes. Dann ging er zum Haus über die drei Treppenstufen und die etwas schiefe Veranda. Die Tür war nicht abgeschlossen. Chuck hatte Eric nur wenige Male besucht. Das selbst zusammengezimmerte Haus war immer noch in dem gleichen, unfertigen Zustand. Von außen ähnelte es mehr einem Bretterhäuschen, aber der Wohnraum mit der Küchenzeile, dem Esstisch und der durchgesessenen Ledercouch war gemütlich.

Chuck warf den Seesack in das kleine Gästezimmer. Überrascht sah er, dass die Pritsche einem bequemen Bett Platz gemacht hatte, das frisch bezogen war. Diese Geste rührte an etwas in Chuck, das ihm nicht geheuer war. Er wollte sich nicht willkommen fühlen, schließlich war er nur auf der Durchreise. In der Küche schaltete er die Kaffeemaschine an und nahm sich eine Tasse aus dem Abtropfgestell.

„Die paar Tage hier wirst du schon aushalten“, murmelte er und strich sich müde über das Gesicht. Er beschloss, eine Dusche dem Kaffee vorzuziehen, und ging in das kleine Badezimmer. Das heiße Wasser tat den von der langen Fahrt verspannten Muskeln gut und er begann, sich mit einem Stück Seife einzuschäumen. Plötzlich wurde das Wasser, das an seinem Körper hinablief, rot wie Blut.

Chuck blinzelte ein paar Mal und die Halluzination verschwand. Was blieb, waren die Erinnerungen an die unzähligen Momente, in denen er in dem Jagdcamp, meist mit kaltem Wasser, das Blut der getöteten Tiere von seinen Händen, Armen und oft auch aus seinem Gesicht wusch. Zu diesem Zeitpunkt hatten es sich die Möchtegern-Jäger, die für die Trophäenjagd tausende von Dollar gezahlt hatten, längst am Feuer mit einem Whisky in der Hand bequem gemacht und gratulierten sich gegenseitig zu ihrem Jagderfolg. Für Chuck, der sich nach dem tödlichen Schuss darum kümmern musste, den Tierkadaver zu verwerten, und das Geweih fachgerecht abzutrennen, waren es die einsamsten, grausamsten Stunden. Ihm wurde die Sinnlosigkeit dieser Art Jagd bewusst und er begann, den Job zu hassen und irgendwann auch sich selbst. Er griff nach der Bürste, die bei Eric in der Dusche hing, und schrubbte sich so lange, bis seine Haut schmerzte und die düsteren Erinnerungen zumindest für den Augenblick vertrieben waren.

„Ich trage die Einkäufe rein“, sagte Lyla zu Nick und stieg aus Nicks Pick-up.

„In Ordnung. Ich hol schnell die kaputten Trensen aus der Sattelkammer und komme gleich nach,“ rief Nick, schon auf dem Weg zu den Stallungen.

Lyla nahm die Tüten und lief den verschneiten Weg entlang zum Wohntrailer, der etwas entfernt vom Haupthaus der Willow Ranch stand. Es war ein längliches, aber recht schmales Haus mit fahrbarem Unterbau. Diesen hatte Nick mit Spanplatten verkleidet, um den Eindruck eines festen Hauses zu vermitteln. Auf Lyla wirkte diese halbmobile Behausung aus dünnem Blech und Holz alles andere als behaglich. Vier Stufen führten auf eine kleine Veranda, deren Geländer einen Anstrich brauchte. Das Vordach war an einer Stelle nicht dicht und Moos wuchs aus einer Ecke.

Sie drehte den Knauf und drückte die klemmende Haustür mit der Schulter auf. Im Vorraum streifte sie die Winterboots ab und ging in Strümpfen die paar Schritte in die Küche. Sie stellte die Einkaufstüten ab und zog ihre Jacke aus. Die wenigen Lebensmittel, die sie gekauft hatte, waren schnell eingeräumt. Da sie meist mit den anderen im Haupthaus aßen, nutzten sie die Küchenzeile kaum, doch Lyla liebte es, wenn sie und Nick sich die Zeit nahmen, um zusammen zu kochen und die Zweisamkeit zu genießen. Neben der Arbeit auf der Ranch und ihrem Einsatz für den Schutz der Wildpferde und ihres Lebensraums blieb dafür nur wenig Zeit. Am Anfang hatte sie einfach auf der Willow Ranch mitgeholfen, aber ihr Bruder Lee hatte ihr nach einiger Zeit einen Arbeitsvertrag angeboten.

„Das macht es für die Buchhaltung der Ranch einfacher“, hatte Lee erklärt. „Du bist für die Stuten und die Fohlen zuständig, bekommst einen festen Lohn und kannst deine Arbeitszeiten selbst einteilen. Wenn die Abfohlzeit kommt, erwarte ich, dass du rund um die Uhr ein Auge auf die Stuten hast.“

Lyla hatte zugestimmt, obwohl es ihr zunächst ein wenig merkwürdig vorkam, für ihren Bruder zu arbeiten. Aber sie musste zugeben, dass der Vertrag die Wichtigkeit ihrer Tätigkeiten auf der Ranch bestätigte. Nick und Lee kümmerten sich um das Ausbilden der jungen Pferde und ihren Verkauf.

Vor ein paar Monaten hatten die beiden sich entschlossen, ihre sechs Deckhengste auf der benachbarten Tanner Ranch unterzubringen. Rob Tanner besaß neben einer großen Rinderherde nur Wallache und keine Stuten, was den Umgang mit den Hengsten einfacher machte. Der Pensionspreis war erschwinglich und Rob kümmerte sich fachmännisch um die Pferde. Neben der Arbeit mit den Tieren teilten sich Lee und Nick die Buchhaltung und oft arbeiteten die zwei bis spät in die Nacht.

Manchmal vermisste Lyla die Innigkeit und ständige Nähe zu Nick, die sie während ihrer gemeinsamen Zeit, kurz nach dem Tod ihres Stiefvaters Darcy, erlebt hatte. Chuck hatte damals angeboten, Lee auf der Willow Ranch zu helfen, um Nick zu ermöglichen, mit Lyla ein paar Monate wegzugehen. Es war Ende November gewesen und Nick schlug vor, zunächst zwei Wochen in einer Hütte in den Bergen zu verbringen. „Ich möchte einfach unsere Zweisamkeit ein wenig genießen.“

„Aber den Rest des Winters verbringen wir dann im indianischen Sunchild Reservat der Cree-First Nations“, sagte Lyla und Nick hatte zugestimmt. In den zwei Wochen in dem abgeschiedenen Ferienhaus, das Nick für sie gemietet hatte, erfuhr Lyla, was es bedeutete, einem Mann wirklich zu vertrauen. Sie erzählten sich ihre Wünsche und Träume, liefen Schneeschuh und schmiedeten Zukunftspläne. Zu ihrer Überraschung gestand Nick ihr, dass er noch nie eine längere Beziehung mit einer Frau eingegangen war. Seine Arbeit auf der Ranch hatte immer Vorrang.

„Aber mit dir …“, sagte er eines Abends, „mit dir will ich, dass es nie aufhört. Ich sehe eine Zukunft für uns beide.“

Lyla fühlte sich von Anfang an geborgen bei Nick, dem nichts wichtiger zu sein schien, als sicherzustellen, dass sie glücklich und in seiner Nähe war. Nach den zwei Wochen fuhren sie in das indianische Sunchild Reservat und blieben dort, bis Nick im April vorschlug, Lyla die Provinz Alberta auf einem Roadtrip zu zeigen und dann mit den Pferden den Sommer über in den Bergen zu reiten. Verpflichtungen und Versprechen, die sie einhalten mussten, hatten sie am Ende dieses wunderbaren Jahres zurück auf die Willow Ranch gebracht. Kurz nach ihrer Rückkehr war es zum Zerwürfnis zwischen Chuck und Lee gekommen und Chuck hatte seine Sachen gepackt und war verschwunden. Das war ein Jahr her und nun war er zurück, aber Chuck wirkte auf Lyla wie ein anderer Mensch. Er schien sein Lachen, seine Ausgelassenheit im Norden verloren zu haben. Oder war das bereits beim Streit mit Lee geschehen? In diesem Moment stürmte ihr Labrador durch die Hundeklappe ins Haus und begrüßte sie.

„Na, Mr. Mud, wo hast du denn Nick gelassen?“

Die Tür wurde aufgestoßen und Nick kam herein. „Das Weichei hat kalte Pfoten bekommen und wollte nicht auf mich warten. Aber da es draußen minus siebzehn Grad hat, verzeih ich ihm die Meuterei.“

Lyla lachte und strich dem Labrador über den Kopf. Nick hängte seinen Cowboyhut an einen Haken. In der Hand hielt er zwei Trensen.

„Ich muss sie reparieren“, sagte er und ging zu der kleinen Arbeitsecke, die er sich im Wohnbereich eingerichtet hatte. Im Sommer befand sich seine Lederwerkstatt in der Sattelkammer, aber dort war es im Winter zu kalt. Wegen der beengten Wohnverhältnisse versuchte er, nicht zu viele Projekte ins Haus zu bringen, doch während der letzten Wochen hatte sich einiges angesammelt.

Lyla füllte Hundefutter in Muds Napf, trat dann zu Nick und drückte ihm einen Kuss auf den Nacken. „Hast du dir Gedanken über meine Idee gemacht?“

„Ähm, ja, schon, aber das ist nicht so einfach, wie du dir das vorstellst. Lass mir ein wenig Zeit, okay?“

„Ich weiß, dass es keine leichte Entscheidung ist“, erwiderte sie und schluckte ihre Enttäuschung über sein erneutes Ausweichen wieder einmal hinunter.

„Ich geh zum Ranchhaus und schau nach, ob Jeanne in der Küche Hilfe braucht.“

„Alles klar. Wenn du Lee siehst, sag ihm, dass ich mich nach dem Abendessen um den Hufabszess bei dem neuen Wallach kümmere.“

Lyla überquerte den Hof. Nicks Wohntrailer, in den sie nach ihrem gemeinsamen Trip eingezogen war, lag schräg hinter dem Haupthaus, nahe den Stallungen. Dazwischen befanden sich der Holzschuppen mit dem Pferdefutter und die Sattelkammer. Der Schnee knirschte unter ihren Boots und der kalte Wind brannte auf den Wangen. Sie eilte die Stufen der Veranda hoch. In der Diele wehte ihr der Geruch von frischgebackenen Brötchen entgegen. Sie streifte Boots und Jacke ab und fand Jeanne in der geräumigen Küche.

„Hi, Jeanne. Riecht das lecker hier, ich bin am Verhungern.“

Die zierliche Frau lachte und wischte sich eine graue Haarsträhne aus dem Gesicht, die aber sofort wieder in ihre Stirn rutschte. Lyla grinste und war erfüllt mit Liebe für ihre Tante, die sie nach ihrer Rückkehr nach Kanada sofort auf der Willow Ranch willkommen geheißen hatte. Jeanne war die Schwester von Darcy, also war Lyla nicht mit ihr verwandt. Aber für Lyla spielte das keine Rolle und auch für Jeanne machte das keinen Unterschied.

Nach dem frühen Tod ihres Mannes war sie zurück auf die Ranch gezogen und seitdem die gute Seele des Betriebs. Das hatte sich auch nach Darcys Tod nicht geändert.

„Wenn du mir hilfst, die Kartoffeln zu schälen, darfst du eines kosten“, bot Jeanne an.

Lyla band sich eine Küchenschürze um, nahm ein warmes Brötchen und verschlang es mit wenigen Bissen. Dann setzte sie sich auf einen Hocker und griff nach dem Kartoffelschäler.

„Hast du mit Nick über deine Idee mit dem Blockhaus gesprochen?“, fragte Jeanne, während sie Karotten klein schnitt.

„Er tut sich schwer, eine Entscheidung zu treffen“, sagte Lyla. „Ich habe mir das Haus vor ein paar Tagen allein angeschaut. Es liegt direkt an der Grenze zum Gebiet der Wildpferde und wäre ein perfekter Sitz für meine Stiftung. Es ist genug Platz für ein Büro und einen kleinen Laden mit Informationen über die Wildpferde und indianischer Kunst“, schwärmte sie. „Die Miete ist auch erschwinglich.“

„Deine Begeisterung ist ansteckend. Ich bin mir sicher, Nick gibt sich einen Ruck und wird liebend gern mit dir in euer neues Heim ziehen.“

Lyla war sich da nicht so sicher, sagte aber nichts von ihren Bedenken. So gerne sie aus dem ungemütlichen Wohntrailer ausgezogen wäre, verstand sie sein Zögern. Ein Umzug würde für Nick bedeuten, jeden Tag eine halbe Stunde zur Arbeit auf die Ranch zu fahren und bei Notfällen nicht sofort zur Stelle zu sein. Als Mitinhaber der Willow Ranch fühlte er sich verpflichtet, immer vor Ort zu sein. Lyla bewunderte sein Verantwortungsbewusstsein und doch wünschte sie sich, er würde dem Umzug zustimmen.

Leise seufzend wechselte sie das Thema. „Chuck ist zurück in der Stadt.“

„Ach, ja? Weiß dein Bruder das schon?“

„Was sollte ich wissen?“, fragte eine Stimme und Lee stand im Türrahmen. „Redet ihr etwa hinter meinem Rücken über mich?“

„Nimm dich mal nicht so wichtig“, erwiderte Lyla. „Nick und ich haben heute früh Chuck getroffen.“

„Plant er hierzubleiben?“, fragte Lee und nahm sich ebenfalls ein Brötchen, was ihm einen strafenden Blick seiner Tante einbrachte.

„Keine Ahnung. Aber er wird bald hier auftauchen, um das Auto seines Vaters zu holen. Sein Truck hat heute den Geist aufgegeben. Das ist doch in Ordnung, oder?“

„Klar, der Cadillac gehörte John und nun Chuck. Kein Problem.“

„Oje, hoffentlich kommt Maggie wieder in Schwung“, warf Jeanne ein und hievte einen Bratentopf aus dem Ofen auf den Herd.

Der Geruch des Rindereintopfs erfüllte die Küche und Lyla lief das Wasser im Mund zusammen.

„Das riecht lecker“, sagte Lee. „Ich will Naira kurz anrufen und mich dann in die Arbeit stürzen, damit ich das Abendessen nachher genießen kann.“

„Ich soll dir von Nick ausrichten, dass er sich später um den Wallach mit dem Abszess kümmert.“

Lee gab ihr ein Daumen hoch und verschwand.

Lyla schaute ihrem Bruder nach, der mit großen Schritten durch die Halle ging und im Büro verschwand. Seit beinahe drei Jahren waren er und die Cree-Indianerin Naira ein Paar und immer noch leuchteten seine Augen auf, wenn er nur ihren Namen erwähnte. Zudem stand Lee die Rolle als Ranchbesitzer ausgezeichnet, fand Lyla und sie konnte ihn sich ohne Cowboyhut und Jeans kaum noch vorstellen. Und doch wusste sie, dass er ruhigere Tage im Ranchalltag nutzte, um mit seiner Kamera loszuziehen und Fotos zu schießen. Dann trug er eine Baseballkappe über den braunen, lockigen Haaren, Trekkinghosen, Wanderschuhe und in seinen Augen funkelte eine andere Art von Leidenschaft. Er war ein begeisterter Fotojournalist gewesen, bevor sie beide nach Kanada zurückgekehrt waren und Lee die Ranch geerbt hatte.

Lee war ihr Halbbruder, aber sie hatte erst vor drei Jahren erfahren, dass sie nicht denselben Vater hatten. Beide waren in Deutschland bei ihrer Mutter aufgewachsen und hierher gekommen, um ihren schwerkranken Vater noch einmal zu sehen, der ein halbes Jahr später gestorben war. Danach hatte sich für Lyla alles verändert und sie wusste nun, dass sie nicht die Tochter von Darcy Meyers, sondern die eines Indianers war. Sie hatte sich entschlossen, in Kanada zu bleiben und ihr indianisches Erbe zu erforschen. An ihrem Verhältnis zu Lee hatte sich nichts geändert und sie liebte ihn wie eh und je. Ihre Gedanken gingen wieder zu Chuck. Der Bruch zwischen ihm und Lee tat ihr leid.

„Ich habe nie verstanden, wieso sich Chuck und Lee nach dieser Geschichte mit dem korrupten Tierarzt nicht wieder versöhnt haben. Chuck hat einen Fehler gemacht, aber zerbricht daran eine Freundschaft?“, fragte sie Jeanne.

Diese zuckte mit den Schultern. „Ich habe das Gefühl, dass da mehr dahinter steckt, als wir wissen. Es kam ja auch zu dem Streit zwischen Chuck und seinem Vater. John hat sich das sehr zu Herzen genommen damals.“ Jeanne seufzte, schien auf einmal versunken in Erinnerungen an Chucks Vater John, der über so viele Jahre hinweg nicht nur ein Angestellter, sondern ein enger Freund der Familie gewesen war.

Schweigend schälte Lyla den Rest der Kartoffeln. „Kann ich dir sonst noch was helfen?“

„Nein, geh zu den Pferden. Den Rest schaffe ich alleine.“

Kaum hatte Lyla das Gatter zum Offenstall geöffnet, erklang freudiges Wiehern. Die acht tragenden Stuten scharten sich um sie, um sich ihre Streicheleinheiten abzuholen. Bei Greta verweilte sie und strich über ihren Bauch. Greta war die Mutter von Shining, das Pferd, welches für sie und ihre indianische Familie als ein Kraft- und Seelentier eine ganz besondere Bedeutung hatte.

Lyla erinnerte sich genau an den Abend vor drei Jahren, an dem sie den jungen Hengst freigelassen hatte, damit er ein Teil der Wildpferde des Tals wurde. Seit die Indianer die Gegend um Spruce View und das Tal des Clearwater Flusses besiedelten, war es Tradition, dass sie eines ihrer besten Pferde als Familienpferd in die Freiheit entließen.

Lyla dachte an ihre indianische Familie, ihren Vater Kangee und seine Schwester Donoma, die beide früh gestorben waren. Es machte Lyla traurig, dass sie ihre indianischen Verwandten nie kennengelernt hatte, und doch wusste sie aus Gesprächen mit dem Schamanen Chinook, dass sie mit Shinings Freilassung auch den Geistern ihrer Verstorbenen Frieden geschenkt hatte.

Asra kam heran, drängte sich neben Greta und riss Lyla aus ihren Gedanken. Auf dem Rücken dieser grauen Stute hatte Lyla die Schönheit der Rocky Mountains kennengelernt und zum ersten Mal die Wildpferde erlebt. Nick hatte ihr erklärt, dass die Herden in zahlreichen Gebieten Albertas seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert lebten. Die Einheimischen, so wusste Lyla, nannten die Pferde Wildies und die Tiere, die heute in den Bergen wanderten, lebten bereits seit vielen Generation in Freiheit. Für Lylas indianisches Volk hatten jedoch die Herden, die im Tal des Clearwater Rivers lebten, eine besondere Bedeutung, da ihre Familienpferde unter ihnen weilten.

Asra versuchte, ihre Nase in Lylas Jacke zu stecken, um sie nach Leckerlis zu durchsuchen. Lyla lachte, ihr Herz war voller Liebe für die Pferde. Ihre innersten Gedanken waren mit den sanften Tieren auf eine Weise, die sie sich selbst nach drei Jahren nicht erklären konnte, eng verbunden. Auch in der Zeit, die sie mit Nick bei den Cree Indianern im Sunchild Reservat verbracht hatte, fand sie keine logische Erklärung für die Art dieser Verflechtung ihres Wesens mit den Pferden und anderen Tieren.

Sie dachte zurück an eines ihrer Gespräche mit Chinook, der nicht nur der Schamane des Reservats, sondern auch Nairas Großvater war. An dem Tag hatte Nick den Indianern bei einigen Reparaturen am Schulgebäude geholfen und Chinook hatte sie auf einen Tee eingeladen.

„Pferde sind deine Seelentiere“, erklärte er. „Und die Schattenpferde, die Beschützer und Begleiter unserer Verstorbenen, verstärken dein Band mit ihnen. Diese Magie lässt sich nicht mit Worten erklären.“

„Nick kennt die Legende der Schattenpferde, aber es bedrückt mich, ihm nicht sagen zu dürfen, dass diese Legende wahr ist und ich diese mystischen Wesen sehen und ihre Magie in mir spüren kann“, sagte Lyla und schenkte ihnen beiden Tee nach.

Chinook wiegte seinen Kopf einige Male hin und her. Dann sah er sie an. „Nick ist ein guter junger Mann und ich spüre die Liebe, die euch verbindet. Als Nicht-Indianer muss die Wahrheit über die Schattenpferde für ihn ein Geheimnis bleiben. Aber wenn eure Verbindung stark genug ist, wird er dich bei deiner Aufgabe unterstützen, ohne dass er alles weiß.“

Lyla hob fragend eine Augenbraue. „Von was für einer Aufgabe sprichst du?“

Ein Lächeln erschien auf dem von Falten durchfurchten Gesicht Chinooks. „Das erfährst du heute Abend, wenn wir gemeinsam den Frühlingsanfang feiern. Es ist der 21. März, die Tagundnachtgleiche.“

Nach einem festlichen Essen versammelte sich die indianische Gemeinschaft um ein großes Lagerfeuer. Sie feierten den Frühlingsbeginn, aber die Temperaturen waren noch winterlich kalt. Decken wurden verteilt und heiße Schokolade. Drei Indianer hatten ihre Trommeln dabei und schlugen einen langsamen Rhythmus. Nick saß neben Lyla und lehnte sich näher zu ihr. „Ist ja schon verdammt kalt für eine Party draußen. Hätten wir uns nicht auch im Gemeinschaftssaal zusammenfinden können?“

„Wir feiern das Aufwachen der Mutter Erde“, erklärte Lyla. „Das kann nur unter freiem Himmel geschehen, hat mir Chinook gesagt.“

Nick nippte an seinem Getränk. „Manche indianischen Bräuche ergeben für mich keinen Sinn.“

„Danke, dass du trotzdem hier bist.“ Lyla küsste ihn auf die Wange. „Die letzten Wochen hier haben mir geholfen, mich meinem indianischen Vater näher zu fühlen.“

„Gut, dann lass uns bald …“

Bevor Nick den Satz beenden konnte, stand Chinook auf und rief Lyla zu sich. Mit einem Pfiff brachte der Schamane die Menschen um sie herum zum Schweigen. „Wir haben die große Freude, Lyla, Kangees Tochter, bei uns zu haben und sie kennenzulernen. Wie viele von euch wissen, wurde meine Enkeltochter Naira auserwählt, indianische Bräuche und unsere Kultur in Colleges und Universitäten den Menschen, egal welcher Hautfarbe und Herkunft, näher zu bringen. Daher wird sie ihre Rolle als Schützerin der Wildpferde des Clearwater Tales nur noch bis zum Ende dieses Jahres erfüllen können. Nach langen Beratungen habe ich, zusammen mit den Ältesten im Rat beschlossen, diese Aufgabe Lyla zu übertragen. Wir sind uns sicher, dass sie der wichtigen und ehrenvollen Rolle mehr als gewachsen ist.“

Lyla schluckte. Sie war so überwältigt von Chinooks Worten, dass sie zunächst kein Wort hervorbrachte. Die Augen der Umstehenden waren voller Erwartung und sie räusperte sich. „Vielen Dank für euer Vertrauen. Ich werde versuchen, den Wildpferden und dem Tal eine ebenso gute Beschützerin zu sein, wie es Naira gewesen ist“, brachte sie mühsam hervor.

Später in dieser Nacht hatte Nick sie gefragt, was ihre neue Aufgabe für ihre Arbeit auf der Ranch und ihre Beziehung bedeuten würde. „Im Moment weiß ich doch noch gar nicht, wie ich genau an die Sache herangehen soll“, sagte Lyla und kuschelte sich in Nicks Arme. „Ich bin mir sicher, dass ich alles unter einen Hut bekomme, wenn es so weit ist.“

Nick küsste ihren Nacken. „Wollen wir es hoffen. Und ich helfe dir, so gut ich kann. Ich fände es schön, wenn wir Anfang April das Reservat verlassen. Dann zeige ich dir auf einem Roadtrip Alberta und sobald das Wetter gut genug ist, machen wir uns mit den Pferden auf in die Berge, bis uns der Schnee zurück auf die Willow Ranch treibt.“

Lyla hatte geplant, länger im Reservat zu bleiben, aber in Nicks Worten klang die Zweisamkeit wie ein Abenteuer und sie hatte verliebt zugestimmt. Mit ihren zweiundzwanzig Jahren hatte sie in Deutschland zwei kürzere Beziehungen gehabt, aber Nick war ihre erste große Liebe. Seit sie hier in Kanada war und erfahren hatte, dass in ihr indianisches Blut floss, fühlte sich Lyla wohler in ihrer Haut und zweifelte nicht mehr ständig an sich selbst. Noch immer gab es genug Momente, in denen sie sich am liebsten vor neuen Herausforderungen verkriechen würde, aber in diesen Augenblicken war jetzt der fünf Jahre ältere Nick an ihrer Seite. In Deutschland hätte sie es nie für möglich gehalten, dass so ein gutaussehender, selbstbewusster Mann sich für sie interessieren könnte. Er sah ein wenig wie der australische Schauspieler Chris Hemsworth aus, wie Naira so passend einmal gesagt hatte. Das letzte Jahr mit Nick war ein Wirbel an neuen Eindrücken und Abenteuern gewesen.

Nick zeigte ihr die Schönheit des Landes, deren Weite Lyla faszinierte, aber immer noch ein wenig verängstigte. Sie war froh, Nick an ihrer Seite zu haben, der sich selbstsicher in der Wildnis bewegte und ihr immer ein Gefühl der Sicherheit gab.

Asra hob den Kopf, blies warme Luft aus den Nüstern auf Lylas Wangen und riss sie aus ihren Erinnerungen. Lyla lachte und strich der Grauen über die Stirn. Vor nun fast zwei Monaten, Anfang des Jahres, hatte Lyla die Rolle als Beschützerin der Wildpferde und des Clearwater-Tals angenommen und in den nächsten Wochen würde sie die Gründung der Wildpferde-Stiftung weiter vorantreiben.

Lyla erinnerte sich an etwas, das Darcy kurz vor seinem Tod zu ihr gesagt hatte: „Danke für deinen Mut, nach Kanada zurückzukommen. Es steckt eine starke Frau in dir.“ Diese Worte ermutigten sie in ihrem Vorhaben. Sie strich Asra über die Flanke und schaute auf die Uhr. Zeit, zurück ins Ranchhaus zum Abendessen zu gehen.

Zusammen mit Eric betrat Chuck zwei Tage später das Coyote Moon. Es war die einzige Bar in Spruce View und dementsprechend gut besucht. Am Samstagabend gingen die Leute sowieso gerne raus. Während Eric von den meisten Barbesuchern gegrüßt wurde, erntete Chuck einige verdutzte Blicke. Das wunderte ihn kaum, denn er wusste, dass sich nicht nur seine Einstellung, sondern auch sein Äußeres im letzten Jahr verändert hatte. Verhärmt sehe er aus, hatte Eric gesagt, als er gestern aus den Bergen zurückgekehrt war.

Kopfschüttelnd hatte der Trapper Chuck gemustert. „Du siehst aus, als hättest du weitab der Zivilisation einen Hungermarsch gemacht und jedem erdenklichen Grauen ins Gesicht geblickt.“

Chuck hatte nur mit den Schultern gezuckt und das tat er auch jetzt, seinen Blick stur auf die Theke gerichtet, an der er neben Eric Platz nahm.

„Hi, Laforge, haben dich die Berge wieder ausgespuckt? Das Übliche?“, fragte der Barkeeper und Eric nickte. Dann wandte der Mann sich zu Chuck.

„Der junge Morton, da haben die Spatzen ja die Wahrheit von den Dächern gepfiffen. Tut mir leid mit deinem Vater. John war …“

Bevor der Barkeeper weitersprechen konnte, winkte Chuck ab. „Bring mir einen doppelten Whisky und ein Bier.“

„Kommt sofort.“

Chuck wandte sich an Eric. „Wie steht’s mit den Erträgen auf der Trapline?“

„Ach, ist wie immer viel Arbeit und die Pelzpreise sind nicht mehr das Wahre. Aber jetzt erzähl mal von dir. Wo zur Hölle hast du gesteckt? Ich habe dir nach Johns Tod eine SMS geschickt, die du anscheinend erst Monate später erhalten hast.“

Chuck trank den Whisky in einem Zug und nahm einen Schluck von seinem Bier. „In Wahrheit willst du doch wissen, warum ich es nicht zur Beerdigung meines Vaters hierher geschafft habe.“

Eric fuhr sich durch den strubbeligen graubraunen Bart und kratzte sich dann unter dem fleckigen Cowboyhut. „Hör mal, Chuck, wenn du nichts erzählen willst, ist das deine Sache. Du weißt, dass ich der Letzte bin, der dir irgendetwas vorhält.“

Chuck seufzte und nickte. „Sorry, war nicht so gemeint. Nach dem Schlamassel mit dem Tierarzt hat Lee unsere Zusammenarbeit auf der Willow Ranch beendet. Ich war pleite und habe bei einem Jägeroutfit angeheuert, der Elchund Bärenjagden im Yukon anbietet.“

„Du und Trophäenjagd, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.“

Chuck leerte sein Bier und bestellte ein neues. „Damals kam es mir wie eine gute Idee vor. Durch die Arbeit auf der Willow Ranch war ich raus aus dem Rodeogeschäft und hatte keine Ersparnisse, um meinen Collegeabschluss zu finanzieren oder mich in Ruhe nach einem Job umzuschauen. Und ich wollte verdammt nochmal weg aus Spruce View.“

„Dass du Ärger mit Dr. Banks, dem korrupten Tierarzt, hattest, ist mir bekannt. Hast du denn auch meine Nachricht erhalten, dass Banks letztlich wegen Versicherungsbetrug eingebuchtet wurde?“, fragte Eric.

Chuck nickte. „Hab ich zur Kenntnis genommen.“

„Um ehrlich zu sein, ist es mir ein Rätsel, was zwischen dir und Lee vorgefallen ist. Dass es einen Streit wegen dem verpfuschten Hengstsperma gab, kann ich ja verstehen, aber dass du deshalb gleich spurlos verschwindest …“

„Darüber will ich nicht sprechen“, fiel Chuck ihm ins Wort.

„Brauchst du nicht. Ich meine nur, dass es deinen Vater verletzt hat, dass du quasi bei Nacht und Nebel das Dorf verlassen hast.“

Chuck starrte auf die Bierflasche in seiner Hand. „Ich konnte ja nicht ahnen, dass er … dass ich ihn nicht mehr …“ Anstatt den Satz zu beenden, bestellte er sich einen weiteren doppelten Whisky und trank ihn aus. Das Brennen in seiner Kehle vertrieb für den Moment die Düsternis.

„Und, wie war das Jahr im Yukon?“

Allein das Wort genügte und Chuck hatte wieder die toten Tiere vor Augen, das ekelhafte Grinsen der Trophäenjäger, das Ausweiden der Kadaver. Er starrte auf seine Hände, die blutverschmiert auf der Bartheke lagen, blinzelte und das Blut verschwand. Er zog scharf die Luft ein und zwang sich langsam auszuatmen. Reiß dich zusammen, ermahnte er sich.

„Vergangenheit“, erwiderte er gepresst. „Wie lange können Goat und ich bei dir unterkommen?“

Eric schaute ihn einen Moment lang schweigend an. Dann trank der alte Trapper einen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken über den Bart. „Wie lange hast du denn vor hierzubleiben?“

„Bis ich die Trapline meines Vaters verkauft habe, was hoffentlich schnell über die Bühne gehen wird.“

„Und dann?“

„Nehme ich das Geld in die Hand, und Goat und ich ziehen weiter.“

„Two Souls lost on the Highway“, sagte Eric und Chuck grinste gequält.

Die beiden hingen eine Weile schweigend ihren Gedanken nach, dann leerte Eric sein Bier. „Ich hab genug für heute.“

Chuck nickte. „Ja, lass uns verschwinden. Ach, kannst du mich morgen früh zur Werkstatt fahren? Will mal sehen, was meiner Maggie fehlt.“

Chucks Blick fiel auf die Eingangstür, durch die in diesem Moment Lee mit seiner Freundin Naira trat. Eric folgte dem Blick, stand auf und stieß Chuck mit dem Ellenbogen leicht an. „Du zahlst, ich warte im Wagen auf dich.“

Während Chuck in der Jackentasche nach seinem Geld kramte, wurde er von hinten kurz umarmt. Er drehte sich um und sah Naira, die ihn anlächelte.

„Hallo Fremder. Ich würde ja gerne sagen, du siehst gut aus, aber lügen ist nicht mein Ding.“

Chuck grinste und wischte sich verlegen über seinen Schnurrbart, der dringend wieder einmal gestutzt werden musste. „Dafür bist du wie immer eine Augenweide.“

„Ja, da hast du recht“, sagte Lee, der hinter seine Freundin getreten war. „Hallo, Kumpel.“

Den Kumpel kannst du dir sonst wo hinschieben, dachte Chuck und presste ein „Hallo“ heraus. Er legte zwanzig Dollar auf die Theke und stand auf. „Muss los. Schönen Abend euch beiden.“ Er tippte an seinen Cowboyhut und senkte den Kopf, sodass die Hutkrempe sein Gesicht verbarg.

Dann wandte er sich ab und schlängelte sich zwischen den Tischen hindurch zur Tür. Er hörte im Vorbeigehen, wie einige der Gäste seinen Namen flüsterten. Eine Gruppe junger Farmer bemühte sich nicht, ihre Stimmen zu senken.

„Ist das nicht der Kerl, der sich mit Dr. Banks eingelassen hat?“, fragte einer.

„Ja, dabei stand der schon unter Verdacht, in seiner Besamungsstation zu betrügen, um mehr Profit rauszuschlagen. Hätte der Willow Ranch beinahe einen Fohlenjahrgang gekostet und zusätzlich etliche Strafverfahren wegen Betrugs.“

„Und dann geht die ganze Tierklinik in Flammen auf. Schon merkwürdig, oder?“

Chuck biss sich auf die Lippen. Die Typen hatten doch keine Ahnung, wie das damals abgelaufen war. Wahrscheinlich hatte Lee die Halbwahrheiten fleißig unterstützt, um Chucks Namen weiter in den Schmutz zu ziehen. Dabei machte die Verurteilung des Tierarzts keinen Unterschied, musste Chuck in diesem Moment erkennen, die Gerüchte über den Grund seines plötzlichen Verschwindens waren immer noch Teil des Dorfklatsches. Er drückte seinen Hut tiefer in die Stirn. Sollten sie sich doch das Maul über ihn zerreißen, er scherte sich einen Dreck um sie und dieses verdammte Dorf.

Verschlafen stand Chuck am nächsten Morgen in Erics kleiner Kochnische und schenkte sich Kaffee in einen Plastikbecher. Durch das Fenster sah er, wie Eric Heu über den Zaun von Goats Paddock warf. Der kraftvolle Schwung, mit dem der Trapper die Heugabel schwang, ließ nicht erahnen, dass er bereits Mitte Sechzig war. Eric trug gefütterte Winterboots, in die er seine Jogginghose gestopft hatte. Die schmutzigblaue Daunenjacke war an mehreren Stellen mit silbernem Paketband repariert und auf dem Kopf trug Eric seine heißgeliebte Fellmütze mit den langen Ohrenschützern, die bei jeder Bewegung hoch und runter wackelten. Mit dem zotteligen grauen Vollbart, den sanften, aber immer wachen Augen, die von unzähligen Falten umrahmt waren und seinem drahtigen, hochgewachsenen Körper hatte er etwas von einem in die Jahre gekommenen irischen Wolfshund, fand Chuck und musste über diesen Vergleich grinsen.

Er beobachtete, wie Goat herangetrottet kam und das getrocknete Gras kritisch beschnüffelte. Der Trapper holte etwas aus seiner Felljacke und bot es Goat an. Das frisst sie nie, dachte Chuck und nahm einen Schluck Kaffee. Doch zu seiner Überraschung zögerte sein Maultier nicht lange und ließ sich die Leckerei schmecken. Eric strich ihr über die Stirn, stellte die Heugabel weg und kam zum Haus.

„Mit was hast du Goat da bestochen?“, fragte Chuck, kaum dass Eric zur Tür hereinkam.

„Guten Morgen erst mal. Schenkst du mir auch einen Kaffee ein?“ Eric zog seine Stiefel aus und lief auf Socken über die Planken.

Chuck streckte ihm eine gefüllte Tasse hin und die beiden setzten sich an den kleinen Tisch.

„Deine Schöne liebt Lakritze“, murmelte Eric, während er sich Cornflakes in eine Schale schüttete und mit Milch übergoss.

Chuck tat es ihm gleich. „Auf Lakritze wäre ich jetzt nicht gekommen. Aber gut zu wissen.“

Schweigend frühstückten sie, dann stand Eric auf, schenkte beiden Kaffee nach und setzte sich mit einem Notizheft in der Hand wieder an den Tisch.

„Ich mach mir schnell eine Einkaufsliste für meine nächste Bergtour und dann fahren wir zu Denis in die Werkstatt.“

Chuck nickte, erhob sich, räumte das Geschirr ab und stellte es in die Spüle.

„Gib mal den Tabak und das Papierpäckchen rüber“, bat Eric. „Dreh dir auch eine, wenn du willst.“

Chuck stellte den Plastikcontainer mit dem losen Tabak auf den Tisch und schüttelte den Kopf. „Nein, danke. Habe ich mir abgewöhnt.“

Eric hob eine Augenbraue und wandte seine Aufmerksamkeit dann wieder der Liste zu.

Chuck ging zur Tür, nahm seinen Hut, zog Cowboyboots und Jacke an und verließ das Haus. Er schlenderte zu Goat, die unlustig am Heu knabberte und ihren Kopf hob, als er an den Zaun trat. „Na, Süße, wie hast du geschlafen?“

Das Maultier stieß ihn leicht mit der Nase an und Chuck lächelte. „Sorry, ich habe keine Lakritze, du Naschkatze.“

Enttäuscht widmete sich Goat wieder dem Heu, während er nachdenklich über den kleinen Paddock blickte. Trostlos, das war das erste Wort, das ihm in den Sinn kam. Er stemmte sich gegen die Enge, die sich in ihm breitzumachen drohte, und atmete tief ein. Die kalte Luft stach in seine Lungen und half, die trüben Gedanken zu vertreiben.

Hinter ihm wurde die Haustür geöffnet und Eric steckte seinen Kopf heraus. „He, starte doch schon mal meinen Truck, dann kann sich der Dieselmotor aufwärmen. Ich bin in zehn Minuten so weit. Schlüssel liegt im Auto.“

Chuck ging zu dem alten Gefährt, trennte das elektrische Kabel, mit dem die Batterie über Nacht an den Strom angeschlossen war und stieg ein. Mit einer schwarzen Abgaswolke sprang der Truck an. Er drehte die Heizung hoch, stieg wieder aus und schaute nach, ob Goat frisches Wasser brauchte. Doch Eric hatte auch dafür gesorgt. Der Trog mit dem elektrischen Heizelement war bis zum Rand gefüllt.

„Du bist für den Tag versorgt, Süße“, sagte er.

Wenig später kam Eric aus dem Haus und beide Männer stiegen in den Truck. Sie legten die fünfzehn Kilometer nach Spruce View schweigend zurück. Am Ortsschild überkam Chuck wieder dieses Gefühl, dass er überall, nur nicht hier sein wollte. Da Denis’ Werkstatt am anderen Ende der Hauptstraße lag, kam Chuck nicht umhin, sich umzuschauen. Viele Veränderungen konnte er nicht feststellen, was ihn kaum verwunderte. In einem Dorf wie Spruce View tickten die Uhren langsamer. Es gab eine Tankstelle, die ein bisschen von allem verkaufte, einen Gemischtwarenladen, eine Bank, die Post und zwei, drei andere Geschäfte. Zentrum des Dorfes war immer noch Marys Diner, stellte Chuck fest, als sie daran vorbeifuhren und dort schon reger Verkehr war für einen Vormittag. Eric ließ ihn vor Denis’ Werkstatt aussteigen. „Ich mache meine Besorgungen und hole dich hier wieder ab.“

Chuck betrat den Vorraum der Werkstatt. Eine Glocke bimmelte über ihm. Er trat vor den Tresen und sah durch das Fenster in die Werkstatthalle.

Denis kam hinter der Karosserie hervor und winkte ihm zu, er solle reinkommen. „Hallo, lange nicht gesehen.“

Chuck ergriff Denis’ ausgestreckte Hand und begrüßte den Mechaniker. „Guten Morgen. Wie geht es Maggie?“

Denis rieb sich mit den Händen über die Stirn, hob kurz sein Baseballcap an und seufzte. „Schlechte Neuigkeiten, sorry.“

„Wie schlimm ist es?“

„Da ist nichts mehr zu machen.“ Denis ging zu dem aufgebockten Truck und trat vor die geöffnete Motorhaube. „Es sei denn, du willst in ein brandneues Herz investieren. Das Getriebe ist hinüber. Einige andere Organe pfeifen ebenfalls aus dem letzten Loch.“

Chuck strich mit einer Hand über den dunkelgrünen Lack und schluckte schwer. Damit hatte er nicht gerechnet. „Maggie, Maggie, wie kannst du mich jetzt im Stich lassen?“, murmelte Chuck.

„Tut mir echt leid, Mann.“

„Zehn Jahre, fast vierhunderttausend Kilometer“, sagte Chuck und seufzte.

„Wenn’s hilft, kann ich sie erst einmal auf meinem Hof parken, bis du weißt, ob du ihre Teile verkaufen oder sie komplett verschrotten willst.“

„Danke, das wäre nett. Im Moment habe ich keine Ahnung, was ich machen will.“

Eine Hupe ertönte. „Das ist sicher Eric“, sagte er und verabschiedete sich.

Draußen stieg er zu Eric ins Auto. Der Trapper musterte ihn einen Augenblick. „Das sieht mir nach schlechten Neuigkeiten aus.“

„Maggie ist nicht zu reparieren und ich habe kein Geld, mir einen neuen Truck zu kaufen.“

„Und was jetzt?“

„Kannst du mich auf der Willow Ranch absetzen? Dort steht der alte Cadillac meines Vaters. Dann habe ich wenigstens wieder ein Fortbewegungsmittel.“

„Kein Problem. Und wie gesagt, du und Goat, ihr könnt bei mir wohnen, solange ihr wollt. Ich fahre in ein zwei Tagen wieder in die Berge und bin die nächsten zwei Wochen auf meiner Trapline unterwegs.“

„Danke. Ich bin dir was schuldig.“

Eric winkte ab und bog am Ortsschild in Richtung Willow Ranch ab. Je näher sie kamen, desto mehr Erinnerungen überkamen Chuck. Sein Vater war nach dem Tod von Chucks Mutter als Vorarbeiter auf die Ranch gezogen und er, damals fünf Jahre alt, war zusammen mit Lee, dem Sohn des Ranchbesitzers, aufgewachsen. Nach dem Highschoolabschluss wurde das Rodeo zu Chucks Leben, doch er kehrte immer wieder zur Ranch zurück. Bis zum Streit mit Lee und dem Feuer.

Nach einer Viertelstunde bog Eric in die Auffahrt der Willow Ranch und fuhr den langgestreckten Schotterweg hinauf. Chucks Blick glitt über die schneebedeckten Koppeln, die sich endlos hinter dem Holzzaun erstreckten. Über ein Jahr war er nicht mehr hier gewesen, und es kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Eric hielt vor dem großen Ranchhaus. Chuck fiel auf, dass die mächtigen Zedernholzstämme, aus denen das Haus erbaut worden war, einen neuen Anstrich erhalten hatten. Sie leuchteten im Sonnenlicht in einem satten Kastanienrot, das ihre natürliche Maserung eindrucksvoll zur Geltung brachte. Auf der überdachten Veranda, die das gesamte Gebäude umringte, standen zahlreiche Rattanstühle, die jetzt im Winter alle dicht an die Hauswand geschoben waren.

Sein Blick ging nach oben zu den Fenstern im zweiten Stock, in dem die Schlafzimmer lagen. Die Holzfenster waren durch neue, weiße Kunststofffenster ersetzt worden. Die Geschäfte liefen anscheinend gut.

Eric stieß ihn mit dem Ellenbogen an und riss ihn aus seinen Gedanken. „Steigst du heute noch aus?“, fragte der Trapper. „Ich habe einiges zu erledigen.“

„T’schuldige. Danke fürs Chauffieren. Wir sehen uns heute Abend.“ Chuck stieg aus und wollte automatisch am Haupthaus vorbei den Weg zu dem Wohntrailer seines Vaters einschlagen. Nach wenigen Schritten hielt er an und krümmte sich, als ob er einen Faustschlag in den Magen bekommen hätte. Ich war nicht da für dich, Dad, dachte er, und alles nur, weil …

„Chuck Morton. Wirst du wohl den Anstand haben, zuerst mich zu begrüßen, bevor du hier draußen herumwanderst?“

Er wandte sich um und sah Jeanne mit verschränkten Armen auf der Veranda stehen. Wie konnte diese kleine Person nur so viel Autorität ausstrahlen? Er trabte schuldbewusst auf sie zu. Ohne ein weiteres Wort stellte sich die Frau auf ihre Zehenspitzen und umarmte ihn. Chuck drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel und ließ sich dann von ihr begutachten.

Missbilligend schüttelte sie den Kopf. „Lyla hat mir schon erzählt, dass du etwas mitgenommen aussiehst.“

Er räusperte sich. „Das letzte Jahr war kein Zuckerschlecken“, murmelte er.

Jeanne hob eine Hand und legte sie kurz auf seine Wange. Dann stemmte sie die Hände in die Hüften und schüttelte den Kopf. „Das ist aber kein Grund, so verwahrlost auszusehen wie ein streunender Hund.“

„Sorry, Ma’am“, war das Einzige, was ihm als Erwiderung einfiel und ihr Lächeln zeigte ihm, dass sie mit ihrer Kritik fertig war.

„Jetzt komm schon rein und trink einen Kaffee mit mir. Ich habe Zimtschnecken vom Frühstück übrig.“

Als Chuck zögerte, legte sie ihm eine Hand auf den Arm. „Keine Sorge, Lee ist mit Nick unterwegs und kommt nicht vor dem Abendessen zurück.“

„Na, dann wäre ich ein Idiot, deine Zimtschnecken zu verpassen.“

Sie gingen ins Haus und Chuck setzt sich auf die Eckbank in der gemütlichen Ranchküche. Erstaunt stellte er fest, dass sich einiges geändert hatte. Der alte Herd war einem modernen Edelstahlmodell mit einer größeren Arbeitsfläche gewichen und es gab eine Spülmaschine.

Jeanne stellte zwei Tassen und eine Kanne Kaffee auf den Tisch, gefolgt von einem Teller mit einer riesigen Zimtschnecke, den sie ihm hinschob. Während sie Milch aus dem, wie Chuck feststellte, ebenfalls neuen, Kühlschrank holte, schenkte er ein und Jeanne setzte sich ihm gegenüber.

„Hier hat sich ja einiges getan“, sagte Chuck, nahm den ersten Bissen und seufzte genüsslich.

„Das Bed and Breakfast läuft gut. Jetzt haben wir fünf Gästezimmer hier im Haus und drei wollen wir im ehemaligen Wohntrailer deines …“ Sie verstummte. „Entschuldige, das muss dir jetzt übereilt vorkommen.“

„Ist in Ordnung. Nur weil mich die Nachricht erst vor einer Woche erreicht hat, ist Dad trotzdem seit Oktober tot. Das Leben geht weiter.“ Er versuchte sich an einem Lächeln, das nicht erscheinen wollte.

„Wo hast du bloß gesteckt, mein Junge?“ Jeannes Worte klangen keineswegs vorwurfsvoll, nur traurig und voller Mitleid.

Doch das ertrug er im Moment am wenigsten. Er setzte sich etwas aufrechter hin. „Lyla hat erwähnt, dass Dads alter Cadillac hier ist. Mein Truck hat den Geist aufgegeben und ich brauche ein Fahrzeug.“

„Ja, klar. Er steht in der kleinen Scheune.“

In diesem Moment kam Lyla in die Küche geschlendert, gefolgt von einem wild wedelnden Hund.

„Der Hund hat im Haus nichts verloren“, sagte Jeanne. „Wozu haben wir denn die Hundehütte auf der Veranda?“

Chuck erkannte sofort, dass Lylas zerknirschte Miene nur gespielt war, und zwinkerte ihr zu. „Wie heißt denn der Fellball?“

„Das ist Mr. Mud.“

„Nett, Sie kennenzulernen, Mr. Mud“, witzelte Chuck und kraulte den Hund hinter den Schlappohren.

„Jetzt aber raus mit ihm und du komm zurück und trink eine Tasse Kaffee mit uns.“

„Sehr wohl, Ma’am.“ Lyla salutierte, kam wenig später ohne Begleitung zurück und setzte sich.

„Schön, dass du hier bist, Chuck.“

„Nicht uneigennützig. Ich brauche den Caddy meines Vaters.“

„Wann wird Maggie repariert sein?“

„Leider ist da nichts mehr zu machen.

---ENDE DER LESEPROBE---