Schattenpferde der Rocky Mountains - Natascha Birovljev - E-Book

Schattenpferde der Rocky Mountains E-Book

Natascha Birovljev

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Beschreibung

Ein alarmierender Anruf ihrer Tante reißt die Geschwister Lyla und Lee aus ihrem Alltag in Deutschland. Ihr Vater ist unheilbar krank und sie kehren nach vierzehn Jahren auf seine Ranch in Kanada zurück. Während die väterliche Wiedersehensfreude ausbleibt, strömt die Magie der Rocky Mountains auf die Geschwister ein. Neue Liebesbeziehungen bringen ihre Herzen in Aufruhr und die Wildnis Kanadas stellt sie auf eine Probe. Als die Ranch in Gefahr gerät und ein Geheimnis neu geknüpfte Familienbande zu zerreißen droht, sind Lyla und Lee bereit alles zu riskieren, um die Willow Ranch wieder zu ihrem Zuhause zu machen.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Der Reisende

April

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Mai

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Juni

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Juli

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

August

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

September

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Oktober

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Über das Buch:

Nach einem alarmierenden Anruf ihrer Tante, die ihnen mitteilt, dass ihr Vater an Krebs erkrankt ist, reisen die Geschwister Lee und Lyla zurück in das Land ihrer Kindheit, zur väterlichen Ranch in die Rocky Mountains. Seit der Trennung der Eltern vor vierzehn Jahren hatten die Geschwister Lee und Lyla keinen Kontakt mehr zu ihrem Vater in Kanada. Anfangs fällt es Lee schwer, wieder eine Beziehung zu seinem Vater Darcy aufzubauen, der wenig Begeisterung zeigt, seine Kinder wiederzusehen. Dem Einzigen, dem Darcy Vertrauen schenkt, ist der Ranchangestellte Nick Flint. Der hitzköpfige Cowboy lässt keine Gelegenheit aus, Lee vor seinem Vater bloßzustellen. Lee spürt, wie tief seine Liebe zu dem Land seiner Kindheit ist und wie sehr er sich nach Zugehörigkeit und einem Zuhause sehnt. Er lässt sich von der Cree Indianerin Naira verzaubern, die seine Rastlosigkeit zu zähmen weiß. Als sich herausstellt, dass die Ranch kurz vor dem Zwangsverkauf steht und ein korrupter Geschäftsmann alles dransetzt, sich den Familienbesitz unter den Nagel zu reißen, hat Lee bereits erkannt, dass er alles tun wird, um die Willow Ranch zu retten. Lyla ist von der schroffen und allzu abweisenden Art ihres Vaters verunsichert. Ihr einziger Trost ist ein Fohlen, zu dem sie sich magisch hingezogen fühlt, doch je enger ihr Kontakt zu dem Pferd wird, desto häufiger wird sie nachts von mysteriösen Albträumen heimgesucht. Naira wird nicht nur für Lee zu einer wichtigen Person. Auch Lyla bindet sich eng an die selbstbewusste Indianerin und Naira bemerkt Lylas erstaunliches Gespür für Wildtiere, und ihre geheimnisvolle Verbindung zu Pferden. Bei einem indianischen Tanzfest wird Lyla eine Wahrheit offenbart, die ihr bisheriges Leben auf den Kopf stellt. Sie wird sich bewusst, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen muss, um ihre Ängste zu überwinden auch wenn dies bedeutet, sich gegen ihren Bruder zu stellen und für ihre Liebe alles zu riskieren.

Bibliographische Informationen der Deutschen ­Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2021 Natascha Birovljev, Caroline, Alberta, Kanada · www.natascha-birovljev.com

Bestellung und Vertrieb: Nova MD GmbH, Vachendorf

Druck: Custom Printing, Warschau, Polen

ISBN 978-3-74940-882-5

Tolino-ISBN: 978-3-73947-346-8

3. Auflage (Vers. 1.1)

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com

Lektorat: Dr. Hanne Landbeck · www.schreibwerk-berlin.com

Korrektorat: Ursula Hahnenberg · www.buechermacherei.de

Layout & Satz/E-Book: Gabi Schmid · www.buechermacherei.de

Bilder: #127864638 | AdobeStock und Motive von shutterstock.com

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte liegen bei der Autorin. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Dieses Buch ist für Dich, Mum.

Von Dir habe ich die Liebe für Pferde geerbt und ich bin unendlich dankbar, dass wir gemeinsam die Magie der Rocky Mountains auf dem Pferderücken erkunden konnten.

Ich weiß, Dein Schattenpferd hat auf Dich gewartet. 

Ich liebe und vermisse Dich – Always!

Der Reisende

Die orangegelben Flammen des Lagerfeuers züngelten in den nächtlichen Himmel. Das hungrige Flackern spiegelte sich in den Augen des alten Schamanen, der seinen Blick über die Schar der Zuschauer schweifen ließ.

„Lasst mich von einer Geschichte berichten. Diese Legende erzählen die alten Männer sich am Lagerfeuer. In solch windigen Nächten wie heute, wenn die Sterne kristallklar strahlen und die Kojoten heulen.“

Die Kinder begannen zu tuscheln. Der Schamane brummelte missbilligend, was sie sofort verstummen ließ. „Ihr tut gut daran, mehr Holz auf das Feuer zu legen, und ein wenig Beifuß in die Flammen zu werfen, um die Geister zu besänftigen.“

Einige Zuhörer rutschten näher zueinander, ein Mann schürte das Feuer und streute die Kräuter auf die glühenden Kohlen. Die heisere Stimme des Alten wurde kräftiger und fand ihre eigene raue Melodie, die alle Anwesenden in ihren Bann zog.

„Diese Geschichte ist aus einer früheren Zeit. Heute weiß niemand mehr, wie der Mann, um den es geht, hieß, und daher nennen wir ihn nur den Reisenden. Einst war der Reisende ein wohlhabender Pferdezüchter. Doch obwohl seine Frau ihn liebte und ihm zwei wunderbare Kinder geschenkt hatte, war er nie zufrieden. Es gab nur eine Sache, die dem Reisenden wirklich etwas bedeutete: seine Pferde. Sie waren von graziler Statur, mit langen Beinen, fein definierten Muskeln und dunklen, lebhaften Augen. Ausdauernd und schnell wie der Wind. Ihre wilde Schönheit, gepaart mit einer unerschütterlichen Gutmütigkeit, machte sie zu einem Schatz, um den der Mann von vielen beneidet wurde. Er ergötzte sich an der Eifersucht der anderen und war stets auf der Suche nach neuen Zuchttieren. Eines Morgens, als er in das kleine Tal ritt, in dem er seine Pferde hielt, fand er in seiner Herde einen Hengst. Ein prachtvolles Tier mit einer Mähne, die wie ein Gebirgsbach bis über seine muskulöse Schulter floss. Das Fell erstrahlte in einem so schimmernden Weiß, dass es den Mann beinahe blendete. Ein imposanteres Pferd hatte der Reisende noch nie gesehen. Er konnte nur noch an eines denken: Er wollte den Hengst besitzen.

Mit dem Lasso in der Hand stieg er ab. Plötzlich raschelte und knackte es zwischen den Büschen und Bäumen, die die Lichtung umgaben. Verwundert wandte sich der Mann um und sah einen alten Indianer, der auf einen Stock gestützt aus dem Wald heraustrat und langsam auf ihn zukam. Seine grauen Haare reichten ihm bis zu den Schultern.

Seine Haut glich dunklem, gegerbtem Leder. Er trug ein einfaches Gewand. Um seinen Hals hing ein Medizinbeutel, den einige Krallen eines Grizzlybären zierten. Der Indianer schaute von dem Hengst zu dem Mann. Dann heftete sich sein Blick auf das Lasso, das der Reisende in der Hand hielt und er schüttelte warnend den Kopf. „Hüte dich, dieser Hengst ist kein gewöhnliches Pferd. Du wirst großes Unglück über dich und deine Familie bringen, wenn du ihn seiner Freiheit beraubst.“

„Was  redest du da für wirres Zeug?“, erwiderte der Mann, warf dem Hengst jedoch einen abwägenden Blick zu. „Die Aufgabe des Pferdes ist es, seinen einstigen Besitzer und dessen Familie zu beschützen; vor und nach deren Tod. Seine Existenz hier, am Rande der Schattenwelt, ist unabdingbar.“

„Ach, das ist doch nur ein Aberglaube.“ Der Alte will mir nur Angst machen, sagte der Mann zu sich und war sicher, dass der Indianer den Hengst einfach nur für sich haben wollte.

„Die Gier brennt in dir wie ein wildes Feuer. Lösche sie, bevor du von ihr gefressen wirst und alles verlierst“, warnte der Indianer, wandte sich ab und verschwand ohne ein weiteres Wort zwischen den Bäumen.

Für einen Augenblick überkam den Mann ein mulmiges Gefühl und er starrte in die Richtung, in die der Alte gegangen war. Doch als er wieder zu dem Hengst blickte, loderte seine Begierde erneut. Der Drang, das Pferd sein Eigen zu machen, war stärker als alle Zweifel. Er bemerkte, dass der Hengst seine Augen nicht von seiner Stute ließ. Diese Unaufmerksamkeit nutzte er, um sich langsam so nahe an den Hengst heranzuschleichen, dass er das Lasso mit einem geschickten Wurf über den hoch erhobenen Kopf des Hengstes werfen und um den muskulösen Hals festzurren konnte. Das Pferd bäumte sich auf, doch der Mann wich den fliegenden Hufen geschickt aus, rannte zu einer knorrigen Eiche und wickelte das Lasso um den Stamm. Der Hengst stieß ein gellendes Wiehern aus, buckelte und zerrte mit aller Kraft an dem Seil, doch bei jeder Bewegung schnürte es sich nur enger um seinen Hals.

Der Mann rannte zu seiner Stute, holte ein weiteres Lasso aus der Satteltasche und formte eine Schlinge. Mit einem Wurf konnte er ein Vorderbein des Hengstes fangen. Der Hengst schrie vor Wut und Schmerz, während der Mann das Seil immer mehr verkürzte, bis er das Tier in die Knie zwang. Doch der Hengst war nicht bereit, sich zu ergeben. Er schnaubte und scharrte mit dem noch freien Vorderbein, sodass Gras und Erde aufflogen.

Schweißnass und schwer atmend zerrte das Tier an seinen Fesseln, in seinen weit aufgerissenen Augen brannten Stolz und Kampfesmut. Das Seil rieb sich tief in die Hände des Mannes, doch er schenkte dem Schmerz keine Beachtung, sondern wickelte das Lasso um seine Taille, nahm einen langen Stock und drosch auf das Tier ein, bis er sah, wie die Kraft des Hengstes zu Neige ging. Es begann bereits dunkel zu werden, als das Tier aufhörte, sich zu wehren. Befriedigt sperrte der Mann den erschöpften Hengst in einen kleinen Pferch, brachte seine Pferde für die Nacht in den Stall und ging nach Hause.

Später entschloss er sich, nochmals nach dem Hengst zu sehen, doch von dem Tier fehlte jede Spur. Verärgert ging er zurück nach Hause und schwor sich, am nächsten Tag Jagd auf den Hengst zu machen. In dieser Nacht jedoch hatte er einen Traum. Der Hengst erschien ihm und sprach: „Hättest du mich nicht gefangen, hätte ich dir einen meiner Nachkommen geschenkt. Aber du warst grausam, hast mich geschlagen und meiner Freiheit beraubt, so werde ich dir deine Pferde nehmen.“

Als der Reisende aufwachte, rannte er voller Angst in seine Ställe, und tatsächlich waren all seine Pferde verschwunden. Den ganzen Tag lief er umher und suchte sie. Als es Nacht wurde, fiel er erschöpft in einen unruhigen Schlaf, denn er hatte keine Spur von ihnen gefunden. Der weiße Hengst erschien ihm erneut und sagte: „Möchtest du deine Pferde finden? Sie sind nördlich des Sees. Du kannst sie in zwei Tagesreisen erreichen.“

Sobald der Mann am Morgen erwachte, machte er sich auf den Weg. Nach zwei Tagen, als er zum See kam, entdeckte er Hufspuren, aber keine Pferde.

In der Nacht erschien wieder der weiße Hengst. „Möchtest du deine Pferde finden? Sie sind im Osten, im Tal der windigen Hügel.“

Als die Sonne am dritten Tag unterging, hatte der Reisende das Land zwischen den Hügeln durchkämmt, aber seine Pferde erneut nirgends finden können. Und so ging es weiter, nach jeder vergeblichen Suche erschien der Hengst in den Träumen des Reisenden und gab ihm neue Anweisungen, wo sich seine Pferde aufhielten. Seine Frau versuchte, ihren Mann zur Vernunft zu bringen, doch dieser wollte nichts davon hören.

Tagein, tagaus machte er sich auf die Suche nach seinen Pferden, vernachlässigte Haus und Hof und magerte immer mehr ab. Schließlich konnte seine Frau das Elend nicht länger mit ansehen, nahm die Kinder und verließ ihn. Seine Kinder wuchsen auf, ohne ihren Vater je richtig kennenzulernen.

Es kam der Tag, an dem die geschundenen Füße des Mannes ihn am Laufen hinderten. In seiner Verzweiflung begann er, Reittiere zu stehlen, um die Jagd nach seiner Herde trotzdem fortsetzen zu können. Doch er konnte kein Pferd lange bei sich halten. Der weiße Hengst erschien, kaum hatte er ein neues Reittier, mit laut trommelnden Hufen und die Herde folgte ihm. Jedes Mal, wenn der Mann versuchte, sein Reittier festzuhalten, buckelte es ihn ab und folgte der mit dem Wind galoppierenden Gruppe.

Die Magie des weißen Hengstes verhinderte, dass der Mann je wieder ein Pferd länger als einen Tag besaß. Getrieben durch die zwanghafte Gier, wieder Pferde sein Eigen zu nennen, wandert der Reisende bis heute immer noch umher auf der Suche nach seiner verlorenen Herde.“

Der Schamane entzündete seine Pfeife und ließ seinen Blick über die gebannte Zuhörerschar schweifen. Dann räusperte er sich und fuhr fort: „Und manchmal, in einer windigen Nacht, wenn die Sterne sehr hell scheinen, dann hört ihr vielleicht das Trommeln vorbeigaloppierender Hufe und die stolpernden Schritte eines alten Mannes. Und wenn ihr euch beeilt, seht ihr den weißen Hengst mit seiner Herde und den Reisenden, der sie immer noch verfolgt, gefangen in seinem Fluch. Aber nehmt euch in Acht, sprecht ihn nicht an, sonst werdet ihr Gefährten seiner immerwährenden Hatz.“

Der Schamane verstummte erneut, entzündete seine Pfeife und strich sich durch die grauen Haare. Die Zuhörer schauten ihn an, in der Hoffnung, er möge fortfahren. Doch er war am Ende seiner Geschichte angelangt. Nach und nach zerstreute sich das Publikum. Als er allein vor dem Feuer saß, holte er einen kleinen Beutel hervor, der unter seinem Hemd versteckt um seinen Hals hing. Gedankenverloren strichen seine Finger über die Bärenkrallen. Um ihn herum, im Dunkel der Nacht, stimmten die Kojoten ihre klagende Melodie an.

(Frei nach einer Legende der Yinnuwok Indianer)

Kapitel 1

In dem immer dichter werdenden Schneetreiben verlangsamte Lee das Fahrtempo. Aprilwetter in Alberta, dachte er und warf einen kurzen Blick auf seine Schwester Lyla, die neben ihm eingedöst war. Der nächtliche Highway wirkte verlassen und Lees Gedanken stoben so wirr in seinem Kopf umher wie die Schneeflocken.

Seit Tante Jeannes überraschendem Anruf mit der Nachricht der Krebserkrankung seines Vaters und der direkt darauffolgenden Einladung bedrängten ihn zahllose Fragen und Erinnerungen. Einerseits war sein Wunsch, seinen Vater endlich zu fragen, warum er damals nicht bei ihm auf der Ranch hatte bleiben dürfen, so stark, dass es sich wie eine Faust in seinen Eingeweiden anfühlte aber andererseits wusste er noch nicht einmal, wie er ihm nach vierzehn Jahren überhaupt gegenübertreten sollte.

Er zwang sich, tief ein- und auszuatmen und bemerkte erst jetzt, dass sich seine Finger um das Lenkrad krampften. Mach dich nicht verrückt, schalt er sich, doch er konnte die Unruhe nicht abschütteln. Er rieb sich die müden Augen und wiegte seinen Kopf nach links und rechts, um die Verspannung in seinem Nacken zu lockern.

„Hoffentlich ist morgen besseres Wetter. Bei dem Schneetreiben hat man ja nicht unbedingt große Lust, sich die Gegend anzusehen“, murrte Lyla und riss ihn aus seinen Gedanken. Sie gähnte und streckte sich in ihrem Sitz. „Sind wir bald da?“

„Halte nach einem Schild Ausschau, auf dem Spruce View steht.“

„Daran sind wir gerade vorbei gefahren.“

„Mist“, fluchte Lee und bremste. Er wendete den Wagen und bog wenig später auf eine Schotterstraße ab. „Jetzt müssten wir eigentlich gleich da sein.“

Kurz darauf kam auf der linken Seite eine Einfahrt in Sicht. Er bog ab und fuhr die leicht ansteigende Zufahrt hinauf. Auf beiden Seiten verlief ein endlos erscheinender Koppelzaun. Lee drosselte die Geschwindigkeit auf Schritttempo und ließ das Fenster hinunter. Er atmete die kalte Luft ein und ertappte sich, wie er auf Hufgetrappel lauschte. Endlich kam hinter einer Kurve die Ranch in Sicht. Die Hoflaterne warf Schatten auf das zweistöckige Haus aus Zedernholz und die umliegenden kleineren Gebäude.

Er parkte das Auto neben der Veranda, die sich an das Haus schmiegte. Nur in einem der vielen Fenster brannte Licht, niemand schaute heraus. Lee wollte es zunächst auf die nächtliche Stunde schieben, doch je länger er auf das Gebäude blickte, desto mehr machte sich in ihm Unbehagen breit. Etwas Dunkles hat hier Einzug gehalten, dachte er, doch im selben Moment schalt er sich für die Albernheit seiner Gedanken. Du bist hier nicht in einem billigen Horrorfilm, schimpfte er sich, stieg aus und streckte seine vom langen Sitzen verkrampften Glieder.

Als im gleichen Moment eine Lampe auf der Veranda anging und die Tür geöffnet wurde, zuckte er zusammen. Eine zierliche Gestalt trat ins Freie, winkte ihm zu und schlüpfte in ein Paar Schneestiefel. Dann lief sie die Treppe herab und auf den Wagen zu. Überschwänglich schloss seine Tante ihn in die Arme und er drückte sie fest an sich. Der Lavendelduft ihres Haares kam ihm so vertraut vor, dass es beinahe schmerzte. Sie lösten sich voneinander und sie strahlte ihn an.

„Oh Lee, ich kann noch gar nicht glauben, dass du wirklich hier bist!“ Sie lachte und schluchzte zugleich. Die Beifahrertür wurde geöffnet und Lyla stieg aus.

Als seine Tante das Geräusch vernahm, drehte sie sich um. „Wen hast du denn da mitgebr…“ Sie verstummte und streckte einen Arm in Lees Richtung, wie um Halt zu finden. Er ergriff ihre Hand. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern: „Brigitte?“

Lee sah, wie seine Schwester ihm einen verwirrten Blick zuwarf, doch da schien Jeanne ihren Irrtum schon selbst zu bemerken.

Sie ließ seine Hand los und strich sich mit einer fahrigen Bewegung die Haare zurück. „Bei Gott, nein, du musst Lyla sein! Du siehst aus wie deine Mutter, als sie damals mit neunzehn nach Kanada kam. Du bist jetzt auch neunzehn, nicht wahr? Was für eine Überraschung, dass du deinen Bruder begleitet hast.“

„Oh, ich dachte, das heißt, Lee dachte wohl …“ Lyla räusperte sich. „Nun, er hat wohl angenommen, dass die Einladung uns beiden gegolten hat.“

„Natürlich, natürlich, das hat sie auch, aber irgendwie bin ich davon ausgegangen, dass Brigitte dich nicht hierher …, also …“, Jeanne brach mitten im Satz ab und trat auf Lyla zu. Sie ergriff ihre und Lees Hand und drückte sie sanft. „Ach, hör nicht auf das Geschwätz einer alten Frau! Ich freue mich, dass ihr hier seid, ihr alle beide! Und jetzt los: Holt euer Gepäck und lasst uns ins Haus gehen, ehe wir hier noch festfrieren!“

Lee nahm die beiden Koffer und überließ seiner Schwester die Taschen. Sie folgten Jeanne ins Haus. In der Diele zogen sie ihre Jacken und Schuhe aus. Lee erwartete, jeden Moment die Schritte seines Vaters zu hören, aber alles blieb still. Er erinnerte sich an dessen Gewohnheit, am späten Abend bei einer Tasse Kaffee den nächsten Tag zu planen.

„Wartet Dad in der Küche auf uns?“, fragte er daher und hängte seine Jacke auf.

„Ähm, nein, der hat sich schon hingelegt. Der Krebs raubt ihm viel Kraft. Aber morgen beim Frühstück seht ihr ihn natürlich!“

„Verstehe“, erwiderte Lee, obwohl er es keineswegs verstand. Vierzehn Jahre hatte sein Vater sie nicht gesehen. Vierzehn Jahre!

„Und? Habt ihr Hunger? Ich habe euch ein paar Sandwiches und eine Suppe vorbereitet, die schnell aufgewärmt ist!“

Lyla schüttelte den Kopf. „Danke, das ist lieb, aber ich bin so müde, dass ich gleich im Stehen einschlafe.“ Sie warf ihrem Bruder einen Blick zu.

„Ja, ich bin auch erledigt. Bei uns zuhause wäre es jetzt immerhin schon fast sieben Uhr morgens.“

„Aber dann trinken wir wenigstens noch eine heiße Schokolade zusammen!“ Jeanne schob die Geschwister in die angrenzende Küche.

Während ihre Tante den Kakao zubereitete, setzten sie sich auf die gepolsterte Eckbank. Jeanne rührte das Pulver in die heiße Milch und fragte sie über ihre Reise aus.

Lee war froh, dass er dank seines Jobs, bei dem er mit internationalen Kunden zu tun hatte, noch immer fließend Englisch sprach, aber auch Lyla hatte kaum Mühe, vom Deutschen ins Englische zu wechseln. Sie erzählten vom Flug und der Fahrt und fragten nach den Wetteraussichten.

„Es wird noch ein paar Tage kalt bleiben, aber die Sonne soll scheinen.“ Jeanne goss den Kakao in Becher und setzte sich zu den beiden. „Jetzt erzählt aber mal, wie geht’s eurer Mutter eigentlich? Was hat sie zu eurer Reise hierher gesagt?“

Lee bemerkte, dass seine Schwester ihm einen Hilfe suchenden Blick zuwarf. Er nickte ihr unmerklich zu. „Brigitte geht es bestens“, sagte er. „Sie lässt dich grüßen.“ Ihm entging nicht, dass Jeanne mit dieser vagen Antwort nicht zufrieden war. Sie krauste ihre Stirn, schwieg aber.

Lee nahm den Becher in die Hand und der süße Duft der heißen Schokolade, gemischt mit Zimt und Vanille stieg ihm in die Nase. Wie oft hatte seine Tante ihm früher nach missglückten Rodeos, Ärger in der Schule oder anderem Kummer dieses Getränk zubereitet? Niemals hatte sie ihn zum Reden gedrängt. Und wie damals senkte sich auch jetzt eine wohlige Ruhe über ihn, ein Gefühl, dass alles gut werden würde.

Er gähnte. „Entschuldige, aber jetzt muss ich wirklich ins Bett, sonst schlafe ich hier gleich noch am Tisch ein.“

„Na, das will ich allerdings nicht riskieren!“ Jeanne strich über seinen Arm. „Ich habe dein altes Zimmer für dich hergerichtet.“

Dann wandte sie sich Lyla zu. „Du hast es im oberen Gästezimmer am bequemsten. So habt ihr auch beide euer eigenes Badezimmer.“

Jeanne ging in den Flur und die Treppe hinauf. Oben angekommen, wandte sie sich an Lee, doch bevor sie etwas sagen konnte, meinte er: „Letzte Tür links, richtig?“

Seine Tante nickte. „Und Lylas Zimmer ist gleich dort“, sagte sie und wies auf eine Tür rechts neben dem Treppengeländer. „Na dann, schlaft gut. Frühstück gibt es um halb neun. Ich mach Pfannkuchen, die mögt ihr doch noch, oder?“

„Aber natürlich!“, erwiderten die Geschwister und wünschten ihrer Tante eine gute Nacht.

Lee stellte seinen Koffer vor seinem Zimmer ab und trug Lylas Gepäck bis vor die helle Holztür, auf die ihre Tante gezeigt hatte. „Soll ich noch …“

„Ich komm schon zurecht. Morgen schlafe ich aus, also weck mich bloß nicht. Wenn ich das Frühstück verpasse, esse ich die Pfannkuchen eben zum Mittagessen.“

Lee lachte. „Alles klar. Ich werde mich hüten, die Prinzessin aus dem Schlaf zu reißen. Gute Nacht.“ Er ging den Korridor entlang zu seinem Zimmer und schnappte sein Gepäck. Kaum hatte er die Tür geöffnet und das Licht angeknipst, war ihm, als tauche er in eine Zeitkapsel: An dem Kleiderständer in der Ecke hing sein Cowboyhut und seine einstige karierte Lieblingsjacke. Sicher hat Tante Jeanne die Sachen dorthin gehängt, dachte er und musste über diese anrührende Geste lächeln. Auf einem Regal an der Wand standen seine Rodeotrophäen.

Die Patchworkdecke, die Jeanne ihm einmal zu Weihnachten geschenkt hatte, lag wie früher auf seinem schmalen Jugendbett. Er ging zu dem Kleiderständer, strich mit einer Hand über den braunen Filz seines Hutes und nahm ihn vom Haken. Als er ihn aufsetzte, stellte er verwundert fest, dass er ihm noch passte.

Dann wanderten seine Gedanken vierzehn Jahre zurück und er erinnerte sich, wie er ihn seinem Vater damals, als sie abfuhren, vor die Füße geworfen hatte.

„Wenn ich nicht auf der Ranch bleiben kann, dann brauche ich dieses verdammte Teil auch nicht mehr“, hatte er ihm entgegengebrüllt. Lee schluckte schwer. Fast war es ihm, als könne er die verzweifelte Wut und Enttäuschung spüren, die ihn beim Verlassen seines Zuhauses und noch lange danach gequält hatten.

„Genug Vergangenheit für den ersten Abend“, murmelte er und hängte den Hut zurück an den Ständer.

Er kramte in seinem Koffer nach dem Waschbeutel, ging ins angrenzende Bad und putzte sich die Zähne. Duschen kann ich morgen, dachte er, schlüpfte in ein T-Shirt und Pyjamahose, kroch unter die Patchworkdecke und schlief sofort ein.

Kapitel 2

Früh am nächsten Morgen erwachte Lee aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Das Erste, das er wahrnahm, war der Wind, der um die Ranch pfiff. Das Knarren der Dachbalken erinnerte ihn daran, wie er sich als Kind oft vorgestellt hatte, das Haus würde seufzen, sich strecken und zusammen mit seinen Bewohnern langsam aufwachen. Die leuchtenden Ziffern des Radioweckers zeigten, dass es kurz nach sieben war.

Durch das Dachfenster konnte er das matte Licht der Morgendämmerung sehen. Seine Hand fuhr über die Wand neben seinem Bett. Das Zedernholz war glatt und kalt. Er strich mit den Fingern über die Furche zwischen zwei Holzbrettern und hielt, einer plötzlichen Erinnerung folgend, auf der Höhe der Mitte des Bettes inne. Mit zwei Fingern fuhr er wenige Zentimeter nach oben, bis er auf die raue Umrandung eines Astlochs stieß, das er als Kind ausgehöhlt hatte. Im Unterschied zu damals steckte heute allerdings kein Zettel darin, auf dem er seinen geheimsten Wunsch aufgeschrieben hatte. Er ließ die Hand wieder sinken, verschränkte seine Arme hinter dem Kopf und blickte zur Decke. Was würde er heute auf den Zettel schreiben? Draußen hörte er einen Traktor tuckern. Alles in ihm drängte auf einmal danach, hinauszugehen und sich umzusehen. Frühstück gab es erst in gut einer Stunde.

Er beschloss, sich rasch fertigzumachen, und wenn sein Vater oder Jeanne noch nicht unten waren, würde er für eine kurze Fotosession zu den Weiden gehen. Er duschte und zog sich an. Mit seiner Kameratasche über der Schulter stieg er die Treppe hinunter.

Im Erdgeschoss war tatsächlich noch alles ruhig. Er warf einen Blick in die Küche, aber auch hier war niemand zu sehen. In der Garderobe nahm er seine Jacke und schlüpfte in seine gefütterten Stiefel.

Draußen begrüßte ihn ein kräftiger Nordwind, und er zog die Strickmütze tiefer ins Gesicht. Die dichten Weiden, die der Ranch ihren Namen gaben, flankierten die Auffahrt. Ihre goldgelbe Rinde ließ sie auch jetzt, noch ohne Blätter, wunderschön aussehen. Er ging die Verandastufen hinab auf den Hof und drehte sich zum Haus um. Sein Vater hatte es selbst gebaut. Er erinnerte sich, wie oft er erzählt hatte, dass dieses Haus sein Verlobungsgeschenk an Brigitte gewesen war.

„Ich wollte nur sichergehen, dass sie nicht nein sagt und zurück nach Deutschland geht“, hatte sein Vater lächelnd gesagt und die Bewunderung und Komplimente der Gäste über das Haus genossen.

Mit dem riesigen, überhängenden Giebeldach und den großen Fenstern war es zwar ein imposanter Bau, wirkte jedoch keineswegs protzig. Lee dachte an die unzähligen Nachmittage, an denen Nachbarn und Freunde auf einen Kaffee vorbeigekommen und stets willkommen gewesen waren, und musste über diese Erinnerungen lächeln. Über ihm erklang lautes Geschnatter und er schaute in den blauen Himmel. Eine Schar Wildgänse flog über ihn hinweg. Sie kehren aus ihrem Winterquartier im Süden hierher zurück, in ihre Heimat, dachte Lee.

„Willkommen zuhause“, flüsterte er in den Himmel und fühlte, wie diese Worte die Beklemmung der letzten Nacht verblassen ließen und in ihm eine neue Hoffnung entfachten. Anschließend ging er zu den Scheunen auf der anderen Seite des Hofes, wo ein Mann aus dem Traktor stieg, ihn aber nicht weiter beachtete.

Lee wandte sich den Weiden zu. Zwei Fohlen neckten sich mit spielerischen Bissen und jagten plötzlich im Galopp hintereinander her. Eine Stute stand etwas abseits der Herde und schaute zu ihm herüber. Er ging näher an das Gatter. Die Graue spitzte die Ohren. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Aufgeregt kletterte er über den Zaun, ging von der Seite auf das Pferd zu, was es veranlasste sich zu drehen, um ihn im Auge zu behalten. Dadurch konnte Lee ihre rechte Flanke sehen. Wie vermutet, sah er die zwei fingerdicken, über die ganze rechte Flanke verlaufenden weißen Streifen inmitten ihres grauen Fells.

„Sedona? Du bist es wirklich, oder?“ Als die Stute scheute, wiederholte er ihren Namen, weicher, lockender, und ging dabei weiter auf sie zu. Für einen Moment fürchtete Lee, sie würde sich wieder abwenden und weglaufen, aber als er seinen Arm ausstreckte und ihr die flache Hand hinhielt, reckte sie ihren Hals und schnüffelte an ihm. Ihre weichen Nüstern bliesen warme Luft in seine Handfläche.

Er trat neben sie und ließ seine Hand über ihren Hals und ihren Rücken gleiten. Sein Vater hatte ihm die Stute zu seinem achten Geburtstag geschenkt. Sedona war damals erst wenige Tage alt und sein erstes eigenes Pferd. Die Mutterstute hatte kaum Milch, sodass Lee half, das Fohlen mit der Flasche großzuziehen. Er gewöhnte es an das Halfter und unternahm, wann immer es seine Zeit erlaubte, lange Spaziergänge mit dem Fohlen. Er erinnerte sich genau an die bangen Tage, nachdem Sedona, kaum ein halbes Jahr alt von einem Puma attackiert worden war und dieser mit seinen Krallen das Muskelgewebe der Hinterhand bis fast auf die Knochen aufgerissen hatte. Selbst nachts war Lee damals nicht mehr von ihrer Seite gewichen.

„Ich hab dich vermisst, meine Schöne“, murmelte er und vergrub sein Gesicht in ihrer langen schwarzen Mähne. Plötzlich fühlte er, wie etwas an seiner Kameratasche zupfte. Er drehte sich um. Eines der Fohlen hatte sich genähert und knabberte an seiner Tasche. Er gab ihm einen Klaps auf die Nase, woraufhin es zurück zu seiner Mutter trabte. Sedona stupste ihn auffordernd an.

„Das nächste Mal bringe ich dir einen Apfel mit, versprochen.“ Er strich über ihren Mähnenkamm und drückte mit der flachen Hand gegen ihre Schulter. Sie verstand das Signal, wandte sich ab und gesellte sich zu den anderen. Sein Blick folgte ihr und er sah, wie die anderen Stuten ihr Platz an der Heuraufe machten. Er schloss daraus, dass sie die Leitstute war.

Ohne seinen Blick von den Pferden abzuwenden, holte er seine Kamera aus der Tasche. Mit der Morgensonne im Rücken versank er in die vertrauten Abläufe des Fotografierens. Der Wind hatte sich gelegt und das Geräusch der friedlich kauenden Stuten versetzte ihn in eine Art Trance.

„He, was treiben Sie da?“ Lee fuhr herum. Ein junger Farmarbeiter kam auf die Weide zugelaufen.

„Verlassen Sie sofort die Koppel! Was fällt Ihnen ein, einfach zu den Pferden zu gehen?“

„Jetzt bleiben Sie mal ruhig.“

Ehe Lee sich versah, war der Mann bereits über den Zaun gesprungen und ging energisch auf ihn zu. Bei ihm angekommen, packte er ihn am Oberarm.

Lee entriss sich dem Griff. „Jetzt reicht es aber!“

„Ich trage hier die Verantwortung“, schnaubte ihn der Mann an. „Wenn Sie nicht augenblicklich die Koppel verlassen, rufe ich den Vorarbeiter. Der Boss hat klare Anweisungen, was die Sicherheit seiner Stuten betrifft.“

„Wenn es nur das ist, kann ich Sie beruhigen. Ihr Boss ist nämlich zufällig mein Vater.“

„Das ist ja mal ein origineller Spruch.“

Bevor Lee etwas erwidern konnte, erklang vom Haupthaus her ein helles Läuten. Die beiden Männer drehten sich um. Jeanne stand auf der Veranda und schlug mit einem Stab auf eine dort aufgehängte Triangel. Sie winkte den beiden zu. „Lee, Nick, das Frühstück ist fertig.“

Lee hob die Hand und winkte ihr zu, um anzudeuten, dass er sie gehört hatte. Mit einem triumphierenden Blick ging er an dem Cowboy, von dem er nun wusste, dass es Nick war, vorbei zurück zum Haus. Auf der Veranda bemerkte er einen weiteren Rancharbeiter, wohl der Vorarbeiter, von dem Nick gesprochen hatte. Er zog gerade seine Stiefel aus und schaute auf, als Lee die Treppe hochkam.

„Na wie schön, dass der Ostwind dich wieder zu uns geweht hat. Guten Morgen, Lee“, sagte er mit einer tiefen, rauchigen Stimme.

„Mr. Morton! Sie arbeiten noch hier!“

„Ach, herrje, sag bloß John zu mir, sonst komme ich mir noch älter vor, als ich es eh schon bin.“ Der Mann musterte ihn lächelnd und schüttelte ungläubig den Kopf. „Verflucht noch eins, das letzte Mal, als ich dich gesehen habe, gingst du mir gerade mal bis zur Hemdtasche. Gehst jetzt auf die dreißig zu, nicht wahr? Chuck und du, ihr seid ja im gleichen Alter. Teufel noch eins, der wird Augen machen, wenn er dich sieht.“

Chuck! Wie lange hatte Lee nicht mehr an ihn gedacht! Seine ganze Kindheit hindurch waren er und Johns Sohn unzertrennlich gewesen. „Wohin hat es ihn denn verschlagen?“

„Mal hierhin, mal dorthin. Er zieht von Rodeo zu Rodeo. Ich kann mich noch zu gut erinnern, wie ihr bei den Wettkämpfen um den Sieg gewetteifert habt.“

„Deine Tipps haben uns zu so manchem Sieg verholfen!“ Auf Johns wettergegerbtem Gesicht erschien ein breites Grinsen. „Vor allem meinem Sohn. Du hingegen warst ein Naturtalent. Keiner in deiner Altersklasse hatte die bockenden Gäule damals so gut im Griff wie du.“

Auch Nick war inzwischen nachgekommen. Er zog seine Stiefel aus und pfefferte sie gegen das Schuhregal auf der Veranda.

John warf seinem Kollegen einen missbilligenden Blick zu. „Ich habe auf der Koppel gesehen, dass du unseren Hitzkopf Nick Flint bereits kennengelernt hast.“

„Ich dachte, der Typ sei einer von Miss Jeannes Übernachtungsgästen“, knurrte Nick ihm von der Türschwelle aus zu. „Der Boss hätte uns ruhig vorwarnen können, dass sein Sohn zu Besuch kommt.“

John zuckte nur mit den Schultern und folgte dann seinem Kollegen ins Haus.

Lee sah ihnen nach und fuhr sich durch die zerzausten Haare. Er freute sich sehr, dass John noch für seinen Vater arbeitete und hoffte, es würde sich bald eine Gelegenheit ergeben, auch Chuck wiederzusehen. Aber dieser Nick war wohl mit Vorsicht zu genießen.

Gerade wollte er die Treppe hochsteigen, um die Kamera in sein Zimmer zu bringen, als er hörte, wie im hinteren Teil des Hauses eine Tür geöffnet wurde. Der Klang näherkommender Schritte ließ ihn innehalten. Er wandte sich um und sah, wie sein Vater ihm entgegenkam, wenige Meter vor ihm stehenblieb und ihn verwirrt ansah. Für einen Moment fürchtete Lee, er würde ihn nicht erkennen. Gleichzeitig fiel es ihm selbst schwer, in dem alten, gebrechlichen Mann seinen Vater zu sehen. Er war erst neunundsechzig, sah aber aus wie ein Greis. Sein ehemals durchdringender Blick wirkte verschleiert, die Haut war grau, die Wangen eingefallen. Lee versuchte, seine Bestürzung zu verbergen.

„Du bist also tatsächlich gekommen“, krächzte Darcy, räusperte sich und streckte ihm die Hand hin.

Lee, unangenehm berührt von dieser förmlichen Begrüßung, ergriff sie erst nach kurzem Zögern. Der Anflug eines Lächelns erschien in dem verhärmten Gesicht und Lee erwiderte es. Zwar war es nicht die erhoffte Umarmung, aber immerhin.

Sein Vater schwieg, musterte ihn – bis sein Blick an der Kamera hängen blieb. „Ein Hobby von dir?“

„Mehr als das. Ich bin Fotograf.“

„Heutzutage kann man mit allem Geld verdienen“, murmelte sein Vater und schüttelte kaum sichtbar den Kopf.

Rancher konnte ich ja nicht mehr werden, da du mich nicht bei dir behalten wolltest, wollte Lee sagen, schluckte es aber hinunter. Bilder von langen Tagen im Sattel, sein Vater neben ihm reitend, stolz, unermüdlich, blitzten vor seinem inneren Auge auf, doch auch sie schob er rasch beiseite.

Darcy räusperte sich erneut und straffte die Schultern. „Wie war der Flug?“

„Außer der Verspätung ganz gut.“

„Hast du dich schon umgesehen?“

„Ja, ich war auf der Weide und habe fotografiert. Dabei habe ich Sedona entdeckt und einige Fotos von den anderen Stuten gemacht.“

„Meine Grazien genießen die milderen Temperaturen!“

„Es ist schon noch ganz schön kalt“, warf Lee ein.

„Unsinn“, gab Darcy unwirsch zurück. „Du bist einfach nichts mehr gewöhnt. Ich finde, man kann den Frühling schon riechen!“

„Möchtest du die Fotos mal anschauen?“ Er hielt seinem Vater die Kamera hin. Doch der winkte ab.

„Auf so einem kleinen Bildschirm kann ich eh nichts erkennen.“ 

Lee ließ den Fotoapparat wieder sinken und versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

In diesem Moment öffnete sich die Küchentür und Jeanne erschien im Türspalt. „Habe ich doch richtig gehört! Na los, schwätzt nicht im Flur, sondern kommt rein. Die Pfannkuchen werden kalt!“

Lee ließ seinen Vater vorangehen. Bevor sie die Küche erreichten, dreht sich Darcy zu ihm um. „Es ist gut, dass du da bist.“

„Danke“, stieß Lee überrascht hervor. Er hob die Hand, wollte sie auf den Rücken seines Vaters legen, zögerte und ließ sie dann wieder sinken. Verdammt, warum musste das alles so schwer sein? Der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee, Speck und Ahornsirup empfing sie in der Küche und seine Anspannung legte sich.

Nick und John saßen bereits am Tisch und begrüßten Darcy, der ihnen gegenüber Platz nahm. Lee setzte sich auf einen der beiden noch freien Plätze auf der Eckbank.

Jeanne schenkte ihm und seinem Vater Kaffee ein. Als sie eine Platte mit Pfannkuchen auf den Tisch stellte und alle aufforderte, sich zu bedienen, nahm er sich drei der dicken Pancakes, bestrich sie mit Butter, goss ausgiebig Ahornsirup darüber und biss genussvoll hinein.

„Mmh, die schmecken noch genauso gut wie damals.“

„Das freut mich.“ Jeanne zwinkerte ihm zu.

„Da lässt sich Lyla etwas entgehen“, sagte Lee und bemerkte, wie seine Tante Darcy einen raschen Blick zuwarf. Dieser war jedoch in ein Gespräch mit John vertieft und schenkte ihr keine Beachtung.

„Ach, ausschlafen nach so einer langen Reise ist sicher gut für das Mädel. Ich muss kurz Holz für den Ofen holen gehen. Bin gleich wieder da“, sagte Jeanne zu Lee und verschwand durch die Hintertür.

Lee fiel auf, dass sein Vater lediglich an seinem Kaffee nippte, die Pfannkuchen vor ihm jedoch nicht anrührte. Während er noch überlegte, wie er das Gespräch zwischen ihnen wieder in Gang bringen konnte, wandte Darcy sich schon wieder seinen Angestellten zu. „Die Heulieferung kommt gegen zehn heute Morgen. Ist im Schuppen alles vorbereitet?“

John nickte. „Fast fertig. Kommt Rob vorbei und geht uns zur Hand? Allein schaffen wir das Ausladen nicht vor dem Schneeregen, der für heute gemeldet ist, fürchte ich.“

„Nein, der hat keine Zeit.“

„Könnte Lee nicht mit anpacken? Oder ist der nur zum Urlaub machen hier?“, fragte Nick.

Darcy warf Lee einen flüchtigen Blick zu und goss sich mehr Milch in seine Tasse. „Ihr müsst euch eben ein wenig reinhängen. Ich will kein nasses Heu in meiner Scheune.“

Lee ärgerte sich, dass über ihn gesprochen wurde, als wäre er nicht im Raum. Er sah zu seinem Vater, der in seiner Kaffeetasse rührte, dann zu Nick.

Der Ranchhelfer warf ihm einen spöttischen Blick zu. Du denkst wohl, ich wäre ein Weichei, dachte Lee und lehnte sich auf der Bank zurück. „Also ehrlich gesagt hätte ich gegen ein wenig Bewegung nichts einzuwenden und helfe gerne mit.“

„Wie du willst“, brummte sein Vater.

„Na, dann mal los. Vor der Lieferung müssen wir noch den Rest des alten Heus umlagern“, sagte John und stand auf. Gemeinsam mit den Ranchhelfern verließ Lee die Küche.

Lyla ging die Treppe hinab und hörte, wie die Haustür zufiel. Es roch verführerisch nach Kaffee und gebratenem Speck und mit der Vorfreude auf ein ausgiebiges Frühstück betrat sie die Küche. Am Tisch saß nur ein hagerer Mann. Sie wartete vergebens, dass er den Kopf zu ihr drehte.

„Dad?“, fragte sie verunsichert und ergänzte rasch ein „Guten Morgen.“

Sie bemerkte, wie er innehielt, sich jedoch immer noch nicht nach ihr umsah. „Es ist wohl eher Mittag.“

„Entschuldige. Es war ein langer Tag gestern“, erwiderte Lyla verunsichert.

Ihr Vater nahm die Kaffeekanne und goss sich nach.

Sie schluckte mehrmals, um den Kloß in ihrem Hals zu vertreiben. „Könnte ich auch eine Tasse bekommen?“

„Der ist alle“, murrte er. „Frühstück gab’s um halb neun.“ Noch ehe sie etwas erwidern konnte, kam Jeanne durch die Hintertür herein und strahlte sie über das ganze Gesicht an.

„Guten Morgen, Kleines. Hast du gut geschlafen? Ich mach dir frischen Kaffee und Pfannkuchen. Komm, setz dich!“ Sie zeigte einladend auf einen Stuhl.

„Was sind das denn für Geschichten! Wenn das Mädchen frühstücken will, hätte es eben früher aufstehen müssen!“

„Ach, papperlapapp!“ Jeanne warf ihr ein entschuldigendes Lächeln zu. „Keine Sorge. Darcy meint es nicht so!“

„Und ob ich das so meine!“ brummte er. „Aber wundern kann man sich ja nicht, bei der Mutter! Die dachte schließlich auch immer, die Welt drehe sich nur um sie.“ Er ergriff seinen Stock, schob den Stuhl heftig zurück und stampfte aus der Küche.

Jeanne legte eine Hand auf ihren Arm. „Nimm dir Darcys schlechte Laune nicht zu Herzen. Die Krankheit hat ihn bitter und ungerecht gemacht.“

Lyla zwang sich zu einem Lächeln und setzte sich.

„Schon besser! Du hast doch sicher einen Bärenhunger.“ Jeanne wandte sich wieder dem Herd zu und kurz darauf stand ein Teller mit duftenden Pfannkuchen auf dem Tisch. Ihre Tante schenkte ihnen Kaffee ein und setzte sich zu ihr. „Lass es dir schmecken.“

Lyla goss Ahornsirup über die Pfannkuchen, nahm die Gabel und merkte nach den ersten Bissen, wie hungrig sie war. Nach dem Essen schenkte sie sich eine weitere Tasse Kaffee ein und wandte sich an ihre Tante, die ihr schweigend zugeschaut hatte.

„Freut Dad sich denn gar nicht, dass wir hier sind? Schließlich hat er uns doch eingeladen.“

Jeanne seufzte und lehnte sich mit ihrer Tasse in der Hand zurück. „Naja, ehrlich gesagt ging die Einladung von mir aus. Ich habe Darcy erst gestern erzählt, dass Lee … also ich meine, dass ihr beide kommt.“

„Aber warum?“

„Ach, Darcy ist so ein Sturkopf und weiß oft nicht, was gut für ihn ist. Die Ärzte geben ihm noch ein halbes Jahr. Ich finde es wichtig, dass er mit euch beiden spricht und seinen Frieden findet.“

Lyla sah, wie sich Jeanne hastig eine Träne wegwischte und schaute verlegen weg. Im nächsten Moment klatschte Jeanne jedoch in die Hände. „So, jetzt aber genug mit der Traurigkeit. Ich mache hier kurz klar Schiff. Danach gehen wir raus und ich führe dich ein bisschen auf der Ranch herum. Einverstanden?“ Sie stand auf und begann den Tisch abzuräumen.

„Ich helfe dir gerne beim Abwasch.“

„Nein, nein, das mach ich schon“, erwiderte Jeanne bestimmt.

„Nun gut, dann packe ich meinen Koffer aus.“

„Komm einfach runter, wenn du fertig bist.“

Als Lyla ihr Zimmer betrat, schien die Sonne durch das Dachfenster und tauchte den Raum in ein warmes Gold. Sie warf einen Blick auf ihren Koffer, ging dann jedoch erst in das kleine Badezimmer. Sie schaute in den Spiegel und fuhr sich mit einer Hand durch ihre Haare, die immer noch feucht von der Dusche waren. In ihrem blassen Gesicht erschienen ihre dunkelbraunen Augen fast schwarz, was die goldenen Sprengsel darin zum Leuchten brachte.

„Wird Zeit, dass ich an die frische Luft komme und etwas Farbe ins Gesicht kriege“, murmelte sie, flocht rasch einen Zopf und putzte die Zähne. Zurück im Zimmer kniete sie sich vor ihren Koffer und begann, die Pullover und T-Shirts auf das Bett zu legen. Dann jedoch hielt sie inne. Lee wollte drei Wochen hierbleiben. Doch was war, wenn ihr Vater so abweisend blieb? Dann würde zumindest sie es keine Woche hier aushalten. Unschlüssig schaute sie auf ihre Sachen. Sie wusste, wie sehr Lee hoffte, Dad wieder näherzukommen.

Und ich will den Ort meiner Kindheit kennenlernen, dachte sie und beschloss, sich nicht vorschnell von der Griesgrämigkeit ihres Vaters vertreiben zu lassen. Im selben Augenblick erklang ein glockenhelles Wiehern. Schnell stand sie auf und schaute aus dem Fenster. Einige Fohlen galoppierten übermütig auf der Koppel hin und her und Lyla musste unwillkürlich lachen über so viel ungestüme Lebensfreude.

Ohne den Koffer weiter zu beachten, zog sie sich einen Sweater über und lief aus dem Zimmer. Auf halber Treppe hörte sie durch die offenstehende Küchentür, wie das Telefon läutete und Jeanne den Anruf annahm: „Ja, hier ist Jeanne. Hallo Brigitte.“

Abrupt blieb Lyla stehen. Das Letzte, was sie jetzt wollte, war, mit ihrer Mutter zu reden und Vorwürfe über ihre heimliche Abreise anzuhören. Während Jeanne weitersprach, schlich Lyla auf Zehenspitzen die letzten Stufen hinunter und blieb nahe der Treppe stehen.

„Ja, die beiden sind gestern hier angekommen.“ — „Mach dir keine Sorgen Brigitte, ich werde mich um Lyla kümmern.“

Als ob ich nicht selbst auf mich aufpassen könnte, dachte Lyla verärgert und lauschte weiter.

„Aber jetzt erzähl mal, wie geht’s dir denn? Wo arbeitest du?“ — „Als Übersetzerin kannst du wenigstens ausnützen, dass du fließend Englisch und Deutsch sprichst. Ist aber schade, dass du …“ — „Du kennst doch Darcy. Er hält sich für unverwüstlich.“ — „Aber nein, natürlich sage ich ihr nichts! Wo denkst du hin? Das war wahrhaftig nicht der Grund, warum …“ — „Aber Brigitte, wie konnte ich denn ahnen, dass Lee sie einfach mitbringt? Andererseits ist es vielleicht auch endlich einmal an der Zeit, dass …“

Jeanne senkte ihre Stimme, sodass Lyla nicht hören konnte, was sie sagte. Sie schlich näher heran.

„Deine Tochter ist mit diesem Land hier ebenso verwurzelt wie Lee.“ Jeanne versprach, dass Lyla sich melden würde und beendete das Gespräch. Einen Moment klapperte sie mit Geschirr.

Lyla betrat die Küche und sagte wie nebenbei: „Ich bin mit dem Auspacken fertig.“

Jeanne, über den Geschirrspüler gebeugt, schrak hoch. „Huch, ich habe dich gar nicht kommen hören. Deine Mutter hat gerade angerufen.“

„Ach ja?“ Lyla versuchte, überrascht zu klingen. „Willst du sie gleich zurückrufen?“

„Ähm, nein ich würde lieber raus, die Pferde sehen.“

„Einverstanden. Dass ihr gut angekommen seid, weiß sie jetzt ja ohnehin. Dann lass uns mal auf den Hof gehen und ich zeige dir alles.“

Der Heulaster fuhr langsam davon. Lee schaute auf den zehn Meter hohen, gestapelten Heuberg, drückte seinen Rücken durch und unterdrückte ein Stöhnen. Jeder der Ballen wog an die dreißig Kilo und jetzt, nachdem sie alle zweihundertfünfzig Stück im Eiltempo abgeladen hatten, brannten seine Muskeln wie Feuer. Trotzdem hatte die Arbeit Spaß gemacht. Nick und John klopften sich ohne Anzeichen von Erschöpfung den Staub von den Jeans und Lee sah, wie Jeanne zusammen mit Lyla über den Hof zu ihnen kam.

„Ist alles glatt gelaufen?“, fragte seine Tante und ließ ihren Blick über das Heu schweifen.

„Wie man es nimmt. Die Ballen sind sehr gute Qualität, aber der Heulieferant hat angedeutet, dass die nächste Lieferung um einiges teurer werden wird. Den neuen Preis hat er hier notiert.“ John reichte Jeanne ein Blatt Papier.

Sie überflog die Liste und seufzte. „Meine Güte, das ist ja beinahe das Doppelte! Wie soll denn eine Ranch bei diesen Preisen überleben?“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Naja, jammern hilft nichts. Ich werde versuchen, es Darcy so schonend wie möglich beizubringen. Aber ich warte damit, bis uns die Jensons hoffentlich ein oder zwei Hengste abgekauft haben. Nick, ich verlasse mich auf dich, dass die Junghengste sich von ihrer besten Seite zeigen.“

„Aber klar doch, Miss Jeanne. Ich bin mir sicher, sie zahlen für mindestens einen den Höchstpreis.“

„Hoffen wir’s. John, kümmerst du dich um die Haferbestellung?“

„Schon so gut wie erledigt“, erwiderte der Ranchhelfer und entfernte sich.

Nick griff nach seiner Jacke, die auf einem Heuballen lag. „Tja, ich mache mich jetzt mal an das Putzen der Rasselbande.“

„Lyla und ich könnten dabei helfen“, schlug Lee vor und sah zu seiner Schwester, die lächelnd nickte.

„Ich komme gut allein zurecht“, murrte Nick.

„Das weiß ich, aber zu dritt putzt es sich doch schneller.“

„Da hat Lee recht“, warf Jeanne ein. „Außerdem können sich die beiden auf dem Weg zur Weide ein wenig umsehen.“

„Meinetwegen“, lenkte Nick schulterzuckend ein.

„Ich erwarte euch dann zum Lunch.“ Jeanne ging zurück zum Haus.

Lee und Lyla folgten Nick zu einer der Scheunen und gingen hinein. Nick drückte Lee die Putzbox in die Hand, schnappte sich ein paar Halfter und sie machten sich auf den Weg zu der Hengstkoppel.

Der Pfad führte an zahlreichen Feldmaschinen und Schuppen vorbei. Einige der Gebäude hatten Löcher in den Metalldächern, die notdürftig mit Plastikplanen abgedichtet worden waren.

„Die Ranch scheint wirklich kämpfen zu müssen“, meinte Lyla leise zu Lee und wies mit dem Kinn auf die Planen.

Lee nickte und ließ seinen Blick ebenfalls über den Zerfall schweifen. Sein Vater hatte früher immer penibel darauf geachtet, dass alles in einwandfreiem Zustand war. War seine Krankheit der Grund für den schlechten Zustand der Ranch oder hatten ihn die Probleme des Anwesens krank werden lassen?

Lee fühlte eine Ratlosigkeit, die ihn ärgerte und ihm gleichzeitig schmerzhaft bewusst machte, dass er kein Teil der Ranch mehr war.

Sie folgten dem Weg noch weitere zehn Minuten, bis sie die Weide erreichten. Das Gras war noch braun, der Schnee von letzter Nacht war bereits weitgehend wieder geschmolzen. Die Natur würde erst in einigen Wochen wieder richtig zum Leben erwachen. Darcy hatte immer gesagt, dass mit dem Frühling auch seine Lebensgeister erwachten. Ob dies sein letzter Frühling sein würde? Ein bedrückendes Gefühl überkam Lee, doch er schob es beiseite und schaute zu Nick, der das Gatter öffnete.

Der Cowboy drückte ihm ein Halfter in die Hand. „Na, dann wollen wir die Bande mal einfangen.“

Lee folgte ihm auf die Koppel, Lyla blieb am Zaun stehen.

„Jetzt zeig mal, was du drauf hast, City Boy“, stichelte Nick, als sie langsam auf die Gruppe zugingen.

„Wirst schon sehen.“ Lee entschied sich für einen der braunweißen Schecken und ging langsam auf das Tier zu. Er vermied es, den Hengst direkt anzusehen, machte einige Meter vor ihm einen kleinen Bogen und näherte sich der linken Schulter des Schecken, wie sein Vater es ihm von klein auf gepredigt hatte. Pferde waren Fluchttiere. Das Tier hob den Kopf und musterte ihn neugierig. Als Lee versuchte, das Halfter anzulegen, drehte der Schecke den Kopf zur Seite. Er versuchte es erneut, doch der Hengst machte eine ruckartige Kehrtwende und galoppierte mit erhobenem Schweif davon. Mist, dachte Lee, schaute kurz zu Nick, um festzustellen, ob der Cowboy den missglückten Versuch gesehen hatte.

Nick band sein erstes eingefangenes Pferd an den Zaun und warf ihm einen gönnerhaften Blick zu. „Soll ich dir doch zeigen, wie es geht?“

Ach, halt die Schnauze, dachte Lee, biss die Zähne zusammen und startete einen zweiten Versuch.

Diesmal ließ sich der Schecke ohne Probleme das Halfter anlegen und Lees Selbstbewusstsein kehrte zurück. Nach einer Viertelstunde standen alle sechs Pferde am Zaun. Nick reichte ihm eine Bürste und nahm sich selbst eine.

„Wie viele Pferde besitzt mein Vater denn?“, fragte Lyla.

„Diese sechs Junghengste, zehn Zuchtstuten und neun Reitpferde.“ Nick ging auf einen der Hengste zu.

„Kann ich auch mithelfen?“, fragte sie.

„Wenn du helfen möchtest, kannst du einen von den Heuballen dort verteilen.“ Nick deutete auf einen kleinen, mit einer Plane bedeckten Heustapel. „Hier nimm, zum Aufschneiden der Schnüre.“

Sie nahm das Klappmesser, das er ihr hinhielt, und wandte sich ab. Mit dem Striegel in der Hand ging Lee zu dem Schecken und begann, den angetrockneten Matsch und die losen Haare auszubürsten. Er sog den erdigen Geruch des Tieres ein und spürte die Wärme ebenso wie die jugendliche Kraft, die das Pferd ausstrahlte. Jeder seiner Handgriffe war Lee so vertraut wie damals, als er es nach der Schule hatte kaum abwarten können, zurück zur Ranch und zu den Pferden zu kommen. Mann, wie hatte er das vermisst!

In kürzester Zeit waren seine Kleider über und über mit Pferdehaaren bedeckt. Als der Schecke seine Jackentasche intensiv nach Leckerli absuchte und, als er keines fand, ihm enttäuscht einen Schubs mit dem Kopf gab, musste Lee lachen.

„He, du Schlawiner, nicht grob werden. Das nächste Mal bringe ich dir was mit.“ Er schaute auf und sah, wie Lyla mit einem der Heuballen kämpfte. Mit einem kräftigen Ruck schaffte sie es, den schweren Ballen in die richtige Position zu bringen und schnitt dann die Schnüre auf. Nick rief ihr zu, dass sie mit dem Verteilen anfangen könne.

„Aber pass auf bei dem Palomino.“ Er deutete auf einen Hengst mit goldschimmerndem Fell und blonder Mähne und Schweif. „Cracker schnappt gern.“

Sie nickte und summte eine Melodie, während sie das Heu in gleich große Mengen portionierte und es verteilte. Die Tiere begrüßten das Futter mit freudigem Wiehern. Nur Cracker scharrte ungeduldig mit den Hufen und schnappte nach links und rechts. Als Lyla sich ihm mit dem Heu auf dem Arm näherte, legte er seine Ohren eng an den Kopf. Aufgeregt schnaubend schüttelte er seine goldfarbene Mähne und stampfte mit einem Vorderbein. Lee sah, wie seine Schwester das Heu außer Reichweite des Hengstes ablegte, das Tier kurz beobachtete und sich dann langsam näherte. Aus ihrem Summen war ein Lied geworden, das sie gedankenverloren vor sich hin sang. Cracker spitzte die Ohren, hörte auf zu tänzeln, kam dicht an den Koppelzaun heran und streckte seinen Kopf über die Holzlatten. Sie trat zu ihm, legte eine Hand auf seinen Hals und die andere flach auf seine Stirn.

Das Pferd ließ den Kopf sinken, atmete mit einem langen Schnauben aus und die Anspannung wich aus seinem Körper. Lyla lächelte, machte einen Schritt zurück und blickte den Hengst voller Zärtlichkeit an.

„So ist es brav, mein Schöner“, lobte sie, holte das Heu und legte es ihm hin.

„Wow, ich habe Cracker noch nie so ruhig gesehen. In deinem hübschen Kopf versteckt sich ja echter Pferdeverstand“, sagte Nick anerkennend und zwinkerte ihr zu. „Vielleicht kannst du deinem Bruder noch was beibringen.“

Warte nur, bis ich mich wieder eingearbeitet habe, dann bin ich derjenige, der dir Tricks beibringen kann, dachte Lee, konnte sich ein Grinsen jedoch nicht verkneifen. Er musste zugeben, dass die Sticheleien des Ranchschönlings ihn mehr anspornten als ärgerten. Der Vormittag bei den Pferden machte ihm Spaß. Gut gelaunt folgte er seiner Schwester und Nick zurück zum Haus.

Kapitel 3

Lee saß zusammen mit Lyla und den beiden Ranchhelfern am Frühstückstisch, als sein Vater auf einen Stock gestützt die Küche betrat. Lee hatte ihn die letzten zwei Tage kaum zu Gesicht bekommen, da er einige Arzttermine gehabt hatte.

„Guten Morgen“, brummte Darcy und setzte sich. „Hat hier keiner was zu tun?“

„Wir sind gleich weg“, sagte John. „Ich bräuchte nur die Papiere der beiden Junghengste, die den Jensons gestern am besten gefallen haben, aus dem Büro.“

„Sie liegen auf meinem Schreibtisch.“

John nickte, stand auf, stellte seine Tasse in die Spüle und ging.

„Gibt es etwas, wobei ich helfen kann?“, fragte Lee.

„Ich wüsste nicht, was“, erwiderte sein Vater mürrisch. „Von Rancharbeit hast du doch keine Ahnung mehr. Wenn dir langweilig ist, dann geh Fotos schießen. Nimm deine Schwester gleich mit.“

„Mir ist nicht langweilig. Ich würde gerne …“

„Ich habe einiges im Büro zu erledigen“, fuhr ihm sein Vater ins Wort. „Nick, du machst die Hufe der Jährlinge.“ Mit diesen Worten stand Darcy auf und verließ die Küche.

„Na, toll. Ich sollte doch eigentlich Medikamente beim Tierarzt holen“, murrte Nick und leerte seine Tasse.

„Das können Lyla und ich doch erledigen“, sagte Lee, dem die Worte seines Vaters bitter aufstießen. Ein paar Stunden weg von der Ranch klang nach genau dem Abstand, den er brauchte, um seinen Ärger verrauchen zu lassen.

Nick zuckte mit den Schultern. „Soll mir recht sein."

Auf dem Weg nach Spruce View spürte Lee, wie sehr er sich freute, die kleine Stadt wiederzusehen. Ihn verbanden so viele gute Erinnerungen mit dem Dorf und den Fahrten dorthin mit seinem Vater.

Darcy hatte sich stets Zeit genommen für eine Plauderei mit dem Futterhändler und anderen Ranchern und war immer darauf bedacht gewesen, Lee mit einzubeziehen. Sei es in die Entscheidung, ein neues Pferdefutter zu probieren, oder den besten Preis für Heuballen auszuhandeln.

Und jetzt behandelst du mich wie einen lästigen Besucher, dachte Lee missmutig. Die trüben Gedanken verflogen, als Lyla aufschrie und auf eine Herde Wapitikühe zeigte, die über ein Feld liefen. Er lachte über ihre Begeisterung. Die zwanzigminütige Fahrt führte sie vorbei an zahlreichen Ranchen, die von großen Weiden umgeben waren, auf denen Rinder zu dieser Jahreszeit noch mit Heu gefüttert wurden. Die meisten Auffahrten zu den Ranchen zierte ein hoher Torbogen, an deren Mitte der Name der Ranch stand, meist eine Abwandlung des Familiennamens der Besitzer.

---ENDE DER LESEPROBE---