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In Sun City herrscht eine strenge Ordnung: Tagsüber arbeiten die Menschen und beten die Sonne an. Abends erklingt ein Ton, durch den alle zur selben Zeit einschlafen. Nur einige junge Leute widersetzen sich und bleiben wach. Sie werden als Schlaflose ausgegrenzt und von den Controllern, den Wächtern der Stadt, gnadenlos verfolgt. Die 17-jährige Selina ist Praktikantin in der Bibliothek von Sun City. Eines Tages wird sie Zeugin einer Verhaftung: Ein junger Mann wird beschuldigt, ein Schlafloser zu sein, und von den Controllern festgenommen. Am selben Tag erhält Selina eine Botschaft: "Träume lieber in der Nacht." Kurz darauf bitten die Schlaflosen sie um Hilfe und schon bald taucht Selina in ihre geheimnisvolle Welt ein. Durch die Schlaflosen lernt Selina, was Freiheit bedeutet. Sie lernt, wie wichtig es ist, sich in Liedern, Geschichten und Bildern auszudrücken. Schließlich muss sie eine Entscheidung treffen, die nicht nur ihre eigenen Lebenspläne infrage stellt, sondern Folgen für ganz Sun City haben könnte.
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Seitenzahl: 172
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Impressum
Texte: © Copyright by Hasina Sarigeorgiou
Umschlaggestaltung: © Copyright by gentledesign
Verlag: Hasina Sarigeorgiou
c/o IP-Management #42395
Ludwig-Erhard-Str. 18
20459 Hamburg
Sina Sar
DIE
SCHLAFLOSEN
Folge der Sonne
Roman
Für Tina
„SIE HABEN UNS DEN MOND UND DIE STERNE GESTOHLEN ...“
Es ist 21:00 Uhr in Sun City. Die Nacht bricht herein. In der ganzen Stadt werden die Grünen Gardinen an den Fenstern der kleinen Betonreihenhäuser aktiviert.
Überall in Sun City liegen die Bewohner bereits in ihren Betten, zu exakt derselben Zeit. Dann ist ein Ton zu hören, ein tiefer, dunkler Klang, gefolgt von einer lieblichen Melodie.
Kurz davor verspüren die meisten bereits den Drang, sich hinzulegen. Der Körper hat sich daran gewöhnt, ist sozusagen konditioniert. Und der Geist auch ... Und alle versinken zu exakt derselben Zeit in den Schlaf. Der Ton war der letzte Ruf, die letzte Warnung und dann ... Stille. Auch die Kinder von Sun City sind nicht mehr zu hören, bis die Morgendämmerung beginnt. Um sechs Uhr morgens gehen nach einem kurzen Brummen die Grünen Gardinen automatisch hoch und die Stadt wird von Licht durchflutet. Die Kinder erwachen aus ihrem langen und tiefen Schlaf. Die Nacht ist vorüber. Um acht Uhr morgens schalten alle Bewohner das zentrale Radio ein, das auch in der gesamten Stadt und auf allen öffentlichen Plätzen ausgestrahlt wird. Eine Frauenstimme ertönt, wie an jedem anderen Tag, auch in den Hallen der Zentralbibliothek:
„Guten Morgen, liebe Bewohner von Sun City! Gute Neuigkeiten! Die Sonne scheint heute. Und um unsere geliebte
Sonne geht es auch in der nachfolgenden Sendung heute Mittag! Verpassen Sie nicht alle relevanten Informationen zu diesem einzigartigen Naturphänomen! Bis dahin wünschen wir - wie immer - allen Bürgern unserer strahlenden Stadt einen effektiven Tag!“
Tatsächlich strahlt die Sonne. Die Stadt kann das Licht gebrauchen. Es ist eine graue, trostlose, aber perfekt funktionierende Stadt. Alles in Symmetrie, sauber und technisch auf dem neuesten Stand. In allem zeigt sich Effektivität. Die Graue Mauer verläuft um das Zentrum von Sun City herum, wo sich die Ministerien und das Sonnencenter befinden, und umringt diese wie ein Schutzwall, während sich ein Netz aus Seilbahn-Linien wie Sonnenstrahlen um die Stadtmauer herum erstreckt und zu den Wohngebieten führt. Das Sonnencenter bildet den einzigen Glanzpunkt in der grauen Stadt. Es erhebt sich über das ganze Zentrum mit seinen hohen Mauern und den vier Säulen auf dem Dach, die diagonal in die Lüfte emporragen. Die Pfeiler laufen auf die Spitze des Tempels zu, wo das goldene Symbol der Sonne sie miteinander verbindet und über allem glänzt.
Um die Graue Mauer zu passieren, müssen die Bewohner vor einem mächtigen Metalltor stehen bleiben und sich den Controllern gegenüber ausweisen. Diese gewähren ihnen Zugang. Es ist Aufgabe der Controller, den Frieden, die Ordnung und Sicherheit in Sun City aufrechtzuerhalten.
Einige bewachen die Tore, andere patrouillieren zu zweit durch die Stadt. Vor allem innerhalb der Mauer werden die Verwaltungsgebäude mit der höchsten Sicherheitsstufe überwacht, auch die Zentralbibliothek. Wie an jedem anderen Tag hält Pastor Elling die morgendliche Messe ab, die zahlreiche
Sonnenanhänger vor ihrem Arbeitsbeginn im Sonnencenter besuchen wollen. Damit auch alle Mitglieder aus der Gemeinschaft in den Genuss des gemeinsamen Betens kommen, finden diese mehrmals am Tag statt. Da sich das Sonnencenter nur einen kurzen Fußweg von der Bibliothek entfernt befindet, machen sich auch hier die Mitarbeiter oft gemeinsam vor oder nach der Arbeit für ein Gebet auf den Weg. Es ist bereits neun Uhr morgens. Selina und Adora verlassen nach der Messe das Sonnencenter.
„War die Messe nicht wundervoll?“, fragt Adora.
„Es war schön“, erwidert Selina.
„Ich gehe morgen früh wieder hin. Selina, du könntest mir vor der Arbeit helfen, einige Werke aus der Bibliothek mitzunehmen. Pastor Elling hat mich darum gebeten“, bittet Adora ihre Kollegin.
„Ich darf bei der Auswahl der Literatur mithelfen, die er bei der nächsten Lesung in der Bibliothek vorstellen will“, verkündet Adora stolz.
Dass permanente Sonnenanbetung stattfindet, wird Selina umso deutlicher, seit sie in der Zentralbibliothek tätig ist. Die Fülle an Literatur ist überwältigend, die während der täglichen Lesungen an ihrem Arbeitsplatz oder in den Messen vorgetragen wird. Meistens handelt es sich um die Themen Loyalität, Solidarität und Effektivität in der Gemeinschaft.
„Also hilfst du mir, die Bücher ins Sonnencenter zu tragen?“, fragt Adora hartnäckig nach.
Selina muss sich mindestens drei Mal die Woche pflichtgemäß dorthin begeben, wo Adora sich freiwillig noch häufiger aufhält. Aber einen Tag in der Woche muss sie einer anderen Pflicht nachgehen.
„Ich würde dir gerne helfen, Adora. Aber ich bin doch verabredet, wie du weißt.“
Selina muss ihre Mutter besuchen, ihre gleichgültige und emotionslose Mutter. Den Gedanken verdrängt sie schnell.
„Ich komme nächstes Mal mit“, verspricht sie Adora.
„Ich habe es ganz vergessen“, erwidert Adora.
„Bitte richte deiner lieben Mutter meine Grüße aus. Sie hat sich als Freiwillige für die Vorbereitungen der Sonntagsmesse gemeldet. Deine Mutter ist ein Vorbild für Disziplin und Fleiß“, schwärmt Adora.
„Kein Wunder, dass ihre Tochter sofort eines der begehrten Praktika in der Zentralbibliothek erhalten hat.“
„Danke, Adora. Du bist doch genauso fleißig“, erwidert Selina.
„Ja, aber bei mir hat es leider nicht beim ersten Auswahlverfahren funktioniert wie bei dir“, antwortet Adora frustriert.
„Dein Notendurchschnitt war fast perfekt.“
„Das spielt doch keine Rolle mehr, das war doch nicht deine Schuld, Adora. Es gibt einfach zu viele Bewerber und zu wenige Praktikumsplätze“, besänftigt Selina sie.
„Umso mehr können wir uns jetzt glücklich schätzen.“
„Also gut, du hast recht. Ich bin heilfroh, dass ich nicht wie die meisten auf den Feldern oder in den Fabriken arbeiten muss!“
„Ich bin jedem dankbar, der diese Arbeit verrichtet, Adora. Ansonsten hätten wir keine Nahrung oder Strom.“
Adora verzieht das Gesicht.
„Heilfroh“, betont sie noch einmal.
„Überleg dir, ob du auch beim Jugendclub mitmachen möchtest, Selina! Du wirst so viele interessante Leute kennenlernen. Ich könnte dich weiterempfehlen. Es ist gut, die richtigen Leute zu kennen, verstehst du?“
Selinas Kollegin erhält des Öfteren Einladungen zu Veranstaltungen, die die Jugendelite, die Zukunft der Stadt, fördern wollen.
„Ich überlege es mir“, erwidert Selina halbherzig und ist froh darüber, in der Bibliothek angekommen zu sein. Vor dem Haupteingang steht eine Reihe von Controllern, vor denen sich Selina und Adora ausweisen müssen. An die morgendlichen Sicherheitsvorkehrungen hat sich Selina bereits gewöhnt. An die bedrohlich wirkenden Controller, die meistens stumm ihre Arbeit verrichten, nicht. Sie fand schon immer, dass die Controller eher Maschinen als Menschen ähneln, mit ihren schwarzen Anzügen und den Helmen, die an der Stirn mit einer rötlich gelben Sonne versehen sind.
Dazu sind ihre Augen von einer schwarzen Sonnenbrille verdeckt, die sie offensichtlich niemals absetzen. Während Selina darüber nachdenkt, stößt Adora sie leicht mit dem Ellbogen an.
„Wir kommen zu spät!“
Sie passieren die Haupthalle der Bibliothek und laufen zum Mitarbeitereingang, den Selina mit ihrem Chip aufschließt.
„Soll ich dir verraten, worum es am Sonntag in der Messe geht?“, möchte Adora weitererzählen, als sie sich entlang des schmalen Flurs in Richtung der großen Halle bewegen. Auf dieses kreisförmige Zentrum laufen die kleinen Bürokabinen aus allen Ecken des Raumes wie Bienenhäuschen zu. Gerade als Selina und Adora die Halle betreten wollen, hören sie Schreie.
Selina beeilt sich, um möglicherweise helfen zu können.
Neugierig verlassen auch Selinas Kollegen ihre Kabinen und versuchen, zumindest einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen. Einige begeben sich zum Schauplatz des Spektakels, um nichts zu verpassen. Selina muss aber feststellen, dass es sich um eine Verhaftung handelt. Ein junger Mann befindet sich bereits in den Fängen von zwei Controllern, die ihn festhalten. Selina erkennt den großen blonden Jungen wieder, den sie vor drei Monaten zu Beginn ihres Praktikums flüchtig kennengelernt hat. Anschließend wurden die Praktikanten unterschiedlichen Abteilungen zugeteilt, sodass Selina ihm nicht mehr begegnet ist. Sicherlich hätte sie ihn mit der Zeit kennengelernt. Der Junge müsste ungefähr in ihrem Alter sein, nicht älter als 17 Jahre. Er ruft verzweifelt:
„Lasst mich los! Ich schwöre, ich habe geschlafen. Die Augenringe habe ich, weil ich krank war. Fragt meinen Überwacher, meinen Supervisor! Bitte lasst mich los. Ich habe nichts getan!“
„Mike Harrison. Sie sind verhaftet. Sie werden dem Haftrichter vorgeführt. Leisten Sie keinen Widerstand“, erwidern die Controller kalt.
Ihre Stimmen klingen dabei auch merkwürdig, nicht menschlich, denkt Selina. Und wieder dieses bedrohliche Gefühl, das Selina gegenüber den Controllern empfindet.
„Lasst mich los!“, wiederholt der Junge währenddessen.
Selina überlegt, ob es vielleicht stimmt, was der Junge sagt. Er könnte aber auch ein Schlafloser sein. Das würde bedeuten, er war nachts wach und in den Straßen unterwegs. Was hat er dabei erlebt? Wie war wohl die Nacht für ihn? Doch dann ermahnt sie sich: Selina, sei nicht so neugierig! Was bedeutet
schon die Nacht? Sie dient der Erholung, damit die Menschen am Tag effektiv arbeiten können. Das war schon immer so. Es ist unnatürlich, sich dagegen aufzulehnen. Das Universum hat sich schon etwas dabei gedacht, dass die Menschen nachts schlafen ... Dabei bemerkt sie die Blicke ihrer Kollegin Adora, die sich gerne ihre Freundin nennt.
„Das ist einer von den Schlaflosen. Faule Säcke“, flüstert ihr Adora zu.
Schlaflose. Außenseiter. Unverbesserlich.
Sie müssen aus der Gesellschaft isoliert werden, sagen sie in Sun City.
‚Ein Schlafloser ist höchstens halb so effektiv wie ein Ausgeschlafener oder noch weniger. Wer nichts für die Gesellschaft tut, wer keine Solidarität zeigt, der verdient es nicht, von ihr zu profitieren‘, teilt auch der Pastor den Gläubigen während der morgendlichen Messe mit. Der Ton, der die Menschen abends zum Schlafen aufruft, funktioniert bei ihnen aus irgendeinem Grund nicht. Selina kann sich nicht dagegen wehren, Pastor Ellings Worte zu harsch zu finden.
Sie ertappt sich in letzter Zeit öfter bei gefährlichen Gedanken. Und Selina beginnt, sich Fragen zu stellen: Was ist der Grund für die Rebellion der Schlaflosen? Sie ist noch nie zuvor einem Schlaflosen begegnet, aber ihre Neugierde steigt, mehr über sie zu erfahren.
Und sie empfindet Mitgefühl mit dem jungen Mann.
Während Selina noch in Gedanken versunken ist, löst sich der Junge plötzlich aus dem Griff seiner Überwacher. Dabei ist sein Ruck so heftig, dass er kopfüber stürzt und sich mit dem Gesicht ganz nah bei Selina an einer Schreibtischkante stößt.
Die Controller lassen sich davon nicht beeindrucken und beobachten den Jungen lediglich dabei. Für einen Augenblick ist er Selina so nah, dass sie direkt in seine Augen sehen kann, die sie anstarren und förmlich um Hilfe bitten. Durch den Aufprall blutet er aus der Nase. Selina wünscht, sie könnte ihn auffangen, ihn trösten, ihn befreien. Aber was kann sie schon tun? Mutlos sinkt er auf dem Boden zusammen, als ob er seine Lebenskraft verloren hätte. Die Controller schleifen ihn schließlich weg. Die Zuschauenden freuen sich und klatschen über ihren Erfolg. Nur Selina versucht, ihre Tränen zu unterdrücken. Wenn sie sich auffällig verhält, könnten die Controller sie auch gleich mitnehmen. Plötzlich steht wieder Adora neben ihr.
„Geschieht ihm recht“, flüstert ihre Kollegin. Selina möchte den Jungen verteidigen, zögert aber widerwillig und wird dabei von der Supervisorin aus ihren Gedanken gerissen, die ermahnend in die Runde schaut.
„Ab an die Arbeit, ALLE!“
Nach dem Schreck und der Verhaftung, deren Zeugin sie gerade geworden ist, zittert Selina am ganzen Körper und zieht sich für einen Moment in ihre Kabine zurück. Auf ihrem Schreibtisch wartet aber bereits die nächste Überraschung auf sie: eine Notiz, die für sie hinterlegt wurde. Neugierig entfaltet sie das schwarze Blättchen mit der weißen Schrift:
„Träume lieber in der Nacht ...“
Panisch zerreißt Selina die Botschaft in kleine Stücke und überlegt, ob das ein dummer Scherz sein soll. Es könnte sogar Adora dahinterstecken. Zutrauen würde Selina ihr das jedenfalls, vor allem nach der Bemerkung über Schlaflose!
„Oder schicken mir neuerdings die Schlaflosen Nachrichten?
Und was wollen sie von mir?“, fragt sich Selina. Gegen Mittag kommt ihre Kollegin wieder vorbei.
„Selina, kommst du mit zum Sonnenbaden? Wir haben das ganze Dach für uns, der Himmel ist wolkenfrei!“
Selina überlegt, dass sie Adora nach dem Erhalt der merkwürdigen Botschaft nicht ignorieren darf und sich am besten wie gewohnt verhalten sollte. Außerdem kommt ihr eine Ablenkung gar nicht so ungelegen und etwas frische Luft würde ihr guttun. Auf dem Dach der Bibliothek sind Selina und ihre Kollegin unter sich.
Anscheinend hat Adora Selinas Stimmung bemerkt und jetzt nutzt sie die Gelegenheit, sie auszufragen:
„Ist alles okay bei dir, Selina? Du wirkst so abgelenkt. Hat das mit dem Jungen von heute Mittag zu tun?“
Selina versucht, ihr Entsetzen über die Frage zu verbergen, und gibt sich überrascht.
„Wie meinst du das? Ich fühle mich schon den ganzen Tag nicht wohl. Ich dachte, etwas frische Luft würde mir guttun.“
„Ach“, murmelt Adora.
„Du weißt, was mit ihm passieren wird?“
Sie grinst.
„Der wird bestimmt in einem Umerziehungslager verrotten ... Na ja ... bald wird sich das von selbst erledigen mit ihren Träumen und ihren Büchern ...“
„Wie meinst du das?“, fragt Selina neugierig.
„Ach, das wirst du schon früh genug merken“, erwidert Adora geheimnisvoll. Selina weiß, dass ihre Kollegin als eine überaus aktive und engagierte Sonnenanhängerin besondere Beziehungen zu gewissen Kreisen aus der Führungsriege von Sun City genießt. Seit Adora Mitglied im Jugendclub ist,
haben sich ihre Kontakte intensiviert. So gelangt sie zuweilen an gewisse Informationen, die noch nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind, somit auch nicht für Selina. Jetzt prahlt die Sonnenanbeterin mit Andeutungen.
Selina wird erst dadurch Adoras tiefer Glaube an die Sonne offenbar. Sie fragt sich, was sie zuvor an dieser unbarmherzigen, gemeinen Person mochte. Oder ist sie einfach nur blind gewesen? Es war keine Freundschaft, lediglich gute Zusammenarbeit unter Kolleginnen. Plötzlich fallen die Sonnenstrahlen direkt auf Selinas Gesicht und blenden ihre Augen so sehr, dass sie sie schließen muss. Ihre Kollegin lacht hingegen noch breiter und dreht sich freudig zur Sonne hin.
„Aber kein Grund, traurig zu sein“, sagt Adora.
„Diese Verrückten! Wer braucht denn die Nacht?“
Dann wird sie euphorischer.
„Ach, Selina, schau dir die Sonne an! Wieso haben sich diese Mondsüchtigen so? Denk immer daran, wenn du traurig bist ... Immer, wenn du sie brauchst, ist sie für dich da. Sie spricht dann zu dir ... Folge einfach der Sonne! Hörst du?“
FOLGE DER SONNE
Wenn du einfach traurig bist
Denk an mich, denk an mich
Ich habe für dich einen Rat
Und der hält ewig lang
Mit der Sonne auf dem Trip
Nimm mich mit, nimm mich mit
Schließ die Augen, stell dir vor
Fühlst dich so wie nie zuvor
Folge der Sonne ...
Bist du traurig immer noch
Und du bleibst in einem Loch
Ich werde dich zu mir bringen
Und dich pflegen und dich lieben
Mit der Sonne auf dem Trip
Nimm mich mit, nimm mich mit
Schließ die Augen, stell dir vor
Fühlst dich so wie nie zuvor
Folge der Sonne ...
Selina hält ihr Gesicht in die Sonne und saugt die Sonnenstrahlen in sich auf. Vielleicht hat Adora recht? Dann muss sie jedoch daran denken, wie sie eines Morgens überrascht den Tagesmond entdeckt hat. Wie wunderschön der Mond gewesen ist, der die Grenzen der Nacht nicht akzeptieren will.
An sich erinnern will. Die Nacht lässt ihre Spuren eben nicht so leicht verwischen, denkt sie. Selina fragt sich: Ist die Sonne ohne den Mond vielleicht gar nicht vollkommen? Diesen Gedanken behält sie aber lieber für sich. Denn diesen Teil der Botschaft hat Selina verstanden. Schließlich wurde ihr ausdrücklich mitgeteilt:
„Träume lieber in der Nacht ...“
Aber in der Nacht schlafen doch alle, überlegt Selina ...
Wie soll dann das Träumen möglich sein?
Seit dem Vorfall in der Bibliothek sind drei Tage vergangen und von den Schlaflosen hat Selina nichts mehr gehört.
Darüber ist sie zwar erleichtert, verspürt aber zugleich Bedauern. Selina weiß, als wie gefährlich es sich erweisen könnte, wenn sie sich nicht wie gewohnt bei der Arbeit benimmt.
Sollte sie das Praktikum innerhalb von sechs Monaten nicht erfolgreich abschließen, wird ihre Zukunft ungewiss sein.
Hierfür hat sie sich während der Schulzeit zu Hause besonders angestrengt.
So hat Selina in den letzten Tagen große Anstrengungen unternommen, sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren und sich auch Adora wieder anzunähern, weswegen sie ihre Kollegin mehrmals ins Sonnencenter begleitet hat. Adora hingegen hält sich ständig in Selinas Nähe auf oder versucht, sie davon zu überzeugen, ein aktiveres Mitglied der Gesellschaft zu werden. Selina traut Adora nicht, ist aber klug genug, ihre Kollegin nicht zusätzlich zu verärgern, indem sie sich von ihr distanzieren würde. Gleichzeitig hat Selina das Bedürfnis, sich zurückzuziehen und über die Geschehnisse nachzudenken.
Hastig verlässt sie an diesem späten Nachmittag die Zentralbibliothek und eilt zu den Gondelstationen. Die Strecke von nur zwanzig Minuten kommt ihr wie eine Ewigkeit vor.
Nach der Fahrt ist es nur noch ein kurzer Gehweg bis zu ihrem Reihenhäuschen, wie es alle Bewohner von Sun City bewohnen. Ihr Zuhause erinnert dabei an ein kleines Betonkästchen, das in geringem Abstand an das nächstgelegene Haus angrenzt. Großfamilien gibt es wegen der Ein-Kind-Politik ohnehin nicht in Sun City, also unterscheiden sich die Reihenhäuschen nur geringfügig voneinander. Sie verlaufen um das Stadtzentrum an der Grauen Mauer herum und erstrecken sich weit hinaus in alle Richtungen. Am äußeren Rand treffen sie dann auf die wichtigen Bebauungsfelder, wo ein Großteil der Sun City-Bewohner tätig ist. Die übrigen Bürger arbeiten in den Fabriken um die Stadt herum, wo sich wichtige industrielle Produktionsstellen befinden. Nur wenige haben das Glück oder die richtigen Verbindungen, um eine Beamtenposition zu erlangen.
Selina ist froh, zu Hause zu sein. Ihr kleines Häuschen ist funktional und mit allem Notwendigen ausgestattet. Mitten im Raum ist ihr Sofa aufgestellt und Selina verspürt das starke Bedürfnis, sich sofort hinzusetzen. Ihre Katze Midnight läuft ihr aus dem Schlafzimmer entgegen.
„Komm her, Midnight! Na komm!“, ruft sie ihrer Katze zu. Doch Midnight ignoriert Selina und geht auf die kleine Kochnische rechts zu, während er ihr zumiaut.
„Gut, du hast gewonnen“, erwidert Selina lächelnd und füttert ihn.
Während Midnight danach die Streicheleinheiten auf dem Sofa genießt, kann Selina endlich aufatmen.
„Träume lieber in der Nacht ...“
Was soll das bedeuten? In der Nacht schlafen doch alle, hat sie sich gefragt. Der Ton erklingt, sie schläft ein und am nächsten Morgen steht sie wieder auf. Was hat es dann mit diesen Träumen auf sich, fragt sich Selina. Sie würde gerne mit jemandem darüber sprechen, ihre Gedanken mitteilen, aber das kann sie nicht. Sie vertraut auch nicht ihrer Mutter. Im Gegenteil. Selina ist heilfroh darüber, dass ihre Mutter ihre Verabredung verschoben hat, weil ihre Zeit als besonders engagiertes Mitglied im Sonnencenter völlig beansprucht wird.
Dadurch gewinnt Selina vor ihrer Begegnung die Möglichkeit, ihre Gedanken und Gefühle zu ordnen. Selina fragt sich, ob die Botschaft tatsächlich von den Schlaflosen stammt. Falls ja – was wollen sie ausgerechnet von ihr?
An einen Scherz glaubt sie nicht mehr. Die Bibliothek ist mit mindestens 500 Angestellten besetzt und sie ist nur eine einfache Praktikantin. War die Nachricht lediglich eine Warnung an sie, weil sie ihre Emotionen bei der Gefangennahme des Jungen nicht im Griff hatte? Das bedeutet aber erstens, dass sie womöglich anderen Kollegen in der Zentralbibliothek aufgefallen ist, und zweitens, dass sich Schlaflose unter ihnen befinden! Sollte dies der Fall sein, haben sie in den letzten drei Tagen keine weiteren Kontaktversuche unternommen.
Bis zu diesem Abend vor der Einschlaf-Melodie. Selina hat sich bereits aufs Bett gelegt, als eine männliche Stimme sie aufhorchen lässt. Sie scheint aus dem Wohnzimmer zu kommen. Selina springt mit einem Aufschrei auf und fragt sich, ob sie etwa halluziniert. Die Stimme ruft nach ihr:
„Selina!“
Wer immer der Eindringling ist, er hat ihren Namen gerufen. So kurz vor dem Sonnenuntergang ist doch niemand mehr unterwegs, überlegt Selina. Und so etwas wie Einbruch
oder Diebstahl würde kein Sun City-Bewohner wagen oder für nötig erachten. Es sei denn ... Es sind die Schlaflosen! Sie empfindet bei diesem Gedanken keine Angst, eher Neugierde.
Die Stimme hat sie zwar aufgeschreckt, aber sie klang weich und melodisch. Selina versucht vom Bett aus, einen Blick in das Wohnzimmer zu werfen. Sie hat alle Lichter ausgemacht, bis auf die kleine Lampe auf der Kommode neben dem Eingang. Die Tür scheint auch geschlossen zu sein. Bis jetzt kann sie niemanden entdecken, aber sie richtet sich auf, um sich zu vergewissern. Es ist kurz vor Sonnenuntergang. Doch dann ertönt bereits der Ton, und als die Melodie beginnt, schläft Selina sofort ein und fällt mit dem Rücken auf das Bett zurück.
Morgens schleicht Selinas Katze ungeduldig um ihre Beine und verlangt ihre Aufmerksamkeit. Selina kapituliert lächelnd vor dieser Hartnäckigkeit und bückt sich, um Midnight zu streicheln.
„Okay, du kriegst dein Essen, mein Engel.“