Die Schlacht um Wörter und Blut (Das Buch von Kelanna 3) - Traci Chee - E-Book

Die Schlacht um Wörter und Blut (Das Buch von Kelanna 3) E-Book

Traci Chee

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Beschreibung

Während um sie herum der Rote Krieg wütet, will Sefia nichts mehr, als Archer zu beschützen. Denn mit dem Brandmal an seinem Hals könnte er der Junge aus den Legenden sein – der Anführer einer riesigen, unaufhaltbaren Armee, der alle fünf Königreiche Kelannas erobert und das Ende des Krieges mit seinem Tod bezahlt. Doch als die Wache die Insel Oxzini einnimmt, müssen Archer und Sefia sich entscheiden, ob sie sich in die Schlacht stürzen oder tatenlos zusehen, wie ihre Welt in Stücke gerissen wird. Das packende Finale der Fantasy-Trilogie, in der Realität und Fiktion miteinander verschmelzen. Alle der Bände der meisterhaft erzählten Serie: Ein Meer aus Tinte und Gold Ein Schatz aus Papier und Magie Die Schlacht um Wörter und Blut

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Traci Chee

Die Schlacht um Wörter und Blut

Sefia will Archer beschützen und versucht ihn um jeden Preis vom Kriegsgeschehen fernzuhalten. Denn wenn sein Schicksal sich erfüllt, wird er als Anführer einer riesigen, unaufhaltbaren Armee alle fünf Königreiche Kelannas erobern - und das Ende des Roten Krieges mit seinem Tod bezahlen. Doch als die Allianz immer näherkommt, müssen Archer und Sefia sich entscheiden, ob sie sich in die Schlacht stürzen oder tatenlos zusehen, wie ihre Welt in Stücke gerissen wird.

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Leseprobe

Für Dad.Ich hoffe, Du wärst stolz auf mich gewesen.

EINMAL

Es war einmal, doch es würde nicht immer sein. So hören alle Geschichten auf.

Es war einmal eine Welt namens Kelanna, eine wundervolle und schreckliche Welt aus Wasser, Schiffen und Magie. Die Menschen in Kelanna waren in vielerlei Hinsicht wie du – sie redeten und arbeiteten, liebten und starben –, doch in einem entscheidenden Punkt waren sie anders: Sie hatten nie das geschriebene Wort entwickelt, nie die Namen der Toten in Bronze oder Stein gemeißelt.

Sie erinnerten sich an die Toten mit ihren Stimmen und Körpern, wiederholten Namen und Taten und schwindelerregende Liebesgeschichten – in der verzweifelten Hoffnung, dass die Toten nicht ganz aus der Welt verschwinden würden.

Denn wenn du in Kelanna starbst, wenn der Rhythmus von Herz und Lunge ins Stocken geriet und schließlich stillstand, warst du ausgelöscht. Dann legten sie deinen Körper auf einen schwimmenden Kahn. Sie legten dich auf einen Haufen aus Holzscheiten und Kohle, trockenen Sträuchern und Zündholz und dann schickten sie dich brennend auf den Ozean.

Und das war dein Ende. In Kelanna glaubte man nicht an Seelen, Spukgestalten oder beruhigende Geister, die an deiner Seite gingen, wenn dein Freund oder deine Schwester oder dein Vater gestorben war. Man glaubte nicht an Botschaften von den Toten. Die Toten konnten nicht sprechen. Die Toten existierten nicht mehr.

Außer in Geschichten.

Jedes Leben in Kelanna war eine Geschichte – eine Erzählung, die erinnert und wiederholt wurde.

Manche Geschichten waren von bescheidenem Umfang. Sie wurden in einer einzigen Familie oder in einer kleinen Gemeinschaft von Gläubigen flüsternd am Leben erhalten, damit deren Liebste nicht vergessen wurden. Andere Geschichten waren so mächtig, dass sie das Gefüge der Welt verändern konnten.

Es war einmal eine Leserin. Sie würde die Tochter einer Jägerin und des mächtigsten Zauberers sein, den die Welt seit Jahren gesehen hatte, und eines Tages sollte sie beide übertreffen.

Im Alter von fünf Jahren sollte sie die Mutter verlieren und mit neun Jahren erleben, dass ihr Vater ermordet wurde, und ihre Kindheit würde von Gewalt erfüllt sein. Sie sollte zu einer beeindruckenden Kraft in einer beeindruckenden Welt heranwachsen und eines Tages dafür verantwortlich sein, in dem schlimmsten Krieg, den Kelanna je erlebt hatte, das Blatt zu wenden. Mit einer kleinen Handbewegung könnte sie ihre Feinde zerstören. Sie würde zusehen, wie Männer auf dem Meer verbrannten.

Und sie sollte alles verlieren.

Ihre Eltern. Ihre Freunde. Ihre Verbündeten.

Den Jungen, den sie liebte.

Es war einmal ein Junge mit einer Narbe um den Hals. Er würde eine Armee anführen, so großartig, dass sie alle Feinde, die ihr begegneten, niedermähen würde. Er und seine Streitkräfte würden unaufhaltsam sein und alle fünf Inseln in einer blutigen Auseinandersetzung erobern, die der Rote Krieg genannt wurde.

Bei alldem würde er noch jung sein und kurz nach seinem letzten Feldzug würde er sterben … allein.

Es war einmal ein Geschichtenerzähler, ein Gesetzloser mit kaputten Zähnen, der sagte, er würde alles tun, um Teil einer so großen, bedeutsamen Geschichte zu sein. Doch nach dem Roten Krieg würde er jedes Wort bereuen.

DIES

1. KAPITEL

FEINWIESPINNWEBEN, HARTWIEEISEN

Sefia fuhr im Schatten des Lazaretts aus einem Traum hoch, an den sie sich nur halb erinnern konnte.

Das Schiff schaukelte heftig unter ihr, die Tiegel mit Salbe und Flaschen mit Tonikum klirrten in den Regalen. Draußen prasselte der Regen an die Luken, und die Wellen, hoch wie Hügel, waren nur verschwommen zu sehen.

Ein Sturm. Sie mussten in der Nacht hineingeraten sein.

Schaudernd zog Sefia die Knie an die Brust. In den vier Tagen, seit sie mit Archer auf die Strömung zurückgekehrt war, hatte sie immer wieder denselben Traum gehabt. Darin war sie wieder in dem Haus auf dem Hügel. Aus dem geheimen Raum im Keller, in dem ihre Eltern das Buch aufbewahrt hatten, sickerte, nein strömte Tinte in dunklen Wellen und lief über den Boden, um die beiden an den Knöcheln zu fassen und ihre Waden hochzukriechen. Im Traum schoben Lon und Mareah sie zur Tür hinaus. Doch sie waren immer zu langsam, um sich selbst zu retten, zu langsam, um der wachsenden Tintenlache zu entkommen, und schreiend wurden sie in die schwarze Tiefe gezogen.

Schicksal. Das Schicksal hatte ihre Eltern dazu verdammt, jung zu sterben. Ihre Zukunft war in dem Buch aufgezeichnet, in dem alles stand, was je gewesen war und je sein würde, vom Flügelschlag einer Eintagsfliege bis zur Lebenspanne der Sterne am Himmel.

Irgendwo im Buch war die Stelle, an der ihre Mutter krank wurde.

Irgendwo waren die Sätze, in denen ihr Vater gefoltert wurde.

Es stand geschrieben, also musste es eintreffen.

Aber sie hatten dagegen gekämpft. Sie hatten die Wache verraten, den Geheimbund von Lesern, dem sie ewige Treue geschworen hatten. Sie hatten das Buch gestohlen, die mächtigste Waffe der Wache, um ihre Tochter vor ihrer Zukunft zu bewahren. Sie waren geflohen.

Am Ende hatten sie verloren, aber oh, wie hatten sie gekämpft.

So wie Sefia jetzt kämpfen musste. Kämpfen und gewinnen, wenn sie nicht auch Archer an das Schicksal verlieren wollte.

Er lag neben ihr in die Decke gewickelt, die Haare zerzaust, seine Finger zuckten im Schlaf. Er schlief immer so wenig, in seinen Träumen suchte ihn die Erinnerung an all die Menschen heim, die er getötet hatte.

Er fühlte sich gespalten, das hatte er ihr gesagt. Er war immer noch der Junge aus dem Dorf, der er gewesen war, bevor die Impressoren der Wache ihn geholt hatten. Aber er war auch ein Tier, er war ein Opfer, ein Mörder, er war laut wie der Donner, er war der Junge aus den Legenden mit einem unstillbaren Blutdurst.

In der Ferne zuckten Blitze wie Adern am unruhigen Himmel.

Wie zur Antwort bewegte sich auch Archers Körper. Er stöhnte.

Sefia rückte ein Stück von ihm ab. »Archer. Es ist alles gut. Dir kann nichts passieren.«

Er schlug die Augen auf. Einen Moment lang fiel es ihm schwer, aus seinem Traum aufzutauchen, wusste er nicht, wo er war, wer er war.

Doch das würde vorübergehen, wie es immer vorüberging. Und dann…

Das Lächeln. Es breitete sich auf seinem Gesicht aus wie die Morgendämmerung auf dem Wasser – über seine Lippen, seine Wangen, seine goldenen Augen. Jedes Mal war es, als sähe er sie zum ersten Mal, und in seinem Gesicht lag so viel Hoffnung, dass sie es immer wieder sehen wollte, ein Leben lang.

Ganz kurz flaute der Sturm ab. Ganz kurz war das Schiff ruhig. Ganz kurz war Sefias Welt hell und weich und warm.

»Sefia«, flüsterte er und strich ihr eine Haarsträhne hinter das Ohr.

Sie beugte sich hinab, wurde von ihm angezogen wie ein Kolibri von einer Blüte. Sanft landeten ihre Lippen auf seinen.

Er erwiderte ihren Kuss, reagierte auf ihre Lippen und wandernden Hände, als wäre ihre bloße Berührung Magie. Sie brachte ihn zum Stöhnen, er wand sich, verlangte nach mehr.

Er flocht seine Finger in ihr Haar, als müsste er ihr noch näher sein, als könnte er nicht genug von ihr bekommen, doch kaum wollte er sich aufsetzen, stieß er einen Schmerzenslaut aus und fasste sich an die verwundete Seite.

»Tut mir leid«, sagte sie.

»Muss dir nicht leidtun.« Er stützte sich auf den Ellbogen und grinste. »Mir tut es jedenfalls nicht leid.«

Ihre Wangen wurden heiß und sie zog die Decke weg, um seine Verbände zu inspizieren. Doc hatte die Wunde schon zweimal genäht und verbunden: als er halb bewusstlos angekommen war und die Wunde schwarz und entsetzlich tief unter seinen Rippen klaffte; und dann noch einmal, nachdem Archer sich beim Versuch, zusammen mit Cooky eine Schüssel Kartoffelschalen über Bord zu werfen, die Nähte aufgerissen hatte. Wenn Doc die Wunde ein drittes Mal nähen müsste, würde sie Sefia damit ewig in den Ohren liegen.

»Mir geht es gut«, wiegelte Archer ab.

»Du wärst fast gestorben.«

»Aber nur fast.« Er zuckte die Achseln. Er hatte ihr von dem Kampf mit Serakeen erzählt. Es hatte nach Schießpulver und Blut gerochen. Da war der Schwall von Magie, der Archers Freunde Frey und Aljan gegen die Wand einer Gasse gefegt hatte, um sie dann bewusstlos auf das Kopfsteinpflaster zu schleudern. Der Widerstand der Knochen, als Archer Serakeens Handgelenk durchtrennt hatte.

»Ich hätte da sein müssen«, sagte Sefia nicht zum ersten Mal. Wäre sie da gewesen, hätte sie ihn beschützen können. Sie verfügte über die gleichen magischen Kräfte wie Serakeen – die Illumination, wie die Wache sie bezeichnete. Vielleicht wäre sie ihm im Kampf sogar ebenbürtig gewesen. Schließlich, dachte sie bitter, bin ich die Tochter einer Jägerin und des mächtigsten Zauberers, den die Welt seit Jahren gesehen hat.

Nein. Sie wollte nicht an diese Zukunft glauben. Sie würde nicht zur Waffe in irgendeinem Krieg um die Herrschaft über die fünf Königreiche werden. Sie würde Archer, den Jungen, den sie liebte, nicht verlieren.

»Jetzt bist du hier. Nur darauf kommt es an«, sagte Archer leise. »Ohne dich könnten wir Frey und Aljan nicht retten.«

Die Blutritzer, seine Freunde, waren mit ihm in den Kampf gegen Serakeen gezogen und Serakeen hatte sie immer noch in seiner Gewalt. Der Soldatenlehrling, den Sefias Eltern als Rajar gekannt hatten, war früher Lons und Mareahs Freund und Partner gewesen. Gemeinsam hatten sie den Krieg eingefädelt, der Archer das Leben kosten sollte.

Wie viele Fehler ihrer Eltern musste Sefia beheben? Sie hatte sie geliebt, aber sie hatten so viele gemacht.

»Wir holen Frey und Aljan da raus«, sagte Sefia.

»Glaubst du wirklich?«

Sie strich mit den Fingern über seinen Arm, über die fünfzehn Brandmale – eines für jeden Jungen, den er im Kampfring der Impressoren getötet hatte – und nahm seine Hand. »Ja«, sagte sie.

Sie hatten vor zu den Blutritzern zurückzukehren, ihre Rettung zu organisieren und in Port Paradis wieder zur Strömung der Zuversicht zu stoßen. Port Paradis war eine Insel im unerforschten Teil des Inneren Meeres – einer dieser Orte, die man nur mit einer genauen Beschreibung erreichen konnte. Seit Monaten verfolgte Lees den Plan, Gesetzlose aufzunehmen, die wegen des sich immer weiter ausbreitenden Krieges auf der Flucht waren. Wenn Sefia und Archer es mit den Blutritzern dorthin schafften, hätten sie alle einen Zufluchtsort, an dem sie warten könnten, bis die Kämpfe – und das Schicksal – vorüber waren. Wenn sie es nach Port Paradis schafften, würde Archer überleben.

Aber zuerst brauchten sie das Buch. Ohne ein genaues Bild vom Aufenthaltsort der Blutritzer konnte Sefia sich nicht zu ihnen teleportieren, und dieses Bild konnte ihr nur das Buch mit seinen unzähligen Seiten voller Geschichten liefern.

Sie hatte es an dem sichersten Ort versteckt, der ihr eingefallen war: im Amt der Boten von Jahara. Die Boten waren mit allen möglichen Geheimnissen betraut – mit heiklen Sendungen und verfänglichen Informationen – und verstießen nie gegen den Kodex ihrer Gilde. Sie waren mächtig und angesehen, und solange das Buch bei ihnen war, konnte niemand es berühren.

Nicht einmal die Wache. Das hoffte Sefia jedenfalls.

Die Strömung der Zuversicht war auf dem Weg nach Jahara, schon in wenigen Tagen würden sie ankommen. In wenigen Tagen würde sie das Buch wiederhaben. Dann konnte sie die Blutritzer ausfindig machen und ihre Rettung organisieren. Nur noch wenige Tage. So lange mussten Frey und Aljan noch durchhalten.

Archer führte Sefias Hand an seine Lippen. »Was würde ich nur ohne dich machen?«

»Das wirst du nie rausfinden müssen.« Wieder küsste sie ihn und diesmal war der Kuss ein Versprechen. Ein Versprechen auf starke Winde und offene Gewässer, darauf, mit ineinander verschränkten Beinen auf einem weißen Strand unter dem Himmelszelt zu liegen, auf köstliche Tage, heißen Atem, feuchte Haut und Jahre so voll wie Wein und endlos wie das Meer.

Als sie sich von ihm löste, wurde sie mit dem Verlangen in seinen goldenen Augen belohnt, mit einem Ja, mit einem Für immer. Er wollte sie erneut in die Arme schließen.

»Wenn deine Nähte wieder reißen, wirst du es bereuen.«

»Für das, was ich mit dir vorhabe, würde es sich lohnen.« Grinsend zog er sie neben sich in die Koje, erstickte ihr Lachen mit Küssen, bis sie davon berauscht war.

Da läutete die Schiffsglocke.

Grummelnd drehte Archer sich auf die Seite und hielt Sefia zwischen sich und der Wand gefangen.

»Das ist der Ruf für die ganze Mannschaft!«, protestierte sie.

Er knabberte an ihrem Schlüsselbein. »Ich bin verletzt, schon vergessen?«

»Ich aber nicht!«

Ehe er etwas erwidern konnte, ging die Tür auf und Sefia schrie – Marmelade, die neue Vorsängerin der Backbordwache, steckte den Kopf zum Lazarett herein. Sie trug Regensachen und hatte die Kapuze über ihre honigfarbenen Haare gezogen.

»Igitt!«, rief sie, als Sefia hinter Archers nackter Schulter hervorschaute. »Könnt ihr nicht in eurer Freizeit rummachen?«

»Das versuche ich ja!« Sefia zeigte auf Archer, der ohne die Spur von Reue grinste.

Marmelade verdrehte die Augen. Sie waren Freunde geworden und hatten oft zusammen mit Ross und Lind Narrenschiff gespielt. Marmelade hatte dabei immer alle abgezockt, bis Archer irgendwann genauso gut war wie sie. »Ja, ich seh schon, wie sehr du das versuchst. Steh lieber auf, bevor der Steuermann dich findet, sonst darfst du bis Jahara Töpfe schrubben.«

»Ist ja schon gut. Ich steh jetzt auf.«

»Ach, und Archer?« Marmelade ließ den Blick über seinen Körper wandern, von der Brust bis zur Taille, wo ihm die Schlafanzughose tief auf den Hüften hing. »Nicht übel.«

Sefia schleuderte ein Kissen durch den Raum, doch Marmelade verschwand schnell im Flur und knallte lachend die Tür zu.

Als Sefia unter der Decke hervorkrabbelte und ihre Kleider aufsammelte, folgte Archer ihr.

»Du bist verletzt, schon vergessen?«, sagte sie mit leisem Sarkasmus.

»Bin ich nicht.« Er fuhr mit den Füßen in die Hosenbeine und zuckte bei der abrupten Bewegung zusammen. »Jedenfalls bin ich nicht so verletzt, dass ich nicht helfen kann.«

»Ja, klar.« Sefia blinzelte, beschwor ihre magischen Kräfte herauf und im Nu waren Archers Körper, die Koje unter ihm, die fleckigen Wände des Lazaretts, sogar die Luken und das unruhige Wasser von spiralförmigen Goldströmen überzogen.

Die illuminierte Welt.

Wenn das Buch ein Abriss von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft war, dann war die illuminierte Welt ihre lebendige Verkörperung – ein Ozean aus Licht, der unter der Welt aus Berührung, Geruch und Geschmack ständig in Bewegung war. Mit genügend Zeit und Übung konnten Illuminatoren wie Sefia die schimmernden Flecken durchkämmen und so Ereignisse der Vergangenheit sehen oder Gegenstände durch die Luft bewegen.

Früher, vor langer Zeit, konnten manche von ihnen, die besonders talentiert waren, sogar das Gefüge der Welt verändern. Doch so geschickt Sefia auch war, das lag jenseits ihrer Möglichkeiten.

Als sie mit den Fingern in die feinen Goldfäden griff, krümmten und kräuselten sich die Fasern der illuminierten Welt, stürzten wie ein Wasserfall auf Archer herab und drängten ihn sanft zurück auf die Koje.

»Hey!«, rief er.

Zur Sicherheit warf sie ihm auch noch die Decke über den Kopf.

»Du bleibst schön hier.« Sie zog sich ihren Ölmantel über, sah nach oben und breitete die Arme aus. Wie ein Vorhang teilten sich die Lichtwellen unter ihren Händen. Details aus der Umgebung wirbelten vorbei, während sie mithilfe der Magie durch die Decke hindurch aufs Hauptdeck spähte: Gesetzlose rannten über das Schiff, Regen stürzte aus dem Himmel, die Segel flatterten wie verrückt im Sturm. Doch darauf achtete sie nicht. Für die Teleportation musste sie einen Ort suchen, den sie ganz genau kannte.

Ah, dort – am Rand des Achterdecks, wo sie auf ihrer ersten Reise mit der Strömung immer gesessen und in dem Buch gelesen hatte.

Mit diesem Bild im Kopf schwenkte sie die Hände und beförderte sich – durch die illuminierte Welt – aus dem Lazarett hinauf durch die Schiffsbalken. Auf dem Deck tauchte sie wieder auf. Regentropfen fielen ihr ins Gesicht und sie rutschte mit den Füßen über die glitschigen Planken.

Marmelade fasste sie am Arm. »Für den Auftritt kriegst du sieben von zehn Punkten.«

»An der Landung muss ich noch arbeiten.« Sefia blinzelte und ließ die Lichtwelt aus ihrem Blickfeld abebben, bis sie mit den anderen Matrosen in der Dunkelheit des Sturms war. Wie Eiszapfen tropften Wasserschlieren von den Segeln herab.

Die Schiffsglocke verstummte. Käpt’n Kannek Lees tauchte auf, wild wie das Meer mit dem flatternden Mantel und mit Augen, die im Schatten der breiten Krempe seiner Mütze wie Saphire glitzerten. Wie auf Kommando zerschnitt ein Blitz die Wolken hinter ihm und verzweigte sich knisternd.

»Zehn von zehn Punkte für den dramatischen Blitz«, murmelte Sefia.

Marmelade lachte schallend, verstummte jedoch, als der Erste Steuermann mit seinen toten grauen Augen strafend in ihre Richtung schaute.

»Ich hab heute Nacht dieses Wrack da unten im Wasser gespürt«, setzte der Käpt’n mit seiner wettergegerbten Stimme an. »Dachte, es könnten Gesetzlose sein, deshalb wollten wir mal nachsehen.«

Der Legende zufolge war Käpt’n Lees der einzige Mensch auf der Welt, der mit dem Wasser sprechen konnte. Es erzählte ihm alles Mögliche über die Gezeiten, Strömungen und Meerestiere. Manche sagten, es hätte ihm sogar verraten, wie er sterben würde – mit einem letzten Atemzug salzig feuchter Luft, einer schwarzen Pistole in der Hand und einer Löwenzahnblume, die über das Deck schwebte.

Sefia spähte über die Reling. Das Wasser war voller zersplitterter Kisten und leerer Fässer, Segelteile und Leichen – wie Seetang schwammen ihnen die Haare um den Kopf. Im dunklen Wasser sahen ihre blutroten Uniformen schmutzig violett aus, wie Archers fleckige Verbände. Zwischen den Wrackteilen trieben zwei schmale Beiboote mit Überlebenden.

Rotröcke – Soldaten der Marine von Oxszini – da waren Rotröcke im Wasser.

Früher einmal, als Sefia sich mit ihrer Tante Nin am Waldrand versteckt hatte, hatte sie sich vor den Soldaten der Roten Marine gefürchtet. Damals konnte sie sich nichts Schlimmeres vorstellen, als von den Machthabern geschnappt zu werden. Jetzt wusste sie, dass es viel Schlimmeres gab als die Rotröcke – Serakeen, die Wache, den Krieg.

»Es sind keine Gesetzlosen«, fuhr Lees fort. »Aber wir lassen sie hier nicht verrecken.«

»Was ist mit der Crux?«, fragte jemand.

Sefia schaute sich um. Das große goldene Piratenschiff, das sie begleitet hatte, war nirgends in Sicht.

»Die Crux ist nach Jahara gefahren, um Proviant zu besorgen«, sagte Käpt’n Lees. Mit einem Nicken entließ er sie. »Los, macht euch nützlich.«

Es gab keinen Jubel und kein Hurra, doch Sefia spürte, wie sich Entschlossenheit ausbreitete, als Lind und der Erste Steuermann die Besatzung in die Rettungsboote schickte.

Sie landete mit Lees und Doc im ersten Boot. Das Ruder in ihren Händen war glitschig, die Wellen warfen die Leichen gegen das Boot. Sie hätte sich gern teleportiert, das wäre schneller gegangen. Doch dafür brauchte sie einen Fixpunkt – eine starke Erinnerung oder ungehinderte Sicht – und durch den Regen und die Wellen konnte sie nicht viel erkennen.

Als sie näher kamen, warf einer der Rotröcke ihr eine Leine zu. Sie zog das Boot herein und zurrte es an ihrem fest. Doc scheuchte sie brüsk zur Seite und stieg mit ihrer schwarzen Tasche zu den Verletzten ins Boot.

Die Soldaten der Roten Marine waren durchnässt und hatten eitrige Wunden, der Geruch von Krankheit haftete wie ein Pilz an ihnen. Sie mussten schon seit Tagen hier draußen ausharren.

»Bei allen Höllenhunden«, rief der Soldat, der ihr das Seil zugeworfen hatte. »Du bist es wirklich, was?«

Überrascht blinzelte Sefia das Wasser aus den Wimpern. Der Rotrock war mit Abstand der hübscheste Junge, den sie je gesehen hatte, mit seinen grünen Augen, dem markanten Kinn und einer regennassen Locke in der Stirn. Bis auf den verdatterten Gesichtsausdruck hätte er sogar Scarza, Archers silberhaarigem Stellvertreter, Konkurrenz machen können.

»Kennen wir uns?«, fragte sie zweifelnd. An so ein Gesicht würde sie sich erinnern.

Ein Junge mit rundem Gesicht und schmalen Augen tauchte neben ihm auf, so plötzlich und so komisch, dass sie fast gelacht hätte. Aber nur fast. »Ich glaube nicht«, sagte er. »Du warst bewusstlos.«

»Ich war was?«

»Total weggetreten«, erklärte der zweite Junge nüchtern. »Auf dem Wildschwein-Pier.«

Sie war nur einmal in ihrem Leben auf dem Wildschwein-Pier in Epidram, einer Stadt an der Nordostküste Oxszinis, gewesen. Archer und sie waren damals in eine Falle getappt. Es hatte einen Kampf gegeben, bei dem sie das Bewusstsein verloren hatte. Später hatte Archer ihr erzählt, dass Lees und die Gesetzlosen ihnen zur Rettung gekommen waren. Waren diese Rotröcke hier auch dabei gewesen?

»Maat«, sagte der Käpt’n hinter ihr.

Immer noch verwundert sah Sefia, wie Käpt’n Lees und die Jungs sich abklatschten. Anscheinend hatten ihrer aller Wege sich vor drei Monaten gekreuzt wie Sternschnuppen in der Nacht. Was für ein Zufall, dass sie sich hier wiedertrafen.

Nur dass es keinen Zufall gab, wie die Wache zu sagen pflegte.

Diese Begegnung passierte nicht einfach so – es war Schicksal. Und es war ein Netz, so fein wie Spinnweben und hart wie Eisen, das sich mit jeder Sekunde um sie und Archer zusammenzog.

»Jetzt Seekadett, Käpt’n«, sagte der erste Rotrock und brachte ein hübsches, wassergesprenkeltes Lächeln zustande. »Kadett Haldon Lac.«

IST EINE

2. KAPITEL

HALDONLACS ZWEITESABENTEUER

Seit Menschengedenken herrschte Krieg auf den fünf Inseln. Provinzen kämpften gegeneinander. Kolonien rebellierten. Selbst die sichersten unter den Königreichen konnten auf eine lange Geschichte von Blutfehden und politischen Anschlägen zurückblicken, die den ansonsten langweiligen Berichten über friedlichere Zeiten eine gewisse Würze verliehen.

Für heißblütige, kampflustige Oxszinier wie Kadett Haldon Lac war der Krieg ein Quell des Stolzes. Der Krieg brachte dem Waldkönigreich und Ihrer Majestät Königin Hekkata – lang möge sie regieren – Ruhm und Ehre. Expansion, Konflikt, Rivalität. Seit mehr Generationen, als er zählen konnte, drehte sich ihr Leben darum.

Sie lagen schon seit fünf Jahren mit Everika im Krieg, als der Feind, König Darion Steingold, sich für einen überraschenden Zug entschied: Er überzeugte Likkaro, das schwächere, ärmliche Königreich im Norden, sich mit ihm gegen Oxszini zu verbünden. Zahllose Piraten machte er zu Freibeutern. Er bildete die Allianz, das erste Bündnis zwischen zwei Königreichen in der Geschichte Kelannas.

Um die vereinten Streitkräfte der beiden östlichen Königreiche zu bekämpfen, hatte Königin Hekkata eine neue Flotte aufgestellt. Der größte Teil der Besatzung, der bis dahin in Epidram im Nordosten Oxszinis stationiert war, wurde dorthin verlegt. Dazu zählten auch Haldon Lac, Indira Fox und Olly Hob, ein unzertrennliches Trio, seit sie damals am Wildschwein-Pier beinahe Habicht und seine Impressoren festgenommen hätten. Sie wurden der Feuerspuckerin zugewiesen und sollten im Inneren Meer nach Schiffen der Allianz suchen.

Der Tag, an dem die Flotte den Hafen verlassen hatte, war der glücklichste im Leben von Kadett Lac. Es gab eine Parade, die Menschenmenge schwenkte die Flaggen von Oxszini. Auch wenn die größeren Schiffe der Flotte seine Fregatte in den Schatten stellten, hatte Haldon Lac niemals ein stattlicheres Schiff als die Feuerspuckerin gesehen, mit ihrem scharlachroten Rumpf, ihren frischen weißen Segeln und ihren Kanonen so schwarz wie Ebenholz. Er warf sich in die Brust, während die untröstlichen Jungen und Mädchen ihm unter einem Abendhimmel so rot wie die Liebe zum Abschied winkten.

Doch abgesehen davon hatte Lacs Jungfernfahrt ganz und gar nicht gehalten, was er sich davon versprochen hatte.

Zum Beispiel hatte ihm niemand vorher gesagt, wie dreckig es an Bord war und wie langweilig mit den ermüdenden Wachen, die nur hin und wieder durch das Sichten eines Segels am Horizont unterbrochen wurden.

Man hatte ihm auch nicht gesagt, dass die Jagd auf ein feindliches Schiff, wenn man denn endlich mal eines erspäht hatte, Stunden dauern konnte. Und dass die Gejagten meistens entkamen, sobald es dunkel wurde, denn dann löschten sie das Licht und entschwanden in die Dunkelheit.

Vielleicht hatte man es ihm aber auch gesagt und er hatte beschlossen nur die Geschichten von großartigen Heldentaten und glorreichen Seeschlachten zu hören.

Wie dem auch sei, eines Nachts wurde Lac vom Läuten einer Schiffsglocke aus dem Schlaf gerissen. Sie hatten ein Schiff der Allianz verfolgt und zu seiner Überraschung war ihr Zielobjekt diesmal nicht in die Nacht entflohen. Im Gegenteil, die Feuerspuckerin hatte es beinahe eingeholt.

Nicht mehr lange, dann waren sie nah genug dran für einen Angriff.

Die Mannschaft räumte die Hängematten und Kisten weg, sicherte die Luken, machte die großen Vierundzwanzig-Pfund-Kanonen bereit und holte die Kisten mit Munition. Sie befeuchteten das Deck, damit kein verirrter Funke die geteerten Balken in Brand stecken konnte, und füllten Wannen mit Meerwasser, falls es ein Feuer gab.

Lac grinste Fox und Hob verschwörerisch zu und erledigte seine Aufgaben in fliegender Hast. Er war von einer prickelnden Mischung aus Aufregung und Angst erfüllt. Auf genau so etwas hatte er gewartet: ein Abenteuer, eine Aufgabe, Ruhm und Ehre.

Er und Fox hatten das Kommando über die Marsen auf dem Fockmast und Hauptmast. Seit ihrer Zeit in Epidram hatte Fox ihn im Rang eingeholt und von allen Kadetten wurde ihr am meisten vertraut. Sie hatte es verdient, das gestand er freimütig ein. Sie arbeitete härter als er. Sie war schneller, schlauer und tapferer. Bei dem Tempo, das sie vorlegte, würde sie im Nu Leutnant sein.

Lac fand sie am Fuß des Hauptmasts, bevor sie auf ihren Posten kletterte. »Unser erstes Gefecht«, verkündete er das Offensichtliche.

Fox knuffte ihn in die Schulter. »Nicht unser erstes.«

»Meinst du den verpatzten Hinterhalt am Wildschwein-Pier?« Er rieb sich die alte Schusswunde, sein Andenken an den ungeschickten Versuch, Habicht und seine Verbrecherbande festzunehmen. »Wie dumm und tollpatschig ich da war.«

Sie grinste ihn mit dem wilden Kojotenlächeln an, das er inzwischen so liebte. »Tollkühn, meinst du wohl. Das ist deine ganz eigene Sorte Courage.«

»Oder meine ganz eigene Sorte Eau de Cologne.«

Fox lachte. »Falls wir den Krieg überleben, kannst du es dir ja abfüllen. Bestimmt riecht es nach gestärkten Kragen und Schießpulver.«

»Wie meinst du das, falls wir den Krieg überleben?«, fragte Lac.

Im Dämmerlicht schimmerten ihre grauen Augen wie Rauchquarz und sie zog eine ihrer perfekten Brauen hoch. Er gestand es sich nur ungern ein, aber er beneidete sie um diese Brauen.

»Es gibt keine Gewissheit«, sagte sie.

Um ihn herum herrschte geschäftiges Treiben – das Rasseln von Kanonen, die befestigt wurden, das Klicken der Munition, die ins Patronenlager gefüllt wurde, aufgeregtes Stimmengewirr, gemurmelter Zuspruch.

Tollpatschig, tollkühn legte er ihr eine Hand auf die Schulter. »Für das hier schon. Für uns schon.«

»Wie meinst du das?«

»Wir sind doch die Helden, oder?«, sagte er augenzwinkernd. »Die Helden überleben in den Geschichten immer.«

»Das ist wirklich dumm.« Sie fasste ihn am Arm. »Aber auf eine nette Art.«

»Das ist mein anderes Eau de Cologne.«

Fox lachte und schwang sich mit solch geschmeidiger Anmut in die Takelage, dass Haldon Lac sein Glück, sie zu kennen, einen Moment lang kaum fassen konnte. Am Ende der Reise würde sie Leutnant sein, da war er sich sicher.

Er sah ihr zu, bis sie sicher auf der Mars gelandet war. Dort beugte sie sich über den Rand, lächelte immer noch ihr Kojotenlächeln und winkte ihm zu.

»Jetzt sind wir dran«, sagte Hob, der plötzlich neben ihm auftauchte.

Lac zuckte zusammen und fasste sich dramatisch an die Brust. Doch er freute sich über die Gesellschaft. Wenn er ehrlich war (aber das war er nicht), fand er den Aufstieg zur Mars schrecklich. Fand es schrecklich, wie das Deck unter ihm zu verschwinden schien, fand es schrecklich, dass er mit geschlossenen Augen stehen bleiben und die Arme durch die Seile schlingen musste, als könnten die Knoten jederzeit aufgehen.

Wie durch ein Wunder erreichte Lac zitternd die Plattform, auf der seine Männer warteten. Er sah wohl ängstlicher aus, als es ihm bewusst war, denn Hob klopfte ihm mit einem breiten Lächeln auf die Schulter. »Mach dir keine Sorgen.«

»Ich mache mir keine Sorgen!«, widersprach Lac. Zu laut.

Ein paar Männer kicherten und er war klug genug, rot zu werden.

»Ist schon gut«, sagte Hob. »Alle machen sich Sorgen. Jeder hat was zu befürchten.«

Die Männer auf der Mars stimmten zu und luden ihre Gewehre.

»Tod, Gefangenschaft, Ertrinken…« Hob zählte an den Fingern ab.

»Feindliches Feuer«, fügte einer der Matrosen hinzu.

»Granatsplitter«, sagte ein anderer.

»Gepfählt werden.«

»Runterfallen«, traute Lac sich zu sagen und riskierte einen Blick nach unten auf die schwankenden Decks.

Hob nickte mit seinem fast kugelrunden Kopf. »Das ist die richtige Einstellung.«

Seufzend schaute Lac hinüber zum Hauptmast, wo Fox mit ihren eigenen Männern auf der Mars versammelt war. Er bezweifelte, dass sie sich vor irgendetwas fürchtete.

Eine tiefe Ruhe lag über ihnen.

Dann kam ihnen das Schiff der Allianz mit flatternden blau-goldenen Fahnen an den Rahen entgegen. Feuer schoss aus den Mündungen ihrer Kanonen.

»Macht euch auf alles gefasst!«, rief die Kapitänin der Feuerspuckerin.

Ein Schuss traf den Bug der Fregatte, zersplitterte ihren roten Rumpf und die Mannschaft grölte – ein gewaltiges Getöse, von dem Kadett Haldon Lac bisher nur in Geschichten gehört hatte, voller Blut und Zorn und Stolz.

Kanonen blitzten auf. Die Kugeln segelten durch den Rauch. Männer schrien. Die Feuerspuckerin wogte im Ozean auf und ab, während sie eine Breitseite nach der anderen abfeuerten. Auf den Marsen bedienten die Matrosen die Drehbassen und schickten Eisen in die feindlichen Reihen. Sie legten die Gewehre an und das Mündungsfeuer leuchtete in der Dunkelheit. Im Rauch sackten die Soldaten der Allianz unter dem Beschuss von Lac und seinen Männern zusammen.

Über eine Stunde ging es so weiter: das Kanonenfeuer, die Schreie der Verwundeten, die Schiffe, die einander wie Haie umkreisten.

Dann wurde vom Schiff der Allianz geschossen.

»Feindliches Feuer!«, rief jemand.

Die Feuerspuckerin bebte. Balken brachen. Der Hauptmast wackelte. Der Fuß des Hauptmasts splitterte und ein lautes Knacken zerriss die Luft. Das Großmarssegel zitterte und verlor Wind. Schreckensrufe erklangen. Der Mast würde fallen.

»Fox ist da oben«, flüsterte Lac entsetzt.

Hob neben ihm nickte. »Ja, ich weiß.«

Doch vom Fockmast aus konnten sie nichts für ihre Freundin tun. Hilflos sahen sie zu, wie die Matrosen in die Takelage kletterten. Gewehre fielen reihenweise herunter.

Wie in Zeitlupe kippte der Mast. Die Segel flatterten.

Da tauchte sie auf – zwischen dem sich kräuselnden Segel lief sie über die Rah, als der Mast sich zu ihnen neigte.

»Fox!«, schrie Lac. Er rannte zum Rand der Fockmars und klammerte sich an die Takelage, während er sich über das Chaos unter ihm beugte.

Fox erreichte das Ende der Rah. Mit ausgestreckten Armen sprang sie ihm entgegen.

Ihre Hand traf seine. Ihre Finger gruben sich in seine Haut. Er packte ihre Hand und hielt sie fest, während sie unter ihm hing. Weit unten schrien winzige Rotröcke und liefen wie Ameisen hin und her.

Lac brachte ein, wie er hoffte, verwegenes Lächeln zustande. »Na, was hab ich gesagt?«, fragte er. »Helden.«

Fox grinste zu ihm hoch.

Doch da trat plötzlich Blut aus ihrer Brust. Ein Fleck. Ein Schuss hallte aus der Ferne.

Und Fox wurde schlaff in seiner Hand.

Zunächst verstand er es nicht, wusste nicht, warum sie auf einmal so schwer war, sich nicht hochzog.

Erst als Hob ihm half sie auf die Plattform zu ziehen, begriff er, dass sie tot war.

Nein.

So war das nicht vorgesehen. Er wollte sie doch auf die Fockmars ziehen und sie retten. Sie sollte aufstehen, ihre verrenkte Schulter untersuchen und ihr wildes Kojotenlächeln lächeln.

Vom Kanonendeck wurde wieder gefeuert und die Explosionen leuchteten zu ihnen hoch. Auf dem Meer knackte das Steuerruder des feindlichen Schiffs. Am Heck zersplitterte Glas. Das Schiff der Allianz war erledigt.

Normalerweise hätten die Rotröcke gejubelt.

Aber sie hatten nicht gewonnen.

Hinter ihrem zerstörten Feind tauchten aus der Nacht die gewaltigen, monströsen Umrisse von Dreideckern auf – blaue Rümpfe, vollgepackt mit Kanonen, die Reling mit Laternen wie hundert flammende Augen gesäumt.

Die Allianz. Die versammelte Macht von Steingolds everikanischer Marine und Serakeens Piraten aus Likkaro.

Lac fiel auf die Knie und drückte die tote Fox an sich. So war es nicht vorgesehen. Sie sollte leben. Sie sollte eines Tages Kapitänin auf ihrem eigenen Schiff sein – sie war schnell genug gewesen, schlau genug, tapfer genug – mit Lac und Hob als ihren Leutnants.

Sie hätten lange und glücklich zusammenleben und diese Geschichte – die Geschichte von ihrem zweiten Abenteuer – immer wieder erzählen sollen. So lange, bis sie zu einer Legende geworden wäre, die nicht mehr zu ihnen gehörte, sondern zum Leben irgendwelcher weit entfernten Helden.

Aber Fox war tot.

Und die Flotte der Allianz lauerte in der Finsternis.

Von unten rief die Kapitänin der Feuerspuckerin mit verzweifelter, trotziger Stimme. Die Mannschaft stampfte mit den Füßen, schlug mit dem Gewehrkolben und den Fäusten, als die gewaltigen Kriegsschiffe der Allianz ihre Breitseiten abschossen wie blaue Drachen, die ihren Feueratem in die Nacht stießen.

In der Fockmars presste Kadett Haldon Lac die Lippen auf Fox’ Schläfe.

»Wie sehr man eine Frau vermisst«, sagte jemand.

Blinzelnd schaute Lac von seinem Becher Tee mit Bourbon auf und sah, dass Ross, der Zimmermann der Strömung, ihn mit seinen weit auseinanderstehenden Augen traurig ansah. Ross hatte sich in der überfüllten Kapitänskabine mit seinen breiten Schultern zwischen das schwarzhaarige Mädchen und den vernarbten Jungen vom Wildschwein-Pier gequetscht, die Lac jetzt als Sefia und Archer kannte.

Dass sie hier mit Lac und Hob auf der Strömung der Zuversicht waren, war eine Laune des Zufalls, die Fox gleichermaßen merkwürdig wie amüsant gefunden hätte.

Wenn Fox hier gewesen wäre.

Draußen schüttete es weiterhin sintflutartig, während der Koch und die Kellnerin der Strömung sich durch das Gewirr aus Beinen und Ellbogen zwängten und die Becher auffüllten. Cooky war ein schlanker Mann, der nur aus Haut und Muskeln bestand. Er hatte eine Glatze, und Kaskaden von Ringen zierten seine Ohren. Aly, die Schiffskellnerin, wirkte neben ihm winzig. Irgendetwas an ihrem Auftreten sorgte dafür, dass man sie beinahe übersah, obwohl Lac nicht verstehen konnte, wie jemandem ihre wundervollen blonden Haare entgehen konnten, die sie in langen Zöpfen auf dem Rücken trug. Aly und Cooky waren perfekt aufeinander eingespielt, mal ging der eine voran, mal die andere, und scheinbar mühelos bewegten sie sich auch in diesem übervollen Raum.

Es erinnerte Lac an seine Zusammenarbeit mit Fox.

»Was ist dann passiert?«, fragte Lind. Auch ihn erkannte Lac vom Wildschwein-Pier wieder, außerdem war er ihm aus den Legenden vertraut – der Zweite Steuermann war ein namhafter Geschichtenerzähler, einer jener Menschen, die andere stundenlang nur mit Worten bei der Stange halten konnten. Die Vorstellung, dass ein solcher Mann dem einfachen, bescheidenen Kadetten Haldon Lac zuhörte…

Fox hätte gesagt, er solle es sich nicht zu Kopf steigen lassen.

Er schluckte ein paarmal, ehe er weitersprach. »Der Fockmast brach, sobald die Allianz auf uns feuerte. Die Hälfte meiner Männer auf der Mars fiel auf der Stelle und ich … ich konnte nicht … die Wucht war so stark, dass ich…« Sein Blick fand den von Hob, dessen Augen im Schein der Lampe leicht glänzten. »Ich konnte Fox nicht halten und sie ist ins Meer gefallen.«

»Wir konnten sie beide nicht halten«, sagte Hob.

Lac trank seinen Tee aus und beschrieb, wie sie sich auf der Feuerspuckerin zur Wehr gesetzt hatten, bis sie nicht mehr konnten. Am Ende hatten sie die weiße Flagge hissen müssen.

Die Kapitulation war schon schmerzlich genug gewesen. In Lacs Vorstellung gaben sich die Oxszinier niemals geschlagen. Es war eine Schande für sein Königreich, seine Königin, das weitreichende Vermächtnis aller Rotröcke vor ihm. Doch die Allianz hatte die Regeln des Gefechts missachtet und die Feuerspuckerin einfach weiter beschossen.

»Selbst unter dem Bombardement«, fuhr Lac fort und wischte sich Tränen der Wut aus den Augen, »hat die Kapitänin Ruhe bewahrt. Sie hat Hob und mir das Kommando über die Boote übertragen und uns befohlen das Schiff zu verlassen. Wir hätten nicht – ich hätte nicht weglaufen sollen, aber Befehl ist Befehl, oder? Wir befolgen Befehle, oder? Wir nahmen die Verletzten und stiegen in die Boote. Die Feuerspuckerin gab uns Deckung und so sind wir entkommen, während die Allianz sie immer weiter bombardierte.

Dann gab es eine so grelle Explosion, als stünde der Ozean in Flammen. Die Feuerspuckerin brannte lichterloh. Die Kapitänin hatte eine Laterne mit runter ins Waffenlager genommen und alles, was von unseren Pulverfässern noch übrig war, in die Luft gejagt. Sie wollte ihr Schiff lieber zerstören, als es diesen Knochensaugern zu überlassen. Sie war kein Feigling, unsere Kapitänin.«

Und ihr Opfer hatte sich bezahlt gemacht. Die Boote waren entkommen und hatten seitdem versucht zurück zur Königlichen Marine zu gelangen.

»Aber ich hatte keine Ahnung, wo wir waren«, gestand Haldon Lac.

»Hat einfach keinen Orientierungssinn«, erklärte Hob. »Ist nicht seine Stärke.«

Lac nagte an der Unterlippe. Fox hatte einen tadellosen Orientierungssinn gehabt.

»Wir sind vier Tage von Jahara entfernt.« Lees hatte an den Heckfenstern gelehnt und aufmerksam zugehört. »Ihr habt Glück, wir sind auf dem Weg dorthin.«

Jahara war die neutralste Insel vor der südlichen Küste von Deliene, Oxszinis nördlichem Nachbarn. Wenn Lac sie zur Botschaft von Oxszini brachte, könnten die Rotröcke mit Kleidung und Essen versorgt und zurück zur Königlichen Marine geschickt werden, wo sie alle neue Posten und vielleicht eine Beförderung erwartete.

Nun ja, nicht alle.

Lacs Augen brannten, so voll waren sie. Anscheinend sah er erbarmungswürdig aus, denn der Käpt’n stutzte.

»Was hast du, Junge?«

»Ich … ich hatte Fox gesagt, wir würden Helden sein.«

»War ihr Sprung von der Rah etwa nicht heldenhaft?« Käpt’n Lees lachte, aber es war kein unfreundliches Lachen. »Lind, sag mir, dass der Sprung nicht heldenhaft war.«

Der Zweite Steuermann lächelte gewinnend und zeigte dabei seine abgestoßenen Zähne. »Nee, Käpt’n. Das ist der Stoff, aus dem Geschichten sind.«

»Aber sie ist gestorben.« Lacs Stimme brach, was ihm sehr peinlich war.

»Das ist es ja gerade, Junge.« Mit beneidenswerter Anmut bahnte sich der Käpt’n einen Weg durch die überfüllte Kabine. Trotz seiner Trauer kam Lac nicht umhin zu bemerken, wie markant und attraktiv er aussah, wie wohl er sich in seiner Haut fühlte und wie selbstsicher er war. Der Käpt’n schenkte Lac aus einer Kristallkaraffe nach. »Helden sterben andauernd.«

Lac starrte auf Lees’ Tattoos – Totenköpfe, Seeschlangen, ein Mann mit schwarzem Revolver und in der linken Armbeuge ein Mahlstrom als Erinnerung daran, wie er seinem Rivalen, Käpt’n Dimarion, den Donnergong weggeschnappt hatte.

»Viel wichtiger ist«, fuhr Lees fort, »dass du überlebt hast.«

»Warum?«

Der Käpt’n schenkte sich einen Fingerbreit Bourbon ein und stieß mit Lac an. »Weil die Überlebenden entscheiden, wer die Helden sind. Und wer die Schurken.«

Später am Abend breiteten sie eine Karte auf dem Esstisch aus und Lees und die anderen versammelten sich darum. Im Westen lag Oxszini, Lacs geliebtes Waldkönigreich mit seinen kleineren Inseln im Süden. Den Inseln war es zu verdanken, dass Oxszini nie erobert worden war – niemand konnte geschickt genug navigieren, um in das Herz des Königreichs vorzudringen.

Im Osten lagen Everika und Likkaro, die beiden Königreiche der Allianz.

Und zwischen den beiden Hälften der Landkarte, näher an Oxszini, als Lac glauben mochte, zeigte Hob auf einen Fleck im Inneren Meer. »Hier sind wir auf die Schiffe der Allianz gestoßen.« Die Allianz segelte nach Westen und breitete sich wie ein Fleck über Kelanna aus.

»Genau das will die Wache«, sagte Sefia. »Erst Everika, dann Likkaro und Deliene, schließlich Oxszini und Roku. Wenn alles nach ihrem Plan läuft, dauert es nicht mehr lange, bis sie alle fünf Königreiche eingenommen haben.«

»Aber warum?«, fragte Lac.

»Stabilität und Frieden.« Verachtung lag in ihrer Stimme. »Sie glauben, wenn sie ganz Kelanna unter ihrer Knute haben, ist die Welt eine bessere.«

»Frieden durch Krieg«, sagte Hob. »Ein komischer Ansatz, wenn ihr mich fragt.«

»Oxszini wird sich zur Wehr setzen. Aber mit Roku…« Lees tippte auf das kleinste Königreich, eine Ansammlung von Inseln, die wie der Großteil Kelannas einst zu Oxszinis weitverzweigtem Reich gehört hatte, »werden sie leichtes Spiel haben.«

»Was ist die Wache?«, fragte Lac.

Sefia betrachtete ihn argwöhnisch. In diesem Moment erinnerte sie ihn an Fox, die ihn zu Beginn ihrer Freundschaft genauso angesehen hatte.

Doch die Antwort kam von Archer, dem Jungen mit dem Brandmal am Hals. Im Schein der Lampe blitzten seine goldenen Augen wie die einer Katze. »Die eigentlichen Schurken«, sagte er.

GESCHICHTE SO

3. KAPITEL

HERZENSANGELEGENHEIT

Die Strömung der Zuversicht erreichte Jahara weit nach Mitternacht. Selbst die schäbigsten Spelunken und Spielhöllen schlossen bereits ihre Türen, doch Archer und Sefia waren immer noch in der Kapitänskabine und planten zusammen mit Käpt’n Lees das weitere Vorgehen.

»Morgen früh bringe ich euch zum Amt der Boten, damit ihr das Buch holen könnt«, sagte Lees und lief vor den Glasvitrinen an den Wänden auf und ab. »Der Erste Steuermann kümmert sich darum, das Schiff mit Proviant zu beladen, und Lind besorgt einen Lotsen für die Rotröcke.«

Archer war ein wenig enttäuscht. In den letzten vier Tagen hatte er sich mit den Soldaten der Königlichen Marine, vor allem mit Lac und Hob angefreundet und er hätte sie gern selbst zur Botschaft von Oxszini gebracht.

Doch das Buch hatte für ihn oberste Priorität. Er musste sich um Frey und Aljan und die Blutritzer kümmern, die – wie auch er einst – von der Wache entführt und zum Töten abgerichtet worden waren. Er hatte sie gerettet. Er hatte ihrem Leben einen Sinn gegeben. Sie hatten sich perfekt ergänzt, waren bei ihrer Jagd auf die Impressoren in Deliene so mörderisch gut aufeinander eingespielt gewesen. Doch kaum hatten sie Epigloss erreicht, hatte er sie verlassen und war nur für das Versprechen auf noch mehr Rache und Blutvergießen zurückgekehrt. Er trug die Verantwortung dafür, dass Frey und Aljan Serakeen in die Hände gefallen waren.

Er musste seine Fehler wiedergutmachen, das war er ihnen schuldig. Er musste sie beschützen, wie er es die ganze Zeit hätte tun sollen.

»Dann brechen Sie auf?«, fragte Sefia in seine Gedanken hinein.

Käpt’n Lees klopfte im Achteltakt auf eine leere Glasvitrine. »Ja.« Die Strömung und die Crux würden nach dem Beladen die Segel für den Hort des Königs setzen, den größten Schatz in der Geschichte Kelannas. Vor Hunderten von Jahren hatte König Feldspat von Likkaro sich die gesamten Schätze seines Volkes unter den Nagel gerissen und sie irgendwo in den Höhlen unter seinem Königreich vergraben. Seit Generationen erzählten Schatzjäger Geschichten vom Tunnellabyrinth des Horts, von den Pyramiden aus Gold- und Silberbarren, den Sälen voller Edelsteine. Mit dem Inhalt einer einzigen Höhle könnte man selbst die größte Gier stillen.

Doch Archer wusste, dass Lees’ hungriger Blick nur einem einzigen Schatz galt: dem Amulett der Auferstehung, einem magischen Gegenstand, mit dem man dem Tod ein Schnippchen schlagen konnte. Es war seit Generationen verschwunden, irgendwo im Tunnellabyrinth begraben. Wenn er es fand, dann würde es ihm die Unsterblichkeit verleihen, nach der er seit Jahren strebte.

Wenn man etwas so sehr und schon so lange wollte, ließ man sich von nichts und niemandem aufhalten. Nicht einmal von einem Krieg.

»Schade, dass du uns nicht begleitet«, sagte der Käpt’n und holte einen Zettel aus seiner Tasche. »Sonst könntest du uns im Falle eines Falles etwas vorlesen.«

Wie der Rest der Besatzung hatte Archer auswendig gelernt, was auf dem Zettel stand – es war eine Abschrift des Gedichts, das in die Glocke von König Feldspats Schiff eingraviert war. Sie vermuteten, dass er der Wache angehört hatte – sonst hätte er nicht den einzigen Hinweis auf die Lage des Horts notieren können.

Ängste müsst ihr überwinden, in Likkaro Gold zu finden

Wo Hengste in die Gischt galoppieren

Die Schlange klappert, Herz hinter Türen

Und das Wasser euch ans Ziel kann führen.

Lees glaubte, dass das Rätsel sie an vier verschiedene Landmarken führte – beginnend mit Mustangs, einer felsigen Landspitze in der Form von zwei Wildpferden auf der anderen Seite von Likkaro – die ihnen den Weg zum Hort des Königs verraten würden.

Doch Archer und Sefia würden nicht dabei sein.

»Ich hab Lind und Theo das Lesen beigebracht«, sagte sie.

Lees lachte abfällig. »Lind und Theo sind schlau, aber sie sind nicht du.«

Sie zuckte die Schultern. »Ich kann Archer nicht im Stich lassen, Käpt’n.«

Unter dem Tisch nahm Archer ihre Hand. Sie verschränkte ihre Finger mit seinen. »Und ich kann die Blutritzer nicht im Stich lassen«, sagte er.

Seine Blutritzer. Er war für sie verantwortlich.

»Ich weiß, Junge.« Lees seufzte. »Sie sind deine Mannschaft.«

Wenn Archer und Sefia erst einmal das Buch zurückhatten, würde Sefia sie zu den Blutritzern nach Epigloss im Nordwesten Oxszinis teleportieren und dort würden sie Frey und Aljan befreien. Danach würden sie mit der Bruder, dem Schiff der Blutritzer, nach Port Paradis segeln und darauf warten, dass die Strömung und die Crux vom Hort zurückkehrten.

Der geheime Zufluchtsort wurde von den einzigen beiden Menschen unterhalten, auf die jeder Dieb und jeder Mordgeselle im Inneren Meer hören würde: von Adeline, der barmherzigen Lady, die Lees’ alten Revolver aus Silber und Elfenbein getauft, und Isabella, der Schmiedin, die ihn für sie angefertigt hatte. Die beiden waren lebende Legenden.

»Hier liegt Port Paradis.« Auf der Karte von Kelanna, die immer noch auf dem Esstisch ausgebreitet war, zeigte Lees auf einen Punkt im Inneren Meer, der von den fünf Inseln umgeben war.

Die fünf Inseln, die Archer erobern sollte.

Unmittelbar vor seinem Tod.

Nein, dachte er. Er würde die Blutritzer nach Port Paradis bringen, wo sie schwimmen und im Schatten des alten Inselvulkans die Erde beackern würden. Er würde Sefias Geschichten lauschen und sie morgens küssen und ihr ein Baumhaus bauen. Der Krieg würde an ihnen vorbeiziehen wie Wasser an einem Brückenpfeiler. Und sie alle würden weiterleben.

Auf einmal klopfte es. Erschrocken sprang Archer auf und verzog das Gesicht, weil seine Seite wehtat. Die Nähte waren seit Tagen nicht mehr aufgeplatzt, aber hin und wieder spürte er noch ein Ziehen und wurde daran erinnert, dass die Fäden im Moment das Einzige waren, was ihn zusammenhielt.

Vorsichtig befühlte er seinen Verband, während Dimarion, der Käpt’n der Crux, die Kapitänskabine betrat. Dimarion war wie ein König, fand Archer. Ein Tyrann, der meinte, alles, was er sah, gehöre ihm.

Dimarion hob den Stock mit dem Rubingriff und zeigte auf Käpt’n Lees, der in seinen ruhelosen Bewegungen innehielt. »Ich sorge dafür, dass dein Schiff mit dem besten Proviant bestückt wird, den Jahara zu bieten hat – gütigerweise bezahle ich sogar einiges davon aus eigener Tasche – und du kannst mir nicht mal mitteilen, dass ihr angekommen seid?«

Lees lehnte sich an den Tisch und grinste. »Ich wollte deinen Schönheitsschlaf nicht stören.«

Dimarion lachte. »Mein lieber Käpt’n, für die Bösen gibt es keinen Schlaf.« Da bemerkte er Archer und durchquerte mit wenigen schnellen Schritten den Raum.

Für einen großen, schweren Mann mit Gehstock war er erstaunlich leichtfüßig. Kein Wunder, dass niemand ihn hatte kommen hören. Archer kletterte über die Sitzbank, um ihn zu begrüßen.

»Sefia.« Der Piratenkapitän sah sie an und machte eine leichte Verbeugung.

Als Sefia Archer und sich auf die Strömung teleportiert hatte, war Archer anfangs zu verletzt gewesen, um mit jemandem zu sprechen. Dimarion hatte daher eine Audienz bei Sefia verlangt. Stundenlang war sie auf der Crux gewesen und hatte ihm ihre Geschichte erzählt, angefangen bei dem Verrat, den ihre Eltern an der Wache begangen hatten, über Archer, der die Blutritzer um sich geschart hatte, bis zur Magie des Buchs, die sie sich angeeignet hatte.

»Käpt’n«, sagte sie kühl. Die Verneigung erwiderte sie nicht.

Dann wandte sich der Pirat an Archer. Er betrachtete ihn wie ein Juwelier einen Diamanten und sein Blick blieb an der knotigen Narbe um Archers Hals hängen – der Narbe, die ihm die Impressoren verpasst hatten, genau wie den anderen Blutritzern und »Kandidaten« der Wache – der Narbe, die ihn zu dem Jungen aus den Legenden machte.

Zu dem Jungen mit der unaufhaltsamen Armee.

»Ich wollte mal einen Blick auf dich werfen«, sagte Dimarion. »Aber Käpt’n Lees bestand darauf, dich wegzusperren wie seine Trophäen.«

Archer spürte, wie sich Sefia neben ihm sträubte. Hatte sie den Tiefenblick heraufbeschworen? Er würde ihr glatt zutrauen, dass sie den Mann durch den Raum schleuderte, wenn sie ihn für gefährlich hielt.

Oder wenn sie sich über ihn ärgerte.

»Und, was haben Sie jetzt für einen Eindruck?«, fragte Archer.

Käpt’n Dimarion schnaubte. »Für mich siehst du nicht aus wie ein geborener Killer.«

Geborener Killer. So hatten die Impressoren Archer genannt. Aber er war nicht so geboren worden – er war nicht mal als Archer geboren. Sie hatten ihn dazu gemacht, gemeißelt und geschnitzt, bis er nicht mehr der kleine Leuchtturmwächter von einst war, sondern Archer, Anführer der Blutritzer, eine Legende wegen seines Siegs über die Impressoren in Deliene. Die Geschichten von seiner Brutalität und seiner Effizienz im Kampf hatten sich schnell bis in die anderen Königreiche verbreitet.

Und er hatte sich dafür entschieden. Vielleicht nicht gleich und vielleicht nicht bewusst. Aber ja, am Ende hatte er sich die Kämpfe ausgesucht. Er wollte töten, er hatte sich selbst zu dem geformt, was er jetzt war.

Gefangen, dachte er. Vom Schicksal gefangen. Es sei denn, er und Sefia könnten ihm entkommen.

Dimarion sah ihn immer noch an, als wartete er darauf, dass Archer vom Blutdurst übermannt würde.

Archer wusste schon, wie er den Piraten außer Gefecht setzen könnte. Käpt’n Dimarions rohe Kraft und sein Stock waren nicht ohne, doch Archer war trotz der verbundenen Seite schneller und er hatte schon genau im Kopf, wie er Dimarions schwache Gelenke treffen könnte – alte Wunden, die reif für neue Verletzungen waren. Doch Gewalt war kein Partytrick, den Archer zum Spaß vorführte.

Für ihn war Gewalt etwas Hässliches, etwas, wofür man sich schämen musste.

Und gleichzeitig etwas Wertvolles, das ihm eine Herzensangelegenheit war.

Als Archer nicht antwortete, wandte Dimarion sich an Lees. »Du könntest mir ja was zu trinken anbieten, aber so viel Gastfreundschaft wäre wohl zu viel verlangt.« Dimarion nahm eine Kristallkaraffe von einem Beistelltisch, schenkte sich selbst drei Fingerbreit Bourbon ein und setzte sich in einen mit fadenscheinigem Samt bezogenen Sessel, als wäre es ein juwelenbesetzter Thron. »Ich habe Informationen für euch.«

Er hielt inne und schien darauf zu warten, dass sie Beifall klatschten oder sich verneigten.

Archer setzte sich.

Sefia gähnte.

Seufzend trank der Pirat einen Schluck aus seinem Glas und leckte sich die Lippen, bevor er verkündete, dass der einsame König Eduoar Corabelli II. gestorben sei. »Gift«, erklärte er. »Er hat sich das Leben genommen, genau wie sein Vater, in demselben Zimmer wie sein Vater.«

Zum ersten Mal seit Generationen war Deliene, das nördliche Königreich, dem Jahara letztlich verpflichtet war, ohne Monarch. Praktischerweise hatten sich die Adeligen der vier Provinzen Delienes bereits auf einen Herrscher geeinigt, der ihn ersetzen sollte. »Arcadimon Detano«, sagte Dimarion. »Anscheinend ein Ratgeber und Freund des verstorbenen Königs.«

»Und niemand hat protestiert?«, fragte Sefia.

»Die Entscheidung war einstimmig.« Der Pirat schlug mit seinem beringten kleinen Finger an den Rand seines Glases. »Wundert dich das?«

»Mich wundert es«, sagte Lees. »Gorman hätte um die Krone kämpfen sollen.«

Gorman war das nördlichste Gebiet von Deliene. Archers Stellvertreter Kaito war Gormani gewesen.

Kaito. Archer schloss die Augen. Manchmal besuchte der Junge ihn noch in seinen Träumen. Er zeichnete Schlachtpläne in den Dreck. Sprang jubelnd in einen eiskalten Fluss. Blutete und knurrte vor Wut. Lag tot am Boden, Archers Kugel zwischen den Augen. Manchmal redeten sie miteinander. Manchmal verzieh Kaito ihm. Manchmal auch nicht, dann sagte Kaito, dass Archer im Innern kaputt war und nie wieder heil werden könnte, ganz gleich wie viele Leben er rettete.

Oder nahm.

Sefia drückte seine Hand ganz fest, als wollte sie ihm versichern, dass sie da war.

Er schlug die Augen wieder auf, Tränen verschleierten ihm die Sicht.

Kaito Kemura, der Sohn eines Gormani-Häuptlings, war der kampflustigste Mensch, den Archer je kennengelernt hatte. Wenn die Gormani ihm auch nur irgendwie ähnelten, hätten sie sich eher von Deliene abgespalten, als sich einem Herrscher zu beugen.

»Ich nehme an, das ist das Werk der Wache, von der du mir erzählt hast«, sagte Dimarion zu Sefia.

Sie nickte.

Die Wache. Bei dem Ausdruck brannten Archers Fäuste. Die Wache war der Grund dafür, dass man ihn entführt und verunstaltet hatte, dafür, dass er auf den Weg gebracht worden war, der ihn zu seinem Schicksal führte. Wenn es in seiner Macht stünde, würde er sie alle töten. Mit Freuden.

Doch gegen die Wache zu kämpfen hieß gegen die Allianz zu kämpfen, und gegen die Allianz zu kämpfen hieß in den Krieg zu ziehen. Und seinen eigenen Tod herbeizuführen.

»Ist Arcadimon Detano einer von ihnen?«, fragte Lees.

»Ich wusste, dass sie einen Agenten in Deliene haben«, sagte Sefia und ihre Stimme klang schwächer als gewöhnlich. »Aber diesen Namen haben sie nie erwähnt.«

Archer rieb sich die Augen. »Dann hat die Wache jetzt die Herrschaft über drei Königreiche.«

»Ja«, flüsterte sie.

Jetzt musste die Wache nur noch zwei Königreiche besiegen. Der Plan war, beide in einem Konflikt zu erobern, den Sefias Eltern den Roten Krieg genannt hatten.

Der Krieg, den Archer gewinnen sollte. Der Krieg, der Archers Tod vorausging.

Port Paradis, sagte er sich. Er würde in Port Paradis sein. Mit ihr und den Blutritzern.

»Nun denn.« Dimarion leerte sein Glas und erhob sich. In der Kabine schien es auf einmal enger zu sein. »Es wird euch nicht überraschen zu hören, dass Arcadimon Detano morgen eine Ansprache hält. Hier in Jahara, um zwölf Uhr mittags.«

»Mittags?« Lees fluchte leise.

Der Piratenkapitän grinste ihn an. »Wärst du gleich nach deiner Ankunft zu mir gekommen, wüsstest du das längst.«

»Er wird sich der Allianz anschließen«, sagte Archer. Das würde er selbst jedenfalls tun, wenn er … Nein, so durfte er nicht denken. Er war vielleicht ein Mörder gewesen. Und vor seinem neunzehnten Geburtstag schon eine Legende. Aber er war kein Feldherr. Er war kein Eroberer. Und er wollte nicht sterben.

»Na klar.« Lees löste die verschränkten Arme und wandte sich an Dimarion. »Meinst du, wir können das Schiff beladen und vor der Ansprache hier rauskommen?«

Der Piratenkapitän zuckte kaum merklich die Schultern. »Wenn nicht, kommen wir hier überhaupt nicht mehr raus.«

Kurz darauf legten sie sich schlafen und nach wenigen Stunden unruhiger Träume begaben Archer und Sefia sich zu den anderen an Deck der Strömung. Es war vor Morgengrauen, die Sonne simmerte noch unter dem Horizont. Zu so früher Stunde war dieser Teil des Haupthafens ziemlich verlassen, die Hausboote und Segelschiffe lagen bis auf das Knarren der Balken ruhig.

Die zwölf Rotröcke, die sie gerettet hatten, stopften ihre Uniformen aufgeregt in Jutesäcke. Da sie wussten, was der Herrscher sagen würde, wollten sie keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich lenken.

Sie strahlten eine angespannte Energie aus, die Archer an die Blutritzer vor einer Schlacht erinnerte.

Doch wenn alles nach Plan lief, würde er nie wieder jemanden in die Schlacht führen.

»Wie kommt es, dass ihr keinen Lotsen braucht?«, fragte Haldon Lac und richtete seine Manschetten.

»Wir sind mit Käpt’n Lees unterwegs. Der braucht keinen.« Archer tauschte einen wissenden Blick mit Sefia. Genau dasselbe hatte Lind bei ihrem ersten Besuch in Jahara zu ihnen gesagt. Sie waren in die Kampfarena im Käfig spaziert, als könnten sie die Impressoren besiegen, indem sie einfach verlangten, dass sie aufhörten.

»Ich habe gehört, er kann aus dem Klang des Wassers schließen, wo es langgeht«, fügte Sefia hinzu.

Lacs wohlgeformter Mund klappte vor Überraschung auf. »Gibt’s ja nicht!«

Sie verdrehte die Augen.

Archer klopfte ihm auf die Schulter. Haldon Lac war dumm wie Brot und Sefia ging er damit auf die Nerven. Archer fand Lac in seiner Beschränktheit liebenswert.

»Aber woher weiß das Wasser überhaupt, wohin er fahren will?«, fragte Hob. Er war ein komischer Kauz, der immer witzige, aber eigenartig logische Fragen stellte – zum Beispiel, warum die Vögel sich im Wasser nie verirrten und ob der Erste Steuermann wirklich jeden einzelnen Holzsplitter auf der Strömung hörte oder ob er dafür ein größeres Stück Holz brauchte.

Ihn mochte Archer auch.

»Er kommuniziert bestimmt in Gedanken mit dem Wasser«, sagte Lac. »So was hab ich schon mal gehört.«

»Hast du das in deinen eigenen Gedanken gehört?«, fragte Sefia.

Lac guckte sie verwirrt an. Archer hatte fast Mitleid mit ihm, aber manchmal schrien seine Bemerkungen geradezu danach, dass man sich über ihn lustig machte.

»Wenn du es genau wissen willst«, sagte Lees, der in seinem Mantel und mit der breitkrempigen Mütze von hinten zu ihnen kam, »ich pfeife zum Wasser.«

»Käpt’n!« Mit einer kleinen Verbeugung setzte Haldon Lac zu einer Begrüßung an, doch Käpt’n Lees scheuchte ihn schnell den Landungssteg hinunter. Die anderen Rotröcke folgten ihm und kicherten leise. Am Kai nahm Linds Lotse sie zweifelnd in Augenschein und seufzte.

Archer, Sefia und Lees sahen ihnen nach, wie sie im Labyrinth des Haupthafens verschwanden.

»Die wären wir los«, murmelte Sefia.

»Ich mochte sie.«

»Du bist netter als ich.«

»Du bist netter, als du es dir eingestehst.« Archer nahm ihre Hand und sie zogen los ins Gewirr von Jahara. Ihre Schritte hallten auf dem hölzernen Steg.

Bald schon würden sie das Buch zurückhaben. Sie würden sich zu den Blutritzern teleportieren und Frey und Aljan befreien. Und schließlich würden sie alle zusammen nach Port Paradis segeln und frei sein.

Sefia und Archer folgen Käpt’n Lees, der sie unbeirrt durch die verfallenen Piers führte, vorbei an angebundenen Glasbojen und an versunkenen Segelschiffen, von denen nur der Mast aus dem Wasser schaute. Schließlich kamen sie zu einer riesigen Lagerhalle mit den schwarzen Flügeln der Botengilde über dem Eingang.

Sefia war erst einmal hier gewesen und auch damals hatten die schiere Größe und fieberhafte Energie sie eingeschüchtert. Im Gebäude wimmelte es von geschäftigen Boten, Hütern der Gilde, die bronzene Flügel auf ihre Kleider gestickt hatten, und von nervösen Kunden, die flüsternd Gerüchte weitererzählten, während sie wie aufgescheuchte Hühner herumliefen.

Die Ansprache des neuen Herrschers war in aller Munde, als Sefia, Archer und Lees sich in die Schlange einreihten.

Im Südosten waren Kriegsschiffe gesichtet worden. Deliene würde der Allianz beitreten. Dann würden drei Königreiche den Krieg gegen Oxszini führen. Gegen die Rotröcke.

Den Krieg gegen die Roten, so nannten sie ihn bereits.

Der Rote Krieg.

Das Generationen umspannende, weltverändernde Endspiel der Wache.

»Der Nächste«, rief jemand und sie traten an den Schalter, wo die Botin, bei der Sefia das Buch gelassen hatte, hinter einem verriegelten Fenster saß.

»Name?«, fragte die Frau unbeteiligt.

»Kannek Lees«, sagte der Käpt’n.

Mit einem Nicken schaute die Botin zur Decke und schöpfte aus ihrem enormen Gedächtnis. Sowohl Nachrichten als auch Pakete wurden durch Fragen und Antworten übermittelt. Wer die Frage beantworten konnte, durfte das abholen, was für ihn abgegeben worden war.

Nach einer Weile senkte die Frau den Blick und fragte: »Warum haben Sie sich nach der Sache mit dem Mahlstrom nicht entschieden an Land zu bleiben, wenn Sie doch wussten, dass Sie auf See sterben?«

Der schwarze Revolver. Der leuchtende Löwenzahn. Das explodierende Schiff.

Lees sah Sefia von der Seite an. Ein gequältes Lächeln umspielte seine Lippen. »Ich hatte die Wahl, meine Zukunft zu lenken oder mich von der Zukunft lenken zu lassen.«

Genau das hatte er zu ihr gesagt, als sie die Wahrheit über das Buch erfahren hatte – dass es eine Aufzeichnung von allem war, was je gewesen war und je sein würde.

Irgendwie hatten die Worte jetzt, da sie wusste, dass sie das Schicksal verändern musste, eine neue Bedeutung bekommen.

Die Botin war offenbar zufrieden mit Lees’ Antwort. Sie nickte und zog sich in einen Hinterraum zurück, wo die Pakete aufbewahrt wurden.

»Glauben Sie das immer noch, Käpt’n?«, fragte Sefia.

»Das wär wohl ratsam.« Er lachte in sich hinein. »Wenn das hier vorbei ist, geh ich schließlich direkt wieder aufs Wasser, oder nicht?«

Kurz darauf kam die Botin mit einem rechteckigen, verschnürten Paket zurück.

Sefia schob eine Münze über den Tresen, nahm das Paket und drückte es an die Brust. Es fühlte sich so vertraut an, als hätte die ganze Zeit ein Teil von ihr gefehlt und als wäre sie erst jetzt wieder vollständig.

Doch kaum steckte sie das Buch in den Rucksack, nahm sie eine bekannte Gestalt in der Lagerhalle wahr.

Es war ein Junge in Archers Alter, mit schlaffen Locken und großen Eulenaugen hinter einer runden Brille – Tolem, der Verwaltungslehrling. In ihrer Zeit bei der Wache hatte sie ihn nur einmal gesehen, doch sie hatte nicht vergessen, wie ihm die Brille ständig von der Nase rutschte und wie er sie wieder hochschob.

Und sie hatte auch seinen Meister nicht vergessen, der mit unnatürlicher Anmut neben dem Jungen herging. Der Mann war gertenschlank und einzig eine milchige Narbe im rechten Auge störte die geradezu unheimliche Symmetrie seiner Gesichtszüge. Mit seinen maßgeschneiderten Kleidern und der Krawattennadel sah er unter den ungepflegten Boten und besorgten Kunden so unwirklich aus wie ein Gemälde.