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Sie sind alt wie die Zeit, und sie leben immer noch ... Nach einem Hubschrauberabsturz werden aus dem Wrack die Leichen von einem Richter und seiner Frau geborgen. Jemand hat sie grauenvoll verstümmelt. Und von ihrer erwachsenen Tochter fehlt jede Spur. Michael Reardon, der im Auftrag einer Versicherung ermittelt, ist sich sicher, dass man die tatsächliche Todesursache der Opfer vertuschen will. Er lässt nicht locker und ist bald auf der Spur einer Gruppe unheimlicher Männer, die vor nichts zurückschrecken, um ihre Identität geheim zu halten ... Brutal und unheimlich - das ist die Handschrift von Graham Masterton, Englands Großmeister der Angst. Peter James: »Graham Masterton ist einer der originellsten und furchteinflößendsten Erzähler unserer Zeit.« San Francisco Chronicle: »Der Hohepriester der Schreckens, der würdige Erbe von Edgar Allan Poe.«
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Seitenzahl: 728
Veröffentlichungsjahr: 2017
Aus dem Englischen von Michael Krug
Impressum
Die englische Originalausgabe The Sleepless
erschien 1993 im Verlag William Heinemann.
Copyright © 1993 by Graham Masterton
Copyright © dieser Ausgabe 2017 by Festa Verlag, Leipzig
Titelbild: Dean Samed
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-547-5
www.Festa-Verlag.de
1
John O’Brien stand im reflektierten Sonnenlicht vor dem Spiegel in seinem Ankleideraum und rückte seine rot geblümte Armani-Krawatte zurecht. Er tat es präzise und feierlich – nicht nur, weil er immer präzise war und es genoss, feierlich zu tun, sondern auch, weil er wusste, es würde das letzte Mal sein, dass er sich als Normalsterblicher eine Krawatte gebunden hatte.
Er zupfte an seiner dunkelblauen Weste, bis sie besser saß, dann zupfte er auch an seinen Manschetten. Ihm gefiel, was er sah. Er hatte sich schon immer gut gekleidet. Sein Vater hatte einst zu ihm gesagt: »Du weißt nie, wann du deinem Schöpfer gegenübertreten wirst, also zieh dich jeden Morgen so an, als wäre es heute so weit.« Als sein Vater fast auf den Tag genau vor zwei Jahren an einem Herzinfarkt starb, hatte er ein Sakko von Abercrombie & Fitch getragen.
Eva erschien im Spiegel hinter ihm, auf aristokratische Weise attraktiv in ihrem schlüsselblumengelben Anzug von Eva Chun. »Sind Euer Ehren, Herr Richter des Obersten Gerichtshofs, bereit?« Sie lächelte.
John streckte das Kinn vor und drehte den Kopf von einer Seite zur anderen. »Euer Ehren sind bereit, aber Euer Ehren sind offiziell noch kein Richter des Obersten Gerichtshofs, bis Euer Ehren vereidigt worden sind.«
»Euer Ehren betreiben schon wieder Haarspalterei«, meinte Eva nach wie vor lächelnd. Sie trat hinter ihn und schlang die Arme um seine Taille.
»Haarspaltereien sind mein Geschäft, Schatz. Das gehört zu meiner Arbeit. Du weißt doch, wie es im 14. Verfassungszusatz heißt, oder? ›Kein Staat darf jemandem das Recht auf Leben, Freiheit oder Eigentum vorenthalten, ohne jedes Haar zwischen hier und Kalamazoo zu spalten.‹«
Eva lächelte immer noch, drückte ihn und küsste ihn auf die Schulter. »Du wirst der beste Haarspalter sein, den es je gegeben hat.«
Johns Stimme wurde ernster: »Jedenfalls werde ich mein Bestes geben.«
»Du wirst brillant sein«, versicherte Eva. »Du wirst dem Obersten Gerichtshof wieder Rückgrat geben.«
Er klopfte sich auf den Bauch und brummte belustigt. »Du meinst wohl eher, der Oberste Gerichtshof wird mir meine Wampe zurückgeben. In meinem ganzen Leben musste ich noch nie so oft essen gehen.« Kurz verstummte er, dann fragte er: »Was hältst du von dieser Krawatte? Ist doch nicht zu protzig, oder? Vielleicht sollte ich eine dezentere tragen.«
»Sie ist perfekt! Protzig, ja. Aber auf geschmackvolle Weise. Genau wie du.«
Er lachte. Dann standen sie einen Moment lang da und betrachteten sich gegenseitig zufrieden und stolz im Spiegel. Mit 48 Jahren verkörperte John einen der jüngsten Männer, die man je zu Richtern des Obersten Bundesgerichts ernannt hatte – sogar noch jünger als William Rehnquist, als er 1971 von Richard Nixon ernannt worden war. John war groß, knapp über 1,90. Er besaß gewelltes, eisengraues Haar und ein breites, ausdrucksstarkes Gesicht. Er sah aus, als hätte ihn ein Bildhauer mit Geschmack, Begeisterung und grandiosem Talent, aber ohne jede Lust auf penible Details aus einem Holzklotz geschnitzt.
Ungeachtet seiner zerklüfteten, männlichen, irgendwie unfertigen Züge war Johns Werdegang makellos verlaufen – der beste, den einem Familienbeziehungen und ein Haufen altes Geld aus Massachusetts ermöglichen konnten. Sein verstorbener Vater war Senator Douglas O’Brien gewesen, Bostons wohlhabendster und unverblümtester Politiker seit Joseph Kennedy. John und seine zwei Brüder waren in privilegierten und kultivierten Verhältnissen aufgewachsen, mit Reisen, Jachtausflügen, Polo, Skilaufen und gesellschaftlicher Kontaktpflege von Monaco bis Aspen, überall, wo es etwas zählte. Zu seinem 18. Geburtstag hatte ihm sein Vater einen Aston Martin mit Speziallackierung im O’Brien-Grün – der immer noch in der Garage stand – sowie Aktien und Anleihen im Wert von 7,2 Millionen Dollar geschenkt. Zu seinem 21. Geburtstag hatte ihm sein Vater dieses Haus gekauft – eine von Efeu umrankte Backsteinvilla in englischem Stil mit Aussicht auf den Charles River, 13 Schlafzimmern, einem kleinen Ballsaal und einer riesigen Bibliothek.
Jene Bibliothek beherbergte insgesamt über 1500 Regallaufmeter aus Eichenholz mit ledergebundenen juristischen Fachbüchern. Beim ersten Betreten des Raumes hatte John die Augen geschlossen und gesagt: »Wenn die Gerechtigkeit einen Geruch hat, dann diesen.«
Im Alter von 24 hatte John summa cum laude das Studium der Rechtswissenschaften in Harvard abgeschlossen und danach sofort eine für ihn reservierte Stelle bei Howell Rhodes Macklin angetreten, Bostons renommiertester Kanzlei und nebenbei die Rechtsvertretung seiner Familie. Mit 29, nachdem er erfolgreich die Verteidigung im Betrugsfall Das Volk gegen Bonatello bestritten hatte, war er zum vollwertigen Partner ernannt worden, und unter der Regierung Carter hatte er durch sein energisches Eintreten für Bürgerrechte Justizminister Griffin B. Bell auf sich aufmerksam gemacht, der ihn prompt zu seinem Stellvertreter im Justizministerium ernannt hatte.
Und nun hatte er dadurch, dass Everett Berkenheim, Richter des Obersten Bundesgerichts der Vereinigten Staaten, unlängst wegen Lungenkrebs das Zeitliche gesegnet hatte und John als Berkenheims Ersatz nominiert worden war, den ruhmreichen Gipfel erreicht, von dem er immer geträumt hatte – einer jener neun Menschen zu werden, denen es oblag, die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika zu hegen und zu pflegen und zu interpretieren, ein Richter, erhaben über alle anderen.
Das Time Magazine hatte sich zwar verständlicherweise skeptisch über Johns liberale Politik – und insbesondere sein vehementes Engagement gegen die Todesstrafe – geäußert, ihn jedoch als »mutig« und »geradeheraus« beschrieben. Und ja, die meiste Zeit fühlte sich John tatsächlich mutig, genau wie er die meiste Zeit das Gefühl hatte, direkt und geradeheraus zu sein. Manchmal konnte er sogar behaupten, dass er sich beherzt fühlte. Er liebte Eva mehr als je zuvor – jene verworrene Affäre, die er vor drei Jahren mit seiner Juniorpartnerin Elizabeth gehabt hatte, schien ihre Ehe mehr gestärkt als ihr geschadet zu haben. Er war reich, er war fit, er hatte eine hübsche Tochter und buchstäblich Hunderte Freunde, und jeder Tag schien von lohnenden Herausforderungen und Sonnenschein erfüllt zu sein.
Das Einzige, was ihm innere Unruhe bereitete, war »Mr. Hillarius«.
Nur ein winziger Makel in seinem Leben, doch »Mr. Hillarius« wurde er einfach nicht los. Die Sache schien nichtig, so unbedeutend wie ein stecknadelkopfgroßer Schimmelfleck an einer tadellos ausgemalten Wand, dennoch ließ sie ihm keine Ruhe. Seit seiner Kindheit wurden seine Nächte ständig von einem einzigen, Furcht einflößenden Bild heimgesucht, einem Bild, das stumm und kalt in einem abgelegenen Winkel seines Geistes lauerte. Tagsüber blieb es ein unerreichbares Bild. Mit Ende 20 hatte er es mit Hypnose versucht, danach hatte er sich zwei Jahre lang einer absurd kostspieligen Psychoanalyse unterzogen. Doch für sein waches Bewusstsein blieb das Bild unzugänglich – obwohl er wusste, dass es immer vorhanden war.
Es handelte sich um das Bild eines Mannes, der beobachtend und wartend dastand, mehr nicht, eines Mannes mit Zügen so undeutlich wie ein Rorschach-Tintenklecks. John konnte nicht begreifen, weshalb, aber das Erscheinen des Mannes erfüllte ihn mit einem solchen Gefühl des Grauens, dass er schweißgebadet und nach Luft ringend davon aufwachte. Nie rührte er sich, dieser Mann, auch dann nicht, wenn ihn John – schlafend, panisch – anflehte, sich zu bewegen. Am liebsten hätte er geschrien: »Komm und hol mich! Bringen wir es hinter uns! Tu etwas! Irgendetwas! Aber mach es endlich!«
Aber immer blieb das Bild regungslos, bewahrte Abstand, hielt das Schweigen aufrecht, wartete bösartig auf seinen eigenen richtigen Zeitpunkt. John wusste mit Sicherheit, dass es ihm nichts Gutes wollte. Vielleicht handelte es sich sogar um das Bild seines eigenen Todes. Als er jünger gewesen war, hatte er geglaubt, er könnte sich vielleicht damit arrangieren und abends zu Bett gehen, ohne sich davor zu fürchten, erneut davon heimgesucht zu werden. Aber seine Angst legte sich nie, das Bild verschwand einfach nicht, und viel zu oft, wenn er schlief, bog er um jene schreckliche, graue, vertraute Ecke, und da stand er. Und beobachtete ihn.
John hatte ihn »Mr. Hillarius« getauft, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Er wusste nicht, weshalb – ebenso wenig wie er wusste, wer oder was »Mr. Hillarius« eigentlich war. Letzten Endes hatte er sich damit abgefunden, dass »Mr. Hillarius« immer da sein würde, solange er lebte, und ihn beobachtete und darauf wartete, dass er starb.
»Willst du Kaffee?«, fragte ihn Eva.
John legte seine goldene Breitling Chronomat an. Sie zeigte 10:28 Uhr. Um diese Zeit morgenbin ich John O’Brien, Richter des Obersten Bundesgerichts, und dann beginnt der Rest meines Lebens erst richtig. Die glorreichen Jahre. Die Jahre der Errungenschaften und des Ruhms.
»Ich weiß nicht recht«, erwiderte er, drehte sich um und küsste Eva auf die Stirn. »Ich glaube nicht, dass ich einen Koffeinschub brauche. Ich bin so schon kribbelig genug.«
»Ach, entspann dich. Der Hubschrauber wird frühestens in zehn Minuten hier sein. Ich habe Madeleine diese neue Arabica-Mischung vom Bentonwood Café aufsetzen lassen.«
John schlüpfte in sein Jackett und zupfte erneut an den Manschetten seines Hemds, dann folgte er Eva die gewundene Eichentreppe hinunter in den Vorraum. Auch die Wände waren mit Eichenholz getäfelt und wurden von Meereslandschaften geziert. Darunter befand sich ein riesiges Gemälde von Winslow Homer, das Haifischer in der Karibik zeigte und vor kräftigen Grün- und schimmernden Blautönen strotzte. Evas neue Schuhe klackten laut über den weißen Fliesenboden. Die Sonne schien durch das leicht getönte Buntglasfenster über der Veranda. An der Tür zum Morgenzimmer erwartete sie Madeleine, eine dunkelhaarige Hausangestellte aus Quebec, die ihnen von Charles Dabney empfohlen worden war, einem der Seniorpartner. John hatte sich ein wesentlich jüngeres Hausmädchen gewünscht, aber Eva war wegen seiner Affäre mit Elizabeth noch emotional empfindlich gewesen und hatte mit Freuden einer erfahrenen Hausangestellten eines gewissen Alters wie Madeleine den Vorzug gegeben – insbesondere deshalb, weil Madeleine mit einem unschönen Hinken ging und einen behaarten Leberfleck links am Kinn hatte.
Die Standuhr im Flur, so hoch wie ein Kirchturm, schlug halb elf, was bedeutete, dass keine 40 Minuten mehr blieben.
»Wir sind Freitagabend zurück, Madeleine«, sagte Eva. »Gegen sieben. Und wir brechen dann direkt zum Dinner mit den Kochs auf. Könnten Sie wohl mein grünes Versace vorbereiten und Newton ersuchen, für Euer Ehren den Frack herauszulegen?«
»Ja, Madame«, antwortete Madeleine mit tonloser Stimme und französischem Akzent.
»Und könnten Sie für mich bei Bloomingdale’s anrufen und nachfragen, was aus der Courrèges-Schildkröte geworden ist, die ich bestellt habe? Reden Sie mit Lonnie von Place Elegante auf der Zwei. Und vergessen Sie nicht die neuen Serviettenringe, ja? Die sollten inzwischen bereit sein. Rufen Sie Jackie bei Quadrum an. Die Nummer haben Sie ja, nicht wahr? Die mit den vielen Fünfen.«
John ließ sich auf einem der eleganten, gelb gestreiften Sessel im Kolonialstil nieder. Das Morgenzimmer war erfüllt von Sonnenschein, den der polierte Fußboden blendend grell reflektierte. Madeleine schenkte ihm eine Tasse Kaffee ein. Er beobachtete sie dabei und fragte sich, wie ihre Mutter und ihr Vater wohl aussahen und was sie bewogen hatte, Madeleine zu bekommen. Vielleicht war ihre Mutter wunderschön gewesen, obwohl er es bezweifelte. Vielleicht war auch ihr Vater ein schneidiger Bursche gewesen. Ein Geiger, ein Akrobat, ein Straßenfeger. Wer konnte das schon wissen?
Eva nahm ihm gegenüber Platz und schlug elegant die Beine übereinander. »Ich habe über unsere Geburtstagsparty für Sissy nachgedacht«, verriet sie.
»Ach ja?« John vermeinte, das entfernte Wusch-wusch-wusch eines Helikopters zu hören. Vielleicht handelte es sich aber auch nur um den Sommerwind, der durch die Ahornbäume blies.
»Sie will eine Mottoparty, etwas im Stil der 1950er, eine Beatnik-Party.«
John bedachte sie mit einem stirnrunzelnden Blick. »Sie will eine Beatnik-Party? Du meinst mit Baskenmützen und gestreiften Pullis?«
Es war doch ein Helikopter. Mittlerweile konnte man ihn deutlich hören. Ein tiefes, unterschwelliges Brummen und das Wusch-wusch-wusch von Rotorblättern, die sich über Riverdale näherten und nach Osten schwenkten. Das war sie: seine Verabredung mit dem Schicksal. Ein kurzer Helikopterflug zum Logan International Airport, dann weiter mit einem Learjet nach Washington. John sah auf die Armbanduhr: 10:37 Uhr.
Offensichtlich hatte auch Eva den Hubschrauber gehört. Aber aus irgendeinem Grund schien sie fest entschlossen zu sein, ihn zu ignorieren.
»Der Helikopter«, sagte John und hob einen Finger.
»Ja«, erwiderte sie nur, doch das blieb alles.
Womöglich fürchtete sie sich plötzlich vor dem neuen Leben, in das der Hubschrauber sie befördern würde. Vielleicht fürchtete sie, John könnte einer weiteren Elizabeth begegnen – einer noch bezaubernderen und sexuell anziehenderen Elizabeth, da sie ja wusste, wie die Frauen in Washington waren. Junge Frauen mochten sich von Rockstars angezogen fühlen, aber Evas Erfahrung nach zog es sie zehnmal stärker zu Politikern, Industriellen oder Richtern hin – auch dann, wenn diese Männer mittleren Alters, kahl und fett waren. Das störte Frauen nicht. Es war die Aura der Macht, die sie ansprach. Und ein Richter des Obersten Bundesgerichts besaß nicht bloß die Aura von Macht, sondern die Aura ultimativer Macht. Es gab Hunderte Rockstars und zig attraktive Schauspieler, aber nur neun Richter des Obersten Bundesgerichts, und sieben davon waren über 65. Wollte man es durch und durch derb ausdrücken, konnte man sagen, dass John durch seine Ernennung zu einem der fickbarsten Männer Amerikas geworden war.
John musterte Eva und vermeinte zu erahnen, worin das Problem bestand. In letzter Zeit fand er es schwierig, ihr zu sagen, dass er sie so sehr liebte. Er fürchtete stets, er könnte sich wie ein Heuchler anhören. In Wirklichkeit liebte er sie auf eine völlig andere Weise als damals, als sie sich kennengelernt hatten. Aber er mochte sie immer noch, verließ sich nach wie vor auf sie, und es fühlte sich immer noch zutiefst befriedigend an, mit ihr intim zu werden – obwohl er sie manchmal, wenn er kam und die Nachttischlampen brannten, dabei ertappte, wie sie das Gesicht von ihm abwandte und an die Wand starrte. Verächtlich? Desinteressiert? Oder vielleicht gequält? John wusste es wirklich nicht. Er hatte das Gefühl, nicht mehr an den Kern ihrer Persönlichkeit heranzugelangen. Aber er war gewillt, es weiter zu versuchen. Vielleicht würde sie ihn eines Tages wieder an sich heranlassen.
Immerhin war sie nach wie vor wunderschön. Sie war die einzige Tochter von Mr. und Mrs. Hunter Hamilton III aus Lynnfield, eine gediegene, schlanke Frau, die jeden, der ihr begegnete, an eine vornehme Julia Roberts erinnerte. Aschblond, stets tadellos gekleidet, untadelige Manieren und selbst wohlhabend. Allerdings hatte John immer das Gefühl gehabt, dass in ihrer Ehe etwas fehlte, ein Puzzle ohne das letzte Teil. Und nach seiner Affäre mit Elizabeth hatte ihn der Eindruck beschlichen, dass er jeden Tag weitere fehlende Teile entdeckte.
Der Lärm des Helikopters wurde lauter, und nach ein, zwei Minuten konnten sie fühlen, wie er direkt über das Haus flog. Die antiken Kaffeelöffel aus Silber vibrierten auf den Untertassen.
»Er ist früh dran«, stellte Eva fest. »Es ist erst Viertel vor elf.«
Cecilia, genannt Sissy, ihre 14-jährige Tochter, betrat das Morgenzimmer – sie trug einen schlüsselblumengelben Anzug, der zur Aufmachung ihrer Mutter passte. Sissy sah ihrer Mutter wesentlich ähnlicher als ihrem Vater, aber ihr Vater hatte den Zügen ihrer Mutter eine gewisse Breite und Großzügigkeit hinzugefügt, wodurch ihre Schönheit nicht ganz so verkniffen wirkte. Die blonden Haare waren zu einem hinten längeren Pagenkopf geschnitten, und sie trug riesige, handgefertigte Ohrringe aus Kristall und Silber von Rio Bahio in der Commonwealth Avenue. An diesem Morgen hatte sie sich mehr als reichlich mit ihrem neuen Lieblingsparfüm eingesprüht, L’Insolent, und jeder hätte sie für 18 gehalten.
»Mein Gott, der Lärm fährt einem geradewegs ins Hirn«, klagte sie, als der Helikopter mit brummenden Triebwerken und pfeifenden Rotoren über dem südlichen Rasen schwebte, bis er letztlich die Nase nach vorne neigte und auf dem Gras aufsetzte.
»Wenigstens müssen wir nicht fahren«, meinte John.
»Müssen wir wirklich drei volle Tage in Washington bleiben?«, fragte Sissy. »Es wird heiß und so was von langweilig sein.«
»Sissy, Liebes, mach dich nicht lächerlich«, gab Eva zurück. »Wir haben Partys, Empfänge, Pressekonferenzen und alle möglichen sonstigen Veranstaltungen, die wir besuchen. Es kommt nicht alle Tage vor, dass ein Mann im Alter deines Vaters zu einem Richter des Obersten Bundesgerichtshofs ernannt wird.«
»Gott sei Dank«, merkte Sissy dazu an.
John stand auf. »Willst du zu Hause bleiben?«, fragte er mit trügerischer Milde in der Stimme. »Wenn du zu Hause bleiben willst – nur zu, bleib zu Hause. Ist mir egal, das ist deine Entscheidung.«
Sissy setzte eine Schmollmiene auf und schwieg. Sie kannte ihren Vater gut genug, um zu erahnen, was als Nächstes folgen würde: ein megalangweiliger Moralvortrag.
»Du kannst zu Hause bleiben«, wiederholte er. »Aber denk gut darüber nach. Meine Gefühle würdest du mit Sicherheit verletzen. Und die Gefühle deiner Mutter auch. Aber was sehr viel schwerer wiegt als das: Du würdest dich von einer der bedeutendsten Zeremonien abwenden, die dieses Land zu bieten hat – von der Vereidigung eines gewöhnlichen Menschen, der fortan über Belange der Verfassung unserer Nation beraten und befinden soll, des Herzens und der Seele der amerikanischen Nation.«
»Schon gut, ich komme ja mit, okay?«, sagte Sissy. »Und es wird mir gefallen, in Ordnung? Ich hab bloß Spaß gemacht.«
John stellte seine Kaffeetasse ab und wischte sich eine imaginäre Staubfluse vom Ärmel. »Dir scheint die Bedeutung, die Einzigartigkeit des Obersten Gerichtshofs nicht klar zu sein.«
»Ich komme mit, kapiert?«
»In den vergangenen 40 Jahren hatte der Oberste Gerichtshof vermutlich mehr Einfluss auf das Leben gewöhnlicher Amerikaner als alle vom Kongress erlassenen Gesetze zusammen.«
»Ich komme mit!«, heulte Sissy mit gespielter Verzweiflung auf. »Du brauchst nichts mehr zu sagen! Ich komme mit!«
Newton, ihr Butler, eilte krummbeinig mit ihrem üppigen Gepäck über den gepflegten Rasen hin und her – sechs Koffer von Louis Vuitton und zwei Hutschachteln. John ging zur Tür, beobachtete ihn und dachte belustigt, dass er wie Bill Cosby aussah, der Groucho Marx nachahmt. Der graue und weiße Sikorsky Helikopter kauerte im Sonnenlicht, während sich seine Rotoren senkten. Der Pilot, der einen hellblauen Arbeitsanzug trug, redete mit einem jungen Mann mit Brille in einem stark zerknitterten Leinenanzug, den John als Dean McAllister erkannte, einen talentierten neuen Assistenten im Justizministerium.
Kaum tauchten John, Eva und Sissy auf der Veranda auf, klopfte Dean dem Piloten rasch auf die Schulter und eilte auf sie zu. Er hatte sandblondes Haar, Sommersprossen und war mollig. Der Justizminister hatte sich angewöhnt, ihn »Jelly Bean McAllister« zu nennen, weil das Rosa seines Gesichts exakt der Farbe der Geleebohnen mit Wassermelonengeschmack entsprach.
»Herzlichen Glückwunsch, Sir!«, sagte Dean und drückte John die Hand. »Und Ihnen auch, Mrs. O’Brien! Was für ein großer Tag! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr wir uns für Sie freuen!«
»Wenn mal der Präsident nur halb so erfreut wäre«, gab John mit einem sarkastischen Lächeln zurück.
»Oho!«, rief Dean. »Sogar der Präsident muss hochkarätige Kompetenz zur Kenntnis nehmen, wenn er sie direkt vor der Nase hat.« Dann wandte er sich an Sissy: »Du wirst heute Abend richtig Spaß haben. Die Beaumonts geben eine Abschiedsparty für Clarissa, und du bist eingeladen. Und jetzt rate mal, wer kommt. Ist das zu fassen? Ta-da!– John Travolta!«
Langsam rümpfte Sissy die Nase. »John Travolta? Der muss inzwischen um die 80 sein!«
Alle lachten. Dean meinte: »Jedenfalls bist du trotzdem eingeladen, auch wenn ein, zwei Altersschwache kommen. Nun denn – sind wir so weit? Der Abflug des Jets ist für 11:25 Uhr geplant, und wenn wir gleich aufbrechen, sollten wir das mühelos schaffen.«
»Sicher, wir sind bereit«, bestätigte John. Er drehte sich zu Newton um, der hinter ihm stand und sich mit einem gefalteten Taschentuch die Stirn abtupfte. »Newton, würden Sie Jimmy ausrichten, dass der Graue neu zu beschlagen ist? Und behalten Sie die Poolputzer aufmerksam im Auge. Das letzte Mal haben sie sämtliche Filter verstopft.«
»Sehr wohl, Sir. Ich wünsche Ihnen und Mrs. O’Brien einen sicheren Flug.«
Sie überquerten den Rasen zum Hubschrauber. Der Pilot salutierte zackig vor ihnen, dann schüttelten sie sich gegenseitig die Hände. »Wie geht es Ihnen, Sir? Mein Name ist Frank Coward. Willkommen an Bord.«
Frank entpuppte sich als sonnengebräunter Mann mit ledriger Haut, einer Spalte an der Nasenspitze und keinem Gramm Fett am Leib. Er trug blickdichte, grün getönte Ray-Bans, in deren Gläsern John nur sein eigenes, gekrümmtes Spiegelbild und die weißen Säulen der Veranda hinter sich sehen konnte. Entlang der Innenseite von Franks linkem Arm verlief eine lange weiße Narbe, und an seinem Revers haftete ein Anstecker mit dem Schriftzug »Semper Fi US Marines«.
»Wir sollten höchstens zehn Minuten zum Logan brauchen, Sir«, fügte der Mann hinzu. »Entspannen Sie sich einfach und genießen Sie den Flug.«
Er schloss die Tür des Helikopters und bahnte sich geduckt den Weg zum Pilotensitz, ließ sich darauf nieder und setzte seinen roten und weißen Helm auf, bevor er mit geübten Handgriffen mit der Vorflugkontrolle begann und den zernarbten Arm hob, um Schalter an den Bedienfeldern über seinem Kopf umzulegen. John und Eva setzten sich nebeneinander und schnallten sich auf den grauen Ledersitzen an, während Sissy und Dean ihnen gegenüber Platz nahmen.
Dean ergriff das Wort. »Die Post hat gestern Nachmittag angerufen. Anscheinend ist man interessiert daran, eine umfassende Analyse sämtlicher Ihrer Verteidigungsfälle aus der Vergangenheit und all der Arbeit zu bringen, die Sie für Griffin Bell geleistet haben. Vor allem über die Schulgesetze.«
»Es geht los, meine Damen und Herren«, kündigte der Pilot an. »Festhalten.« Und damit startete er die zwei Triebwerke. Die Motoren des Helikopters brummten, die Rotoren begannen sich zu drehen. John drückte Evas Hand, als sie langsam vom Rasen abhoben und sich fast sofort in Richtung Charles River neigten. Sie sahen, wie ihre eigenen, grob gemähten Pferdekoppeln unter ihnen vorbeizogen, dann folgte in schrägem Winkel ein Blick auf das Haus mit den leuchtenden Efeuranken und den roten Dachziegeln, und schließlich funkelte unten der Fluss wie geschmolzenes Gold, so gleißend, dass er sie blendete.
»Logan Tower, hier Helikopter Justice Three«, meldete Frank gedehnt. »Wir sind 60 Grad Ostnordost über Riverdale unterwegs, Höhe 1000 Fuß, geschätzte Ankunft in acht Minuten und 15 Sekunden.«
Sie flogen über den Highway 1 und die schimmernden, rechteckigen Trakte des VA Medical Center. Ihr Schatten hüpfte und holperte unter ihnen über die Welt.
»Was denken Sie?«, erkundigte sich John bei Dean. »Über die Post, meine ich.«
Dean beugte sich vor und antwortete: »Meiner wohlüberlegten Ansicht nach sollten Sie es ablehnen zu kooperieren. Falls man nach dem Grund fragt, sagen Sie, dass man Sie an Ihren künftigen Beratungen mit dem Obersten Gerichtshof messen sollte, nicht an Ihren alten Verteidigungsstrategien. Das Gesetz mag auf Präzedenzfällen begründet sein, aber das Gesetz entwickelt sich weiter, und Sie werden der Mann sein, der die Weiterentwicklung vorantreibt.«
John bedachte den jungen Assistenten mit einem sarkastischen Lächeln. »Ich glaube, genau das bereitet den meisten meiner Kritiker Kopfzerbrechen.«
»Na ja, schon, mit Sicherheit«, gab Dean zurück. »Aber denken Sie einfach daran, was der Oberste Bundesrichter Charles Evans Hughes darüber zu sagen hatte. ›Die Verfassung ist nicht mehr oder weniger als das, was die Richter sagen.‹ Und Sie sind jetzt einer dieser Richter.«
»Ich bin bald einer dieser Richter«, korrigierte ihn John.
»Haarspalter«, warf Eva ein und drückte seine Hand ein wenig fester.
Sissy murmelte: »John Travolta! Ich kann’s kaum nicht erwarten!«
Sie überquerten gerade die Bezirksgrenze von Norfolk, als der Helikopter ohne Vorwarnung erzitterte und nach Steuerbord krängte. Eva sog scharf die Luft ein, und Sissy entfuhr ein spitzer Aufschrei. John brüllte: »Frank! Was zum Teufel ist los?«
»Nur eine kleine Antriebsstörung, kein Grund zur Beunruhigung, ich habe alles im Griff«, rief Frank zurück. Eine Weile sah es so aus, als würde er damit recht behalten. Der Helikopter setzte den Flug mit hoher Geschwindigkeit fort, wenngleich die Wellenleistungstriebwerke auf eine Weise heulten und grollten, wie sie es zuvor nicht getan hatten.
»Meinen Sie nicht, es wäre besser, uns runterzubringen?«, rief John.
Aber bevor Frank antworten konnte, ertönte das ohrenbetäubende Kreischen von blockierenden Metallzahnrädern, und der Hubschrauber sackte mit einer wilden, unkontrollierten Spiralbewegung 60 bis 90 Meter in die Tiefe. John hatte das Gefühl, sein Magen wäre irgendwo über ihm am Himmel zurückgeblieben. Er klammerte sich an der Armlehne des Sitzes fest und packte Evas Hand. Unmittelbar vor sich sah er Sissys Gesicht, die Kiefermuskeln starr vor Grauen. Lauwarmer Kaffee und bittere Galle fluteten seinen Mund. Er meinte zu hören, wie ihn Eva anschrie, doch der Helikopter zitterte und brüllte so laut, dass es sich unmöglich mit Sicherheit sagen ließ.
Als John bereits glaubte, sie würden gleich auf dem Boden aufschlagen, gelang es Frank irgendwie, das Heck des Helikopters zu stabilisieren und die Rotoren so zu neigen, dass sie ein paar verzweifelte Höhenmeter gewannen. Allerdings vibrierte der Rumpf unablässig und heftig. Dazwischen ratterte ein tiefes, klobiges Geräusch und dichter, brauner Rauch begann an den Fenstern vorbeizuziehen.
»Großer Gott, großer Gott, großer Gott!«, schrie Dean, der Mund so breit wie ein Froschmaul.
»Wir stürzen ab!«, kreischte Sissy. »Daddy, wir werden sterben!«
Hilflos und verängstigt brüllte John in die Richtung von Franks Hinterkopf. »Frank! Hören Sie mich, Frank? Um Himmels willen, bringen Sie die Maschine runter!«
Eva umklammerte Johns Hand so fest, dass ihr Ehering gegen seine Nerven presste, doch er freute sich beinah über die Schmerzen, weil sie ihm verrieten, dass er noch atmete, und solange er noch atmete, bestand die Chance. zu überleben.
Durchgerüttelt und von Übelkeit überwältigt versuchte er, zwischen den feinen Tröpfchen braunen Öls hindurchzuspähen, die auf die Fenster spritzten, um herauszufinden, wo sie sich befanden. Er glaubte, erst den Jamaica Pond und dann den Franklin Park auszumachen. Ihm wurde klar, dass sie sich in einem trägen, weitläufigen Kreis nach Osten in Richtung des Meeres bewegten – höchstwahrscheinlich auf die Quincy Bay zu. Er sah Gebäude, Abschnitte funkelnden Wassers, Bäume und schließlich das gelbbraune Betonband des Southeast Expressway. Der Helikopter stieg auf und sackte ab wie ein Motorboot bei kabbeliger See. Das Gebrüll und das Mahlen der Triebwerke wurden so laut, dass John dachte, er würde nie wieder etwas hören können, selbst wenn er überleben sollte.
Eva klammerte sich an ihn, an sein Jackett, an seinen Arm. Sissy krallte sich an Deans Arm fest, und Dean starrte John durch und durch panisch an, während sich ein dunkler Fleck im Schritt seines Leinenanzugs ausbreitete. John versuchte erneut, Frank zuzurufen, aber Frank kämpfte in seiner eigenen kleinen, ohrenbetäubenden Hölle ums nackte Überleben und hatte keine Zeit für irgendetwas anderes.
Mittlerweile flogen sie so tief, dass John auf den Straßen und Stränden unter ihnen Menschen erkennen konnte, die mit den Händen die Augen abschirmten und sich umdrehten, als der Helikopter röchelnd und stotternd über ihre Köpfe hinwegsauste. Einige ergriffen die Flucht, weil sie offensichtlich fürchteten, die Maschine könnte auf sie stürzen. John konnte kaum glauben, dass sie sich überhaupt noch in der Luft befanden. Sie flogen deutlich unter der Höhe der Dächer und der Stromleitungen, doch irgendwie gelang es ihnen, schlingernd ein wenig Auftrieb zu erlangen, den grauen, sandigen Streifen von Wollaston Beach zu überqueren und die Quincy Bay zu erreichen, deren Wasser funkelnd die Sonne reflektierte.
Durch das von Öl beschlagene Fenster sah John Jachtsegel, die wie frisch gewaschene Laken schillerten, und einen Moment lang war er überzeugt, sie würden es schaffen, Frank würde sie sanft im Meer absetzen und alles würde gut werden.
Er streckte den Arm vor, ergriff auch Sissys Hand und sagte: »Wir schaffen es, wir schaffen es. Er bringt uns in der Bucht runter. Halt einfach durch, uns passiert nichts.«
Dean konnte ihn nur entsetzt anstarren, schloss und öffnete dabei stumm den Mund. John drehte sich Eva zu, aber sie presste sich die rechte Hand aufs Gesicht und sah aus, als ob sie bete.
Auch John betete. Lieber Gott, bitte bewahre meine Familie vor dem Tod. Lieber Gott, nur dieses eine Mal–lass uns alle überleben.
Die Triebwerke des Sikorsky stimmten ein letztes, hässliches Grrrrrr! an. Es klang wie ein Pitbullterrier, dem die Eingeweide herausgerissen werden. Dann fiel die Maschine wie ein Stein. Sie schlug hart auf das Wasser auf, und John spürte, wie etwas in seinen Rücken krachte. Eva stieß einen so schrillen und unnatürlichen Schrei aus, dass er einen Wimpernschlag lang dachte, es handle sich um zerreißendes Metall – als bräche der gesamte Rumpf des Hubschraubers auseinander. Dann holperte der Helikopter weiter und prallte auf etwas Härteres als das Meer – das Fenster auf Johns Seite des Rumpfs zerbarst, und Salzwasser spritzte ihm explosionsartig ins Gesicht.
Großer Gott! Würde die Maschine denn nie aufhören sich zu überschlagen und zu holpern? John sah Meer, Sonnenlicht, verschwommen das Rosa von Sissys Gesicht, das Aufblitzen von Deans linkem Arm, und die ganze Zeit schrie Eva gellend: »Oh Gott, oh Gott, wir werden alle sterben, wir werden alle sterben, sterben, sterben!«
Plötzlich kam der Hubschrauber zum Stillstand, zu drei Vierteln geneigt wie ein Baseballspieler, der jäh an der dritten Base bremst und durch den eigenen Schwung, durch die Vorwärtsbewegung, aus dem Gleichgewicht gerät und wankt. Schließlich rollte die Maschine mit einem schweren Knirschen auf den Bauch und kam auf Sand zum Liegen. Dabei gab der Boden des Hubschraubers nach und drückte gnadenlos ihre Füße unter den Sitzen zusammen, wo sie sich befanden, weil sie alle instinktiv Embryonalhaltung eingenommen hatten. John spürte, wie seine Fersen gegen das Aluminiumgestell gepresst wurden, an dem sein Sitzgurt befestigt war. Dann brachen alle ihre Fußgelenke gleichzeitig mit Lauten, die an eine Salve einer Pistole erinnerten, und sie starrten sich gegenseitig an und brüllten vor Schmerzen.
Danach kehrte Stille ein, abgesehen von den Geräuschen der auflaufenden Flut, dem traurigen Heulen des Windes und dem vereinzelten Knacken abkühlenden Metalls. In der gesamten Kabine stank es nach Kerosin, aber es schien nicht mehr zu qualmen, und kein Feuer knisterte. Eva zog unablässig an Johns Hand und flüsterte: »Gott, oh Gott, John. Oh Gott!« Ihr Gesicht war grau, ihre Stirn wies schlimme Blutergüsse auf. Dean zitterte am ganzen Leib und massierte sich unaufhörlich mit schmerzverzerrter Miene die Kniescheiben. Sissy starrte nur ausdruckslos ins Leere – John vermutete, dass sie bereits in einen klinischen Schockzustand verfiel.
Seine eigenen Füße brannten wie Feuer. Er hatte noch nie im Leben solche Schmerzen erlitten, nicht einmal, als er Ende letzten Jahres von seinem Polopony gefallen war und sich die Schulter ausgerenkt hatte. Jeder Nerv in seinen Fußgelenken krümmte sich und pulsierte, und hätte ihn in jenem Moment jemand gefragt, ob er sich die Füße amputieren lassen wollte, hätte er denjenigen dafür bezahlt, es zu tun.
»Oh Gott, John«, presste Eva hervor. Sie weinte. »Ich glaube, meine Knöchel sind beide gebrochen.«
»Ich glaube, alle unsere Knöchel sind gebrochen«, erwiderte John. »Behalt Sissy im Auge … sie hat einen Schock.«
»Wo sind wir?«, meldete sich Dean mit erstickter, unwirklich klingender Stimme zu Wort. Mit verschwommenem Blick spähte er auf die Bucht hinaus. »Ich dachte, wir wären über Wasser.«
»Waren wir auch«, gab John zurück. »Aber wir müssen auf Nantasket Beach gestürzt sein. Das ist ein Landstreifen, der in die Bucht hinausragt.«
»Also kann man zu uns? Die Einsatzkräfte können zu uns?«
»Mit Sicherheit.« John schauderte. »Wir haben es überstanden, keine Sorge. Man kann zu uns.«
»Was ist mit Frank?«, fragte Dean. »Glauben Sie, er hat einen Notruf abgesetzt?«
John beugte sich in seinem Sitz ein paar Zentimeter zur Seite. Mehr schaffte er nicht, bevor unerträgliche Schmerzen in seinen Fußgelenken aufflammten. Er konnte nur die Rückseite von Franks Helm und einen Teil der Schulter seines blauen Hemds ausmachen.
»Frank!«, rief John verzweifelt. »Frank, ist alles in Ordnung? Um Himmels willen, unsere Füße stecken fest!«
Frank antwortete nicht. »Vielleicht hat er eine Gehirnerschütterung«, meinte Dean.
»Vielleicht«, murmelte John. Angesichts des unnatürlichen Winkels von Franks Kopf vermutete er, Frank könnte mehr als eine Gehirnerschütterung haben. Es sah eher so aus, als wäre sein Genick gebrochen. Aber John wollte Eva nicht noch mehr in Panik versetzen, außerdem litt er selbst zu große Schmerzen, um Mutmaßungen anstellen zu wollen. Aus seiner Sicht hatte für sie alle höchste Priorität, die Sitze von den Beinen zu bekommen, um den Druck von den Fußgelenken zu nehmen und nach draußen kriechen zu können.
Kriechen, nicht gehen. Zu gehen wäre unmöglich. Er konnte spüren, wie die gebrochenen Knochen unter seiner Haut aneinander rieben. Es fühlte sich an wie ein Marmeladenglas voll zerstoßener Scherben.
Mit einem eigenartigen Unterton von Resignation in der Stimme fragte Eva: »John, kannst du mich hören? Ich ertrage das nicht. Es tut so unglaublich weh.«
»Es wird alles gut, Schatz«, versicherte ihr John. »Die Rettungskräfte werden sehr bald hier sein. Du glaubst doch nicht etwa, man würde den neuesten Richter des Obersten Bundesgerichts einfach am Nantasket Beach liegen lassen, oder?« Er zuckte zusammen, als sich sein Mund mit metallisch und sauer schmeckendem Blut füllte, doch es gelang ihm, sich von ihr wegzudrehen und es seitlich neben seinem Sitz auszuspucken. Bei dem Schlag gegen seinen Rücken mussten einige Rippen gebrochen sein, vielleicht war auch ein Lungenflügel eingerissen.
»Wenn wir nur nicht verbrennen«, murmelte Dean. Der Gestank von Kerosin wurde mittlerweile intensiver, und John konnte das Flimmern der Dämpfe in der leichten Brise sogar sehen. »Ich könnte es nicht ertragen zu verbrennen.«
»Keine Sorge«, sagte John zu ihm. »Es wird alles wieder gut.«
»Ich musste mal mit ansehen, wie jemand draußen am Rockville Pike in einem Volkswagen verbrannt ist. So etwas will ich nie wieder erleben müssen. Der Junge ist ganz schwarz geworden, wie Rindfleisch.«
Deans Stimme begann schrill und wurde zunehmend leiser, wodurch John vermutete, dass auch er in einen Schockzustand verfiel. Sissys Augen waren nach oben gerollt, ihre Atmung ging angestrengt und langsam.
»Herrgott noch mal, wie lange brauchen die Rettungskräfte denn?«, schimpfte John ins Leere.
Doch kaum hatte er es ausgesprochen, passierte der Schatten eines Mannes das zerbrochene Fenster.
»He!«, brüllte er. »He – wir sind hier drin!«
»Ist jemand da?«, fragte Eva und zuckte vor Schmerzen zusammen. »Ist schon jemand eingetroffen?«
Wieder wanderte der Schatten am Fenster vorbei. Obwohl das auf dem Meer gleißende Sonnenlicht den Anblick der Gestalt verzerrte, konnte John erkennen, dass der Mann einen langen, dunklen Regenmantel trug. Gott sei Dank – es musste sich um einen Feuerwehrmann handeln.
»He!«, rief er heiser. »He, wir sind alle hier drin! Wir sitzen fest! Können Sie uns um Himmels willen rausholen?«
Eine lange Pause entstand, doch es kam keine Antwort. In weiter Ferne konnte John Sirenen hören, sechs, sieben oder sogar noch mehr, die einen an- und abschwellenden Chor bildeten. Mittlerweile tobten die Schmerzen in seinen Fußgelenken so intensiv, dass sie bis hinauf zu den Oberschenkeln durch seine Beine pulsierten, und ein rötlicher Nebel trübte seine Sicht. Verlier jetzt nicht das Bewusstsein, befahl er sich. Deine Familie braucht dich; Dean braucht dich; dein Land braucht dich.
Er hörte, wie jemand ein Stück des verbogenen Fensterrahmens wegzog. Dann tauchte eine dünne, dunkle Gestalt am zerbrochenen Fenster auf, ein Mann mit kurz gestutzten Haaren, Igelfrisur und tiefschwarzer Sonnenbrille. Auf undurchsichtige, außergewöhnliche Weise vermeinte John, ihn zu kennen – doch vermutlich lag es nur an dem überwältigenden Gefühl der Erleichterung darüber, dass sie den Hubschrauberabsturz überlebt hatten und dass tatsächlich jemand gekommen war, um sie aus dem Wrack zu bergen.
Mit dem Absatz eines hohen, schwarzen Schnürstiefels trat der Mann die letzten Reste von Plexiglas weg. Der Fensterrahmen hatte sich zu schmal zusammengebogen, als dass er hätte hereinklettern können, aber er schob vorsichtig den Kopf ins Innere, sah sich in der Kabine um und schniefte dabei gelegentlich trocken.
»Wir hängen alle an den Fußgelenken fest«, teilte ihm John mit. »Der Boden ist eingeknickt. Jemand muss die Sitze rausnehmen – vielleicht mit einem Wagenheber oder so. Können Sie bitte schnell machen? Meine Tochter ist in sehr schlechter Verfassung.«
Der Mann wischte sich mit einem schwarz behandschuhten Handrücken über die Nase. Dann fragte er mit einem leichten, nördlichen Akzent und heiserer Stimme: »Ist das Mr. O’Briens Gruppe?«
»Ich bin John O’Brien. Das ist meine Familie. Bitte tun Sie etwas. Holen Sie uns hier raus, so schnell Sie können.«
Der Mann sah sich noch ein wenig um, schaute hoch zur Decke, runter zum Boden. »Dafür wird Schneidwerkzeug nötig sein«, kündigte er bedächtig an wie ein Anstreicher, der zu entscheiden versucht, welche Farbe er verwenden soll.
John erwiderte: »Was immer Sie meinen. Tun Sie’s einfach.«
Er spürte, dass ihm Blut seitlich aus dem Mund lief und auf den Kragen seines Hemds tropfte. Dann hustete er und wünschte sofort, er hätte es nicht getan, denn es schmerzte heftig, und sein Mund füllte sich mit noch mehr Blut.
Vorsichtig zog der Mann den Kopf durch den Fensterrahmen zurück und verschwand wieder im Sonnenschein. Eva zupfte an Johns Ärmel und fragte: »Was passiert jetzt? Was macht er? Kann er uns rausholen?«
»Er muss uns rausschneiden.«
»Oh Gott, meine Beine tun so weh, John. Ich ertrage das nicht. Oh Gott, wo sind die Rettungskräfte?«
Dean schwieg. Seine Augen waren glasig, seine Wangen blass und eingefallen. Seine Atmung ging in kurzen, gequälten Stößen. Voll Schmerzen warteten sie eine gefühlte Ewigkeit. Wohin war der Mann gegangen? Was hatte er vor? Warum versuchte er nicht, sie zu befreien? Und wo steckte der Rest der Feuerwehrleute und der Rettungskräfte mit Infusionen, Sauerstoffmasken und Anästhetika?
John schloss die Augen und dachte, dass er vermutlich sterben würde. Und als er die Augen schloss, nahm er »Mr. Hillarius« wahr, der beobachtend im hintersten Winkel seines Gehirns lauerte wie ein grauer Käfer, der geduldig in einer ausgehöhlten Nussschale wartet, bereit, bei der kleinsten Störung daraus hervorzukrabbeln.
Du bist also hier, du Mistkerl, ging es ihm durch den Kopf. Du warst am Anfang hier, und du bist am Ende hier. Ich hoffe nur, wenn ich sterbe, verreckst du auch. Das wird es beinah wert gewesen sein.
John begann, in Bewusstlosigkeit abzugleiten, als rutsche er einen grauen, glitschigen Hang hinab in das graue, schmierige Wasser eines stillen Kanals.
Vielleicht wäre es besser, einfach einzudösen. Wenn er schliefe, würden all die Schmerzen in seinen Knöcheln verschwinden, und er würde vor dem Obersten Gerichtshof stehen, um sich vereidigen zu lassen, und alles, was sich an diesem Vormittag zugetragen hatte, wäre nur ein Traum.Dann jedoch wurde die Stille von einem lauten, schnarrenden Gebrüll zerrissen – lauter als ein startendes Motorrad. Fast unmittelbar danach tauchte der Mann wieder am Fenster auf, und er hielt eine riesige, glänzende Stahlzange, die wie die groteske Parodie eines gigantischen Papageienschnabels anmutete.
»Was ist das?«, fragte John. »Was in Dreiteufelsnamen ist das?«
Mit einem hydraulischen Zischen öffnete sich der Papageienschnabel langsam. Zum Vorschein kamen Reihen gezackter Stahlzähne. Der Mann erwiderte nichts, sah John nur an und lächelte. Dann setzte er den Papageienschnabel mit einer knappen, geübten Bewegung an der unteren Ecke des Fensterrahmens an und betätigte den Handgriff. Mit dem Geräusch einer Cola-Dose, die zusammengedrückt wird und sich verbiegt, schnitt die Schere durch das Metall des Rahmens. Der Mann öffnete den Papageienschnabel, bewegte ihn weiter nach unten und betätigte erneut den Handgriff. Wieder und wieder schnitt er, und in weniger als einer Minute war die gesamte Seite des Helikopter-Rumpfs weit geöffnet. Wind und Sonnenlicht fluteten die Kabine.
Mit der Metallschere in der linken Hand kletterte der Mann zwischen sie herein. »Sie hatten Glück, dass Sie hier gelandet sind, Mr. O’Brien«, meinte er zu John. »Sie befinden sich an der Spitze von Sagamore Head in der Nähe vom Nantasket Beach. Wenn Sie nur 15 Meter von hier entfernt zum Liegen gekommen wären, dann wären Sie inzwischen mit Sicherheit ertrunken.«
John schauderte. Er biss die Zähne zusammen und nickte. »Wird das lange dauern? Holen Sie zuerst meine Tochter, dann meine Frau raus.«
»Immer schön eins nach dem anderen«, gab der Mann zurück. Er bedachte John mit einem schiefen Grinsen. »Aber es sollte überhaupt nicht lange dauern.«
»Bitte beeilen Sie sich«, flehte ihn John an. Dean begann zu wimmern, dann hustete er.
»Werfen wir zuerst mal einen Blick auf den Piloten«, schlug der Mann vor. Er zog den Kopf ein, bahnte sich den Weg ins Cockpit und schleifte dabei eine Hydraulikleitung hinter sich her. Nachdem er Frank ins Gesicht geblickt und dessen Wangen getätschelt hatte, verkündete er: »Lebt noch. Aber wohl nicht mehr lange, und er muss schrecklich leiden. Mann oh Mann, Sie sollten seine Beine sehen, Mr. O’Brien. Nur noch ein einziger Brei.«
Einige Momente lang betrachtete der Mann Frank nachdenklich. Die kleinen, dunklen Gläser der Sonnenbrille gestalteten es für John unmöglich, zu erahnen, was ihm durch den Kopf gehen mochte.
»Ich hasse es, jemanden leiden zu sehen«, meinte er schließlich. »Was ist mit Ihnen, Mr. O’Brien? Hassen Sie es nicht auch, Menschen leiden zu sehen?«
Rote und graue Schlieren beeinträchtigten Johns Sicht. Ruckartig nickte er zustimmend. Ihm war alles recht, wenn es nur bald überstanden wäre. Wenn Eva und Sissy nur rausgeholt würden.
»Nun denn«, sagte der Mann. Er hob den Papageienschnabel der Metallschere und setzte ihn behutsam zu beiden Seiten von Franks rotem und weißem Helm an.
»Was sagt man dazu?«, meinte er. »Passt geradezu perfekt. Die Öffnungsweite der Klingen beträgt 267 Millimeter, und dieser Helm hat höchstens 263.«
John starrte ihn an. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. »Was machen Sie da?«, verlangte er blubbernd, den Mund voller Blut, zu erfahren.
»Haben Sie noch nie davon gehört, dass man Menschen von ihrem Leiden erlösen soll? Jetzt hören Sie aber auf – Sie sind doch Anwalt, einer der allerbesten. Gerade Sie sollten doch über Gnade Bescheid wissen. Wie in: ›Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang. Sie träufelt wie des Himmels milder Regen.‹«
»Was zum Teufel machen Sie da?«, brüllte John ihn an. Mittlerweile konnte er etliche Sirenen hören, die wesentlich näher klangen, und sie erfüllten ihn mit neuer Hoffnung, dass sie alle überleben würden. Er wurde nur nicht schlau aus diesem im Plauderton sprechenden Exzentriker mit der dunklen Sonnenbrille und seinem riesigen Schneidgerät mit dem Papageienschnabel.
Als hätte der Mann Johns Gedanken gelesen, brachte er das Schneidgerät in Anschlag. »Das hier ist eine Holmatro 2009 U Hochleistungsrettungsschere für allgemeine Rettungseinsätze«, sagte er, als erkläre er einem kleinen Jungen, wie eine Dampflokomotive funktioniert. »Sie kann durch 25 Millimeter dicken Rundstahl, massives Blech oder Metallstreifen mit 100 mal zehn Millimeter schneiden. Hergestellt wird sie in Holland, aber sie wird von Feuerwehrleuten überall auf der Welt benutzt, weil sie die beste ist. Lebensspender, so nennen die Rettungskräfte diese Schere. Für Sie allerdings dürfte wohl die Schneidkraft am interessantesten sein. Die beträgt nämlich – na, was schätzen Sie, wie viel?«
»Um Himmels willen, holen Sie uns einfach hier raus«, gab John flehentlich zurück. Er sah, dass Sissys Lider zu zucken begannen, und er betete, sie würde nicht das Bewusstsein wiedererlangen und die schrecklichen Schmerzen spüren müssen.
»30 Tonnen.« Triumphierend grinste der Mann. »30 verfluchte Tonnen.«
»Was?«, stieß John benommen hervor.
»Ich brauche nur diesen Griff hier zu betätigen, und dieser arme, leidende Mann erfährt, wie es sich anfühlt, wenn einem beispielsweise ein 30 Tonnen schwerer Laster über den Kopf rollt.«
»Um Gottes willen, hören Sie auf damit!« John weinte. Er hatte keine Kraft mehr übrig.
Der Mann hob den Kopf und schien dem Wind, dem Meer und den sich nähernden Sirenen zu lauschen. »Sie haben recht«, sagte er. »Ich trödle, nicht wahr?« Damit betätigte der Mann nüchtern den Handgriff der Rettungsschere, und John beobachtete, wie sich die Hydraulikleitung versteifte. Der an Franks Helm angesetzte Papageienschnabel aus dickem Stahl schloss sich ohne jedes Zögern, und ein brüchiges Knacken ertönte. Der gesamte Inhalt von Franks Kopf spritzte auf das Steuerpult des Helikopters wie eine glitschige Handvoll Fischinnereien, die jemand in ein Spülbecken wirft. John nahm den Anblick nur für den Bruchteil einer Sekunde wahr, bevor er aus seinem Sichtfeld verschwand, doch in jenem flüchtigen Moment sah er weiße, glitzernde Gehirnmasse, Klumpen blutigen Muskelgewebes und Teile des Unterkiefers, alles durch strähnige Membranen miteinander verbunden.
Der Mann hielt kurz inne, dann öffnete er die Rettungsschere. Franks Helm blieb als zerschnittenes Oval zurück und erinnerte auf eigenartige Weise an zwei aneinandergepresste Essteller. Der Unbekannte klopfte Frank auf die Schulter und sagte: »Komm schon, Mann. Kein Grund, gleich so den Kopf zu verlieren.« Dann stimmte er ein hohes, asthmatisches Rasseln an – das John durch seine Schmerzen hindurch als Lachen interpretierte.
Der Mann kletterte zurück in die Passagierkabine. Er ließ den Blick von Dean zu Eva und Sissy wandern, bevor er ihn auf John heftete.
John flüsterte: »Hören Sie, Mann, Sie können von mir haben, was Sie wollen. Sie können jede Summe bekommen, die Sie mir nennen. Eine Million Dollar. Ich bin reich, besitze jede Menge Wertpapiere. Ich werde Sie nicht identifizieren, und ich werde niemandem erzählen, was passiert ist.«
Der Mann schniefte. »Sie übersehen, worum es hier geht, Mr. O’Brien.«
»Und worum geht es, verdammt noch mal?«
»Sie wissen nicht, worum es hier verdammt noch mal geht? Warum versuchen Sie nicht, darüber nachzudenken? Sie sind doch ein intellektueller Mensch.« Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Sie haben ein gut möbliertes Oberstübchen. Und in der Zwischenzeit – während Sie überlegen – machen wir mal weiter.«
Der Mann schob sich zwischen sie, bis er in gebückter Haltung über Dean aufragte. Matt versuchte John, den schwarzen Regenmantel des Mannes zu fassen zu bekommen, doch der Unbekannte wirbelte ansatzlos herum und schlug John mit dem Rücken einer offenen Hand seitlich gegen den Kopf. Beinah blind vor Schmerzen erstarrte John.
Der Mann wandte sich wieder Dean zu. »Na schön, mein Freund, schneiden wir Ihre Beine los. Es wird alles wieder gut.«
Verwirrt starrte Dean zu ihm hoch. Weil er mit dem Rücken zum Cockpit saß, hatte er nicht gesehen, was der Mann mit Frank gemacht hatte.
Der Unbekannte öffnete den Papageienschnabel der Rettungsschere und setzte die Klingen zu beiden Seiten von Deans rechtem Oberschenkel an, klemmte sie fest gegen seine Weste. Dabei grinste er Dean direkt ins Gesicht, und Dean grinste zurück.
Mein Gott, schoss es John durch den Kopf. Er wird ihm das rechte Bein abschneiden.
Dean hob den Arm und legte die Hand auf die Schulter des Mannes. »Meine Beine tun so weh«, flüsterte er.
»Nicht mehr lange, das verspreche ich Ihnen«, versicherte der Mann und betätigte den Griff der Schere. Mit einem leisen Knirschen durchtrennten 30 Tonnen hydraulischer Schneidkraft Deans rechtes Bein. Der Mann öffnete die Klingen und hob die Schere weg.
Deans Körper stand dermaßen unter Schock, dass er zunächst nicht verstand, was gerade geschehen war. Immerhin befand er sich nach wie vor auf seinem Sitz, und sein Bein war noch da, unmittelbar vor ihm, auch wenn die beige Leinenhose plötzlich von Blut geflutet wurde. Mit offenem Mund und geweiteten Augen schaute er zu dem Mann auf und stammelte: »W-was? Was?«
Der Mann aber lächelte nur, setzte die Klingen um Deans linken Oberschenkel an, betätigte den Griff und schnitt so mühelos durch Haut, Muskelgewebe und Knochen wie durch Käse und Cracker.
Dean schrie. Der Mann schlug ihm ins Gesicht und sagte: »Was brüllen Sie denn so? Sie sind frei. Springen Sie einfach vom Sitz und verschwinden Sie.«
Damit versetzte er Dean mit der offenen Hand einen kräftigen Stoß, und Dean kippte vom Sitz. Beide blutigen Beinstümpfe zappelten durch die Luft, als jongliere jemand mit zwei frisch geschnittenen Rindfleischstücken. Überallhin wurde Blut gepumpt, zwei dicke Arterienstrahlen, die in alle Richtungen spritzten, während sich Dean kreischend auf dem Kabinenboden wand, ein Dean, der nur noch einem menschlichen Rumpf mit fuchtelnden Armen glich. Seine abgetrennten Beine blieben ordentlich nebeneinander an dem von Blut durchtränkten Sitz stehen.
Der Mann trat Dean von sich. Deans Kopf wurde teilweise unter dem Sitz neben seinen eigenen Schuhen eingeklemmt. Zitternd und zuckend lag er da und starb vor Johns Augen. Jetzt drehte sich der Mann langsam Eva zu. Eva war verstummt. John hielt ihre Hand und konnte spüren, wie sie von Kopf bis Fuß bebte – buchstäblich bebte.
»Töten Sie mich nicht«, flehte sie.
Der Mann schüttelte den Kopf. »Wenn Sie wollen, bete ich für Ihre Seele. Aber das ist alles an Entgegenkommen, wozu ich bereit bin.«
Inzwischen schluchzte John hemmungslos. Er konnte sich nicht dagegen wehren. »Bitte tun Sie ihr nichts an! Ich liebe sie, rühren Sie meine Frau nicht an!«
Der Mann jedoch sagte zu Eva: »Ich muss herausfinden, woraus Ladys wie Sie gemacht sind, verstehen Sie das denn nicht?«
Er öffnete den Papageienschnabel der Rettungsschere bis zum Anschlag. Dann zwängte er die untere Klinge tief zwischen Evas Beine, wackelte obszön damit hin und her, um sicherzustellen, dass er sie so weit wie möglich hineingeschoben hatte. Die Klingen besaßen sowohl an den Innen- als auch an den Außenkanten Zähne, die ihren Rock, ihre Strumpfhose und den Ledersitz zerrissen. Die Spitze der oberen Klinge presste der Mann knapp unterhalb des Brustkorbs gegen Evas schlüsselblumengelbe Jacke.
Eva umklammerte Johns Hand im krampfhaften Grauen. Sie war so verängstigt, dass sie nicht einmal schreien konnte. John starrte den Mann an und sagte im tödlichsten, bedrohlichsten Tonfall, den er zustande brachte: »Wer immer Sie sind, ich warne Sie – wenn Sie auch nur …«
Zu mehr jedoch kam er nicht. Er wusste, der Mann würde es tun, was immer er sagte. Jede Drohung wäre zwecklos. Jedes Flehen um Gnade würde etwas, das bereits ein vollkommener Albtraum war, lediglich um Demütigung ergänzen. Der Mann bedachte John mit einem Lächeln gespielten Bedauerns. Dann betätigte er den Griff der Rettungsschere, und die Klingen verschwanden in Evas Bauch, schnitten ihren Beckenboden entzwei und schlitzten ihren Unterleib auf wie eine scharlachrote Reisetasche. Schmierige Eingeweide glitschten auf Evas Schoß. Sie konnte nur völlig entsetzt darauf starren und schien verwirrt darüber zu sein, dass sie tatsächlich innen so aussah.
John konnte nicht sprechen, konnte sich nicht überwinden hinzusehen. Sein Gehirn fühlte sich an, als implodiere es langsam. Aber immer noch umklammerte er Evas Hand, und Eva umklammerte immer noch die seine. Er spürte jedes Schaudern und jedes Zucken, als der Mann grauenhaft flink mit der Schere weiterarbeitete. John hörte ihn rau durch den Mund atmen, als er den Papageienschnabel höher ansetzte und durch Evas Brustbein schnitt. Er öffnete ihren Brustkorb, und als John sie keuchen hörte, konnte er nicht anders, als hinzusehen. Ihre Lungenflügel, blutig und mit dem letzten verzweifelten Atemzug aufgebläht, baumelten in ihrem Brustraum wie gefüllte Wärmflaschen an der Rückseite einer Schranktür.
Als Nächstes bohrte der Mann den Papageienschnabel in den dunklen, blutigen Tunnel ihrer Luftröhre und schnitt erst in ihren Hals, bevor er ihren Unterkiefer teilte. Zuletzt platzierte er die untere Klinge an Evas Gaumen, die obere an ihrem Scheitel, und mit einem einzigen, sorgfältig berechneten Schnitt teilte er ihren Schädel in zwei Hälften. Mittlerweile war ihre Hand erschlafft, und John musste sie loslassen. Ansehen konnte er sie nicht mehr, aber er hörte das glitschende Geräusch, als ihr halbierter Schädel auseinanderfiel, und er hatte keine andere Wahl, als den gasigen Schießpulvergeruch von menschlichen Eingeweiden einzuatmen.
Der Mann trat dicht vor ihn hin und forderte ihn auf: »Sehen Sie mich an!«
John schaute zu ihm auf. Seine Lider zuckten und flatterten wie bei einem Hund, der mit einer Tracht Prügel rechnet.
»Bringen wir es einfach hinter uns«, flüsterte er.
»Sie verstehen es immer noch nicht, oder?«, fragte der Mann. »Was Sie heute Vormittag hier gesehen haben, war ein Mann, der sich für besonders ausgebufft gehalten hat, ein wahrer Erfolgsmensch. Aber wie ausgebufft kann jemand sein, wenn man ihm die Beine abschneidet? Was Sie hier gesehen haben, war eine Frau, die dachte, sie sei reich und wunderschön und überlegen und etwas Besonderes – aber wenn man in sie hineinschaut, was sieht man dann? Blut, Eingeweide, Organe und eine allgemeine Sauerei. Wie bei jedem anderen. Man hat Sie zu einem Richter über Menschen gemacht, Mr. O’Brien. Man hat Ihnen die Kontrolle über Millionen Leben, Millionen menschliche Schicksale übertragen. Und wissen Sie was? Ich glaube, Sie wären ein guter Oberster Bundesrichter – ehrlich, selbstlos und gerecht. Nur … jetzt will ich sehen, wie ehrlich, selbstlos und gerecht Sie wirklich sind.«
»Was soll das heißen?«, fragte John elend. Blut blubberte dabei über seine Lippen.
Der Mann beugte sich vor, bis sein bleiches, pockennarbiges Gesicht Johns gesamtes, vor Schmerzen getrübtes Sichtfeld ausfüllte. Beinah glaubte John, seine Seele würde in den unergründlichen schwarzen Tiefen der Sonnenbrille verschwinden, wenn das Gesicht des Fremden noch näher käme. Mit leiser Stimme sagte der Mann: »Sie hören es ja selbst … Die Polizei, die Rettung und die Feuerwehr sind fast da. Mir bleibt also nur noch Zeit, mich um einen oder eine zu kümmern – um Sie oder um Ihre Tochter.«
»Ich … ich verstehe nicht …« In Wirklichkeit verstand John durchaus, worum es ging, nur konnte er den Gedanken nicht ertragen.
»Dann passen Sie mal gut auf, Mr. O’Brien. Ich ersuche Sie, ein Urteil zu fällen. Das ist doch Ihre Aufgabe, nicht wahr? Urteile zu fällen? Mir bleibt nur noch Zeit, mich um Sie oder um Ihre Tochter zu kümmern, das heißt, jemand wird sterben und jemand wird weiterleben. Sie müssen entscheiden, wer.«
John hustete Blut. »Sie gottverdammter Irrer. Sie Drecksack. Wenn Sie meiner Tochter auch nur ein Haar krümmen …«
»Ts, ts, ts. Das ist nicht der springende Punkt, Mr. O’Brien. Wir stellen hier einen Vergleich zwischen den stark unterschiedlichen Werten menschlichen Lebens an. Wissen Sie, wir sind nicht alle gleich. Drücken wir es so aus: Wenn Sie überleben und am Obersten Gerichtshof landen, werden Sie das Leben aller Menschen in den Vereinigten Staaten beeinflussen, nicht nur jetzt, sondern für Jahrhunderte. Sie werden die Geschichte beeinflussen.
Wenn Sie hingegen sterben und Ihre Tochter überlebt, was wird sie wohl tun? Mit dem Erbe ihres alten Herrn Party machen bis zum Abwinken? Teure Drogen einwerfen? Irgendeinen reichen Langweiler aus Newport heiraten und ein paar kleine Langweiler bekommen, für die Opa nur ein Grabstein auf dem Friedhof ist?«
Kurz verstummte der Mann und setzte langsam ein raubtierartiges Lächeln auf. »Es liegt ganz bei Ihnen, Euer Ehren. Sie haben die Wahl. Nur treffen Sie die besser schnell, sonst bin ich gezwungen, sie für Sie zu treffen.«
Einen katastrophalen Moment lang geriet John durch das Argument des Mannes tatsächlich in Versuchung. Wenn er starb, würde jede radikale Idee, von der er je geträumt hatte, mit ihm sterben. In Amerika herrschten soziale und rechtliche Ungerechtigkeiten, die nach Reformen schrien. Auf jeder Ebene des öffentlichen Lebens gab es Vorurteile, Diskriminierung, Korruption und Brutalität. Der Erste Zusatzartikel der Verfassung der Vereinigten Staaten wurde von Bigotterie, politischem Dogma und Intoleranz erstickt, und die einzige Möglichkeit, wie jemand der Nation seine Meinung mitteilen konnte, bestand darin, sich für Millionen Dollar Sendezeit zu kaufen.
Er konnte etwas bewegen. Vielleicht nur als einer von neun Obersten Bundesrichtern, aber es wäre ein Anfang. Was hingegen würde Sissy als diejenige tun, die überlebte? Der Mann besaß eine erschreckende Auffassungsgabe. Sie würde sein gesamtes Geld mit einem ausschweifenden Lebensstil verprassen. Das Haus, das Familienerbe und die Bibliothek, die nach Gerechtigkeit roch, würden verkauft, in alle Winde verstreut und in ihre Bestandteile zerlegt werden.
John brauchte den Bruchteil einer Sekunde für diesen Gedankengang. Aber wie ein Bruchteil des zersprungenen Spiegels in Die Schneekönigin, der einen Jungen ins Auge traf und alles pervertierte, was er sah, trieb ihn jener Bruchteil vor Scham beinah in den Wahnsinn. Sissy war seine Tochter. Sissy war sein Kind. Sie sah so sehr wie Eva aus. Und was hatte er gerade getan? Im allerletzten Augenblick seines Lebens hatte er sie verraten.
»Nehmen Sie mich«, presste er undeutlich und mit belegter Stimme hervor.
»Was?«, fragte der Mann nach. Mittlerweile klangen die Sirenen sehr nah, und der Wind nahm zu.
»Nehmen Sie mich«, wiederholte John.
»Ihre Entscheidung, Euer Ehren«, sagte der Mann.
Er trat seitlich neben Johns Sitz, legte die rechte Hand zwischen Johns Schulterblätter und drückte John nach vorn, bis sich sein Gesicht zwischen den Knien befand. Dann setzte er den Papageienschnabel der Rettungsschere zu beiden Seiten von Johns Hals an.
John versuchte, an überhaupt nichts zu denken. Ihm fiel kein Gebet ein. Er sah die kleinsten Details des grau melierten Teppichs des Hubschraubers, in dem ein glänzender, schwarzer Kaugummirest klebte, und er sah das dunkle Rokokomuster von Deans Arterienblut. Er spürte, wie die Metallzähne der Rettungsschere in seine Haut kniffen, was er jedoch höchstens als lästig empfand. John beobachtete, wie der Schatten einer Wolke über den Teppich zog, oder vielleicht handelte es sich auch um Rauch.
Dann hörte er ein hydraulisches Zischen; ein blendend greller Schmerz, so weiß, weiß, weiß, explodierte in ihm und erfüllte sein gesamtes Wesen. Und er hörte – hörte –, wie sein Kopf auf den Boden fiel.
Aber er hörte nicht mehr, wie der Papageienschnabel die Aluminiumstützen von Sissys Sitz durchschnitt. Ebenso wenig hörte er, wie der Mann aus dem Helikopter kletterte und wie kurz danach heulende Sirenen und brüllende Stimmen eintrafen.
Auch das leise Wusch hörte er nicht, als Kerosin in Brand geriet und der Hubschrauber zu einem gewaltigen Flammenmeer explodierte.
2
An der Tür des Arbeitszimmers ertönte ein zaghaftes Klopfen. Wie von der Tarantel gestochen warf Michael seine Ausgabe der Zeitschrift Mushing weg und sprang von der Ledercouch auf. Als Jason die Tür öffnete und eintrat, saß Michael an seinem Schreibtisch vor dem Fenster, den Kopf auf eine Hand gestützt, während er mit der anderen auf einem Notizblock kritzelte, als täte er es schon seit Stunden.
Er machte weiter, als sich Jason dem Schreibtisch näherte. Jason trat leise auf, weil er wusste, dass sein Vater beschäftigt war und es nicht mochte, wenn seine Gedankengänge unterbrochen wurden. Jason war 13, dünn, sanftmütig und groß für sein Alter, das blonde Haar kurz gestutzt wie eine Scheuerbürste. Er trug eine Clark-Kent-Brille mit schwarzem Gestell, die seine Ohren abstehen ließ, aber er besaß unheimlich fesselnde blaue Augen, klar wie zwei spiegelglatte Seen, und einen bezaubernden, trockenen Sinn für Humor. Er trug ein T-Shirt mit der roten Aufschrift Legastheniker verheddren Buschtaben.
Michael drehte sich auf seinem abgewetzten, grünen Lederstuhl herum und fragte mit bemühter Geduld: »Ja, Jason, was gibt’s?«
»Draußen ist so ein Typ, der will mit dir reden«, antwortete sein Sohn.
»Ein Typ also, ja?«, hakte Michael nach. »Hat der Typ auch gesagt, was er will?«
Jason zuckte mit den Schultern. »Er hat nur gesagt: ›Ist Mr. Rearden zu Hause?‹«
Michael lehnte sich auf dem Stuhl zurück und tippte sich mit dem Kugelschreiber gegen die Schneidezähne. »Er hat nichts von der Games Company erwähnt?«
»M-m.«
»Ich erwarte nämlich jemanden von der Games Company. Siehst du all das Zeug auf dem Schreibtisch? Die Hunderte kleiner Zettel? Das ist es, mein neuester Goldesel. Projekt X.«
Jason spähte aus dem Augenwinkel zu den unzähligen Haufen von Kärtchen, Post-its, Zeitungsausschnitten, Blättern aus Notizblöcken und herausgerissenen Zeitschriftenartikeln, die sich alle leicht in der Brise regten, die zart durch das halb offene Fenster hereinwehte.
»Du willst in die Altpapierverwertung einsteigen?«, riet er.
Michael ließ den Arm vorschnellen und versetzte ihm einen angedeuteten Klaps hinters Ohr. »Altpapierverwertung! Klugscheißer!«
Er schwenkte wieder herum und ergriff seinen Notizblock. »Das, mein Freund, ist das erste bedeutende neue Fragenspiel seit Trivial Pursuit. Das wird Millionen einbringen. Ach was, gelogen – Milliarden. In den kommenden Jahren wird man dieses Spiel in einem Atemzug mit Monopoly und Scrabble nennen. Dann werden du und ich in Saus und Braus in Palm Beach leben, mit Schnellbooten, Lamborghinis und so vielen Zuckerschnecken, wie wir verkraften. Na ja, so vielen Zuckerschnecken, wie du verkraftest. Ich bin rundum zufrieden mit deiner Mutter.«
Jason betrachtete das Chaos mit ernster Miene und meinte: »Sieht irgendwie kompliziert aus.«
Michael verzog das Gesicht. »Oh, klar. Jetzt sieht es kompliziert aus. Aber denk mal darüber nach: Bevor man eine Uhr zusammenbaut, sieht sie auch irgendwie kompliziert aus, oder? All die kleinen Rädchen und der Kram. Aber wenn ich erst mal fertig bin« – er schichtete einige Zettel zu einem Stoß – »tja, dann wird es weniger kompliziert sein.«
»Der Typ hat gesagt, er muss unbedingt mit dir reden.«
»Ach ja, der Typ. Hat er dir verraten, wie er heißt?«
»Rocky Woods, glaube ich.«
Mit schlagartig ernster Miene sah Michael seinen Sohn an. »Rocky Woods? Das hat er gesagt?«
»Seine exakten Worte waren: ›Ich muss mit deinem Vater reden. Frag ihn, ob er sich an Rocky Woods erinnert.‹«
Einen Moment lang bedeckte Michael mit der Hand den Mund und schwieg. Nur seine Augen verrieten, was ihm durch den Kopf ging. Sie zuckten hin und her, als lese er von einem Teleprompter ab oder erinnere sich lebhaft und in mehr Einzelheiten als die meisten Menschen an etwas, das ihn einst aufgewühlt hatte.
»Dad?«, fragte Jason. »Hab ich was falsch gemacht? Willst du, dass ich ihm sage, er soll gehen?«
Aber Michael streckte den Arm aus, ergriff Jasons Handgelenk, drückte es, bemühte sich zu lächeln und erwiderte: »Du hast alles richtig gemacht. Geh und bitte ihn herein, ja?«
»Okay, wenn du meinst.«
