Siebzehn - Christof Willen - E-Book

Siebzehn E-Book

Christof Willen

0,0

Beschreibung

... plötzlich nimmt Vlado die Hände aus seinen Manteltaschen und streckt sie nach ihm aus. "Du willst Marina?" kreischt er. "Ich bringe dich zu Marina, kleiner Junge. ... ich bringe dich zu deiner Schwester!" Vlado bewegt sich auf ihn zu, und Dragan macht einen weiteren Schritt zurück. Gerade als sein Fuß ins Leere tritt, erinnert sich Dragan, dass er über einem zehn Meter hohen Abgrund steht. Die Bewegung ist angesetzt, das Gewicht verlagert. Es gibt kein Zurück mehr. Wie im Zeitlupentempo kippt der Junge nach hinten über den Felsvorsprung und segelt in die Tiefe ... Eine Geschichte über das Erwachsenwerden und -sein; über Hass, der nicht ohne Liebe sein kann; eine Geschichte über den Tod und andere Morde; eine Geschichte über, doch nicht für Kinder; eine Liebesgeschichte in und eine Liebeserklärung an Kroatien.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 423

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Eine Geschichte über das Erwachsenwerden und –sein; über Hass, der nicht ohne Liebe sein kann; eine Geschichte über den Tod und andere Morde; eine Geschichte über doch nicht für Kinder; eine Liebesgeschichte in und eine Liebeserklärung an Kroatien.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Škarpina

Der braune Drachenkopf – Scorpaena porcus – ist ein Fisch aus der Familie der Skorpionfische. Er lebt einzelgängerisch in felsigen, oft veralgten Habitaten in Tiefen von fünf Metern bis achthundert Metern. Er hat einen gedrungenen, leicht hochrückigen Körper. Die Farbe ist meist braun oder rotbraun. Der braune Drachenkopf kommt unter anderem in der Adria vor.

1.

Die Glockenklänge dringen leise durch die Stille, unregelmäßig und blechern. Dunkel, schwer und träge klingen die Schläge der Kirche des Svetac Petar; etwas heller, beinahe leicht und etwas weiter weg, gesellt sich das Bimmeln vom Friedhof dazu.

Kein Wind geht. Die Luft flirrt, und die Hitze hängt wie ein bleischweres Tuch über der Stadt. Heiß drückt der Himmel auf die Erde. Selbst das Meer liegt da wie ein tiefblaues Papier, getränkt mit Tinte, reglos, als würde die Hitze selbst die kleinsten Wellen niederdrücken. Wo die Sonne auf Metall trifft, gleißt glühendes Licht auf. Nicht hinschauen! Sonst schießt ein stechender Schmerz durch die Augen direkt ins Gehirn. Die alten Steinmauern der Häuser reflektieren die Hitze. Die Kühle, die wohl hinter den Gemäuern angenehm und erfrischend wartet, kühlt nur in der Erinnerung. Draußen ist davon nichts zu spüren.

Staub hängt unsichtbar in der Luft und kratzt beim Schlucken in der Kehle. Die Farben leuchten grell und wirken wie gebleicht. Das Grün der Bäume, der Reben und der seltenen Grasflächen ist längst einer gelblichen Dürre gewichen. Zu lange brennt die Sonne schon unbarmherzig vom Himmel, zu lange regnet es nicht mehr.

Die Luft ist salzig, es riecht nach trockenen Kiefernnadeln, nach Harz, manchmal ganz schwach nach Salbei, nach Lavendel oder nach Rosmarin. Und manchmal nach Fisch oder dem brackigen Wasser am Rande des Hafenbeckens, wo die kleinen Krebse seitlich über nass gespülte Steine huschen.

Der Himmel leuchtet in einem weißlichen Hellblau, und keine einzige Wolke bildet einen Kontrast zu der Himmelsdecke, die monochrom über der Insel, ja über der ganzen Adria hängt und prophezeit, dass es keinen Regen geben wird.

Wieder dringen die Glockenklänge scheppernd vom alten Kirchturm her über die Stadt. Sie echoen über das Hafenbecken, in dem träge und verlassen Segelschiffe und Fischkutter dümpeln, sie dringen in enge Gassen und überdeckte Hinterhöfe, sie klettern über Anhöhen und verhallen in den Senken und Reben.

Eine halbe Stunde, nachdem der erste Glockenschlag erklang, weiß die ganze Stadt, was es geschlagen hat.

Stari Grad, die alte Stadt, schmiegt sich an eine langgezogene Bucht, die sich, wie mit einem Messer geschnitten, zwischen die Häuser zwängt. Rund um die Stadt ziehen sich weite Flächen aus Reben dahin, regelmäßig, rechteckig, durchbrochen von hellen Kieswegen. Weiter hinten erheben sich Hügel mit niedrigem Buschwerk, etwas höher mit schroffen, gelbweiβen Felsen. Im Norden schmiegt sich ein bewaldeter Hügel an die Stadt; auf dessen Spitze ragt ein weißes Steinkreuz in den Himmel.

Die Stadt ist alt, wie es ihr Name sagt. Man sagt, sie sei die älteste Stadt in Kroatien. Überbleibsel zeugen davon, dass sich bereits die Griechen fast vierhundert Jahre vor Christus hier niederließen. Daher stammt auch ihr zweiter Name, Pharos.

Viele Häuser sind aus dicken Steinmauern gefertigt und gebaut für die Ewigkeit.

Aus den Türen in diesen Mauern schleichen nun Menschen, trotz der Hitze.

Beinahe verstohlen kommen sie leise aus schmalen Türöffnungen, schauen sich um und zucken zusammen, wenn das Tor hinter ihnen knarrt oder in den Angeln kreischt. Es ist still, andächtig still. Jedes Geräusch in dieser Stille erscheint als Eindringling, tut weh.

Hier geht eine Tür auf und eine gebückte Gestalt tritt auf die gepflasterte Straße vor der Hafenmauer. Dort steigen ein Mann und eine Frau langsam die Stufen einer Treppe hinunter und schauen sich um. Vor der Bäckerei am Stjepana Radić Platz, die Fenster dunkel, steht bereits eine Gruppe zusammen und diskutiert leise. Andere gesellen sich zu ihr. Die Glocken schlagen erneut und als wäre dies ein Zeichen, auf das sie gewartet hat, setzt sich die Gruppe in Bewegung. Richtung Kirche.

Alle haben sie etwas gemeinsam. Sie tragen Schwarz. Nur die Touristen fallen auf, farbig, rothäutig, die Kameras vor den Bäuchen.

Andächtig nähern sich auch von der anderen Seite des Hafenbeckens Menschen. Sie versammeln sich vor der Schule, kommen aus Priko oder Malo Selo, oder von Rudine herunter und auch aus Jelsa, Vrboska und den umliegenden Dörfern. Ihre Autos parken bei der Schule; sie wissen, dass beim Friedhof nicht genügend Platz sein wird. Nun gehen sie am Touristenbüro vorbei, an den leeren Marktständen und verschwinden in den Gassen, die zur Kirche führen.

Die Glockenschläge werden seltener, leiser.

Kinder sind auch unter denen, die sich leise der Kirche nähern. Auch sie sind in Schwarz gekleidet. Auch sie gehen still. Viele von ihnen gezwungenermaßen, denn sie verstehen zwar wohl, worum es geht, aber nicht, weshalb man auf dem Weg zur Kirche, zum Friedhof, nicht herumtollen darf. Zwei Knaben versuchen es, ein lautes Lachen, ein kurzes Hüpfen. Doch sie werden von den Vätern sofort gemaßregelt.

Aus vielen Häusern tröpfeln Menschen, ducken sich der Hitze wegen in den Schatten und gehen gebeugt, damit die Sonne ihnen nicht erbarmungslos ins Gesicht brennt; andere warten bereits oben beim Friedhof unter den dichten Kronen der Seekiefern, schauen über die Stadt unter ihnen oder schielen verstohlen in Richtung Friedhof.

Je näher die Menschen der Kirche kommen, umso dichter werden die Trauben. Die ganze Stadt scheint sich in Richtung Kirche und Friedhof zu bewegen. Trotz der Hitze, trotz der Trockenheit, die wie Sandpapier in der Kehle kratzt und wie zu starker Schnaps brennt.

Trotz der Tatsache, dass sie um diese Zeit üblicherweise in einem kühlen Keller, in einer Konobar sitzen und bei einem Bevanda über alte Zeiten reden, bis es an der Zeit ist, nach draußen zu gehen und die Arbeit wieder aufzunehmen, die der Mittagshitze wegen hatte ruhen müssen.

An diesem Tag ist das anders. An einer Beerdigung spielen Arbeit und Klima keine Rolle; da weichen die eigenen Interessen in den Hintergrund, da zählt die Gemeinschaft, die Anteilnahme, das Zusammensein. Denn nur so trotzen sie seit jeher allen Widerwärtigkeiten des Lebens: indem sie zusammenhalten.

Und wenn es die Beerdigung der siebzehnjährigen Tochter eines angesehenen Arztes der Stadt ist, dann gelten all diese Grundsätze erst recht. Und noch ganz andere.

Von der Kirche des heiligen Stjepan aus geht es weiter durch die engen Gassen, oft hintereinander, weil die Mauern der Häuser so nahe beieinander liegen, dass man sich oben von Fenster zu Fenster beinahe die Hand reichen kann. Wäsche hängt zum Trocknen an Schnüren zwischen den alten Steinmauern. Katzen schlafen gleichgültig auf Mauervorsprüngen, schauen kurz auf und schließen die Augen wieder. Kapernstauden hängen aus winzigen Spalten im Stein und leuchten grün. Langsam gehen die Menschen auf der Vukovarska Cesta, die für den Verkehr gesperrt wurde, auf den Friedhof zu. Nur noch die hellen Glockenklänge der dortigen Kapelle ertönen in der bleischweren, heißen Stille. Und das Zirpen der Zikaden. Es ist beeindruckend und wirkt mindestens ebenso bedrückend, als der Menschenstrom den von Kiefern gesäumten Weg von der Straße zum hochgeht: Wortlos, schwarz, die Köpfe gesenkt.

Die Türen der kleinen Kapelle stehen offen, über dem Ziegeldach hängt die einzelne Glocke im Mauerbogen unter dem Kreuz und bewegt sich einige Male hin und her, dann erklingt ihr Läuten. Gräber mit Blumen, die in der Hitze leiden, säumen den Mosaikweg zur Kapelle.

Die Kapelle bietet nicht allen Platz, und da die Beisetzung sowieso im Freien stattfindet, entscheiden sich die Kirchenoberhäupter, den ganzen Gottesdienst draußen durchzuführen. Zu diesem Zweck stehen auf dem Friedhof kleine Lautsprecher auf wackeligen Stützen. Sie rauschen und knacken, und manchmal pfeift es unangenehm. Überall befinden sich hölzerne Staffeleien, an denen Blumenkränze hängen; die Blumen welken bereits, auch wenn sie im Schatten hoher Bäume stehen.

Wer unmittelbar neben der offenen Tür zur Kapelle steht, spürt einen leicht kühlen Luftzug. Es riecht etwas feucht, modrig.

Immer dichter stellen sich die Menschen aneinander, denn immer knapper wird der Platz um die Grabsteine und Grabfelder, die allesamt mit schweren Steinplatten zugedeckt sind. Ihre Größen verraten, dass darunter Urnen ruhen und nicht Särge. Es kommt selten vor, dass der Friedhof zu klein ist, um die Trauergäste einer Bestattung aufzunehmen. Es kommt aber auch selten vor, dass die ganze Stadt sich versammelt, um den Angehörigen ihre Anteilnahme kund zu tun.

Wieder knackt es in den Lautsprechern. Kleine Zapfen fallen vereinzelt aus den Ästen der Pinien, die an der steinernen, zerfurchten Friedhofsmauer stehen. Die Glocke schlägt noch zwei-, dreimal, dann verstummt sie. Die Aufbahrungshalle im Westen des Friedhofs liegt still in der Hitze, dahinter glitzert das Meer zwischen den Inselschenkeln, die sich in Richtung Festland öffnen. Eine Fähre, die wohl gerade bei der Anlegestelle eintrifft, lässt zweimal ihr Horn erklingen.

Die Prozession kommt langsam zum Stehen, die meisten haben den Friedhof erreicht und zwängen sich so gut es geht in den Schatten, andere wiederum scheinen die Hitze gar nicht wahrzunehmen. Der Pastor spürt sie. Schweiß rinnt über sein rundes Gesicht. Die wenigen Haare, die er möglichst breit gefächert über seinen Kopf gekämmt hält, glänzen nass und fettig. Mit leicht verwirrtem und unstetem Blick geht er nervös durch die Menge. Er ist es sich nicht gewohnt, vor so viel Menschen eine Abdankung zu halten. Und schon gar nicht eine solche Abdankung.

Es ist still auf dem Friedhof. Fast niemand redet und wenn, dann nur hinter vorgehaltener Hand. Plötzlich geht ein Raunen durch die Menge. Das Flüstern wird lauter, Köpfe wenden sich, und selbst einem Unbeteiligten wird nun klar, dass die Trauerfamilie eintrifft. Sie wird gegrüßt, manchmal mit einem scheuen Nicken, manchmal mit einem stummen, verständnisvollen Blick, manchmal mit einem emotionalen Schluchzen und einer impulsiven Umarmung. Vorneweg geht der Vater, der Arzt Ivan Bačić. Sein Blick ist starr geradeaus gerichtet, die Maske des Gesichts verrät nichts von seiner Stimmung. Doch seine Hand klammert sich an die seiner Frau Maja, die um einen halben Schritt versetzt neben ihm hergeht. Sie trägt einen schwarzen, transparenten Schleier, der ihre Gesichtszüge nur schwach erkennen lässt. Zu verweint ist ihr Gesicht, zu dunkel und groß die Ringe unter den Augen. Hinter ihr folgt, mit gesenktem Kopf, die Tochter, Nadja. Die noch lebende Tochter.

Die Menge nickt, um Mitgefühl zu symbolisieren und senkt die Köpfe. Die meisten Trauergäste schweigen, und nur vereinzelt ist Flüstern oder Tuscheln zu hören. Einigen ist das Schweigen peinlicher, als sich durch Flüstern und Tuscheln bloßzustellen.

Viele Bewohner von Stari Grad sind schon an einer oder mehreren Beerdigungen gewesen; das ist es nicht, was sie verunsichert.

Ein junges Mädchen, siebzehn, wird an diesem Tag auf die ewige Reise begleitet. Noch nicht einmal richtig im Leben, wurde ihre Kerze einfach so ausgeblasen. Das verstehen viele nicht. Doch niemand, wirklich niemand versteht, weshalb sie auf diese Weise hat sterben müssen.

Auch der Förster Karan ist unter den Trauergästen. Er hält den Kopf gesenkt. Er will niemanden sehen. Er will vor allem mit keinem Menschen sprechen. Schon gar nicht über...

Nie mehr wird er dieses Bild aus dem Kopf kriegen. Nicht einmal im Alkohol lässt es sich ertränken, und das hatte er zur Genüge versucht. Da half kein Travarica, kein Slivovic, nein, er würde mit dem Bild in seinen Gedanken leben müssen.

Die siebzehnjährige Jelena Bačić. Er fand sie in einem Kiefernwäldchen unweit von Jelsa. Das Genick gebrochen, ihr Kopf in einem seltsamen Winkel zum Körper. Zwischen den Steinen lag sie. Nackt. Die Haare wirr und mit Schmutz verklebt. Über und über mit blauen Flecken war er gezeichnet, ihr nackter Körper. Die Brustwarzen wurden mit einem scharfen Messer abgetrennt. Wo diese zuvor aus den jugendlichen Rundungen lugten, lagen zwei kleine Muscheln in eingetrocknetem, schwarzem Blut. Zwischen ihren hellen Schenkeln klaffte eine blutige Wunde. In ihrer Scheide steckte ein dicker Kiefernast. Wundschorf, Dreck, getrocknetes Blut, Urin, Prellungen: Ihr ganzer Körper war schrecklich zugerichtet.

Förster Karan hat den Obduktionsbericht nie zu lesen bekommen, das hätte er auch nicht gewollt. Doch er weiß auch so, dass der armen, siebzehnjährigen Jelena die Wunden zugefügt wurden, bevor das gebrochene Genick sie erlöste, denn ihr Gesichtsausdruck schrie selbst im Tod vor Schmerzen.

Der Gottesdienst beginnt, der Pastor spricht in das Mikrofon. Blechern klingt seine Stimme, irgendwie zu irdisch, doch die Trauernden bemerken es nicht. Der Pastor liest aus dem Neuen Testament den ersten Brief des Paulus an die Korinther.

„Siehe, ich sage Euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden…„

Niemand achtet darauf, niemand sieht die zwei ebenfalls dunkel gekleideten Männer zwischen den Trauernden umhergehen; langsam, andächtig, doch jede Sehne im Körper angespannt. Ihre Blicke gleiten stetig forschend, suchend umher. Die Sonnenbrillen kaschieren die Augen.

„…dann wird erfüllt werden das Wort, das geschrieben steht: `Der Tod ist verschlungen vom Sieg`. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel? Der Stachel des Todes ist aber die Sünde, die Kraft aber der Sünde ist das Gesetz…„

Der Pastor weiß, dass er sich auf dünnem Eis bewegt. Die Worte können verschieden gedeutet werden. Nicht das Mädchen sündigte, sondern sein Mörder, doch Jelena würde sich verwandeln. In der Erinnerung der Hinterbliebenen würde sie sich verwandeln, sie würde erst vermisst, dann würde sie aufsteigen zum Engel in der Erinnerung und schließlich unsterblich werden. Sie würde nicht entschlafen. Doch wo ist der Sieg des Todes? Wo ist das Gesetz?

Die beiden dunkel gekleideten Männer ziehen sich diskret in den Hintergrund zurück und beobachten das Geschehen aus der Distanz. Die Hände halten sie vor der Mitte verschränkt. Sie sind das Gesetz.

Doch wer sie erkennt, nicht während der Beisetzung, aber sonst, auf der Straße, schaut sie argwöhnisch und misstrauisch an. Das Gesetz hat versagt, bis jetzt. Denn von Jelenas Mörder fehlt jede Spur.

Gavun

Der kleine Ährenfisch – Atherina boyeri – ist eine Art, die im Ostatlantik, dem Mittelmeer und dem Schwarzen Meer anzutreffen ist. Der kleine Ährenfisch erreicht eine Körperlänge von maximal zehn Zentimetern. Er lebt als Schwarmfisch im küstennahen Bereich in Tiefen bis zehn Metern und ernährt sich von Plankton.

2.

„Dragan! Du kleine miese Ratte!„ Schrill gellt Marinas Stimme durch das Haus. Dragan zuckt zusammen.

„Ich drehe dir den Hals um, du kleiner Scheisser!“

Dragan versucht sich an seinem Schreibtisch so klein wie möglich zu machen. Sein Puls rast, und Schweißtropfen kitzeln seine Stirn. Doch ihm ist nicht zum Lachen. Er fragt sich, was er falsch gemacht hat. Oder besser, was seine Schwester herausgefunden hat. In diesem Moment hört er, wie ihr Vater Marina streng zurecht weist. So wird in seinem Haus nicht geredet.

„Ach, es ist doch wahr!“ begehrt Marina auf, sie scheint direkt vor seinem Zimmer zu stehen. Dragan schaut sich nach einem Versteck um. „Dieser kleine A… schnüffelte schon wieder in meinem Zimmer herum!“

Sinnlos, ein Versteck zu suchen. Die Tür fliegt auf, und seine Schwester steht in der Öffnung. Sie stemmt die Hände in die Hüften und schnaubt vor Wut. Ihr Blick versprüht etwas, das von giftspeienden Fischen mit riesengroßen Augen sein könnte. Dragan weiß, dass er seinen treuherzigen Blick gar nicht erst aufsetzen muss. Das zieht vielleicht bei ihrer Mutter, wenn er Kekse geklaut hat, oder bei Frau Mitrović, seiner Lehrerin, wenn er die Schularbeiten zu Hause vergessen hat, nicht aber bei seiner Schwester. Sie bebt vor Zorn, und ihr Gesicht ist dunkelrot. Dragan ist überzeugt, dass sie ihn sogleich in Stücke zerreißt, so wütend, wie sie wirkt. Er ahnt nicht, dass ein Teil ihrer Wut Verlegenheit ist. Er kennt sich mit den Gefühlsregungen seiner Schwester immer noch nicht wirklich aus. Denn Marina weiß nur, dass ihr Bruder wieder einmal in ihren Sachen wühlte, doch sie weiß nicht, was er entdeckt hat. Und auch nicht, was nicht. Und dort liegt das Problem. Einerseits ist sie wirklich stinksauer und muss ihrem Bruder wieder einmal verbal eins aufs Maul geben; andererseits kann es sein, dass er sie erpresst, wenn er zu viel gesehen hat, und sie zu heftig auffährt.

Sie schüttelt den Kopf, und ihre schwarzen Haare fliegen. Die braunen Augen scheinen Feuer gefangen zu haben. Die Lippen bewegen sich kaum, als sie leise hervor presst:

„Du kleiner Scheisser! Wenn ich noch einmal merke, dass du in meinem Zimmer warst, oder dich gar erwische, dann…“

Sie hebt die Hand und zeigte ihm ihre Faust; die Knöchel stehen weiß hervor.

„Merke es dir ein für alle Mal. Du hast in meinem Zimmer nichts zu suchen!“

Dragan klammert sich an die Tischkante. In solchen Momenten hat er Angst vor seiner Schwester. Nicht hier drin, im Haus, nicht wenn ihre Eltern in der Nähe sind. Aber draußen, auf der Straße, wenn sie mit ihren Freundinnen unterwegs ist und auf ihn trifft, dann kann sie eine fiese, gnadenlose Hexe sein.

„Kranker, kleiner Spanner!“ zischt sie noch, dann dreht sie sich um, reißt die Tür hinter sich zu, dass es knallt und ein kleines Bild von Lady Gaga in seinem Zimmer vom Regal fällt. Dragan zuckt zusammen und hört, wie sein Vater wieder erbost nach seiner Schwester ruft. Demonstrativ knallt diese auch noch ihre Zimmertür ins Schloss. Puh! Das war knapp!

Dragan lehnt sich zurück. Allmählich entspannt er sich, sein Puls beruhigt sich. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn. Er muss vorsichtiger sein.

Er schließt die Augen, kippelt mit dem Stuhl gefährlich nach hinten und kaut auf dem Bleistift, mit dem er gerade versuchte eine Muräne zu zeichnen, als seine Schwester hereinplatzte.

Es ist Samstag, und draußen zieht erneut ein brütend heißer, wolkenloser Nachmittag dahin. In seinem Zimmer ist es etwas kühler, aber auch nicht wirklich angenehm. Dragan öffnet die Augen und schielt kurz auf den Wecker über seinem Bett. Es ist kurz nach drei. Noch drei Stunden, mindestens! Vorher kann er nicht nach draußen gehen und sich nach seinen Freunden umschauen. Es hat keinen Sinn, es würde niemand draußen sein. Nicht bei dieser Hitze.

Er will doch in die Bucht fahren. Aber er weiß, dass seine Eltern ihm dies nicht erlauben werden. Nicht nachdem was geschehen ist. Obwohl, er ist ja nicht ein… Ach, was soll`s, denkt er.

Er kippelt weiter und bremst im letzten Moment mit den Zehenspitzen, die er blitzschnell an der hinteren Tischkante einhängt und so verhindert, dass er mit dem Stuhl hintenüber fällt und auf den Hinterkopf knallt.

Aus dem Zimmer seiner Schwester dringt laute Musik. Dragan rümpft angewidert die Nase. `Feminem – nije moje srce nije`. Wie kann man solchen Schrott nur hören! Diese drei Tussis, die diese Musik machen… Na ja, so schlecht sehen die drei zwar nicht aus, aber die Musik gefällt ihm nicht. Für ihn muss die Musik aus Amerika kommen. Sonst ist es nicht Musik. Michael Jackson, der ist ja nun tot, aber seine Musik lebt weiter; Lady Gaga – ja, das ist seine Musik. Wobei er sich selbst manchmal fragt, ob er diese Musik einfach hört, um es den anderen in der Schule gleich zu machen.

Dragan tut immer so, als möge er eigentlich nichts, was seine Schwester macht, hört, oder anzieht. Einfach schon aus Prinzip. Doch im Grunde genommen stimmt das überhaupt nicht. Er tut so gegen außen und vor allem seiner Schwester gegenüber. Denn sie dürfte nie erfahren, was er sich eigentlich selbst nicht zu gestehen traut: Er betet sie an, er schaut zu ihr hoch; sie fasziniert ihn, und auch wenn es oft eine Hassliebe ist, die sie verbindet, so überwiegt für Dragan die Liebe bei weitem. Nur kann er ihr das nicht gestehen. Es steht wie ein ungeschriebenes Gesetz über ihnen, dass ihr Zusammensein ein Spiel zwischen Katze und Maus ist. Punkt. Und Marina gibt sich die größte Mühe, die perfekte Katze zu sein. Sie spielt mit ihm, sie jagt ihn, sie quält ihn und wenn es gerade ihrer Laune entspricht, ignoriert sie ihn und behandelt ihn wie Luft.

Und dieses Verhalten provoziert in Dragan den Drang, sich noch verzweifelter in ihr Leben einzumischen, zu schnüffeln und mehr über das unbekannte Wesen Schwester und das noch unbekanntere Wesen Frau heraus zu finden. Letzteres ist in letzter Zeit zu seinem Erschrecken immer wichtiger geworden, und er weiß überhaupt nicht, wie er damit umgehen soll.

Es scheint etwas in ihm zu entstehen, das ihn förmlich entzweireißt. In der Schule, mit seinen Freunden, lässt er keine Minute aus, um über die Mädchen herzuziehen. Er verspottet sie, prahlt damit, wie dankbar er ist, ein Junge zu sein. Er tut alles, um ja nicht mit einem Mädchen gesehen zu werden und versucht mit aller Kraft und allen Registern, den rüpelhaften, groben, überhaupt nicht sensiblen Jungen zu mimen. Der er überhaupt nicht ist.

Und zu Hause, in seinem Zimmer, am Abend in seinem Bett, oder wo auch immer in seinen Gedanken und Träumen, taucht die andere Seite seines Wesens auf. Die Seite, die sich interessiert. Die merkt, dass ihn die Mädchen faszinieren. Da ist er der schüchterne, sensible Junge, der bei einem scheuen Blick spürt, wie das Blut in seinem Körper wallt und in den Ohren rauscht. Da ist er der aufmerksame Junge, der einem Mädchen die Türe aufhält, der ihr die Schulbücher aufhebt, wenn sie sie fallen gelassen hat. Da ist er der, der mit einem Mädchen durch den Park spaziert und ihr faszinierende Geschichten aus der Natur erzählt. Da ist er der, der versucht scheu ihre Hand zu berühren. Doch nur in seinen Träumen und Gedanken.

Er merkt auch, dass da in ihm ein Wesen schlummert, das sich für die Körper der Mädchen zu interessieren beginnt. Dieses Wesen bringt ihn dazu, verstohlene Blicke über die Oberkörper der Mädchen huschen zu lassen, wo sich auf einmal Rundungen zeigen, wo plötzlich zwei Erhebungen durch den Stoff sichtbar werden. Dieses Wesen ist es, das ihn bemerken lässt, dass sich die Mädchen auf einmal anders bewegen, ihr Gang irgendwie weicher wird, ja, das ihn den Gang der Mädchen überhaupt wahrnehmen lässt. Und so kommt es, dass er sich auch mal heimlich umdreht, wenn drei seiner Schulkameradinnen vorbei gehen, und er feststellt, welcher der drei Hintern runder ist und sich beim Gehen mehr bewegt.

Ja, und nachts… Seit einiger Zeit erwacht er plötzlich nachts und stellt fest, dass er in seinen Träumen offenbar bei diesen Mädchen gewesen ist. Und in seinen Träumen rutscht auch mal einem Mädchen ein Träger des Tops von der Schulter und entblößt den Ansatz einer Brust; oder er wähnt sich in der Umkleide nach dem Sportunterricht und sieht die praller werdenden Hintern in geblümten Slips. Und als wäre dies nicht schon genug, spürt er beim Erwachen plötzlich, dass sich sein Körper anders anfühlt. Es dauerte eine Weile, bis er es wirklich realisierte. Es fühlte sich an, als hätte er Muskelkater. Doch dort hat man keinen Muskelkater. Dragan hatte sich aufgesetzt und die Decke hoch gehoben. Denn das eigenartige Gefühl kam aus seiner Mitte. Und zu seinem Schrecken stand dort sein Glied, das sonst weich und schrumpelig zwischen den Schenkeln hing, hart und steif empor. Zuerst erschrak er und war sich nicht sicher, ob er krank war, oder mit ihm sonst etwas nicht stimmte. Doch eine zaghafte Berührung ließ sofort wohlige Schauer durch seinen Körper fließen. Und was sich angenehm anfühlte, konnte wohl keine Krankheit sein. Seine Gefühle verlagerten sich sogleich wieder in Richtung Schrecken, als nach wenigen weiteren Berührungen sein Glied plötzlich zuckte und eine weiße Flüssigkeit ausspritzte. Da aber auch dieses Gefühl sehr angenehm war, berührte er sich wohlig, ließ sich eigenartig entspannt ins Bett zurücksinken und schlief weiter. Das war nun schon eine Weile her, und seither hilft er dem Gefühl oft etwas nach, wenn er nachts erwacht, und sein Glied frech zwischen den Schenkeln hochragt.

Nun kennt er sogar die Begriffe dazu und weiß, dass er eine Erektion hat, wenn sein Pimmel steif wird. Und ein weiteres Wort kann er zwar schreiben, es auszusprechen kostet ihn allerdings etwas Mühe, wenn er den weißen Spritzern den Namen geben will: Ejakulation.

Die Kumpels in der Schule reden zwar anders, doch macht er bei diesen Diskussionen meist nicht mit, und wenn sie von Schwanz und Latte sprechen und bei den Mädchen von Titten und Mösen, dann findet Dragan das nicht witzig, und schon gar nicht schön. Er spricht sowieso nie über diese Dinge und schon gar nicht darüber, was er nachts im Bett tut.

Und auch nicht darüber, was er bei seiner Schwester schon beobachtet und gefunden hat.

Dragan kippt mit dem Stuhl nach vorne und erhebt sich mit dem Schwung. Er tritt ans Fenster und schaut über die Dächer von Priko hinunter zum Hafen und darüber hinweg auf die andere Seite von Stari Grad, dort, wo sich hinter Duboka der Hügel erhebt, durch den der Tunnel nach Hvar führt. Das Licht ändert sich, das Blau des Himmels wird weicher, das Sonnenlicht ebenfalls. Die Felsen leuchten nicht mehr grell und blenden das Auge nicht mehr. Bereits schimmern sie gelblich und in warmem Ton. Es wird Abend. Schon bald werden die Möwen auftauchen, über dem Hafen kreisen und mit ihren Rufen die Rückkehr der Fischer verkünden.

Dragan registriert, dass Marina die Musik ausgeschaltet hat. Er hört, wie ihre Zimmertür geöffnet wird und kurz darauf die Tür zum Badezimmer. Er schaut auf den Wecker. Fünf Uhr. Seine Schwester wird nun wohl beinahe eine Stunde im Badezimmer verbringen. Er schnaubt verächtlich. Und gleichzeitig weiß er, dass sie atemberaubend aussehen wird, wenn sie nach einer Stunde wieder auftaucht. Er kann nicht verstehen, wie eine Frau eine Stunde vor dem Spiegel stehen kann. Nur, um sich für ein Treffen mit Freunden, ach nein, für ein Treffen mit dem Freund, bereit zu machen. Zumal seine Schwester schön ist, auch ohne Schminke und ohne eine Stunde intensiver Arbeit vor dem Spiegel.

Dragan setzt sich wieder an den Schreibtisch und zeichnet die Muräne fertig. Er schraffiert die ausgewaschenen Felsen, an denen Seeigel haften und die den Hintergrund seiner Zeichnung bilden, dann betrachtet er sein Werk und rümpft die Nase. Er ist nicht zufrieden mit der Zeichnung. Dragan schiebt sie in die Mappe, die neben seinem Schreibtisch steht. Da gesellt sich die Zeichnung zu beinahe hundert anderen, die im Laufe der letzten Jahre entstanden sind.

Dragan lässt sich aufs Bett fallen und starrt an die Decke. Dort kleben zum Leidwesen seiner Eltern mehrere Poster. Die Fußballmannschaft von Hajduk-Split. Eine Aufnahme von Michael Jackson in der berühmten Pose, bei der seine Hand im Schritt ruht. Sponge Bob. Na ja, das Bild kann eigentlich weg. Natürlich darf Lady Gaga nicht fehlen. Dragan betrachtet sie. Auf dem Bild, es ist eine Aufnahme von einem Konzert, trägt sie einen BH, der aus milchigem Glas zu sein scheint, schwarze Pants und Strümpfe; dazu schwarze Stiefelchen. Sonst nichts. Ihre Pose ist, …gewagt. Sie kniet mit offenen Schenkeln und dem Mikrofon in der Hand vor der Kamera und schaut lasziv in die Linse. Die Blicke werden förmlich angezogen, von dem Punkt zwischen ihren Schenkeln, wo nur ein schmaler Streifen schwarzer Pants zu sehen ist. In Dragans Hose regt sich etwas. Seine Hand rutscht über den Bauch.

Doch er denkt an das, was er bei seiner Schwester gesehen hat. Er denkt daran, wie er am Vortag in ihr Zimmer schlich und die Schubladen ihrer Kommode durchsuchte. Dort entdeckte er Höschen, die so knapp sind, dass kaum Stoff an ihnen ist. Dragan fürchtete, sie würden die wichtigste Stelle nicht bedecken. Und er kennt die wichtige Stelle, er hat seine Schwester schon oft durchs Schlüsselloch beobachtet. Doch nicht die Höschen katapultierten seine Phantasie in den Himmel hoch. Nein, das, was er zwischen den Höschen fand. Irgendwie sah es aus wie sein Glied, wenn es steif ist, einfach grösser. Viel grösser. Das Ding war aus Plastik. Und plötzlich, als er das Ding irgendwo berührte, begann es zu surren und zu vibrieren. Dragan ließ das Ding fallen vor Schreck und rannte aus dem Zimmer seiner Schwester. In diesem Moment kam sie nach Hause. Er konnte das Ding nicht mehr ausschalten und schon gar nicht mehr an seinen richtigen Platz zurücklegen. Daher weiß Marina, was er entdeckt hat. Und daher will sie ihn teeren, federn, vierteilen und an die Haie verfüttern. Obwohl Dragan nicht wirklich weiß, wofür das Ding gedacht ist, so hat er eine Ahnung. Doof ist er ja nicht. Einerseits stößt ihn der Gedanke ab, er ekelt sich. Andererseits taucht da wieder dieses zweite Wesen in ihm auf. Und dieses macht sein Glied wieder steif… Dragan bewegt die Finger in seinem Schritt. Und sieht nun gerade so aus, wie Michael Jackson auf dem Poster.

Blavor

Der Eidechsenfisch – Synodontidae – gehört zu einer Familie bodenbewohnender, kleiner Raubfische. Eidechsenfische sind von länglicher, schlanker Gestalt und werden bis zu fünfzig Zentimeter lang. Die Räuber haben viele feine, sehr spitze Zähne, auch auf der Zunge.

3.

Als Dragan mit dem Fahrrad die Ulica Kralja Tomislava entlang fährt und oberhalb der großen Hotelanlage in den roten Schotterweg einbiegt, denkt er nach. Radfahren und Denken ist eine gute Kombination. Sein Atem geht nach der ersten Anstrengung bereits wieder regelmäßig, während er den größeren Steinen auf der Piste ausweicht und im Pendeltritt hügelan radelt, umgeben von Kiefern und duftendem Unterholz.

Er denkt nach. Über das, was er gerade verbotenerweise tut. Über das Ereignis, das dieses elterliche Verbot bewirkt. Über die Beerdigung kürzlich. Jelena… Er kannte sie auch. Nicht so gut wie seine Schwester, aber immerhin ein wenig. Und sie war auch eines dieser Mädchen gewesen, das immer wieder in seinen Träumen vorgekommen war. Und nun ist sie tot.

Dragan tritt in die Pedale, und der Wald fliegt an ihm vorbei. Er ist ein guter Radfahrer. Und er hat nicht sehr viel Zeit. Die Fahrt wird ihn etwa eine Viertelstunde kosten, dann noch gut fünf Minuten Fußmarsch in die Bucht hinunter; dasselbe zurück, dann bleiben ihm knapp zwei Stunden bei Jossip.

Seine Eltern verboten ihm, zu Jossip in die Bucht zu fahren. Nur weil man Jelena tot in einer Bucht fand. Aber er ist ein Junge und kein Mädchen. Ihm kann man keine Brüste abschneiden – na gut, die Brustwarzen schon – aber diese Dinger zwischen den Beinen, nein, die hat er nicht. Eigentlich weiß niemand, dass Jelena solch schreckliche Dinge angetan wurden. Dragan hat aber seine Eltern belauscht. Und sein Vater ist Arzt, wie der von Jelena. So kriegte sein Vater offenbar mit, was mit Jelena passiert war. Und Dragan auch, da er seinen Vater belauscht hatte.

Es gibt einen Mörder auf der Insel.

Dragan schaut über die Schulter zurück. Es ist noch hell. Es ist noch warm. Dennoch fällt das Licht zwischen den Bäumen bereits schwach aus. Wenn er die Baumkronen gegen den Himmel hin betrachtet, sind sie grün, und die Nadelspitzen deutlich erkennbar. Senkt er jedoch seinen Blick und schaut tiefer unten in das Dickicht der Äste, sind keine Details mehr zu erkennen und schon gar keine Farben mehr. Der Wald ist bereits dunkel und düster. Und dort kann sich irgendetwas verbergen. Oder irgendjemand.

Noch einmal tritt er kräftig in die Pedale, dann schießt er aus dem Wald auf die Straße, die von Rudine her über Kabal bis ans Ende der Insel führt. Er folgt der Straße so lange, bis sie zur Schotterpiste wird, dann biegt er rechts ab und stellt das Fahrrad bei dem alten Hirtenunterstand ab. Einige Autos stehen noch dort, doch Dragan weiß, dass deren Besitzer nicht in seiner Bucht sind. Die deutschen, slowenischen und italienischen Nummernschilder verraten ihm, dass es sich um Touristen handelt, die den Reiseführern folgen und in der Zavala-Bucht dem Nacktbaden frönen. Dragan weiß, dass man auf der Insel beinahe in jeder Bucht nackt baden kann, doch die Touristen brauchen offenbar die offiziellen Nacktstrände. Vermutlich, um sich in ihrer krebsroten, meist fettleibigen Nacktheit den anderen zu zeigen.

Er jedenfalls schlägt den Weg nach rechts ein und folgt dem schmalen Pfad zwischen den Carobsträuchern, dem wilden Lavendel und den Olivenbüschen hindurch und sieht wenig später das türkisgrüne Wasser der Žukova-Bucht unter sich.

Er stolpert über scharfkantige Steine und rutscht über loses Geröll, doch als er das sanfte Plätschern des Wassers in der stillen Bucht hört, verlangsamt er automatisch seinen Schritt. Die Zeit bleibt hier unten nicht nur stehen, es gibt sie gar nicht. Das Leben hier ist anders.

Der schmale Pfad schlängelt sich zwischen den Sträuchern hindurch zur Bucht hinunter, und Dragan kann schon die wenigen Boote sehen, die in der schwachen Dünung dümpeln. Das Wasser ist so klar, dass er bis an den Grund der Bucht sehen und dort die Steine, die Fische und den angeschwemmten Müll sehen kann.

Seine Eltern vermuten ihn mit Freunden auf dem Fußballplatz. Seine Schwester weiß, dass er Verbotenes tut, wird aber schweigen, weil er das komische Plastikding in ihrer Schublade zwischen den Höschen entdeckte, und sie befürchten muss, dass er sie verpetzt. Er springt den Weg hinunter in die Bucht, wo sein alter Freund Jossip bereits dabei ist, die Netze zu prüfen.

Dragan sieht den alten Fischer vornüber gebeugt im Boot etwas weiter draußen in der Bucht. Das Meer schimmert, und es sieht aus, als führte eine Straße aus glitzernden Edelsteinen über die sanften Wellen zum Horizont. Das Boot schaukelt leicht, doch der alte Fischer bewegt sich mit größter Sicherheit. Das Meer und das Boot sind sein Zuhause, seit mehr als fünfzig Jahren schon.

Dragan hastet die letzten Steinstufen hinunter in die Bucht und rennt über den kleinen Kiesstrand. Er springt auf die flachen, ausgewaschenen Felsplatten und steht wenig später vor der kleinen steinernen Hütte am einen Schenkel der tiefen Bucht, die sich gegen die Insel Brač hin öffnet. Er tritt auf die Steinstufen zum Anlegesteg und winkt Jossip mit beiden hoch erhobenen Händen.

Erst nach mehreren Anläufen bemerkt ihn der alte Fischer und er winkt zurück. Dragan setzt sich auf die Stufen und wartet.

Weil ein junges Mädchen getötet wurde, erlauben ihm seine Eltern nicht mehr, am Abend zu Jossip in die Bucht zu fahren. Seine Schwester darf sich mit Freundinnen treffen, er darf auf den Schulhof, aber zu Jossip fahren darf er nicht. Dragan versteht die Erwachsenenlogik dahinter nicht. Jelena wurde im Gehölz nahe einer Bucht gefunden. Das ist eine Tatsache. Dragan glaubt aber nicht, dass von jetzt an jede Bucht auf der Insel daher gefährlich ist, und jeder junge Mensch an so einem Ort grundsätzlich gefährdet. Deshalb schummelt er an diesem Abend und wartet nun auf Jossips Rückkehr. Er lächelt zufrieden und lässt einige flache Kiesel auf dem Wasser tanzen. Angst hat er dennoch, vor seiner Schwester; sie beobachtet ihn. Sie wird sich rächen, sobald sich eine Gelegenheit bietet, das ist so sicher wie die Touristenmassen im Sommer. Im Moment hindert seine Entdeckung in ihrer Schublade sie an ihrem Rachefeldzug, doch auch sie hat Karten gegen ihn in der Hand; zur Zeit zwar die schlechteren, aber die Situation wird sich wieder ändern. Marina weiß zum Beispiel, dass er im Kiosk am Stjepana Radića Platz schon geklaut hat. Einmal Zigaretten und einmal so ein Magazin, in denen Frauen nackt zu sehen sind. Sie kann es zwar nicht beweisen, aber sie kann ihn damit ganz arg in Verlegenheit bringen. Die Zigaretten warf er weg, nachdem er mit zwei seiner Kumpels eine geraucht hatte. Ihm wurde speiübel und er glaubte, den Geschmack im Mund nie mehr loszuwerden. Das Magazin hält er in einem Geheimfach in seiner Kleiderkommode versteckt.

Dragan erhebt sich, als Jossip in seinem Boot näher kommt. Er greift nach dem Tau, das ihm der Alte zuwirft und zieht damit das Boot sachte an den Steg. Mit einem gekonnten Mastwurf sichert er den Kahn und nimmt dem alten Jossip wortlos die Körbe ab, in denen die gefangenen Brassen zucken. Es riecht nach Salz, nach Algen und nach Fisch. Dragan liebt diesen Geruch.

„Na, mein Freund“, murmelt der Fischer, als Dragan ihm die Hand reicht, um ihm aus dem Boot zu helfen, doch der Alte schüttelt nur den Kopf und steigt ohne Hilfe aus. Der Tag, an dem er Hilfe benötigt, um sein Boot zu verlassen, wird sein letzter sein auf See.

„Guten Abend Jossip“, grinst Dragan, denn seine Geste war provokativ. Er weiß genau, dass der Alte keine Hilfe annehmen würde und dennoch hält er ihm jedes Mal die Hand hin. „Sind Sie zufrieden mit dem Fang?“

Ehrfürchtig siezt er den alten Fischer, und selbst wenn dieser ihm das Du anbieten würde, er würde es ablehnen. Jossip ist sein Lehrer, sein Mentor. Jossip ist so etwas wie ein Gelehrter, zu dem er hochblicken kann. Darf. Er mag den alten Kauz, er liebt ihn. Vielleicht kommt das auch daher, dass er keinen seiner Großväter wirklich gekannt hatte, und Jossip so etwas wie ein Ersatz ist. Sein Großvater väterlicherseits wurde im Krieg getötet, er hat ihn nie gekannt; und der Vater seiner Mutter starb an einer Krankheit, da war Dragan gerade drei Jahre alt. Vielleicht stimmt die Chemie zwischen den beiden auch einfach, denn sie verstehen sich mit wenigen Worten und häufig sogar ohne. Vielleicht ist ihr Verhältnis aber auch einfach so gut, weil es zu Beginn das pure Gegenteil war.

Dragan nimmt die Körbe, steigt mit ihnen die Stufen hoch und über die flachen Felsen zur Hütte. Er stellt sie auf den vom Salzwasser und vom Wetter ausgewaschenen und gebleichten Holztisch und kehrt zu Jossip zurück, um ihm mit den Netzen zu helfen. Einige der Netze bleiben über Nacht draußen, sie holt der Alte in der Morgendämmerung ein. Einige müssen am Abend kontrolliert und eingeholt werden. Jeder Fisch hat seinen Rhythmus, seine Gewohnheiten, und diese muss man kennen. Dragan weiß schon genau, wo welcher Fisch auftaucht und wann, und daher kennt er auch die verschiedenen Fangmethoden und weiß, wo man die Netze anbringen oder wo Netze sinnlos sind und mit Fangkörben gearbeitet werden muss. Jetzt hilft er dem alten Jossip die Netze der Brassen aufzuhängen, damit sie in der Brise trocknen. Danach werden sie den gefangenen Fisch ausnehmen. Auch die Möwen wissen dies bereits, denn sie kreisen zahlreich und kreischend über der Bucht.

Vor drei Jahren war es, Dragan, ein gerade zehnjähriger Rotzbengel, frech, vorlaut, respektlos Erwachsenen gegenüber hatte, den Kopf voller Unfug. Wie es sich für einen zehnjährigen Jungen gehört. Es war an einem Dienstag, als auf dem Trg Stjepana Radića der übliche Wochenmarkt stattfand, und die Bauern und Fischer aus der Gegend wie immer ihre Waren anboten. Ein Gemisch aus unzähligen Gerüchen hing über dem Platz und dazu mischten sich ein Stimmenwirrwarr, ein Geschrei, das laute Hupen von Autos und eine Farbenpracht, die das Auge schon fast überforderte.

Da wurde Gemüse angeboten, Berge von Karotten und Gurken häuften sich auf den einfachen Tischen, Kartoffeln lagerten in hölzernen Kisten. Daneben türmten sich Gläser mit Honig und in Essig eingelegtes Gemüse, Kräuterstränge hingen gebündelt und duftend darüber. Früchte gab es, in allen Farben und Formen, und manch einer, der diese verkaufte, bot auch noch gleich den entsprechenden Wein, Likör oder Schnaps dazu an. Gegenüber hingen getrocknete Würste und riesige Schinken. Verschiedene Fleischstücke, die mehr oder weniger appetitlich aussahen, wurden von den weißgekleideten Metzgern erfolgreich gegen die Fliegen verteidigt. Und auch Fisch wurde angeboten, vor allem Fisch. Hvar war eine Insel mitten in der Adria und Stari Grad eine Hafenstadt. Fische und Touristen waren die wichtigsten Lebewesen. Obwohl die Inselbewohner von Letzteren lebten, konnten sie mit Ersteren meist besser umgehen.

Kleine Sardinen glitzerten in Becken, gefüllt mit Eissplittern, daneben leuchteten Brassen und Drachenköpfe; kleine und große Tintenfische lagen weiß und tot dazwischen. Es gab Garnelen, riesige Tranchen von Thunfisch, noch grau, wenn nicht beinahe schwarz; auch Muscheln quollen über die Eimer hinaus, und hie und da zappelte ein Krebs mit durch Gummiband gefangenen Scheren in einem Eimer, seiner Zukunft unsicher, respektive derer unwissend.

An einem dieser Stände war auch Jossip immer wieder anzutreffen. Die Streiche waren nie persönlich gemeint und die Opfer zufällig gewählt und so traf es an diesem Dienstag Jossip, als Dragan und seine Schulfreunde nach dem Unterricht ihre Räder stehen ließen und um das Hafenbecken herum zum Markt rannten. Zu dritt preschten sie zwischen den Ständen hindurch, und wer sie kommen sah, stellte sich schützend vor die Ware, denn die drei waren bekannt. Bekannt und berüchtigt. Wie abgemacht, lenkte einer Jossip ab und als dieser nicht hinschaute, kickten die beiden anderen die Tischbeine des Marktstandes weg. Der ganze Stand fiel in sich zusammen, und die Fische purzelten in den Straßenstaub. Es gab ein riesiges Durcheinander und Geschrei. Es polterte und knirschte und schließlich lagen Fische, Garnelen, Eissplitter, das Stoffdach des Standes, Eimer und Schalen auf einem Haufen unter der unbarmherzigen Sonne. Der, der Jossip ablenken sollte, war Dragan gewesen. Und er war es auch, der eine eiserne Faust im Nacken spürte, die ihn packte, ehe er wie ein Wirbelwind zwischen den anderen Ständen verschwinden konnte.

Dragan glaubte damals, seine letzte Stunde hätte geschlagen. In dem Moment, in dem Jossip ihn am Nacken packte und er realisierte, dass es kein Wegkommen mehr gab, rutschte sein Herz in die Hose und unten raus, und lag schwach pulsierend neben dem Fisch in der Sonne. Gerutscht war es vermutlich daher so gut, weil er sich vor Angst auch noch in die Hose gepinkelt hatte.

Jossip verlor keine großen Worte. Er ließ nur ein paar Mal seine Hand auf Dragans Hintern niedersausen – vor all den Gaffern, die wegen des Durcheinanders näher gekommen waren. Dragan konnte sich mehrere Tage nicht mehr setzen. Danach hieß der alte Fischer ihn den Fisch einzusammeln.

Wortlos wog Jossip alle Fische, die nicht mehr verkäuflich waren und warf sie in einen Eimer.

„Du schuldest mir mindestens zweihundert Kuna, Junge“, eröffnete der Alte mit ruhiger Stimme und hielt Dragan dabei gar nicht mehr fest. Er betrachtete Dragan von Kopf bis Fuß, taxierte ihn und fuhr dann fort: „Ich rechne dir fünf Kuna pro Stunde an. Das heißt, du wirst vierzig Stunden für mich arbeiten“.

Er drehte sich weg und bediente eine Kundin, die zwei Thunfischtranchen zu kaufen wünschte.

Mit offenem Mund stand Dragan dort. Er hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit dem. Der alte Fischer erwähnte auch seine Freunde nicht; er hatte ihn als Verantwortlichen gepackt und zur Rechenschaft gezogen. Punkt. Alles andere war dem Alten egal. Doch was Dragan am meisten faszinierte, war die Tatsache, dass der alte Jossip ihn einfach losgelassen hatte. Dragan hätte auf Nimmerwiedersehen verschwinden können.

Genau deshalb blieb er.

Und so kehrte er wortlos die Eissplitter zusammen, montierte das Dach des Marktstandes wieder und blieb bei Jossip, bis dieser alles verkauft hatte. Zweimal sah er seine beiden Freunde, die aus sicherem Versteck herüberschielten und ihm winkten.

Er ignorierte sie.

„Ich erwarte dich am Samstagnachmittag um zwei Uhr. Ich wohne in der Žukova-Bucht“, wies ihn der alte Jossip zum Ende des Markttages an, und Dragan nickte nur und rieb seinen schmerzenden Hintern.

Seit diesem denkwürdigen und vor allem unvergesslichen Dienstag war Dragan schon viele Male vierzig Stunden bei dem alten Jossip gewesen. Bei seinem ersten Arbeitseinsatz fragte ihn Jossip nach seinem Namen; beim zweiten entschuldigte sich Dragan für den Streich. Beim dritten Arbeitseinsatz gab ihm Jossip zwei herrliche Rotbrassen mit, und am Tag danach bereitet seine Mutter ein leckeres Abendessen mit gegrilltem Fisch zu. Dragan hatte noch nie ein so schmackhaftes Essen genossen wie an diesem Sonntag mit dem Fisch vom alten Jossip.

„Du bist nervös, Dragan“, brummt Jossip. Sie sitzen vor der Hütte, und der Alte nimmt die Fische aus. Dragan verfüttert die Innereien an die Möwen.

Dragan kippt den letzten Eimer Fischmägen über die flachen Felsplatten und schaut zu, wie sich die Möwen darauf stürzen. Die Bucht liegt still da, das Meer ist ruhig, und die kleinen Wellen plätschern und murmeln in den Felsnischen, die Boote schaukeln sanft. Dunkel liegen die Bäume und Büsche am Ufer, der Himmel verfärbt sich von Dunkelblau über Violett zu Schwarz. Eine kühle Brise geht endlich, wobei kühl eigentlich übertrieben ist: Es steigt so viel Wärme, ja Hitze aus dem Boden auf, dass der Windzug nicht zu kühlen vermag, selbst wenn er vom Wasser her weht.

„Ach“, gibt Dragan zu und stellt den Eimer mit einem lauten Knall auf die Bank neben der Hütte. „Ich darf eigentlich gar nicht hier sein. Meine Eltern haben es mir verboten“.

„So. Verboten“, brummt der Alte.

„Ja, wegen diesem Mord“, erklärt Dragan. „An Jelena“.

„Ach ja, der Mord“, der alte Jossip platziert die verkaufsbereiten Brassen in die Kühlboxen und bedeckt sie mit Eissplitter.

„Schlimme Sache, ja. Was hat das mit dir zu tun?“

„Nun, meine Eltern haben Angst, weil der Mörder noch frei herumläuft und weil es ein Mädchen gewesen ist. Also eine Jugendliche…“

Der Alte nickt. Er versteht.

„Hast du Angst?“ will der alte Jossip wissen.

Dragan hebt die Schultern. Er lässt sich neben dem Fischer auf die Bank fallen und schaut über die Bucht hinweg. Brač verschwindet schon fast im Dunkel des Nachthimmels. Eine Fledermaus huscht vorbei. Die Zikaden zirpen noch.

„Nein, ich habe keine Angst“, erklärt Dragan. „Nicht vor ihm. Vor meinen Eltern, vor meiner Schwester, ach… lassen wir es“.

Er springt hoch, schnappt sich einen flachen Kieselstein und wirft ihn in hohem Bogen ins Wasser. Eine Sekunde später platscht es. Die Ringe, die sich im Wasser bilden, sieht er nicht mehr.

Der alte Jossip reagiert nicht auf die Aussage des Jungen. Er verschließt die Kühlboxen und erhebt sich ächzend von der Bank. Dragan hilft ihm, die Boxen in den kühlen Vorratsraum im hinteren Teil der Hütte zu verstauen. Als sie wieder vor der Hütte stehen, legt der alte Fischer Dragan die Hand auf die Schulter.

„Ja ja, diese Insel“, murmelt er. „Weißt du, mein Junge. Sie birgt viele Geheimnisse. Ich kenne einige davon. Erinnere mich daran. Ich werde dir bald eines davon erzählen.“

Die Worte hallen in ihm nach, als Dragan etwas später durch den knirschenden Kies am Schenkelpunkt der Bucht geht und dann zwischen den Büschen den Anstieg antritt. Die Sonne ist längst untergegangen, der Himmel glüht aber noch. Er klettert über die losen Steine hügelan, passt auf, dass er nicht ausrutscht und steigt den gewundenen Weg höher. Die Sträucher kratzen an seinen nackten Beinen. Dragan bringt den halben Weg hinter sich, dann schaut er noch einmal zurück. Unter ihm liegt die Bucht, das Wasser ist nun dunkel geworden und leuchtet nicht mehr türkisgrün. Dunkel sind auch die Büsche und Bäume gegen das offene Ende der Bucht hin, ebenso die Vegetation weiter draußen auf Brač.

Dragan dreht sich wieder um und klettert höher. Wenig später hat er die erweiterte Stelle erreicht, dort, wo sein Fahrrad an dem alten Steinunterstand lehnt, und die ans Ende der Inselzunge führende Kiespiste zur Teerstraße wird. Er steigt auf sein Rad und kurz darauf biegt er von der Straße weg in die Abkürzung durch den Wald.

Zwischen den Bäumen ist es vollends dunkel.

Keine Angst. Nein, ein Junge wie Dragan mit dreizehn Jahren kennt keine Angst. Oder er zeigt sie einfach nicht. Da ist sie trotzdem. Bei jedem Knacken im Unterholz schreckt Dragan zusammen. Bei jedem Rufen eines Kauzes kriegt er Gänsehaut. Und dieser helle Fleck dort vorne, zwischen den dunklen Ästen der Bäume. Ist das nicht das Gesicht eines Lauernden? Dragan tritt in die Pedale und starrt geradeaus. Nur nicht nach links oder rechts schauen. Was ich nicht sehe, gibt es nicht… Immer schneller wird er. Und immer mehr Gefahren lauern in dem dunklen Wald. Er zittert. Er schwitzt. Und er hat Angst. Eine Scheissangst.

Die Haare in seinem Nacken stehen hoch, als würden eiskalte Finger über seine Haut streichen. Mehr als einmal droht er zu stürzen, als er über faustgroße Steine fährt und die Räder unter ihm wegrutschen. Dragan kann sich jedes Mal in letzter Sekunde auffangen und das Rad ausbalancieren. Er ist überzeugt, bei einem Sturz würde alles Böse aus dem Wald dringen und sich auf ihn stürzen.

Wie eine Rakete von der Abschussrampe, schießt er auf die Ulica Kralja Tomislava und taucht in das fahle Licht der Straßenlaternen. Falter tanzen im Licht. Hier fühlt er sich sicher. Obwohl er immer noch alleine ist, ist ihm das Licht der Straßenlaternen Gesellschaft genug. Er atmet aus. Und biegt in die Quergasse zu seinem Elternhaus ein.

Gerade rechtzeitig.

Dragan stellt das Fahrrad leise an die Hausmauer, holt den Fußball aus dem Lavendelbusch beim Gartentor und prellt ihn einige Male laut auf und ab, kickt ihn dann noch gegen das Garagentor. Nun hat sich auch sein Atem etwas beruhigt, und er steigt die Stufen hoch zur Haustür. Im Wohnzimmer brennt Licht. Es ist fünf nach neun. Fünf Minuten zu spät.

Seine Eltern sitzen im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Es läuft irgendeine Quizshow, und eine dunkelhaarige Moderatorin in einem engen, langen Kleid schaut in die Kamera, und die Kamera schaut in ihren Ausschnitt, aus dem zwei große, pralle Brüste hervorquellen wie die Gummiblase aus einem kaputten Fußball.

Dragans Vater schaut demonstrativ auf die Uhr an seinem Handgelenk, schweigt aber und wendet sich wieder dem Fernseher zu. Marina kommt aus ihrem Zimmer und geht an Dragan vorbei in die Küche zum Kühlschrank. Sie trägt knappe, rosa Pyjamashorts und ein weißes Trägershirt, durch dessen Stoff ihr gewölbter Busen deutlich zu sehen ist. Ihre sonnengebräunten Beine kommen Dragan endlos lang vor.

„Na, Brüderchen, wie war das Fußballspiel auf dem Schulhof?“ ruft sie unnötig laut durch die Küche und betont dabei die letzten drei Worte noch zusätzlich, kreuzt die Arme vor der Brust, als sie Dragans Blicke bemerkt und schaut ihn provozierend an.

Dragan streckt ihr die Zunge raus.

„Super! Danke, wir haben gewonnen! „

„Oh, toll!“ Sie zieht eine Grimasse, schmeißt die Kühlschranktür heftig zu, und unter ihrem Shirt wippen die zarten Rundungen. Ein anmutiger Kontrast zu ihrer arglistigen Miene.

„Wer war denn alles dabei?“ Sie führt den Saftbeutel an den Mund und tut es, weil sie weiß, dass ihr Vater es hasst. Man trinkt nicht direkt ab dem Beutel. Sie provoziert, fordert Dragan heraus. Er geht nicht darauf ein.

Gerade als er aufzählen will, wer alles beim Fußballspiel gewesen ist, ruft ihr Vater aus dem Wohnzimmer nach Ruhe.

Dragan streckt Marina noch einmal die Zunge heraus, dann zieht er sich in sein Zimmer zurück.

Er lässt sich aufs Bett fallen und schließt für einen Moment die Augen. Als das Rauschen des Meeres aus der Erinnerung Wirklichkeit zu werden scheint, und sich die Wellen sanft auf Fels überschlagen; gerade als das Rauschen in seinen Ohren zu dem des Meeres wird, beginnt im Zimmer nebenan der Bass zu wummern. Dragan spürt, wie die Wände zittern, und die Scheiben vibrieren. Schnell, rhythmisch, kommen die grellen Töne, dann folgt eine rauchige Stimme, Vesna Djogani. Dragan stöhnt. Marina provoziert ihn, sie will, dass er etwas Unüberlegtes tut, damit er von ihrem Vater gescholten wird, und sie sich ins Fäustchen lachen kann.

Der Junge langt nach dem Kopfkissen und klatscht es sich auf das Ohr. Es dämpft nur das Grelle der Musik, nicht aber die Lautstärke. Nach einer Weile wird es still, wahrscheinlich haben die Eltern der Provokation ein vorzeitiges Ende gesetzt. Dragan setzt sich auf, streift die Schuhe von den Füssen, dann lässt er sich wieder auf das Bett fallen und träumt weiter.