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Als Loulous Mutter ihren neuen Freund Kenneth mit nach Hause bringt, ändert sich das Leben der Teenagerin schlagartig. Kenneth schaut sich dauerhaft schlimme Horrorfilme an, die Loulou mit ansieht. Schon bald kann das junge Mädchen die Filme nicht mehr von der Realität unterscheiden und gerät in eine Abwärtsspirale, sie nimmt die Verhaltensweisen der Menschen aus den Filmen an und wird zunehmend gemeiner und gefühlsloser. Erst als sie den Blick öffnet für die Schrecken der Wirklichkeit beginnt sie langsam wieder die reale Welt zu sehen."Die Bücher von Fanny Hedenius sind herzlich und warm erzählt und wecken bei einem allerlei menschliche Gefühle. Von diesen Büchern bekommt man einfach gute Laune!" – Ingegärd Martinell, AB-
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Seitenzahl: 167
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Fanny Hedenius
Aus dem Schwedischen von Regine Elsässer
Saga
Die Schlange und die Krone
Übersezt von Regine Elsässer
Titel der Originalausgabe: Ormen och kronan
Originalsprache: Schwedischen
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1989, 2021 Fanny Hedenius und SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726966169
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
www.sagaegmont.com
Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com
Meine Jacke ist wunderbar. Sie ist aus dickem Samt. Wenn man sie abwärts streichelt, wird sie graublau, aber wenn man mit der Hand aufwärts streicht, ist sie fast schwarz. Unten an den Ärmeln sind Silberfäden, aber sie hat keine sichtbaren Taschen. Innen im Futter gibt es allerdings verschiedene Geheimfächer. Die finde nur ich – und Mama natürlich, denn sie hat sie ja genäht. Sie näht alle meine Kleider, aber die Jacke ist schon mein bestes Stück. Der Kragen ist aus Otterfell. Er riecht ein bißchen merkwürdig, sie hat ihn auf dem Flohmarkt gekauft. Wenn unsere Jacken alle zusammen vor dem Klassenzimmer hängen, sieht man, daß alle in die gleiche Klasse gehen. Aber meine ist besonders. Sie ist ganz speziell für mich gemacht, und das sieht man.
Deswegen habe ich natürlich auch sofort gemerkt, daß jemand sie in der Hand gehabt und sie schlampig an die falsche Stelle mitten unter die Sachen der Jungen gehängt hat. Wir kamen vom Essen, und ich drehte mich um, um zu sehen, wer ein schlechtes Gewissen hatte. Es dauerte eine Weile bis ich kapierte, was los war. Erst wurde es nur voll um mich herum, so voll von Jungen, daß ich mich nicht zu den Kleiderhaken durchkämpfen konnte.
„Her mit der Jacke!“ schrie ich, weil ich wütend wurde, als ich merkte, daß ich eingeschlossen war.
„Der geht es doch gut hier“, sagte Kristian. „Schließlich darf sie neben meiner hängen. Guck mal, wie nett!“
Er stellte sich vor alle Jungen und machte vor, wie seine alte schmutzige Cordjacke die Arme um meine legen konnte. Er legte seine Wange an den Pelzkragen, verdrehte die Augen und sagte: „Mhmmm, ooohhh!“
Er steckte seine Nase ins Fell und schnüffelte. Als ob dieser etwas modrige Geruch ganz besonders wunderbar wäre. Manchmal ist er so indiskret, daß ich gerne explodieren würde, um ihn in kleine Stücke zu sprengen. Aber das ging nicht, und all die anderen, die sich um mich drängten, waren noch schlimmer. Gunnar, dieses häßliche Gespenst, hielt mir den Arm mit einem festen Griff auf den Rücken, daß ich mich überhaupt nicht bewegen konnte, obwohl ich größer und stärker bin als er. Er blies mir in den Nacken und war einfach ekelhaft.
„Was soll das denn, laß mich los, du fieser Kerl, laßt mich in Ruhe, haut ab, oder ihr könnt was erleben!“
Die Jungen lachten alle nur und schubsten und drängten um mich herum. Man merkte, daß sie irgend etwas Bestimmtes vorhatten. Sie bewunderten wie immer Kristian. Er zog eine richtige Schau für sie ab. Er streichelte das Jackenfutter, und seine Augen glänzten. Wenn er bloß nicht die geheimste Innentasche fand, wo ich ein Foto hatte – von ihm nämlich! Er machte so viel blödes Zeug mit meiner Jacke, daß ich fast ohnmächtig wurde vor Zorn, er tanzte Tango mit ihr und so.
„Eva! Agnes! Åsa!“ Ich rief die stärksten Mädchen in der Klasse. Ich wußte, daß sie kommen würden, ich hatte überhaupt keine Angst, ich war nur zornig. Das merkte Kristian. Ich sah, wie er die Lust verlor. Aber er mußte trotzdem weitermachen. Er konnte ja nicht vor den anderen zugeben, daß er von meinem Blick gebannt wurde. Aber er brauchte nicht länger als eine Minute zu spielen, daß er den Affen machte. Zum Glück klingelte es und alle liefen weg. Er warf mir die Jacke über den Kopf und verknotete die Ärmel um meinen Hals. Er ging als letzter. Ich hörte seine schlurfenden Schritte. Aber er ging doch nur deshalb ins Klassenzimmer, weil es klingelte.
Göran, unser Lehrer, hat sich etwas Neues einfallen lassen, was ich gar nicht leiden kann. Er zählt die Minuten, die man zu spät kommt, und dann muß man nach der Schule doppelt so lange dableiben. Seine Ideen zünden, wenn sie neu sind, aber nicht bei mir. Ich kann ein ganzes Nachsitzen lang nur dasitzen und ihn anlächeln, daß er ganz nervös wird. Das macht mir Spaß. Er wird total unruhig und weiß am Ende nicht mehr, wo er hinschauen soll. Er ist so lächerlich, wenn er gleichzeitig wegschauen und herschauen will. Er würde mein Nachsitzen bestimmt am liebsten ausfallen lassen, wenn er sich das vor den anderen trauen würde. Aber die werden natürlich sauer, wenn er ungerecht ist.
Und jetzt stand ich allein in meiner Jacke da und muß überlegen sein. Wenn man in eine Situation gerät, in der man lächerlich wirken soll, dann ist das Dümmste, was man machen kann, sich zu eilen. Wenn man seine Würde behalten will, muß man langsam machen. Ich blieb eine Weile im Dunkel der Jacke stehen. Deshalb bemerkte ich schwache Spuren von Kristians Geruch drinnen. Er ist der einzige in der Schule, der mich interessiert. Ich erkenne seinen Geruch unter all den nichtssagenden Gerüchen. Er ist der einzige, der mich traurig und froh und ärgerlich machen kann. Deshalb muß ich ihm zeigen, wo sein Platz ist.
Als ich noch darüber nachdachte, wie, knotete ich ganz langsam die Ärmel auf und kam wieder ins Helle. Ich streckte den rechten Zeigefinger in den Aufhänger, schüttelte die Jacke aus und dann streichelte ich sie und legte meine Wange an den Kragen. Ja, genau! Es ist meine Jacke, und die streichele ich so viel ich will.
Als ich mich umschaute um zu sehen, ob mich jemand beobachtete, wurde ich stutzig. Ach so! Jetzt verstand ich den Witz der ganzen Vorstellung. Sie wollten, daß ich etwas zu sehen bekäme – nämlich, was in das gelb gebeizte Brett eingeritzt war, in dem die Kleiderhaken festgeschraubt sind. An dem Platz neben Kristians Jacke, genau da, wo sie meine hingehängt hatten, las ich meinen Namen: LOU-LOUstand da in großen Buchstaben. Und dann etwas kleiner: ist hübsch. Und dann noch mehr: Wer dafür ist, daß Loulou am sexysten in der Klasse ist, macht hier ein Kreuz! Überall um meinen Namen herum wimmelte es nur so von Kreuzen. Bleistiftkreuze und Kulikreuze und weiße eingeritzte Kreuze drängelten sich ganz genau so, wie sich die ekligen Kerle um mich gedrängt hatten. Ich schüttelte die Jacke noch mal extra kräftig aus, damit das eingeschlossene Gefühl verschwand, und dann rieb ich mir den Nacken, bis die Haut brannte, weil ich das Schaudern vor Gunnars Atem los sein wollte.
Es war nicht schwer zu erraten, wer das hier arrangiert hatte. Verdammter Kristian! Das würde er büßen! Ich ging direkt aufs Klassenzimmer zu und riß die Tür auf. Jetzt saßen sie alle mucksmäuschenstill da und schauten.
„Kristian! Ja, genau du! Komm her!“
Kristian wurde so rot, als ob der Direktor höchstpersönlich ihn gerufen hätte. Dann wand er sich wie ein Wurm und versuchte gleichzeitig, cool auszusehen. Peinlich!
„Komm jetzt her! Sofort!“
Ehe ich mit dem Fuß aufstampfen konnte, war er aus seiner Bank aufgestanden. Göran saß auf dem leeren Platz neben Ann-Katrin, da sitzt er oft, weil sie so viel Hilfe braucht. Die beiden Dösköppe waren gemeinsam in ein schwieriges Problem vertieft – sehr schwierig offenbar, weil sie nämlich die einzigen waren, die mich nicht anschauten. Als Kristian einen entschuldigenden Blick in Görans Richtung schickte, der ungefähr sagte: „Du siehst ja, Loulou ist nun leider total verrückt geworden, was soll man machen, es ist besser, sie nicht noch mehr zu reizen“ – war das überflüssig. Von Göran bekam er keine Hilfe, er mußte zu mir herauskommen.
„Aber Loulou ... was ist denn ...“
Er wollte verständnisvoll und ruhig klingen, damit meine Wut lächerlich wirkte.
„Idiot! Stell dich nicht dümmer an, als du bist! Das ist nicht nötig!“
Ich streckte schnell meinen rechten Arm vor und packte ihn am Hals. Ich drückte ihm meine Nägel in die Haut, und die waren wahrlich nicht kurzgeschnitten. Ich schubste ihn vor mir her und stieß ihn in seine schmuddelige Cordjacke. Dann griff ich ihn mit beiden Händen von vorne am Kragen, daß er kaum mehr Luft bekam und schnaubte:
„Du hast das hier geschrieben!“
„Aber du siehst doch, daß auch andere ...“
Ich schüttelte ihn, bis er still war. Als ich merkte, wie viel stärker als er ich in dem Moment war, erschrak ich und ließ ihn sofort los.
„Laß mich aus deinen saublöden Wettbewerben raus. Ich will von deinen Abstimmungen nichts wissen! Nimm, wen du willst, wenn du dich aufspielen willst. Nimm Danja! Oder Berit. Oder sonst wen. Vielleicht Ann-Katrin? Aber nicht mich. Hast du verstanden? Vor der nächsten Pause ist das hier weg! Geh in den Werkraum und hol Schleifpapier! Und zwar sofort!“
Als er sich von mir losgemacht und ein paar Meter Luft hatte, kam er wieder zu sich und sagte mit seinem normalen überlegenen und fröhlichen Lachen:
„Aber sicher doch. Dir zuliebe. Weil du am sexysten bist!“ Er drehte sich um und ging Richtung Werkraum, frei und cool und stolz. Das mag ich. Ich mag ihn am liebsten von hinten. Ich ging ins Klassenzimmer, setzte mich in meine Bank und arbeitete in aller Ruhe. So ein kleiner Krach zwischendurch ist gar nicht so dumm, vor allem, wenn man gewinnt. Ich schaute abwechselnd in mein Schwedischbuch und zur Glastür, weil ich auf Kristian wartete.
„Warum weinte Lisa?“ – „Hätte ihr jemand helfen können?“ – „Was hättest du an Lars’ Stelle gemacht?“ Die Fragen paßten in den Text wie die Knopflöcher in eine Bluse. Ich malte alle Antworten hinein wie eine Reihe gleicher Knöpfe. Es war leicht. „Du“ meinte hier glücklicherweise nicht Loulou, sondern den Verfasser des Schulbuchs. ,Was hätte der Verfasser des Schulbuchs an Lars‘ Stelle gemacht?‘ Das konnte man sich leicht ausrechnen. Nur weil ich so denken kann, geht für mich in der Schule alles leicht wie ein Tanz.
Für Göran geht überhaupt nicht alles wie ein Tanz. Er versucht, selbst zu denken, und das geht selten gut. Jetzt dachte er wohl, daß Kristian und ich einen wichtigen Krach hatten, und daß es für ihn am einfachsten wäre, wenn wir das untereinander regelten. Da hätte er ausnahmsweise mal richtig gedacht. Aber als er dann sah, wie Kristian mit einem Messer und Schleifpapier auf das Brett zwischen den Kleiderhaken losging, da glaubte er wohl, daß er nun eingreifen müßte. Er machte die Tür auf und fragte, was das zu bedeuten habe.
„Hier haben Vandalen gehaust, und ich wollte das wieder wegmachen. So kann es ja wohl nicht bleiben. Das siehst du doch ein, nicht wahr?“ sagte Kristian überlegen, und Göran nickte dankbar, denn er wird immer von den Putzfrauen ausgeschimpft, wenn wir Schmutz oder etwas kaputt gemacht haben, sie kriegen ihn leicht dran. Er kann sich überhaupt nicht wehren, an ihm ist nichts Böses. Das ist sein Fehler – er macht statt dessen andere böse, wenn er so ist.
Als Kristian fertig war, kam er wieder herein, setzte sich und schrieb in sein Buch: „Weil sie eine Heulsuse war“ – „Sie selber, wenn sie sich ein bißchen zusammengenommen hätte“ – „Sie gehen lassen“. Er ist nicht immer so, aber er kann keine Gelegenheit auslassen, Göran zu ärgern. Ich verstehe nicht, woher er die Energie nimmt. Göran ist langweilig. Er wird bestimmt nur mit rot an den Rand schreiben, daß Kristian in ganzen Sätzen antworten sollte.
Ich war bald fertig mit meinem schönen Band von ordentlichen Antworten. Ich schreibe gerne schön. Das ist fast wie Sticken. Ich hatte also reichlich Zeit, durch die Glastür in den Flur hinauszuschauen und zu bewundern, was Kristian für mich gemacht hatte. Er hatte zwischen den Haken eine total saubere Stelle freigeschliffen. Ich schrieb verschnörkelte Luftbuchstaben drauf, aber nur mit den Augen und in Gedanken. Ich schrieb über mich und Kristian. Ich werde nie jemandem erzählen, was für Wörter das sind. Ich weiß sowieso, was auf der leeren Stelle steht, die hell und sauber leuchtet. Hoffentlich dauert es, bis sie wieder gebeizt wird.
Als die Schule aus war, tat ich so, als ob ich meinen Tisch aufräumen wollte. Ich wollte nicht mit Åsa und Camilla zusammen gehen, sie wohnen in meiner Richtung. Ich halte es nicht aus, immer jemanden um mich zu haben. Camilla hat einmal gesagt, daß sie gerne immer so mittendrin wäre, wie sie glaubt, daß ich bin. Das mag sein, sie wird ja immer grauer, je weiter zum Rand hin sie kommt. Aber ich will hin und wieder meine Ruhe haben.
Mein Heimweg war zugeschneit. Der Boden war weiß und in der Luft wirbelten die Flocken, die immer weiter fielen und fielen. Ich blieb stehen und hob das Gesicht. Da bekam ich kleine Küßchen, die gleich wieder schmolzen, eins an den Haaransatz, eins auf die Nasenspitze und zwei auf die linke Wange. Als ich so dastand und auf die nächsten wartete, fühlte ich mich plötzlich wie ein kleiner fröhlicher Eisstern in all dem großen Weißen. Ich kniff die Augen zu, um es richtig zu spüren, aber da verschwand es.
Das machte nichts. Es war trotzdem eine Wohltat, zwischen der Schule und Mama stillzustehen und einfach Loulou zu sein. Ich hatte neue Stiefel an, meine Spuren im Schnee waren ganz deutlich, eine lange Reihe gezackter Pfeile, die genau auf mich zielten. Ich war das Ziel. Das sah lustig aus.
Aber gerade weil ich so dastand und darüber nachdachte, daß meine Schritte zu einem glücklichen Punkt führen, gerade deshalb wurde ich von hinten überrumpelt. Egal wer gerade in diesem Moment gekommen wäre, er hätte mich gestört. Aber es war ja nicht mal irgendwer. Sondern es war derjenige, den ich am allerwenigsten ausstehen kann – ein großer, häßlicher Kerl mit Schnurrbart und weiter Jacke. Alles, was der macht, ist verkehrt, und alles, was der sagt, ist verkehrt. Und wenn er nichts macht und nichts sagt, dann ist das auch verkehrt, weil er dann fast noch mehr existiert. Außerdem sieht er blöd aus. Er hat auch einen Namen. Ich würde mich schämen, wenn ich so einen Namen hätte. Er heißt Kenneth und findet sich ganz in Ordnung.
„Hallo“, sagte er.
Ich nahm Herrn Buster in den Arm und steckte ihm den Zeigefinger so in den Mund, daß er heulte. Herr Buster ist meine Schultasche, die Mama in Form von einem Hund genäht hat. Er hat keine Zähne, aber eine lange, glatte Seidenzunge. Ich habe das nicht getan, um Kenneth zu ärgern, das ist vergebliche Mühe – er hat null Gefühl – sondern nur, um was zu machen.
„Hallo, habe ich gesagt!“ wiederholte er.
„Mhm. Was ist?“
„Ich komme noch nicht gleich nach Hause.“
,NACH HAUSE!‘ Er sagt ,nach Hause‘, wenn er die Wohnung meint, wo ICH wohne. Mit meiner Mama und meinem kleinen Bruder, der David heißt. Wir wohnen zu Hause. Aber Kenneth! Er ist halt da. Und sitzt am Tisch und ißt in einem fort. Und das auch noch irgendwie eklig. Und wenn er nicht ißt, dann kann er nicht den Mund aufmachen, ohne etwas Verkehrtes zu sagen.
„Ich werde was für uns besorgen. Was Besonderes.“ ,Für uns.‘ Aus seinem Mund kommen wirklich bloß Kröten. Ich steckte die kleinen Finger in Herrn Busters Augenwinkel, er bekommt dann diesen verschlagenen Blick, den ich so mag, und hob seinen Kopf in Richtung Kenneth.
„Deine Mutter braucht nämlich ein bißchen Entspannung. Und dafür werde ich sorgen.“
Aber nein! Ich steckte meine Kinnspitze in den Pelzkragen, es war doch zu peinlich. Papas, die zu Hause wohnen, es soll ja wirklich noch welche geben, die nennen die Mama ,Mama‘, klar, oder beim Namen. Kenneth nennt meine Mama ,deine Mutter‘ oder ,kleine Alte‘ weil sie 10 Jahre älter ist als er. Außer wenn sie sich streiten, da nennt er sie Liebling. Und im Zusammenhang mit Mama von ,Entspannung‘ zu reden! Mama macht immer das, was sie will, sie braucht keine Entspannung. Ich habe sie noch nie entspannt vor dem Fernseher oder beim Kaffeeklatsch oder in einer Illustrierten blättern sehen. Sie will nähen.
Sie macht nichts anderes, wenn sie zu Hause ist. Manchmal putzt sie, aber nur, wenn etwas Besonderes passiert ist, worüber sie nachdenken muß. Ab und zu arbeitet sie auch gerne bei der Post, aber eigentlich nur, weil ihr nicht jeden Tag und immer etwas einfällt. Und weil sie Geld braucht für uns natürlich.
„Sie arbeitet sich nämlich kaputt. Sie hört und sieht nichts anderes mehr. Ist dir das aufgefallen? Nimmt immer mehr ab. Ist dünn wie ein Strich. Genau das. So sieht sie aus. Sie braucht Entspannung. Und die werde ich ihr verschaffen.“
Entspannung! So ein Idiot! Ich schnaubte ihn nur an, menschliche Sprache versteht er nämlich nicht.
„Tschüs, Mädchen. Wir sehen uns.“
Wir sehen dich. Und zwar zu viel. Er wackelte davon wie eine große, häßliche graue Krähe gegen den weißen Schnee. Die Fußspuren sehen ganz gerade und richtig aus. Woher kommt dann bloß dieser schlenkrige Eindruck? Irgendwas mit seinen Armen stimmt nicht, und außerdem wackelt er mit dem Kopf.
Dachte ich. Aber dann fegte ich diese Gedanken zusammen und warf sie weg. Ich lief mit fröhlichen Sprüngen nach Hause, weil ich mich darauf freute, daß Mama allein war.
Als ich an diesem Nachmittag nach Hause kam, war im Wohnzimmer nicht die gleiche wilde Unordnung wie sonst. Es sah so aus, als ob Mama etwas, womit sie sich sehr lange beschäftigt hatte, irgendwie in den Griff bekommen hätte.
Es ist nicht ganz einfach zu erklären, was sie macht. Sie näht immer, wenn sie nicht bei der Post arbeitet. Aber sie näht keine Kleider, die jemand anziehen könnte. Sie macht so eine Art Objekte. Sie kann zum Beispiel eine Spanplatte hell graublau anmalen und dann ein paar Kleiderreste drüberhängen und einen Schuh annageln, daß es einem einen Stich ins Herz vor Sehnsucht gibt, wenn man es anschaut.
Sie macht weit offene Reisetaschen und halboffene Taschen, aus denen Sachen quellen, Sachen, die sie festnietet oder -klebt. Wenn man so eine Tasche anschaut, hat man sofort ein Gefühl von hastiger Abreise oder glücklicher Ankunft. Das heißt, David und ich, wir verstehen das. Ich bekomme Angst, wenn ich daran denke, wie fremde Menschen reagieren könnten, Menschen, die nicht wissen, wie unsere Mama denkt.
Sie selbst bekommt überhaupt keine Angst, wenn sie daran denkt. Sie will eine Ausstellung in der Bibliothek organisieren. Und sie macht das auch bestimmt irgendwann, sie fantasiert nie ins Blaue. ,Marianne Leanders Kleider und Textilien‘ soll die Ausstellung heißen, und die Leute werden in Scharen kommen und schauen. Aber sie werden sich wundern. Das, was unsere Mama macht, ist so das Gegenteil von Kleidern, wie es schlimmer nicht sein könnte.
Im Moment arbeitet sie an einer Kiste, die Medea heißt. Sie sieht eher wie ein nacktes Geschrei aus. Es ist schrecklich dunkel. Unten auf dem Boden sind Babyhemdchen, die David und ich anhatten, als wir ganz klein waren. Es sind sehr feine Hemdchen mit Spitzen und Stickereien und Hohlsäumen und Rüschen und Bändern und außerdem einem Monogramm. Eine normale Mama würde sie aufheben, sauber gewaschen und gebügelt, in einem Schrank zu keinem Nutzen. Aber Mama hat sie mit roter Zauberknete festgeklebt und mit weißen Hühnerfedern zu einem einzigen Knäul vermischt. Ein kleiner Ärmel paßte nicht rein, hängt draußen und winkt traurig mit zerrissenen Spitzen, die Mama absichtlich kaputtgerissen hat, damit es noch grauslicher aussieht.
Als ich zur Tür hereinkam, sah ich, daß sie diesmal eine Schlange in Arbeit hatte, die mit in die Medeakiste sollte. Sie war aus grünem Duchesse – das ist ein glänzender Stoff – und sie war widerspenstig.
„Ist das eine Klapperschlange?“
„Meinst du? Es ist vielleicht der beste Freund und Ratgeber dieser Hexe.“
„Die Ärmste.“
„Mach eine Sicherheitsnadel am Schwanzende fest. Und dann dreh das Ganze um. Bitte.“
„Ich ziehe nur meine Jacke aus.“