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Der Jugendroman "Camillas Zimmer" handelt von Camilla, einer jungen, leidenschaftlichen Balletttänzerin. Ihre Liebe zum Tanzen hält sie in ihrer Heimat, während ihre Eltern in Urlaub fahren, da das junge Mädchen keine Tanzstunden verpassen möchte.Während dieser Zeit findet Camilla von Tag zu Tag mehr zu sich selbst, nachdem sie jahrelang stark von ihrer Mutter eingenommen wurde und sich nicht selbst weiterentwickeln konnte. Sie schafft Platz in ihrem Zimmer um Freiraum zum Tanzen zu haben- ebenso schafft sie Platz in ihrem Inneren um zu sich selbst zu finden und frei zu sein."Die Bücher von Fanny Hedenius sind herzlich und warm erzählt und wecken bei einem allerlei menschliche Gefühle. Von diesen Büchern bekommt man einfach gute Laune!" – Ingegärd Martinell, AB-
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Seitenzahl: 151
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Fanny Hedenius
Übersezt von Regine Elsässer
Saga
Camillas Zimmer
Übersezt von Regine Elsässer
Titel der Originalausgabe: Hjärtan och stjärnor
Originalsprache: Schwedischen
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1986, 2021 Fanny Hedenius und SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726966145
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
www.sagaegmont.com
Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com
Ich will nicht weinen, wenn ich wütend bin
„Du sollst uns nicht kritisieren.“
„Ich kritisier euch ja auch nicht. Ich sage ja nur, daß ich nicht mitfahren will.“
„Was ist denn nur los? Camilla, mein Kind! Was ist denn in dich gefahren?“
Mama legte ihre kühle Hand auf meinen Unterarm. Sie beugte sich vor, damit sie mir vorwurfsvoll ins Gesicht schauen konnte. Aber ich zog schnell meinen Arm weg und drehte den Kopf zur Seite. Mir wurde plötzlich ganz kalt. Ich schauerte.
Papas Stimme summte, sie klang fast vergnügt: „Das ist ja schrecklich! Was machen wir denn jetzt? Das Mädchen ist natürlich verliebt.“ Er lief schnell durchs Zimmer, er war aufgeregt und fröhlich, weil ihm eine Idee gekommen war. „Meine liebe Bi!“ (So nennt er Mama.) „Meine liebe Bi! Unser beider kleine Tochter ist vor lauter Liebe albern und widerspenstig. So ist es.“ Er ging auf die halboffenen Schiebetüren zu und rannte in die Bibliothek. Von da rief er: „Irgendein Schuft hat ihr den Kopf verdreht, verstehst du, und jetzt hält er sie hier in der Stadt fest.“
Er stellte sich auf die Zehenspitzen und wippte ein paarmal. Dann kam er zurück und stellte sich hinter den blauen Sessel, in dem Mama saß. Er legte seinen Arm um sie. Sie streichelte seine Hand und gleichzeitig ihre eigene Schulter. Ihre hellen Augen starrten mich an, oder sie starrten etwas hinter mir an. Dieser Blick machte mich unsicher.
Papa fuchtelte mit seinem freien Zeigefinger vor meiner Nase herum:
„Aber mit solchen Faxen mußt du warten, bis du alt genug bist! Hast du das verstanden?“ Er legte seine Wange tröstend an Mamas Wange.
„Aber Camilla! Du bist doch überhaupt noch nicht reif für so etwas! Erzähl uns jetzt mal ganz genau, was passiert ist!“ Mamas Augen wurden ganz groß und schauten enttäuscht und traurig. Sie ist unwiderstehlich, wenn sie einen auf diese ganz spezielle Art anschaut. Obwohl ich so wütend war, nahm ich doch noch wahr, daß sie schön und traurig war. Aber das war mir ausnahmsweise egal. Ich wußte, daß sie noch trauriger werden würde, und daß sie sogar Kopfschmerzen bekommen würde. Aber das war mir jetzt egal.
„Ich bin weder geliebt noch bin ich verliebt, und ich fahre nicht mit euch nach Kreta! Und es ist auch nichts Besonderes mit mir passiert. Ihr habt euch was Besonderes einfallen lassen: mitten im Schuljahr eine Woche wegzufahren!“
„Papa und ich, wir arbeiten beide sehr viel. Deshalb können wir dir und Johan und Henrik eine solche Reise schenken.“
„Ihr schenkt ja nicht, ihr fordert. Ihr verlangt von mir, daß ich dort bin und nicht hier.“
„Aber was ist denn hier so wichtig? Es ist natürlich ein Junge. Erzähl Papa jetzt alles!“ Er hatte Mama plötzlich losgelassen und war auf mich zugekommen. Er legte seine Hände an meine Backen und schaute mich neugierig und anerkennend an, ja wirklich anerkennend. Er interessiert sich nämlich wahnsinnig für die Liebe. Ich spürte seine weiche Haut und den zarten Duft nach Nelken, aber nur eine halbe Sekunde, seine Hände waren mir jetzt egal.
„Nein habe ich gesagt! Es ist kein Junge. Warum hört ihr mir denn nicht richtig zu?“
Ich stand schnell auf und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. Laut. Und ein paarmal. Sofort kamen Moses und Beelzebub angesprungen und stellten sich neben mich. Moses leckte meinen Fuß, und Beelzebub rieb sich an meiner Hüfte. Daß die beiden bei mir waren, war ein Gefühl, wie in einen warmen Mantel eingewickelt zu sein. Ich ging in die Hocke und legte den Arm um Beelzebub. So fühlte ich mich sicherer, aber ich war auch kleiner, wenn ich mich so zusammenkauerte. Ich stand also sofort wieder auf.
„Ihr hört mir nicht richtig zu! Ihr habt mir überhaupt noch kein einziges Mal richtig zugehört. Wenn ihr mir zugehört hättet, dann würdet ihr euch jetzt nicht wundern. Ich habe die ganze Zeit gesagt, daß ich nicht mitfahren will. Und Mama geht trotzdem in die Schule und fragt meinen Lehrer, ob ich frei bekomme. Sie fragt für mich. Was soll der denn jetzt von mir denken? Daß ich so vergeßlich bin und keine Formulare mit nach Hause nehmen und die Freistellung beantragen kann? Das hätte ich schon gemacht, wenn ich gewollt hätte. Aber ich wollte nicht.“
„Aber warum denn nicht? Warum nur, mein liebes, kleines Mädchen?«
Jetzt waren sie beide gleich besorgt und erstaunt.
„Weil ihr mir nicht zuhört! Weil ihr mir noch nie zugehört habt, und weil ihr mir auch auf Kreta nicht zuhören würdet. Deswegen.“
Beelzebub knurrte und Moses lief unruhig hin und her. Als ich nichts mehr sagte, stellten sie sich wieder ruhig und warm neben meine Beine.
„Jetzt wirst du unlogisch. Du bist ja überhaupt noch nie auf Kreta gewesen.“
„Nein, aber ich habe mit euch und Johan und Henrik eingeschneit in einer Hütte in Jotunheimen gesessen, und ich habe mit euch, Johan und Henrik bei Wind und Wetter in einer Ferienwohnung in Saint-Malo gesessen. Und es war immer gleich. Und es wird auch diesmal so sein.“
Und dann mußte ich weinen. Das war ärgerlich. Ich will nicht weinen müssen, wenn ich wütend bin.
„So ein verwöhntes Mädchen!“
Sie schauten sich an und schüttelten den Kopf.
„Niemand hört mir zu. Mama schmeichelt sich bei Johan und Henrik ein, weil es nicht ihre eigenen Kinder sind, und weil es so gutaussehende junge Männer sind. ,Reizende junge Herren‘, sagst du immer, Mama. Und Papa beschäftigt sich auch die ganze Zeit mit ihnen, weil er sie so selten sieht. ,Meine tollen Buben‘, sagt er. Und mich verwöhnt ihr. Das ist das einzige, wofür ihr mich brauchen könnt. Ich soll brav sein und in die Hände klatschen, weil ihr ,so viel arbeitet‘. Ich soll Beifall klatschen und euch deswegen trösten. Ihr arbeitet immer so viel. Und wenn ihr nicht arbeitet, dann wollt ihr gelobt werden, weil ihr so viel gearbeitet habt. Ich arbeite auch, aber ich brauche euer Lob nicht, weil ich nämlich nichts lieber tue als arbeiten.“
„Aber wir finden es doch auch prima, daß du so gut in der Schule bist.“
„Es ist doch nicht die Schule! Habt ihr noch nicht einmal das kapiert? Wozu habt ihr eigentlich euren Kopf? Seid ihr blind und taub? Schwachsinnig? Es ist das Ballett. Ich will wegen eurer doofen Touristenreise keine drei Tanzstunden versäumen!“
„Jetzt reicht es aber!“
Mama stand auf, sie war steif wie eine Eiskönigin. Papa guckte verstört. Er schaute natürlich nicht mich an, sondern sie. Er bekommt immer Angst, wenn sie wütend wird.
„So etwas müssen wir uns nicht anhören! Verschwinde!“ sagte Mama und bekam ganz weiße Lippen.
Ich rannte raus. Moses und Beelzebub trotteten hinter mir her. Ich knuffte sie weg und nahm Jacke und Schal. Die Haustür schlug hinter mir zu, daß es vom Haus gegenüber widerhallte. Habe ich die Tür zugeknallt? Ich hatte das Gefühl, daß ich das nicht war. Ich hatte das Gefühl, daß ich in einer rasenden Bahn saß und daß eine Station hieß: Knall die Tür zu!
Ich hatte gar nicht gewußt, daß ich so wütend auf diese Kretareise war, bis ich mich selbst darüber schimpfen und schreien hörte. Ich hatte geglaubt, daß ich bloß keine Lust habe.
Die gelben Stoffschuhe
Es war kalt, und ich ging sehr schnell. Ich fror und fing wieder an zu weinen. Wie ist es denn so weit gekommen? Ich schämte mich. ,Schwachsinnig‘, das sagt man zu Klassenkameraden, aber nicht zu den Eltern. Es stimmt natürlich, daß sie nie zuhören, aber das haben sie auf jeden Fall gehört. Was will ich ihnen eigentlich sagen? Nichts. Ich habe nichts zu sagen. Johan und Henrik können dauernd irgendwelche lustigen und interessanten Sachen erzählen, deswegen hört man ihnen auch zu. Aber ich habe wirklich nichts zu erzählen. Kein Wunder, daß sie sich nicht für mich interessieren. Ich habe nur den Tanz. Und darüber kann man nicht reden.
Platsch! Genau in die Pfütze! Ich merkte, daß ich bloß meine gelben Stoffschuhe anhatte. Ich wurde wieder wütend. Die Tür zuknallen! In Stoffschuhen auf die Straße gehen! In Pfützen treten! Und zu Hause sitzen sie im Sessel und schütteln den Kopf.
Ich war jetzt schon fast bei den Wohnblocks und der Schule. Da fiel mir plötzlich ein, wann ich das letzte Mal so wütend war. Das ist einige Monate her. Es war im Dezember, und Danja wurde von unserer Klasse zur Lucia gewählt, aber ,nur zum Spaß‘. Als ich damals so wütend wurde und schrie und die beschimpfte, die Danja so weh getan hatten, da begriff ich plötzlich mit dem ganzen Körper, wie abscheulich es ist, einen Menschen nicht ernst zu nehmen und sich einen Spaß mit ihm zu machen. Und ich spürte, wie schrecklich es sein muß, nicht wirklich gemeint zu sein. Weil ich selbst... Gibt es mich nicht wirklich? Jetzt weinte ich wieder, und ich weinte ganz viel. Was haben Mama und Papa mir eigentlich getan? Nichts. Ich hatte das Recht, für Danja wütend zu werden, aber nicht für mich selbst.
Ich zog die Nase hoch und sah die düsteren Gestalten, die mir entgegenkamen und mich anschauten. In unserem Viertel bleiben die Leute abends zu Hause. Nach acht sind die Straßen völlig leer. Aber hier waren die Leute noch auf der Straße. Und schauten anderen Leuten ins Gesicht. Und da vorne fuhren Per und Kristian vor Loulous Haustür mit dem Fahrrad auf und ab. Die bilden sich Gott weiß was ein auf ihre silbermetallicglänzenden Zehn-Gang-Räder. Mein Fahrrad ist uralt und heißt Schwalbe, und ich bin stolz drauf. Ich halt’s nicht aus! Ich halt’s nicht aus, wenn die mich jetzt erkennen und ich sie grüßen muß.
Ich paßte nicht auf und stolperte in noch drei Wasserpfützen und rannte dann in Åsas Hauseingang, der direkt neben Loulous liegt.
Åsa ist meine beste Freundin. Sie ist meine einzige Freundin.
Ich machte im Hausflur kein Licht an. Ich wischte mir mit dem Schal das Gesicht ab und zog die durchweichten Stoffschuhe aus. Dann hatte ich aber das Gefühl, daß es noch blödsinniger aussieht, strümpfig und mit den Schuhen in der Hand dazustehen, und zog sie wieder an. Sie waren eiskalt.
Ich rannte die Treppen hoch, wartete aber, bis ich wieder ganz ruhig atmete, dann klingelte ich. An der Tür hat Åsa ein Schild angebracht, das sie aus einer Zeitschrift ausgeschnitten hat. Darauf ist ein grüner Hügel mit ein paar Katzen. ,Hier wohnen Beata und Åsa‘, steht auf dem Schild.
„Grüß dich, Camilla, bist du noch so spät unterwegs? Åsa ist bei Loulou, aber sie kommt sicher jeden Moment. Sie hat versprochen, um neun zu Hause zu sein“, sagte Beata und lächelte mit ihren Grübchen. Sie sieht eigentlich mehr wie Åsas große Schwester aus und nicht wie eine richtige Mutter.
„Dann geh ich zu Loulou“, sagte ich schnell und drehte mich um, damit sie mich nicht so genau anschauen konnte.
Ich hatte eigentlich keine Lust, zu Loulou zu gehen. Sie ist so eingebildet, weil sie eine Art Magnet in sich hat, der alle anzieht, besonders Jungens. Aber Åsa stört sich weder daran, daß sie eingebildet ist noch an den Jungens. Sie ist oft ganz freiwillig mit Loulou zusammen. Sie kennen sich seit dem Kindergarten, und ich glaube, daß Marianne, das ist Loulous Mutter, Beata ziemlich oft hilft.
Wenn Åsa und Loulou zusammen sind, dann fühle ich mich schrecklich ausgeschlossen. Ich habe einmal beobachtet, wie sie zusammen Engel im Schnee gemacht haben. Åsa sah mit Loulou zusammen so glücklich aus und schien mich überhaupt nicht zu bemerken. Ich existierte gar nicht für sie. Da wurde ich eifersüchtig. Und dann habe ich Zweifel, ob sie mich wirklich am liebsten mag, wie sie immer sagt.
Und jetzt war ich trotzdem auf dem Weg zu Loulou, denn an diesem Abend machte ich offenbar auch das, was ich sagte.
David machte die Tür auf. Er ist Loulous Bruder. Er ist ein Jahr jünger als Loulou. Er hatte eine Schere in der Hand und sah ganz lieb aus. Er schaute mich nicht so genau an, weil wir uns nicht sehr gut kennen und er offensichtlich mit irgendwas beschäftigt war.
„Hallo, komm rein. Loulou guckt mit Kenneth Video, aber Åsa ist da und schaut zu, wie ich Mama die Haare schneide.“
In der Küche saß Marianne auf einem Stuhl. Die Füße hatte sie in einer Schüssel, und vor ihr auf dem Tisch stand ein Glas Rotwein. Die eine Seite ihrer schon ziemlich kurzen Haare war mit Clips hochgesteckt. Sie war ausgesprochen guter Laune.
„Es kitzelt, David, mein Engel“, sagte sie. Es machte David nichts aus, daß sie ihn vor uns ,mein Engel‘ nannte, er mußte sich konzentrieren. „Hallo Camilla, zieh dich aus und setz dich. Findest du auch, daß ich ausgesprochen hübsch werde? Åsa findet das.“
Åsa traute sich, ein „njaa“ hervorzubringen und zu lächeln, sie ist vertrauter mit ihr als ich.
„Du bist ganz toll, David. Du schneidest wie ein junger Gott. Diese handwerklichen Fähigkeiten hast du von deinem Großvater mütterlicherseits. Er war gut, aber du bist genial!“
David ließ sich nicht stören. Ganz ruhig steckte er einzelne Strähnen mit Clips hoch, machte den Kamm naß und schnitt. Ab und zu beugte er sich vor und blies ihr ins Gesicht, damit die abgeschnittenen Haare wegflogen. Zum Schluß war der ganze Boden voller schwarzer Haare. Es sah aus wie bei uns, wenn ich die Hunde gebürstet habe. Als er fertig war, kämmte David Marianne und gab ihr einen Spiegel. Sie freute sich und lachte.
„Nicht schlecht, mein Süßer!“
Dann grapschte sie nach Davids Arm, und es gelang ihr sogar, ihn zweimal auf die Backe zu küssen. Aber jetzt wurde David streng. Er hob mit der freien Hand Kamm und Schere auf und schlüpfte weg.
Dann zeigte Åsa uns eine Zeichnung, die sie von den beiden gemacht hatte. David war ihr besonders gut gelungen. (Marianne sah auf dem Bild eher wie ein Tier aus.) David wurde ein bißchen rot, als er das Bild von sich sah. Er schaute Åsa an mit einem Blick, der zu sagen schien, daß er sie sehr hübsch fand. Sie ist hübsch, aber man muß schon einen ganz bestimmten Blick haben, sozusagen einen netten Blick, um das sehen zu können. Ich finde, daß es eigentlich mehr ihre Art ist und ihre Ausstrahlung, die so wunderbar sind. Ich war also ein bißchen überrascht, daß David sie so anschaute. Vielleicht will ich sie ganz allein gern haben. Aber ich weiß natürlich, daß die meisten Menschen sie gern haben.
Mir war es sehr recht, daß die anderen in der Küche so miteinander beschäftigt waren und niemand sich um mich kümmerte. Mir war es so lange recht, bis Åsa ihren Zeichenblock zuklappte und sagte:
„Es ist schon Viertel nach neun, ich muß sausen!“
Was sollte ich jetzt machen? Da bat Marianne mich, die Rotweinflasche zu holen und ihr einzuschenken. Ich verstand das so, daß sie nichts dagegen hätte, wenn ich noch ein Weilchen bleiben würde.
„Wer ist Kenneth?“ fragte ich, als ich das Gefühl hatte, daß ich so lange stumm dagesessen hatte, daß es schon fast unhöflich war.
„Das ist Mamas Neuerwerbung“, sagte David und drehte uns sehr abweisend den Rücken zu. Er war unglaublich damit beschäftigt, die Spüle und den Herd sauberzuwischen, die auch wirklich ziemlich schmutzig waren. Besonders der Herd hatte Schmutzränder, denen kaum beizukommen war.
„Er hat sein Videogerät in Loulous Zimmer aufgestellt.“
„Warum darf denn ausgerechnet sie es in ihrem Zimmer haben?“
„Darf? Weil niemand es im Zimmer haben will. Und im Wohnzimmer muß Mama ihre Ruhe haben, wenn sie näht.“
„Was ist denn so schlimm an dem Video?«
„Am Videogerät ist nichts schlimm, aber an den Filmen. Die sind absolut widerlich.“
„Alle?“
Ich habe nur einmal ein kleines Stück von einem ekligen Videofilm gesehen. Aber das sagte ich nicht.
„Auf jeden Fall alle, die er sich anschaut“, sagte David.
In dem Moment kamen Kenneth und Loulou in die Küche. Sie blinzelten ins Licht und schauten uns an, als ob sie an einem merkwürdigen Ort in einem fremden Land unter unbekannten Menschen gelandet wären.
„Erzähl bloß nichts!“ rief David und hielt drohend den Spüllappen hoch, als ob er ihn Loulou ins Gesicht werfen wollte.
„Zuerst hängten sie ihn bei lebendigem Leib an einem Haken auf...“, sagte Loulou und starrte aus dem Küchenfenster, als ob es draußen hinter der schwarzen Scheibe etwas gäbe, wovon nur sie etwas wußte.
David warf den nassen Spüllappen, und der landete an Loulous Hals. Marianne erwischte Loulou am Arm und zog sie auf ihren Schoß. Dann legte sie ihre Hand auf Loulous Mund. Loulou zappelte und wand sich, aber sie kam nicht los, weil Marianne sehr stark ist. Das Wasser in der Schüssel schwappte auf den Fußboden. Loulou erwischte den Spüllappen mit dem Fuß. Auf einmal flog er an die Decke und landete dann auf Davids Kopf. Er nahm ihn ganz ruhig herunter und machte dann am Herd weiter. Dann wischte er den Boden um Mariannes Fußbad auf und kehrte die Haare zusammen.
Kenneth setzte sich neben Marianne. Sein Blick tastete mich wie mit einem Scheinwerfer ab, von oben bis unten. Bei den gelben Stoffschuhen hörte er auf. Aber er sagte nichts und schenkte sich ein Glas Wein ein. Er war groß, sah gut aus, schien aber nicht sonderlich gesellig zu sein. Er sah fast zu jung aus, um zu Marianne zu gehören.
Marianne ist eigentlich noch nicht so alt, aber sie sieht verbraucht aus, weil sie so viel arbeitet. Doch das gibt sie nicht zu. „Auf der Post ruhe ich mich von den Sorgen aus, beim Putzen habe ich Zeit zum Denken, aber wenn ich nähe, dann nähe ich“, hat sie einmal zu meiner Mutter gesagt, als die sie gefragt hat, wie sie das alles schafft.