Die Schicksalsweberin - Christof Willen - E-Book

Die Schicksalsweberin E-Book

Christof Willen

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Beschreibung

Schriftsteller Bodo arbeitet an seinem zweiten Roman. Der etwas einsame Autor scheint gerade aus seinem Alleinsein auftauchen zu dürfen, als er Sara, eine Musikerin, kennenlernt. Eine zerbrechliche und hoffnungsvolle Liebesgeschichte entsteht. Peer ist ein von schweren Schicksalsschlägen gezeichneter Mann auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Nach einem schweren Unfall lernt er Ayse kennen, eine verheiratete Immigrantin aus der Türkei. Eine zerbrechliche und hoffnungslose Liebesgeschichte entsteht ... Teil 1 einer Liebesgeschichte zwischen Fiktion und Realität.

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EPUB

Seitenzahl: 894

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Impressum

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

 

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und -auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

 

© 2012 novum publishing gmbh

 

ISBN Printausgabe: 978-3-99003-991-5

ISBN e-book: 978-3-99003-997-7

Lektorat: Sarah Schroepf

Umschlagfotos: Lunamarina | Dreamstime.com, Dmytro Konstantynov | Dreamstime.com, Leigh Prather | Dreamstime.com

 

Gedruckt in der Europäischen Union auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem -Papier.

 

www.novumverlag.com

 

 

 

Widmung

 

 

Für …

Regula und Jasmina

… in tiefer Liebe

 

 

 

 

 

 

1.

„Haben Herzen Flügel? Und wenn sie Flügel haben … Wo fliegt mein Herz hin, und wie kommt es zurück, wenn es dort, wo es hingeflogen ist, nicht sein darf, nicht sein kann? Werden die Flügel irgendeinmal lahm, das Herz des Fliegens müde?“ Peer verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schaute zum Himmel hoch. Weiße Wattewolken kontrastierten mit dem süffigen Blau darüber, sie zogen kaum. Die Sonne wärmte seine Haut, mild und sanft, und brannte schon fast, dort, wo sie den Stoff seiner schwarzen Hose durchdrang. Das Gras kitzelte seine Arme, manchmal huschte eine Ameise über seine Haut. Peer schloß die Augen. Ein Schwarm Schwalben schwirrte unaufhörlich zwischen den Häusern umher, die Vögel riefen sich gegenseitig zu.

„Vogelstimmen … Wie finden Herzen einander? Vögel erkennen sich an ihren Stimmen, und auch viele andere Tiere finden ihren Partner mit Gesang. Singen unsere Herzen auch? Senden unsere Herzen Schwingungen aus, eine Art Musik, die nur ein Herz hören kann, empfangen kann, wenn es in derselben Schwingung schlägt?

Findet ein Herz ein anderes, das zwar dieselbe Musik spielt, aber nicht im gleichen Takt, so mag die Liebe, die dadurch entsteht, eine Weile halten, doch nicht für immer. Es gibt nur ein Herz unter all den Millionen Herzen, das wirklich genau die gleiche Musik spielt, in der gleichen Tonlage, im gleichen Takt; ein einziges Herz, das bestimmt ist, mit dem eigenen zu harmonieren. Doch wie findest Du dieses Herz? Und was, wenn Du es findest, es aber nicht frei ist? Was dann?“ Peers Gedanken wanderten tiefer, ergriffen seine Seele und nahmen sie mit auf die Reise; es waren nun nicht mehr nur Gedanken; sie verbanden sich mit Erinnerungen, mit Schmerz, mit Trauer und verlorenen Hoffnungen; und während sie um ihn herum und in ihm kreisten, scheuerten sie an den Narben der Wunden, die über Jahre hinweg in ihm entstanden waren. Die Zeit heilt alle Wunden … Nur die Narben, die zurückbleiben, die erinnern und schmerzen, wie Rheuma in alternden Gelenken, dachte Peer bittersüß, und irgendeinmal ist Dein Herz nur noch ein narbiges Geschwür …

Schmerz gehörte zur Liebe wie die Wärme zur Sonne, jedenfalls war das bei ihm so. Peer nutzte die Mittagspause, um über sein Leben nachzudenken, eigentlich nutzte er jede Pause, um über sein Leben nachzudenken; eigentlich dachte er auch zwischen den Pausen immer über sein Leben nach.

Die mittägliche Stille wurde durchbrochen, ein Auto fuhr auf der nahen Straße vorbei; der Ton wurde lauter, das Geräusch übertönte die Vogelstimmen, dann vermischte es sich mit den leisen Tönen des Raschelns des Laubes, dem kecken Rufen der Schwalben und verschwand dann in der Ferne. Stimmen erklangen aus einem Fenster; Gelächter. Peer gab sich ganz den Geräuschen hin. Mit geschlossenen Augen ließen sich die Geräusche wegtragen, in einen anderen Teil der Erde verschieben, und er stellte sich vor, irgendwo in Italien zu liegen. Er stellte sich vor, sobald er die Augen öffnete, von Olivenbäumen und Ginster umgeben zu sein, von mediterranen Gebäuden und Gerüchen; er sah die kleinen, farbigen Fischerboote, die sanft im Hafen dümpelten, und die abgeschossenen Fassaden der schmalen Häuser in den engen Gassen; er roch den säuerlichen Duft von Fisch und Salz und den schon penetranten Geruch von frisch geschnittenem Schinken aus der offenen Türe der Metzgerei; und er glaubte gar, die korpulente Mama in der blaugeblümten Schürze, die gerade aus der Bäckerei kam, rufen zu hören: „Antonio, veni, veni …“

Als er die Augen öffnete, lag er unter dem Kirschenbaum an der Sackgasse im Osten Berns und nicht in Italien, neben ihm ragten Industriebauten in die Höhe und keine schmucken Häuschen; die Mittagspause war vorbei und sein Leben nicht anders als zuvor.

 

Bodo lehnte sich zurück und las die Zeilen durch. Eine Zigarette verglühte im Aschenbecher, und der Kaffee in der Tasse neben dem Computer wurde kalt.

Er gähnte und streckte seinen Rücken durch. Die Nacht war warm, und obwohl ein feiner Regen fiel, schien die angestaute Hitze des Tages nicht weggeschwemmt zu werden. Der Regen hatte mit einem Gewitter begonnen, das einem schwülen Tag gefolgt war. Düstere, dumpfgraue Wolken hatten am Nachmittag den Himmel überzogen, die Sonne beiseite geschoben und das blaue Tuch weggerollt, und Donnergrollen war den Regenwolken gefolgt. Die ersten Tropfen fielen kirschengroß, dann brachen die Wolken, und es prasselte eine halbe Stunde ein herrlich duftender Sommerregen auf Blätter und Dächer. Nun nieselte es lediglich noch, und das Geräusch der Tropfen, die von den Blättern fielen, war lauter als das derer, die vom Himmel kamen. Die Vögel sangen wieder, und die Autos auf der Straße zogen eine zischende Wasserspur hinter sich her.

Bodo dachte über seinen Protagonisten nach. Immer wieder ertappte er sich dabei, daß er Parallelen zog zwischen sich und Peer, obwohl er das eigentlich gar nicht wollte. Wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, wußte er gar nicht so genau, wo er eigentlich mit der Geschichte hinwollte, deren Zeilen vor ihm auf dem Bildschirm standen. Das war schon oft so gewesen, und plötzlich hatten dann die Worte ein Eigenleben entwickelt und ihn wie von selbst irgendwohin geführt. Manchmal hatte er auch Angefangenes stehengelassen und oft sogar gelöscht, weil sich die Figuren in der Geschichte einfach nicht zum Leben er­wecken lassen wollten und ihm so nicht die notwendige Inspiration gaben. Eine Geschichte zu schreiben, war wie Schaufensterpuppen anzuziehen, um dann zu warten, bis sie lebendig wurden. Begannen sie sich einmal zu bewegen, mußte er nur noch deren Leben festhalten und in Worte fassen. Doch manchmal eben blieben sie Schaufensterpuppen, leer, stumm, ohne Aussage und ohne Seele, hinter einer dicken Glasscheibe …

 

Ein Flugzeug zog irgendwo über ihm dahin; das Motorengeräusch ein weit entferntes Summen. Wo fliegst du hin?, fragte sich Bodo. Nimm mich mit auf deine Reise …

Bodo saß auf der Terrasse seines Hauses unter dem schützenden Vordach und schaute in die Nacht hinaus. Eine Kerze in einem runden, großen Blech flackerte und ließ ihr Licht tanzen. Der Sommer stand in voller Blüte, und er selbst fühlte sich welk.

Inzwischen war es bereits kurz vor zehn, und er zögerte zwischen Weiterschreiben und Ausgehen. Doch wohin sollte er alleine schon gehen? Er war keiner derer, die in Bars das Gespräch mit anderen oder gar den Kontakt zu Frauen suchten; nein, das konnte er nicht. Das war so oberflächlich. Und wenn Bodo etwas nicht war, dann war es oberflächlich. Im Gegenteil. Seine Tiefgründigkeit stand ihm eigentlich dauernd im Weg. Doch das war er, tiefgründig, nachdenklich, und daher eigentlich meist unglücklich. Seine Art verhalf vielen anderen, den Weg zu finden, und ihm verhalf es eigentlich immer dazu, seinen Weg zu verlieren. Verlieren, das war das einzige, was er in seinem Leben bis jetzt immer unbestritten erfolgreich geschafft hatte.

 

Bodo zündete sich eine Zigarette an und strich mit der Hand über seine frisch rasierte Glatze. Die Zeilen auf dem Bildschirm vor ihm verschwanden, und eine komische farbige Wolke waberte halluzinogen vor seinen Augen hin und her; abwesend betrachtete er den Bildschirmschoner und dachte nach. Er fragte sich immer wieder mal, wieso er eigentlich schrieb.

Daß sich irgendeinmal der Erfolg gemeldet und bei ihm an der Tür angeklopft hatte, war eine meist angenehme Nebenerscheinung, und er hatte ihm zögerlich und mit etwas scheuem Ungewissen die Türe geöffnet und ihn eingelassen. Doch mit dem Erfolg kamen auch die ungebetenen Gäste und schmuggelten sich herein, so zum Beispiel die Lesungen, die ihm gar nicht behagten. Er hörte sich nicht gerne sprechen, und schon gar nicht seine eigenen Gedanken und Worte vortragen.

Nein, der Erfolg war nur die Nebenwirkung, oder sozusagen ein Symptom, aber nicht die Ursache.

Er schrieb, weil er dadurch seine Seele in die Ferien schickenkonnte, er konnte ihre Wunden pflegen – oder manchmal schrieb er sich auch die Seele wund, es kam ganz drauf an, wo er im Leben stand. Schreiben war eine Therapie, wie es Dean Koontz einmal so trefflich gesagt hatte; eine psychische Chemotherapie, die die geistigen Tumore heilt und deren Schmerzen lindert. Schreiben war Bilder malen mit den Farben von Worten; es war Düfte kreieren aus Gedanken. Schreiben gab ihm einerseits die Möglichkeit, einfach eine Welt entstehen zu lassen, die grenzenlos war; nichts war unmöglich und alles erlaubt; andererseits ließ sich Erlebtes so wundervoll verarbeiten. Er schrieb, wenn er glücklich war und seinen Träumen freien Flug gewährte und die Welt zu klein wurde; und er schrieb, wenn die Worte in den Blutstropfen seines Herzens ertranken und er zusah, wie die Zeilen in seinen eigenen Tränen davontrieben. Schreiben, das war seine Welt, das war sein Leben – und es war auch so ziemlich die einzige Konstante in seinem Leben, egal ob er ganz oben oder ganz unten war. Er schrieb in die Wärme der lachenden Sonne gebettet, er schrieb auf dem Berg der Traurigkeit, er schrieb lachend auf dem See dahintreibend, und er schrieb am Rande des Abgrundes, während er nach unten schaute.

 

Es wurde nun doch etwas kühl, und seine Arme überzogen sich mit Gänsehaut. Bodo entschied sich, Peer noch etwas in der Mittagspause hängen zu lassen, und klappte den Computer zu. Er löschte die Kerze und ging hinein. Eine Mischung aus Kerzenduft und Qualm des verglühenden Dochtes folgte ihm.

Bodo hatte Lust auf etwas Musik und entschied sich, doch noch für einen Moment in die Stadt zu fahren; vielleicht hatte er ja Glück, und er fand in einem gemütlichen Lokal entspannende Musik, zu der er die Menschen beobachten, in Träumen verweilen und Inspiration finden konnte. Meist kam er zwar von solchen Abenden nach Hause und fühlte sich noch einsamer als zuvor, doch er war bereit, das Risiko einzugehen. Viel einsamer als an diesem Abend konnte er sich ohnehin nicht fühlen.

Wo kannst du schon hinfallen, wenn du bereits ganz unten angekommen bist?

 

 

Bodo verweilte einen Moment vor dem Kleiderschrank und fand dann eine Hose, die ihm behagte; schwarz, mit mehreren Taschen an den Beinen, und suchte ein T-Shirt ohne Ärmel, das dazu paßte. Im Bad setzte er die Kontaktlinsen ein, putzte sich die Zähne und schaute kurz in den Spiegel. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Stolz ihn erfüllt, wenn er sich selbst betrachtete; stolz, richtig zu sein; stolz, gar nicht so übel zu sein; er hatte sich gut gefühlt und wohl in seiner Haut, doch im Moment wußte er manchmal gar nicht so recht, wer ihm da eigentlich aus dem Spiegel entgegenschaute. Bodo seufzte und ging wieder ins Schlafzimmer. Mit geschlossenen Augen wählte er ein Parfum, damit er sich nicht entscheiden mußte. Er legte den Armreif mit den eingravierten keltischen Knoten ums Handgelenk und steckte einen breiten, silbernen Ring auf den Daumen der linken Hand. Das Portemonnaie verstaute er in der linken Beintasche, das Handy verschwand in der rechten; eine Packung Kaugummis fand irgendwo Platz und auch die Zigaretten. Und sein kleines Notizbuch mit dem Kugelschreiber, ohne das er nirgendwo hinging. So gerüstet, schnappte sich Bodo dann den Autoschlüssel und verließ das Haus.

Es nieselte immer noch dezent, als er die Tür hinter sich abschloß und zur Tiefgarage ging. Herr Joß kam ihm mit dem müden, alten Labrador entgegen und grüßte ihn freundlich. Bodo wünschte ihm einen schönen Abend und sprang die Stufen zur Einstellhalle hinunter. Ein Kauz rief aus dem nahen Wald, und zwei Katzen schienen in einem Garten einen Revierkampf auszutragen.

Schwaches Licht und die obligate, etwas befremdende Wirkung einer im Halbdunkel liegenden Tiefgarage empfing ihn, und Bodo verstand jede Frau, die nur ungern alleine an so einen Ort ging – nicht daß er Angst hatte, aber irgendwie verströmte eine stille, dunkle Einstellhalle genau die Atmosphäre, die einem Schauer über den Rücken laufen ließ, wie in den Krimis am Fernsehen, in denen ja meist an solchen Orten irgend etwas geschah; oder genau wegen der Krimis. Was war nun zuerst, das Huhn oder das Ei?

Bodo drückte den Knopf auf seinem Autoschlüssel, und die Verriegelung des Wagens sprang laut schnappend auf; alle vier Blinker zuckten kurz als Zeichen der Anerkennung. Er stieg ein und startete den Motor; während er mit der einen Hand die Türe zuzog, suchte er auf dem iPod, der im Radiotransmitter steckte, die Musik, die er hören wollte, und legte dann den Rückwärtsgang ein. Als er langsam zum Tor rollte, begann Anna Ternheim zu singen und mahnte ihn, die Ruhe, die Nacht zu verlassen.

Bodo sang mit und fuhr in die nasse Nacht hinaus.

 

Regentropfen zerplatzten auf der Scheibe; die Sicht war verklärt, und alles erschien durch einen diffusen Schleier. Bodo liebte die Nacht, und noch mehr die Regennacht. In der Nacht schien sich alles auf eine kleine, überschaubare Welt zu reduzieren, die Blicke wurden nicht abgelenkt und in die Ferne geführt; man sah nur, soweit das Licht reichte, und so kreisten die Gedanken immer in der Nähe herum, wie Falter, die den hellen Schein suchten.

Wenige Autos waren auf der Straße unterwegs. In den Häusern brannten Lichter, und durch die meisten Fenster drang der bläuliche, hastig wechselnde Schein der Fernseher nach draußen. Die Menschen zogen sich zurück in die Abgeschiedenheit der eigenen vier Wände, um sich die große Welt über den Bildschirm herzuholen. Bodo schüttelte verständnislos den Kopf und fuhr auf die Brücke, welche über den See führte. Die Straßenlampen warfen ihr gelbes Licht ins Wasser, ein schmaler werdendes Band, in dem die Wellen sich sanft bewegten, von den Regentropfen gekitzelt.

Wenige Minuten später bog er von der Autobahn ab und folgte der Straße in die Innenstadt. Bodo entschied sich, sein Glück auf dem dem Zentrum am nächsten liegenden Parkplatz zu versuchen; das wurde belohnt, und er huschte in einen der letzten freien Plätze.

Samstagabend. Trotz des eigenwilligen Wetters pulsierte ausgelassenes Leben in den Gassen. Bodo querte den Parkplatz und ging Richtung Zentrum. Er wurde seltsam tief berührt, begegnete er verliebten Paaren, die so ineinander vertieft waren, daß sie vermutlich nicht einmal wußten, in welcher Stadt sie unterwegs waren; er amüsierte sich still, kreuzte er den Weg kichernder Mädchen mit knospenden Körpern in freizügiger Kleidung, die wohl noch nicht oft ohne Eltern in den Ausgang hatten gehen dürfen; und er schüttelte befremdet den Kopf, wenn er in der Blüte der Pubertät stehende Jungs hörte und bemerkte, daß deren Wortwahl sie verpflichtete, pro Satz mindestens sechs Mal das gleiche Fluchwort zu verwenden.

Bodo wollte gerade den Weg zum Bahnhof einschlagen, um dort an eine Zeitung mit dem aktuellen Abendprogramm zu gelangen, da fiel sein Blick auf ein Plakat, das hastig an eine Häuserwand geklebt worden war.

Er ging näher und fragte sich, weshalb das Plakat wohl seine Aufmerksamkeit geweckt hatte.

War es die große Schrift? War es der Konzertflügel, der gefiltert fotografiert in der Mitte stand, oder war es die dunkelhaarige Frau, die mit geneigtem Kopf auf dem Instrument saß, eine große, weiße Kerze in den geschlossenen Händen? Bodo wußte es nicht, doch ehe er den Text las, betrachtete er die Frau, deren Gesicht im Schein der Kerze märchenhaft wirkte; ihre Augen schienen ins Leere zu blicken, und doch kam es ihm vor, als schaue sie ihn an.

„Sara L. Boillat, brillante Pianistin und begnadete Sängerin, entführt in eine Welt zwischen Alicia Keys und Tory Amos und verzaubert dennoch mit klarem, eigenem Stil …“

Bodos Herz schlug höher, als er dies las. Und als er die Konzertdaten überflog, wußte er das Glück für diesen Abend definitiv auf seiner Seite. Sie spielte an diesem Abend im Kornhaus in Bern – und das Konzert begann in genau zwanzig Minuten.

Ohne den leisesten Anflug eines Zögerns schritt Bodo zügig die Aarbergergasse hinunter und schlug die Richtung zum besagten Lokal ein.

Bern war eigentlich ein großes Dorf, so fand Bodo, während er an beleuchteten Schaufenstern vorbeiging. Im Vergleich zu anderen Schweizerstädten sicher nicht das Mekka an Abendunterhaltung, doch ihm gefiel die Mischung aus Provinzialität und Kulturvielfalt. Er liebte seine Heimatstadt, obwohl klein und manchmal zu klein, so besaß sie doch einen Charme wie keine andere Stadt, die er je kennengelernt hatte.

Es regnete nun nicht mehr, und sofort entstanden vor den verschiedensten Lokalen Menschengruppen; rauchend, lachend, trinkend, begleitet von der Musik aus dem Innern. Bodo bahnte sich seinen Weg zwischen ihnen hindurch und sah bald das mächtige Gebäude des Kornhauses vor sich.

Ein Anflug von Panik machte sich bemerkbar, als er eine große Menschentraube vor dem Eingang stehen sah, doch verflüchtigte dieser sich schnell wieder, als er feststellte, daß sie alle gegen den Eingang drängten, der nach oben zum Stadtsaal führte. Dem Alter und der Kleidung nach zu urteilen, fand dort eine Techno-Veranstaltung statt; definitiv nicht sein Geschmack.

„Viel Erfolg, Simon …“, murmelte er, da er den Veranstalter kannte, und stieß die Türe auf zum Keller, in dem das Konzert stattfinden sollte. Er tauchte ein in die fast mystische Atmosphäre des riesigen Kellergewölbes und überblickte von oben, während er den Eintritt bezahlte, das Lokal. In der Mitte entdeckte er eine kleine Bühne, auf der dasselbe Piano stand wie auf dem Plakat. Mitten auf der schwarz glänzenden Oberfläche stand die weiße, große Kerze. Rund um die Bühne waren kleine Tische mit drei, vier Stühlen angeordnet. Bodo entdeckte einige freie Tische und fixierte einen, der ganz nahe an der Bühne stand. Er stieg die Stufen hinunter und ging zwischen den besetzten Tischen hindurch zur Bühne. Er setzte sich und lehnte sich entspannt zurück. Über ihm auf der Galerie füllten sich die Plätze, lautes Stimmengewirr durchdrang das Gewölbe. Bodo bestellte sich ein Glas Weißwein und ein Mineralwasser und bestaunte das Treiben um sich herum. Zum Glück hatte ihn noch niemand erkannt, er wollte diesen Abend genießen und sich der Musik und den Gedanken hingeben. Nicht, daß er so bekannt wäre, als daß er überall angesprochen würde – ein Vorteil, den ein Schriftsteller hatte, man kannte seine Worte, aber nicht unbedingt sein Gesicht –, doch es kam immer wieder vor, daß er in meist unpassenden Momenten erkannt wurde.

Die meisten Tische waren mit Paaren besetzt, andere mit Gruppen aus Männern oder Frauen, Freunde, die miteinander ausgingen. Nur ganz selten entdeckte er Einzelgänger, wie er einer war.

Bodo wandte sich der Bühne zu und betrachtete abwesend den Flügel, ließ seinen Blick in der Kerzenflamme eintauchen und wegdriften. Er war gespannt auf das Konzert, auf die Frau und ihre Stimme. Er liebte Alicia Keys und ebenso Tory Amos, also konnte es fast nur seinem Geschmack entsprechen. Bodo wählte sowieso fast immer Frauen, wenn es um Musik ging. In seiner Diskographie zu Hause standen sie definitiv in der Überzahl; das war auch gut so und könnte im Leben ohnehin so sein, war Bodo der Meinung. Auch wenn er mit Frauen nicht wirklich Glück zu haben schien, so waren sie seiner Meinung nach einfach die besseren Menschen als die Männer, und sowohl in Wirtschaft als auch Politik würde vieles bessergehen, säßen Frauen an den entscheidenden Stellen. So dachte er. Und überhaupt war es einfach wunderschön, daß es Frauen gab.

In dem Moment betrat Sara L. Boillat die Bühne, und Bodo fühlte sich in seiner Philosophie bestärkt, denn diese Frau war unbeschreiblich schön und füllte mit ihrer Präsenz in Sekundenbruchteilen das Lokal. Es wurde augenblicklich still in dem Gewölbekeller, als sie hinter dem Flügel hervortrat und die Kerze von dessen Oberfläche nahm. Sie hielt die Kerze mit beiden Händen vor der Brust – und das Licht im Keller ging aus. Stockdunkel war es, abgesehen von den grün schimmernden Notausgangsschildern, nur ihr Gesicht wurde von dem sanft flackernden Kerzenlicht beleuchtet. Das fast schwarze, ganz leicht gewellte Haar umrahmte ihr Gesicht; auf der Haut ihrer Wangen entdeckte Bodo feinen Glimmer; ihr Mund stand ganz leicht offen, die vollen Lippen ließen einen Hauch der weißen Zähne durchschimmern; und ihre Augen … Bodo atmete tief ein und tauchte ein in ihre Augen, versank in den braungoldenen Tiefen, und es war ihm, als leuchteten kleine Sterne in ihnen. Die Musikerin blieb eine Minute – die Bodo vorkam wie eine Ewigkeit – einfach reglos auf der Bühne stehen und schaute über die Kerzenflamme hinweg ins Nichts.

Sie trug ein langes, schwarzes Kleid – und war barfuß. Bodo lächelte.

Ganz leise begann im Hintergrund ein Klavier zu spielen, die Melodie wurde stetig etwas lauter, blieb aber im Verborgenen. Und da begann Sara zu singen. Nur Töne, keine Worte; eine Melodie aus Tönen, mystisch, sphärisch, und Bodo überzog augenblicklich eine Gänsehaut. Ihre Stimme floß direkt in sein Blut und brachte es zum Wogen. Sie begann leise, doch mit unglaublicher Kraft, wurde dann lauter und füllte schließlich den riesigen Gewölbekeller aus, ganz ohne Verstärkung. Bodo schloß die Augen und trieb in ihrer Stimme dahin. Es war unbeschreiblich. Niemand wagte zu husten oder einen Stuhl zu rücken; kein Glas klirrte, ja, es war, als würde niemand auch nur atmen. Ihr Gesang schwoll an, die leicht rauchige Stimme bebte in feinem Vibrato, wurde leiser, ohne auch nur einen Hauch Kraft zu verlieren, wogte wieder in Wellen durch den Raum und verschwand in der Stille. Das Piano beendete die Melodie. Stille. Einige Sekunden blieb es totenstill. Bodo öffnete die Augen. Sara stand wieder reglos da, vom Kerzenschein beleuchtet; sie hielt nun die Augen geschlossen. Dann tobten die Zuschauer, sie klatschten und riefen frenetisch, riefen und pfiffen anerkennend; sie hatte mit ihrer Stimme allein in den ersten Minuten die ganze Menge in ihren Bann gezogen – und stand da mit geschlossenen Augen, das Gesicht von der Kerze in flackerndes Licht getaucht, und lächelte.

Sie ließ die Zuschauer einen Moment in ihrem Applaus, dann hob sie die Kerze über ihren Kopf, ein Scheinwerfer flammte auf und beleuchtete sie und den Flügel, alles andere blieb im Dunkel. Sara stellte die Kerze wieder auf das Piano und wandte sich dem Publikum zu. Sie hob die Hände, und es wurde wieder still im Lokal.

„Guten Abend, Bern – und herzlichen Dank für die warme Begrüßung“, begann sie, und Bodo war erstaunt, daß sie in breitestem Berner Dialekt sprach; er hatte keine Ahnung, wieso, aber er hatte jede andere Sprache erwartet, nur nicht seine eigene. Warum hatte er noch nie zuvor von ihr gehört?

„Es ist immer wieder schön, zu Hause aufzutreten, und erst noch in einer Atmosphäre, wie wir sie hier im Kornhauskeller genießen dürfen …“

Sie brach ab und ging um den Flügel herum und setzte sich auf den flachen Sessel am Kopf des Instrumentes. Mit der Hand richtete sie das Mikrophon, das dort angebracht war, in die Nähe ihres Mundes und begann, eine leise Melodie zu spielen, während sie weitersprach:

„Ich wünsche euch einen schönen Abend und hoffe, daß ihr ihn mit mir und meiner Musik genießen könnt …“

Sara legte ihre Hände auf die Tastatur und verharrte eine Sekunde, lächelte, die Augen geschlossen. Als würden ihre Finger die Tasten gar nicht berühren, begann sie zu spielen. Eine sanfte, scheue Melodie füllte den Raum, und die Töne schwebten in der Luft, perlten wie hauchzarte Regentropfen über Bodo hernieder und hoben ihn hoch, ließen ihn treiben wie auf Wasser.

Die Musik wurde virtuoser, und Saras Stimme setzte ein. In Englisch sang sie vom Kerzenlicht im Herzen, das ebenso brennen wie auch unendlich leicht ausgelöscht werden konnte. Ihr Gesang legte Feenhände um sein Herz und trieb gleichzeitig glühende Messer in seine Seele; sie sang so überirdisch schön, mit einer solchen Kraft, und dennoch filigran und zerbrechlich.

Bodo betrachtete ihre Hände, die, Flügeln eines Schmetterlings ähnlich, über die Tasten glitten; er sah ihren Körper, der sich sanft im Takt bewegte; er verlor sich in ihrem Gesicht, in ihren Lippen, die am Mikrophon klebten, in ihren Augen, die sie manchmal geschlossen hielt und manchmal öffnete, um wie nach etwas suchend in die Zuschauermenge zu blicken.

Eine Stunde lang entführte sie mit dem Klavier und ihrer Stimme das Publikum in eine andere Welt, nahm sie alle mit auf eine Reise, eine Reise ins Reich der Seelen und Herzen, des Glücks und der Freude, aber auch des Schmerzes und der Trauer.

 

Bodo suchte abwesend nach seinem Notizbuch und holte es mit dem Stift zusammen hervor. Während er sich von der Musik treiben ließ, hielt er die Stimmung, die Gefühle und Eindrücke fest, versuchte mit seinen Worten, die Musik in Bilder zu verwandeln – und bemerkte nicht, daß Sara ihn mehrere Male anschaute, wenn ihr Blick über die Zuschauer glitt.

Die letzten Töne hingen in der Luft wie die federleichten Samen des Löwenzahns, bevor ein Windhauch sie erfaßte und dahintrieb, und ihre Stimme wurde leiser. Eine Weile ruhten ihre Hände auf der Tastatur, und Sara schaute verträumt in die Kerze.

Das Publikum gönnte ihr einige lange Sekunden die Abgeschiedenheit, ihr Schweben in ihrem Schaffen, dann setzte irgendwo leise, scheu der Applaus ein; andere Hände folgten, und wieder feierte der Saal sie mit stürmischem Beifall, mit Klatschen und Rufen – und wieder lächelte Sara etwas verlegen und erhob sich dann. Als es ruhiger wurde, hob sie erneut die Arme, die Hände. Das Licht im Keller ging an und schmerzte in den Augen.

„Danke, danke … Es ist so schön, hier zu sein. Ich danke euch. Ich erlaube mir eine kurze Pause und hoffe, euch danach wieder auf meine Reise mitnehmen zu dürfen. Danke …“

Und sie ging, nein, sie schwebte von der Bühne, drehte sich noch einmal kurz um – und schaute Bodo an; nur Bodo, und lächelte.

 

Erst war Bodo noch so in der Welt ihrer Musik eingeschlossen und fern der Realität um ihn herum, daß er diesen Blick gar nicht wahrnahm, doch auf einmal wurde ihm bewußt, daß sie ihn angeschaut – und gelächelt – hatte. Wieso mich?, fragte er sich und war ganz leicht verunsichert.

Die Stimmen im Gewölbekeller wurden lauter, Gläser klirrten, Stühle wurden gerückt. Bodo betrachtete das Treiben aus der Distanz und war froh, alleine zu sein; Gelächter, Gespräche würden den Zauber zerstören; er wollte weiter auf der weichen Oberfläche ihrer Musik dahingleiten.

 

Keine zehn Minuten später wurde die Beleuchtung wieder schwächer, und der Scheinwerfer über dem Flügel flammte auf. Es wurde stiller, das Gelächter und laute Reden zum Raunen, dann trat Sara erneut auf die Bühne. Sie wurde von herzlichem Klatschen begrüßt.

„Danke, danke!“ rief sie gegen den Applaus, und als alles ruhig war, sprach sie leise weiter: „Ich möchte mich auch noch bei meiner Band bedanken, die ich heute zu Hause gelassen habe – sie genießen eine wohlverdiente Pause, doch ich wollte es mir nicht nehmen lassen, wieder einmal zu Hause spielen zu dürfen. Und es lohnt sich, ich danke euch.

Dieses Solokonzert habe ich kürzlich in London unplugged festgehalten, wer interessiert ist, darf sich die CD nachher beim Ausgang gerne kaufen …“

Sara setzte sich wieder an den Flügel und sprach ins Mikrophon, während ihre Finger bereits eine leise Melodie spielten: „… es ist schön, daß ihr noch einen Moment bei mir bleibt …“

 

Ihr schwarzes Haar umrahmte ihr Gesicht, der silberne Sichelmond in ihrem Ohr blitzte im Licht; sie schloß die Augen und stimmte ein Lied an, dessen Melodie so tief unter die Haut ging, daß Bodo zwei-, dreimal leer schluckte. Wie macht sie das? Wie schafft eine Stimme das? Das Stück dauerte mindestens zehn Minuten, und im Refrain wiederholte sie immer wieder den wortlosen Gesang, der aufwühlte und mitriß. Bodo sah sich auf Klippen hoch über der schäumenden See stehen; der Wind zerrte an seinen Kleidern, und Möwen schrien über ihm; vom Wetter gezeichnetes Buschwerk bog sich unter der Kraft des Windes, das Gras zeigte seine helle Unterseite; die Möwen ließen sich über die Klippen hinunterstürzen, und Bodo schaute ihnen nach; Saras Musik war der Wind, das Rauschen des Meeres und das Rufen der Möwen in einem; die Wellen rannten gegen die zerklüfteten Felsen an, Gischt sprühte hoch.

Das Lied war längst zu Ende, als Bodo zurück in den Keller fand; wie erwachend schüttelte er den Kopf und schaute zu Sara hin. Und wieder lächelte sie ihn an, sang dann weiter, nachdem der Applaus verstummt war.

Der zweite Teil des Abends verging viel zu schnell, die Zeit zerfloß mit den Klängen ihrer Musik.

Sara erhob sich vom Sessel und nahm wieder die Kerze vom Flügel. Das Scheinwerferlicht wurde schwächer und verschwand. Wie zu Beginn hielt sie die Kerze vor ihrer Brust in beiden Händen fest, wieder tanzte der Schein auf ihrem Gesicht.

„Ich schmücke mich jetzt noch mit den Federn einer großartigen Künstlerin – ich schulde ihr dies vielleicht sogar, werde ich doch auf den Konzertplakaten mit ihr verglichen, was mich zutiefst ehrt: Me and a gun; Tori Amos …“

Bodo kannte dieses Lied, und Schauer liefen ihm über den Rücken, bevor sie überhaupt zu singen begann. Bitter, zermürbend und schmerzhaft im Text und um so leidenschaftlicher und schöner in der Melodie, riß dieses Lied förmlich auseinander.

Und Sara sang es mit ebensolcher Hingabe wie Tori Amos im Original. Bodo hing an ihren Lippen und wollte, daß dieser Abend nie zu Ende ging, wollte nur noch ihrer Stimme lauschen, ihr Gesicht sehen und sich von ihr verzaubern lassen.

Sara hielt den letzten Ton lange und mit fester, klarer Stimme und schloß dann wieder die Augen. Einen Moment widerhallte der Ton, dann barst das Publikum förmlich. Und Sara lächelte. Still, berührt, bewegungslos.

„Danke, danke, Bern, ich danke euch – es war wunderschön, und ich hoffe, bis bald …“ Sie warf Kußhände in den Zuschauerraum, winkte – und bevor sie sich wegdrehte, erhielt Bodo noch einen Blick aus ihren Augen mit den goldenen Sternen. Für einen Moment war es Bodo, als hätte sie ihm ein Danke zugeflüs­tert, war sich aber sicher, daß er sich getäuscht hatte.

 

Sara verließ die Bühne, und im Saal ging das Licht an.

Sofort sprangen viele auf und hasteten die Treppe hoch zum Ausgang; Bodo ließ sie gehen und hüllte sich in den Mantel der Atmosphäre, der Musik von Sara und wartete. Erst als der Keller beinahe leer war, packte er sein Notizbuch weg und erhob sich.

Er mußte einen Moment anstehen, als er sich die CD kaufen wollte, doch wenig später trat er in die Nacht hinaus, die CD wie einen kostbaren Schatz mit beiden Händen vor dem Bauch haltend.

Es regnete wieder leicht, doch die Stadt schien belebter als am Tag. Bodo querte den Waisenhausplatz und schlug die Richtung zum Parkplatz auf der Schützenmatte ein. Der Parkplatz war immer noch voll, und bei vielen Autos standen Menschen und sprachen, lachten, ohne sich um den Regen zu kümmern. Von der Reithalle her drang dumpfer Baß in die Nacht. Ein Zug fuhr über die Brücke. Bodo fand sein Auto und ließ den Schlüssel erst einmal in eine Pfütze fallen, ehe er aufschloß.

Wie in Trance startete er den Motor und fuhr aus der Parklücke. In seinem Kopf hallte Saras Musik nach, in seinem Herzen schwangen die Töne mit, und er fühlte sich melancholisch, ja einsam.

Die Scheibenwischer fuhren auf und ab, der Regen brach sich im Licht der Scheinwerfer. Bodo zündete sich eine Zigarette an und öffnete das Fenster; das Rauschen der nassen Räder auf der Straße drang herein. Ohne Musik einzuschalten, fuhr er nach Hause und bog kurz darauf in seine Straße ein und hielt vor dem Einstellhallentor, um den Schlüssel zu suchen. Es war kurz vor halb zwei, die Siedlung lag still und schlafend vor ihm. Langsam lenkte er den Wagen auf seinen Parkplatz und nahm behutsam die CD vom Beifahrersitz. Er stieg aus, schloß den Wagen, und seine Schritte tönten unanständig laut in der Stille der Tiefgarage, als er zum Ausgang ging.

Die meisten Häuser lagen im Dunkeln, nur aus vereinzelten Fenstern drang immer noch das typisch hektische Flackern der Fernseher. Die schwache Beleuchtung tauchte den Weg in fahles Licht; der Kauz im nahen Wald rief immer noch; doch niemand begegnete ihm mit dem Hund.

Vor der Tür streifte Bodo die nassen Schuhe ab und sperrte auf. Er machte kein Licht, kramte das Feuerzeug aus seiner Tasche und zündete zwei Kerzen an. Es war still im Haus, zu still, doch Bodo wußte nicht, ob er Saras CD auflegen oder ob er einfach mit der Erinnerung an den Abend und ihrer Musik in seinem Körper ins Bett gehen sollte. Er entschied sich für das zweite und lag wenig später unter der Decke und schaute zum Dachfenster hoch, auf das der Regen leise fiel.

 

 

 

 

 

2.

Bodo stand oben auf der Klippe und schaute hinunter. Die Dämmerung setzte ein, und die Sonne schien nur durch eine dicke Wolkenbank am Himmel und tauchte die Umgebung in diffuses Licht, einer Gewitterstimmung ähnlich.

Hundert Meter unter ihm brandete das Meer gegen die zerfurchten Felsen, schwarz, mit Pferden aus weißer Gischt, die mit wehenden Mähnen auf den Wellen ritten.

Der Wind rüttelte an ihm und brachte seinen Oberkörper ins Wanken. Haare hatte er keine, die zerzaust hätten werden können.

Einige der zerklüfteten Felsen ragten aus der schäumenden See empor, und auf einem dieser stand der schwarze Konzertflügel. Der Felsen war unmerklich größer als das Instrument, gerade groß genug, um dem Sessel Platz zu bieten, auf dem Sara saß.

Sie spielte eine leise Melodie, die erstaunlicherweise gegen den Wind und das Tosen des Meeres anzukämpfen vermochte und deutlich zu hören war. Die Kerze stand auf dem Flügel, und ihre Flamme flackerte nicht einmal.

Bodo wollte unbedingt zu Sara hin, doch vor ihm lag der unüberwindbare Abgrund. Selbst wenn er diesen abzusteigen geschafft hätte, so wäre er dennoch nicht zu ihr gekommen: Ein Pfad aus brennenden Felsen, kaum aus dem Wasser ragend, führte von der Küste zu dem Felsen, auf dem Sara saß und spielte. Er würde verbrennen.

Sara spielte das Lied zu Ende und schaute zu ihm hoch. Sie hob die Hand, winkte und rief ihm etwas zu. Doch ihre Worte konnte er nicht verstehen.

Etwas riß an Bodo wie mit einem Seil; das Seil schien in seinem Innern befestigt zu sein und zog ihn Richtung Sara. Obwohl er unbedingt zu ihr wollte, mußte er mit aller Kraft gegen den Zug ankämpfen, da er sonst von der Klippe gestürzt wäre. Es drohte ihn zu zerreißen.

Bodo schrie vor Verzweiflung – und erwachte schweißüberströmt.

 

Es war noch dunkel; Bodo setzte sich auf und schlug die Decke zurück. Seine Kehle war trocken, und die Lippen schmerzten. Ungelenk und schläfrig wankte er ins Badezimmer und trank einige Schlucke Wasser. Der Traum hing in seinen Gedanken fest und ließ ihm keine Ruhe. Normalerweise verblaßte bei ihm ein Traum, kaum öffnete er die Augen; nur für Bruchteile einer Sekunde blieben sie haften und zeigten ihm noch einmal die Bilder; nicht so bei diesem. Auch als er schon wieder im Bett lag und sich unter der Decke verkroch, sah er Sara am Flügel auf dem Felsen draußen im Meer.

Bodo schaute auf den Wecker. Es war kurz nach vier. Bevor er sich weiter Gedanken über den Traum machen konnte, war er wieder eingeschlafen.

Die Sonne schien durchs Dachfenster und kitzelte ihn, wärmte sein Gesicht und ließ ihn aus den Tiefen des Schlafes auftauchen. Bodo streckte sich und schaute zum Himmel hoch.

Sofort kam ihm das Konzert in den Sinn, und unweigerlich auch der Traum. Das Konzert hallte immer noch in ihm nach, ihre Stimme, ihre Musik, doch der Traum verlieh der Erinnerung einen eigenartigen Beigeschmack.

Bodo verdrängte ihn und sprang aus dem Bett. Nackt – da er immer nackt schlief – ging er ins Badezimmer und wusch sich das Gesicht. Die Lust auf einen Kaffee war größer als das Bedürfnis zu duschen, und so stieg er die Treppe hinunter in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine ein, füllte den Wassertank und holte eine Tasse aus dem Schrank.

Während er wartete, bis die Maschine bereit war, klappte er seinen Computer auf dem Eßtisch auf und schaltete ihn ein. Da er nun hier warten mußte, ging er wiederum in die Küche, und als er den heißen, duftenden Kaffee in der Hand hielt, startete er die Datei mit seiner Geschichte.

Den ganzen Nachmittag über hing Peer mehr seinen Gedanken nach, als daß er sich auf seine Arbeit konzentrierte. Er machte mehrere Fehler und lehnte sich oft zurück und fragte sich, was er eigentlich genau in diesem Büro machte. Sein Leben kam ihm im Moment so leer vor. Er sah sich auf einer Insel, die knapp so groß war wie seine Füße, und rundherum befand sich nur Wasser, soweit das Auge reichte, bis zum Horizont, nur Wasser; kein Land in Sicht. Und um die Insel herum kreisten die Haie. In welche Richtung sollte er schwimmen? Sollte er überhaupt schwimmen oder warten, bis die Insel unterging? Und was war mit den Haien?

Peer starrte ins Leere und hoffte, daß niemand sah, daß er überhaupt nicht da war.

 

Bodo nippte am heißen Kaffee und rieb sich die Augen. Er brauchte eine Dusche. Der Kaffee belebte seine Lebensgeister etwas, was zur Folge hatte, daß die Erinnerung an das Konzert lebendiger wurde und die Musik in seinem Kopf zu spielen begann. Bodo stand auf und ging zur Stereoanlage. Er legte Saras CD ein und drehte den Lautstärkeregler hoch; zu hoch für einen Sonntagmorgen in der Schweiz. Doch es war ihm egal, was die Nachbarn dachten.

Auch wenn es bei weitem nicht so mystisch und nicht so zauberhaft war wie am Abend zuvor, nahm ihn Saras Musik mit auf die Reise, und Bodo ging dankbar mit. Das seltsame Gefühl in seinem Herzen, den leichten Stich, versuchte er zu ignorieren und setzte sich wieder an den Computer.

Warum? Peer stellte sich immer wieder dieselbe Frage. Warum? Was lief in seinem Leben schief? Alle hielten ihn für einen wundervollen, liebevollen Menschen und schätzten seine Anwesenheit, suchten ihn um Rat, nahmen dankbar seine Hilfe an und gaben ihm immer wieder deutlich zu spüren, daß die Welt eine bessere wäre, wären alle Menschen so wie er. Weshalb zerriß ihn selbst diese Güte so oft fast in Stücke? Weshalb litt er nur, während andere profitierten? Weshalb brachte er anderen Menschen Glück und fühlte sich selbst unglücklich?

Ruckartig erhob er sich vom Bürostuhl, und dieser knallte hinten gegen die Wand. Peer schnappte sich seine Tasche und ging ins Büro nebenan.

„Ich bin den Rest des Nachmittages weg …“ verkündete er, und ehe jemand reagieren konnte, hastete er durch das Gebäude und trat in den sonnigen Nachmittag hinaus.

„Scheiße!“ rief er draußen. Und noch einmal: „Scheiße!“

Einige Vögel flogen erschrocken vom Kirschbaum gegenüber auf. Peer schulterte seine Tasche und folgte der Straße ziellos zwischen den kalten, grauen Industriebauten hindurch.

Er wußte nicht, wohin er wollte. Er wollte nur weg. Und wußte genau, daß es von dort, wo er wegwollte, kein Weggehen gab: von sich selbst …

 

Bodo hatte den Kaffee fertiggetrunken, und Sara ließ ihre Klavierklänge durchs Haus schweben. Er fröstelte. Noch in den letzten Worten seiner Geschichte gefangen, stieg Bodo nach oben und trat unter die Dusche.

In Peer brodelte ein Vulkan, und dieser stand kurz vor dem Ausbruch. Während das warme Wasser an ihm herunterperlte, sprangen Bodos Gedanken zwischen Peer und ihm selbst hin und her. Peer brauchte Neuland, und er selbst hatte in dem Moment das unerklärliche Gefühl, daß auch ihm Veränderungen bevorstanden.

Zum Frühstück um elf gab es ein Ei, etwas Käse und geröstetes Brot. Bodo saß auf der Terrasse und lauschte den Vögeln. Die CD war zu Ende und Saras Musik immer noch in seinem Kopf.

Der Regen der vergangenen Nacht ließ das Grün der Gräser und Blätter satter, leuchtender wirken, und ein Duft von feuchter Erde lag süßlich in der Luft. Die Sonne schien und verdunstete die Feuchtigkeit; es würde wohl sehr warm, sogar schwül werden.

Im Nachbargarten spielten Kinder, und von irgendwo wehte auf einmal der Geruch von Holzkohle, Rauch und wenig später grilliertem Fleisch herbei.

Bodo zündete sich eine Zigarette an. Die Welt stand still.

Peer hastete durch die Straßen, flüchtete vor allem und ließ doch nichts zurück. Sein Leben folgte ihm wie sein Schatten. Beim Rosengarten hinunter zur Aare sprang er beinahe, sein Blick ging geradeaus ins Nichts. Einige Passanten schauten ihm argwöhnisch nach; Peer sah nichts. Unten am Fluß bog er nach links ab und fand den schmalen Kiesweg, der nahe am Wasser aareaufwärts führte. Tränen sickerten auf einmal aus seinen Augen, trübten die Sicht, verschleierten alles vor ihm. Am Schwellenmätteli vorbei, ohne die beim geselligen Beisammensitzen und fröhlich plaudernden Grüppchen zu sehen, hastete er Richtung Tierpark. Erst als er das Bibergehege hinter sich gelassen hatte und im lichten Auenwald außerhalb der Stadt ankam, beruhigte sich sein Schritt, und bei einer der Betonschwellen, die ins Wasser hinausragten, um den Strom etwas zu brechen, blieb er stehen und setzte sich nahe an den ebenso hastig ziehenden Fluß.

 

Die Glocken des nahen Kirchturms schlugen zwölf Mal, und der Duft, der jetzt vorbeiwehte, roch verbrannt. Kleine, weiße Wolken schoben sich gegenseitig über den Himmel, als wollten sie schnell woandershin. Bodo wußte plötzlich genau, wo er in der Geschichte mit Peer hinwollte. Das geschah oft; mit dem Schreiben entwickelten die Geschichte, die Menschen darin ein Eigenleben – wie die Schaufensterpuppen, die wach wurden. Kurzentschlossen speicherte er das Geschriebene und fuhr den Computer herunter.

Da er nur Unterhosen trug, ging er nach oben und schnappte sich die erstbeste Hose und ein helles, ärmelloses T-Shirt. Mit dem Notizbuch und dem Schreiber und allem anderen, was dazugehörte, verließ er Minuten später das Haus, kehrte aber noch einmal um und holte das Buch, in dem er gerade las. Mit dem Buch unter dem Arm querte er den Spielplatz und bahnte sich seinen Weg zwischen den spielenden Kindern hindurch. Kurz darauf fuhr er aus der Einstellhalle und bog in die Straße zur Stadt ein. Er wollte in einem gemütlichen Restaurant ein paar Stunden verstreichen lassen, lesen, die Menschen betrachten und sich Notizen zur Geschichte machen. Unterwegs überlegte er sich fieberhaft, wo er hinfahren sollte. Wieder lenkte er den Wagen in Richtung Schützenmatte, überholte die Sonntagsfahrer – Durchschnittsalter siebzig, Durchschnittskleidung er mit Hut, sie mit Blümchenrock – und fand auf Anhieb eine Parklücke. Er stieg aus, schloß den Wagen und schlenderte wie am Abend zuvor in die Innenstadt. Auch an diesem Sonntagmittag lebte die Stadt, doch eine andere Schicht der Bevölkerung war nun unterwegs. Familien mit Kindern schlenderten durch die Gassen, Pärchen bestaunten die Auslagen hinter den Schaufenstern der geschlossenen Geschäfte; die Sonnenterrassen der Kneipen waren gut besetzt. Eine ruhige, träge Stimmung hing in der Luft, das Leben folgte an solchen Tagen einem anderen Takt. Bodo blieb auf der gepflasterten Straße, damit er sich in den Lauben nicht zwischen flanierenden Touristen hindurchschlängeln mußte. Er wußte immer noch nicht, wo er eigentlich sein ruhiges Plätzchen zum Nachdenken suchte, doch als er beim leeren Bärengraben ankam – wie würden sich die Bären im neuen, bald zu eröffnenden Park fühlen, wenn sie plötzlich nicht mehr nur Steinmauern um sich hatten, sondern Wald, ein Flußbecken und die Möglichkeit, sich vor den Gaffern oben am Zaun zu verstecken? –, bog er links ab und schlug den Weg Richtung Restaurant Altenberg ein. Dort fand er nahe am Wasser einen freien Tisch. Bodo setzte sich mit Blick auf die Aare und legte sein Buch auf den Tisch. Er bestellte einen Kaffee und ein Glas Wasser, den Weißwein hob er sich für später auf, und ließ seinen Blick über den schnell ziehenden Fluß gleiten. Sonntagsspaziergänger zogen weitaus gemütlicher auf dem Kiesweg an ihm vorbei; Kinder warfen Kieselsteine ins Wasser oder von den Vätern gefaltete Papierschiffchen; alle hatten sie sich feierlich angezogen, viele davon kamen vermutlich aus der Kirche und wollten sich vor dem Sonntagsbraten mit dem Spaziergang etwas Hunger verschaffen.

Bodo schlug das Buch auf und bedankte sich abwesend bei der jungen Frau, die ihm seinen Kaffee brachte. Er las einige Zeilen, blickte immer wieder hoch und schaute dem Treiben um sich herum zu. Verschiedenste Essensgerüche nebelten ihn ein, und er versuchte sie zuzuordnen. Da war der fettig schwere Geruch von fritierten Kartoffeln, er schnupperte und entdeckte eine zarte Note Fisch – in Butter gebraten? –, und auch der sommertypische Duft von Grillfleisch durfte nicht fehlen.

Er vergaß beinahe seinen Kaffee, und während er einige Schlucke genoß, holte er sein Notizbuch hervor und schrieb ein paar Stichworte zu seiner Geschichte hinein. Als er in Gedanken versunken über den Fluß hinweg zum anderen Ufer schaute, war ihm plötzlich, als würde er beobachtet. Es war dieses unbeschreibliche Gefühl, wenn sich die Härchen im Nacken leicht aufstellen und sich wie ein virtueller Schatten um die Aura legte. Bodo schaute sich um – und entdeckte Sara, die auf dem Weg an der Aare stand und zu ihm hinsah. Bodos Herz setzte einen Moment aus, doch bevor er sich überlegen konnte, was er tun sollte, lächelte Sara und trat an seinen Tisch.

„Hallo“, begrüßte sie ihn, als würden sie sich kennen, und sie legte die Hände auf die Stuhllehne ihm gegenüber. „Darf ich mich setzen, oder störe ich?“

„NN… nein“, stotterte Bodo und kam sich bescheuert vor, „ich meine, ja klar, es ist frei – und du … Entschuldigung, Sie stören überhaupt nicht …“

„Du darfst mich ruhig duzen – ich bin Sara …“, sie zog den Stuhl etwas zurück und setzte sich. Dann streckte sie ihm über den Tisch hinweg die Hand entgegen.

„Ich weiß …“, entgegnete Bodo, und als er ihre Hand nahm, zuckte ein Blitz durch ihn, und er riß erschrocken die Augen auf.

„Ja klar“, lächelte Sara. „Du weißt, wie ich heiße, du warst ja gestern an meinem Konzert.“

Also hatte er sich nicht getäuscht, und sie hatte ihn wirklich mehrere Male angeschaut – und offenbar in Erinnerung behalten. Bodo hatte keine Ahnung, wie er diese Tatsache einordnen sollte.

„Und wie heißt du?“ fragte Sara, und Bodo verlor sich schon wieder in ihren goldenen Augen.

„Oh, bitte entschuldige, ich bin etwas verwirrt.“ Bodo war überzeugt, daß er feuerrot anlief. „Ich bin Bodo.“

„Freut mich, dich kennenzulernen, Bodo.“ Ihre Lippen schenkten ihm wieder ein wunderschönes Lächeln, und wie am Vorabend blitzten ihre weißen Zähne hervor. Sie reagierte nicht auf seine Verwirrung oder bemerkte sie nicht.

„Hilfst du mir einen Weißwein teilen, oder ist es für dich noch zu früh?“ fragte sie ihn, als die Bedienung an ihren Tisch kam und Sara nach ihrem Wunsch fragte.

„Nein, ich helfe gerne, das war sowieso mein Plan, sobald sich der Kaffee gesetzt hat.“

Sie bestellten einen halben Liter Arneis, und Sara nickte zu dem aufgeschlagenen Buch hin.

„Was liest du?“

„‚Das Spiel des Engels‘, Carlos Ruiz Zafòn.“ Bodo schloß das Buch und drehte es zu ihr hin. Sara nickte wissend.

„Hast du ‚Der Schatten des Windes‘ auch gelesen?“ wollte sie wissen.

„Nein“, schüttelte Bodo grinsend den Kopf. „Ich habe es gefressen …“

Sara lachte, und ihr Lachen entflammte drei Sonnen in Bodo.

„Ja, das glaube ich dir, er schreibt wirklich unglaublich …“

Ihr Wein wurde gebracht, und als die junge Frau ihre Gläser gefüllt hatte, stießen sie zusammen an. Sara schaute ihm in die Augen, und Bodo entdeckte zwei wunderschöne, tigeraugenfarbige Sterne im Braun ihrer Pupillen. Er hatte noch nie solche Augen gesehen.

„Auf den schönen Sonntag …“, meinte Sara.

„Auf deine wunderschöne Musik …“, ging Bodo tiefer, und sie nahmen beide einen Schluck des kühlen Weißweins.

„Dann hat dir mein Konzert gefallen?“ wollte Sara wissen und stellte ihr Glas ab.

Bodo schaute erst an ihr vorbei über den Fluß und wandte sich dann wieder ihr zu.

„Es gibt keine Worte für deine Musik, für deine Stimme; das ist nicht einfach Musik, das ist … das ist …“, Bodo suchte nach Worten, „… als wäre sie von einem Engel geschrieben und von einem Engel gespielt und gesungen …“

Nun senkte Sara verlegen den Kopf und lächelte scheu.

„Danke, das ist wunderschön, wie du das sagst.“

In Bodo krabbelten zweihunderttausend Ameisen herum, und ein Flugzeug drehte in seinem Bauch seine Runden. Er hätte sie zu gerne gefragt, warum sie ihn am Vorabend angeschaut hatte, warum sie ihn heute erkannt hatte, und ob es so etwas wie Zufälle gab, weil sie sich getroffen hatten. Er schaffte es nicht und bewunderte stattdessen ihr glänzendes, schwarzes Haar. Sara trug eine lila-weiß karierte Bluse, die wunderbar zur gebräunten Haut ihres Gesichtes paßte.

„Und was machst du, wenn du nicht an einem Konzert bist und verträumt in die Menge staunst, deine Notizen machst oder an einem Sonntag in einem Gartenrestaurant sitzt und dich von den Bildern Zafòns entführen läßt?“ fragte sie ihn nach einer Weile, und Bodo wußte schlagartig, daß diese Frau bis in sein Innerstes sehen konnte. Er fühlte sich ertappt und durchschaut, doch auch ergriffen. Verlegen schaute er das Glas in seinen Händen an, dann ihre Hände, die Finger ineinander verschränkt, ruhten sie auf dem Tisch, und hob erst dann die Augen und suchte die ihren. Er zögerte und versuchte, einen geheimnisvollen Blick aufzusetzen.

„Ich bin kriminell …“

Ungläubigkeit, leichtes Entsetzen und ein Anflug von Zweifel traten sofort hinter den Tigeraugensternen in ihren Augen auf. Ihre Lippen teilten sich leicht, nur ein Hauch der weißen Zähne wurde sichtbar, und schlossen sich wieder.

„Kriminell?“ fragte sie.

Bodo nickte und ließ sie zappeln.

„Wie … wie meinst du das?“

„Ich übe mich in der harmlosesten Art der Gewalt …“

Wieder ein nervöses Aufflackern in ihren Augen, wieder ein kurzes Öffnen des Mundes.

„… der Wortgewalt“, fügte Bodo bei und schenkte ihr ein entwaffnendes Lächeln.

Sara runzelte die Stirn, blinzelte, und die Zweifel zogen sich hinter ihre golden leuchtenden Augen zurück.

„Du bist …?“

„… Schriftsteller.“

Das Lächeln, das sie ihm nun zeigte, fuhr wie ein Blitz in ihn ein, traf sein Herz und sprengte Mauerteile weg.

„Schriftsteller“, flüsterte sie beinahe ehrfürchtig. Dann kniff sie die Augen zu Schlitzen zusammen und versuchte, wütend auszusehen. Sie war so schön.

„Du gemeiner Kerl. Ich dachte wirklich eine Sekunde, ich müßte Angst vor dir kriegen!“

„Möchtest du denn Angst vor mir haben?“

Ihr Wortwechsel nahm den Aufzug und fuhr ein Stockwerk tiefer, machte kurz vor dem Herzen halt, noch nicht in dessen Reichweite, doch so nahe, daß es Bodo etwas wärmer wurde und seine Lippen augenblicklich austrockneten.

„Nein, nein“, schüttelte Sara unsicher den Kopf und half bei dem Spiel mit,

„… jedenfalls nicht so …“

Verlegen griffen sie beide gleichzeitig nach ihren Gläsern.

„Wow …“, sagte sie, nachdem sie einen Schluck Wein genommen hatte und das Glas absetzte. „Ich sitze mit einem Schriftsteller an einem Tisch und trinke Weißwein.“

„Das sagt gerade eine hochbegabte, gefeierte Musikerin, die Konzertsäle füllt“, gab Bodo neutralisierend zurück.

Sie ging gar nicht weiter auf seinen Beruf als Schriftsteller ein, kein Geplänkel über Bekanntheit, über Prominenz und dergleichen; sie wußten beide, daß sie ganz zuerst mal einfach Menschen waren. Bodo schätzte dies an ihr sofort und war ihr dankbar. Mehr als dankbar.

„… und übrigens bin ich auch noch ein Dieb …“, ergänzte er im Nachhinein, um das Spiel von vorhin noch etwas fortzusetzen. Sara lachte nun, denn sie wußte, daß er sie veräppelte.

„Ein Dieb?“

 

„Ja, ich bediene mich für mein Schaffen ungefragt im täglichen Leben, klaue mir meine Ideen zusammen, wo ich kann“, erklärte er ihr. Sie hing förmlich an seinen Lippen. „Ich bestehle die Natur in ihrer Inspiration; ich belausche heimlich Gespräche und verwende sie abgeändert für meine Geschichten; ich beobachte Menschen und bediene mich ihrer Züge und verwandle sie in mir zu neuen Figuren; ich sauge Stimmungen auf, speichere sie und bringe sie später zu Papier. Wie die kleinen, grauen Männer aus ‚Momo‘, die Zeit stehlen und sie in einer Bank einschließen, klaue ich immer und überall Ideen, Bilder, Worte, Eindrücke und nehme sie mit nach Hause, schmeiße sie in einen Topf und rühre aus ihnen eine Suppe, aus der meine Texte entstehen. Also bin ich auch noch ein Dieb …“

Lachend schüttelte Sara den Kopf.

„Du bist unglaublich …“

Sie diskutierten den halben Nachmittag zusammen, und es lag eine Vertrautheit zwischen ihnen, die Bodo erstaunte. Sie kannten sich kaum, und doch schienen sie sich zu kennen.

„Was bedeuten die chinesischen Zeichen auf deiner Tätowierung?“ fragte Sara plötzlich und deutete auf die Rose an seinem rechten Oberarm.

„Das obere ist das Symbol für die Liebe, das untere für Tränen“, erklärte Bodo. Er schwieg und fühlte leisen Schmerz aufkommen.

„Die Zeichnung ist wunderschön.“ Sara bestaunte die Tätowierung, und plötzlich rückte sie etwas näher. „Sehe ich falsch, oder deutet die Form der Blätter oben ein Herz an und unten eine Träne?“

Bodo nickte nachdenklich und verloren, aber staunte wieder einmal mehr über diese Frau, die er eben gerade kennengelernt hatte. Bis jetzt hatte dies niemand bemerkt, ohne daß er darauf hingewiesen hatte.

Sara schaute ihn mit einem unbeschreiblich verständnisvollen und wissenden Blick an.

„Ich frage nicht weiter …“

„Danke“, flüsterte Bodo und war ihr wieder mehr als dankbar.

 

Der Nachmittag zog dahin wie die Spaziergänger am Fluß. Der Fluß zog dahin wie die Zeit. Viel zu schnell.

 

„Wollen wir etwas essen?“ fragte Sara nach einer Weile. „Oder hast du keinen Hunger – oder vielleicht keine Zeit?“

„Das ist eine gute Idee. Ich habe beides …“

Sie winkten der Bedienung und fragten nach der Karte.

„Hast du heute kein Konzert?“ wollte Bodo wissen, während sie die Auswahl an leckeren Speisen studierten.

„Nein, heute nicht.“ Sara schaute von der Karte hoch. „Am Ende der Woche trete ich dann wieder auf, in Basel, Winterthur, und zweimal in Zürich. Ich schließe damit die Solotournee ab.“

Sara entschied sich für einen Fleischspieß vom Grill mit Rosmarinkartoffeln, und Bodo wählte gebackene Eglifilets mit Tartaresauce und Reis. Sie gaben die Bestellung auf, und Bodo zündete sich eine Zigarette an.

„Hast du auch eine für mich?“ fragte Sara, und Bodo reichte ihr die Packung. Sie nahm die Zigarette zwischen die Lippen, und Bodo gab ihr Feuer. Als die junge Frau den Tisch für sie deckte, bestellten sie einen Krug Wasser und für Sara ein Glas Barolo. Bodo blieb beim Weißwein.

Sie beobachteten beide eine Weile das Treiben um sie herum, schweigend, rauchend, doch ihr Schweigen war alles andere als peinlich. Es schien wie dazuzugehören, es war ein Teil von ihnen. Sara drückte ihre Zigarette aus und schaute Bodo an.

„Geht die Geschichte von Faros und Moira weiter?“ fragte sie, und Bodo warf ihr einen erstaunten Blick zu. Diese Frau war unglaublich; sie hatte ihm mit keinem Wort zu verstehen gegeben, daß sie ihn kannte, daß sie wußte, was er geschrieben hatte.

„Du hast ‚Die Seelenhüter‘ gelesen?“

„Ja, mehr als einmal …“, gestand sie. „Ich finde, es ist ein wunderschönes Buch; deine Worte gehen sehr tief. Diese Geschichte, das bist du, oder?“

Bodo nickte.

„Ich glaube, jeder Schriftsteller, der abstreitet, daß er sich in seinen Büchern widerspiegelt, lügt.“

„Ich denke, da hast du recht“, antwortete Sara nachdenklich. „Es ist in der Musik ja auch so, die Musik kommt aus deinem Innern, aus deiner Seele, es ist die Sprache deines Herzens; das ist bei Worten nicht anders …“

Ihr Essen kam und holte sie zurück auf den Boden, zurück in die Realität eines Sonntagnachmittages, für den sich Bodo wünschte, er würde nie zu Ende gehen. Die Sonne schien in Saras Gesicht und brachte ihre Augen zum Leuchten; die goldenen Sterne schienen förmlich zu glitzern. Bodo konnte sich nicht satt sehen.

„Was ist?“ fragte Sara plötzlich.

Bodo fühlte sich ertappt.

„Bitte entschuldige. Du hast so wunderschöne Augen; so golden leuchtend. Weißt du, daß du Sterne hast in deinen Augen?“

„Du mußt dich nicht entschuldigen. Es ist schön, wie du meine Augen beschreibst. Und es gefällt mir, wenn du mich anschaust“, fügte sie scheu hinzu und ein weiteres Stück Mauer in Bodos Herzen fiel krachend zu Boden.

„Und wenn wir schon bei den schönen Augen sind“, fuhr Sara fort, „was soll ich denn über deine sagen? Ich bin zwar in Worten weniger gut, und singen kann ich hier jetzt schlecht, aber wenn ich in deine Augen schaue, dann möchte ich im Blau eintauchen und darin versinken. Wenn du meine Augen schön findest, dann weiß ich nicht, wie ich deine beschreiben soll …“

Ihre Teller leerten sich, und Bodo fragte sich, ob Sara wohl den gleichen Gedanken nachging wie er. Er spürte, daß er in Sara einen einmaligen Menschen, eine wundervolle Frau kennengelernt hatte. Was warme, beinahe heiße und schöne Gefühle in ihm entstehen ließ, machte ihm gleichzeitig Angst. Nicht umsonst trug er diese Rose mit der Liebe und den Tränen auf seinem Oberarm tätowiert … Halte dich zurück, halte dich zurück!, schrie es in seinem Innern, und gleichzeitig wußte er, daß er sich nicht wehren konnte dagegen, so war er, so war es immer gewesen.

Zum Espresso gönnte sie sich eine Zigarette, und als plötzlich die Sonne hinter den Bäumen verschwand und sich lange Schatten über sie legten wie seidene, kühlende Tücher, wurde Bodo bewußt, wie lange sie schon dasaßen. Fast sechs Stunden waren an ihnen vorbeigezogen wie die Aare vor ihnen, und Bodo wünschte, er hätte eine Schleuse einbauen können, die den Fluß der Zeit verlangsamte und sie staute, damit er sie dosiert abfließen lassen konnte. Doch die Zeit ließ nicht mit sich diskutieren, sie war unbarmherzig.

Unausweichlich kam der Moment, in dem sie aufbrechen mußte. Es lag eine unausgesprochene Unsicherheit zwischen ihnen, das spürte Bodo auch bei Sara. Keiner sagte ein Wort, doch beide wollten nicht, daß ihre Zeit vorüber war.

Bodo beharrte darauf, Sara einzuladen, und sie willigte nur nach mehrmaligem Widersprechen ein. Als Bodo die Rechnung bezahlt hatte, standen sie auf.

„Mußt du auch in Richtung Bahnhof?“ fragte Sara. „Dann könnten wir ein Stück zusammen gehen.“

Bodo schaute zum Himmel hoch und dankte dem Schicksal, das ihm diese zusätzlichen Minuten schenkte.

„Ja, ich habe das Auto auf der Schützenmatte parkiert. Soll ich dich irgendwo hinbringen?“

„Danke, das ist lieb, aber ich kann zu Fuß gehen …“

Keine weitere Erklärung, keine Wohnortsangabe, und Bodo wußte, daß es im Moment gut so war, gut sein mußte.

Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, hakte sich Sara bei ihm unter, als sie den Weg Richtung Bärengraben einschlugen. Hin und wieder bemerkte er, daß sie von Passanten erkannt wurde und diese sich gegenseitig anstießen und zu Sara hinnickten. Bodo war stolz, nicht weil er mit einer bekannten Musikerin am Arm unterwegs war, sondern weil sich eine wundervolle, wunderschöne Frau bei ihm untergehakt hatte. Sie hätte die Präsidentin von Amerika sein können, das wäre ihm egal gewesen, was für ihn zählte, war das Gefühl, das in ihm entstanden war.

Er schaute sie an, und sie lächelte. Dieses Lachen!

Bodo nickte unmerklich, und Sara sah es.

„Was ist, was denkst du?“

„Mir ist gerade ein Lied von Ina Deter in den Sinn gekommen …“

„Und das wäre?“

„Wenn du so bist wie dein Lachen …“, begann er, und Sara setzte ein:

„… möchte ich dich wiedersehen …“

Sie gingen über die Nydeggbrücke und schauten hinunter auf die Aare, die grünlich schimmerte; Schmelzwasser.

„Ist das so?“ fragte Sara, ohne Bodo anzuschauen.

„Ja“, antwortete Bodo und wußte, was sie gemeint hatte, „ich möchte dich wiedersehen.“

„Danke“, flüsterte Sara kaum hörbar, „ich dich auch …“

Und wieder legte sich diese Unsicherheit über sie und hüllte sie ein, schied sie ab von dem Treiben um sie herum und ließ die Welt verschwinden; es war, als würden nur noch sie beide existieren.

Schweigend gingen sie weiter und schlenderten die Stadt hoch. Es war ruhiger geworden, und die Gassen wirkten beinahe wie ausgestorben; das Leben bereitete sich auf eine neue Arbeitswoche vor. Bodo versuchte, mit jedem Schritt langsamer zu gehen, alles in ihm wehrte sich dagegen, diesen Tag beenden zu müssen.

Das Unvermeidliche traf ein, als sie bei der Heiliggeistkirche ankamen und er wußte, daß sich ihre Wege trennten.

Sara nahm seine Hände und schaute ihn an, ihr Blick huschte zwischen seinen Augen hin und her, und die Berührung ihrer Hände entfachte Flammen in ihm, die blitzschnell von der Glut zum auflodernden Feuer wurden.

Sara näherte sich mit ihrem Gesicht dem seinen und küßte ihn dreimal auf die Wange, nur ihre beiden Wangen berührten sich.

„Ich danke dir, Bodo, das war ein wunderschöner Nachmittag.“ Und dann hauchte sie ihm noch einen Kuß auf die Wange, mit ihren weichen, warmen Lippen, und Bodo wurde augenblicklich schwindlig. Das Blut rauschte in seinen Ohren, und sein Herz pochte, als würde eine Gruppe japanischer Trommler in seinem Innern wirken.

„Das war für das Essen …“

Und Bodo hätte sie so gerne geküßt, ihre Lippen an den seinen gespürt, und dieser Wunsch schien ihn zu zerreißen – und er wußte nicht, daß es Sara genauso erging …

„Ich bin am Abend – wenn ich in der Stadt bin – oft im Adrianos, oder etwas weiter unten im Leichtsinn, vielleicht sehen wir uns diese Woche noch …“